Wenn ein muskulöser, gutaussehender Personenschützer auf eine berühmte und sexy Person trifft, scheint Liebe vorprogrammiert. Das wissen wir aus zahlreichen Filmen und Geschichten. Bodyguards sind unwiderstehlich, geborene Woman- und Manizer. Sie laufen stets im Anzug, mit Waffe, Sonnenbrille und Knopf im Ohr herum. Wird ihr Klient bedroht, verteidigen sie selbigen mit ihrem Leben. Sie sind also auch noch Helden. Wer kann solchem Exemplar Mann schon widerstehen?
Winfried Dröger, Wissenschaftler, sieht sich plötzlich anonymen Drohungen ausgesetzt. Er nimmt das auf die leichte Schulter, seine Mutter hingegen nicht. Sie bestellt einen Bodyguard für ihren Sohn. Widerwillig lässt er den Mann bei sich einziehen. Natürlich ist Ronan Kasper - gibt es denn gar keine hässlichen Typen in der Branche? - umwerfend attraktiv, was Winfried seine eigene Unzulänglichkeit noch bewusster macht.
„Und denken Sie daran: Sie wollen Ihre Leser fesseln, nicht einschläfern. Also: Mehr Esprit.“ Lothar Sander stand auf, kam um den Schreibtisch herum und reichte ihm die Hand. „Bis zum nächsten Mal.“
Winfried erhob sich, schüttelte sie und verließ das Büro. Auf dem Weg zum Fahrstuhl dachte er darüber nach, wie er mehr Esprit in seine Abhandlung über den Kapitalismus bringen sollte. Vielleicht einige Anekdoten einflechten? Tja, super Idee, nur kannte er keine, die zum Thema passen würden. Lustige Zeichnungen? Dafür bräuchte er einen Illustrator und Ideen, was dieser malen könnte.
Während der Lift ihn in die Tiefgarage des Verlags beförderte grübelte er, ob er lieber um einen neuen Lektor bitten sollte. Sander mochte fachlich ja okay sein, aber menschlich war es zwischen ihnen schwierig. Genauer gesagt: Er konnte den Typen nicht leiden. Bedauerlicherweise gab es keine Ausweichmöglichkeit, denn der Verlag beschäftigte lediglich einen Angestellten in diesem Bereich.
Als Winfried aus der Aufzugskabine trat, sprangen im nahen Umkreis Neonlampen an. Sein Wagen stand auf dem Besucherparkplatz, gleich neben der Ausfahrt, daher musste er die ganze Garage durchqueren.
Plötzlich fiel ihm auf, dass sein Schnürsenkel offen war. Er stoppte und bückte sich, um ihn zuzubinden. Gerade hatte er das erledigt und wollte sich aufrichten, da krachte es ohrenbetäubend und eine Druckwelle warf ihn nach hinten. Ungläubig starrte er die zerborstenen Überreste seines ungefähr zehn Meter entfernten Wagens an. Qualm stieg daraus auf. Eine Radkappe rollte an ihm vorbei. Sowas passierte doch nur in Filmen, niemals ihm!
Die Welt, die den Atem angehalten hatte, begann sich weiter zu drehen. Dumpf drangen Geräusche an Winfrieds Ohr. Schritte, die sich schnell näherten. Nasses rann über seine Wange. Weinte er etwa? Er wischte es weg und betrachtete seine Hand, an der Blut klebte. Offenbar hatte ihn etwas an der Schläfe getroffen.
Jemand berührte seine Schulter. „Herr Dröger, geht es Ihnen gut?“
Winfried schaute hoch. Eine Frau musterte ihn mit besorgter Miene. Er identifizierte sie als Empfangsdame des Verlags. „Ich denke ja.“
„Bleiben Sie sitzen“, bat sie, als er Anstalten machte aufzustehen. „Ich hab die Feuerwehr gerufen. Die müsste gleich da sein.“ Sie reichte ihm ein Papiertaschentuch, das sie aus ihrer Handtasche fischte. „Sie bluten.“
„Danke.“ Er presste es an seine Schläfe und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf seinen Ex-Wagen. Das schöne Auto! Winfried liebte die alte Gurke, einen Honda Civic, in den er erst neulich etliche Taler gesteckt hatte, heiß und innig. Er machte sich keine Illusionen: Diesmal würde sein Wägelchen nicht mehr zu retten sein. Das Dach war zerborsten und die Inneneinrichtung garantiert auch zerstört.
Weitere Schritte hallten auf dem Zementboden. Neben der Frau tauchten zwei Männer auf, die abwechselnd ihn und das Wrack betrachteten. „Können wir helfen?“, erkundigte sich einer von ihnen.
„Die Feuerwehr ist alarmiert. Sie sollte gleich eintreffen“, antwortete die Frau, deren Name ihm partout nicht einfallen wollte.
Eine gefühlte Ewigkeit später erklang ein Martinshorn. Gleich darauf stürmten einige Männer in Schutzkleidung in die Garage. Weitere, die einen Schlauch trugen, folgten. Die Frau eilte zu ihnen rüber und sprach mit einem von ihnen, wobei sie in Winfrieds Richtung gestikulierte.
Noch während sie redete, rollte ein Rettungswagen an ihr vorbei und kam neben ihm zu stehen. Zwei Sanitäter sprangen heraus. Die beiden inspizierten ihn, bevor sie ihn in die Kabine des Fahrzeugs führten und auf einer Trage absetzten.
Winfried wurde verarztet, von Polizisten zum Unfallhergang befragt und schließlich, weil er darauf bestand, entlassen, anstatt ihn ins Krankenhaus zu bringen. Ihm ging’s doch gut! Seine Knie waren zwar ein bisschen wacklig und sein Kopf tat weh, aber ansonsten schien alles okay zu sein.
Ein Taxi brachte ihn nach Hause. Während der Fahrt starrte er blicklos aus dem Fenster. In seinem Schädel befand sich ein Vakuum. Das blieb auch so, als er daheim angekommen war und sich mit einem Kamillentee auf die Couch im Wohnzimmer verzog.
Normalerweise herrschte in seinem Hirn rege Betriebsamkeit. Hoffentlich hatte die Kopfwunde seinen Verstand nicht beeinträchtigt. Das würde Winfried umbringen. Er lebte für die Wissenschaft, sein einziges Steckenpferd.
Seine ganze Familie war von diesem Gen verseucht. Sein Bruder arbeitete als Dozent für Rechtswissenschaften an der Uni Tübingen. Seine Eltern, inzwischen im Ruhestand, waren beide Naturwissenschaftler. Im Grunde hatte er gar keine Chance gehabt, bei dieser Verwandtschaft etwas anderes zu tun. Wäre er Müllmann oder Tankstellenwart geworden, hätte man ihn wahrscheinlich zur Adoption freigegeben.
Quatsch! Seine Eltern liebten ihn mit all seinen Schwächen und Stärken. Sie hatten auch akzeptiert, dass er auf Männer stand. Allerdings waren sie noch nie in die Verlegenheit gekommen, mit seiner Neigung konfrontiert zu werden. Das Techtelmechtel mit einem Schulkameraden und längere Verhältnis mit einem Kommilitonen war ihnen verborgen geblieben. Er bezweifelte aber nicht, dass sie seinen Partner willkommen heißen würden, sofern es denn jemals einen gab. Etwas, woran er kaum glaubte. Winfried war einfach kein Beziehungstyp.
Im Laufe der nächsten Stunde, die er damit verbrachte, ins Leere zu starren, regenerierte sich sein Gehirn. Die Annahme, dass es sich um einen Anschlag auf sein Leben gehandelt hatte, verflog. Warum sollte ihn jemand töten wollen? Er war ein nichts, ein winziges Rädchen im Getriebe. Wahrscheinlicher war, dass die veraltete Elektrik seines Wagens für die Explosion gesorgt hatte. Ein paarmal hatte man ihn schon darauf hingewiesen, dass sein Autochen schrottreif wäre.
Nachdem sich diese Meinung manifestiert hatte, ging er zur Tagesordnung über. Er leerte seinen Briefkasten, was er vorhin versäumt hatte und setzte die Kaffeemaschine in Betrieb. Während der Automat vor sich hin blubberte, sah er die Post durch. Werbung, Werbung, Werbung, ein Schreiben seines Verlags und ein weißer Umschlag, auf den sein Name gedruckt war. Stirnrunzelnd legte er letzteren beiseite, warf die Werbebriefe weg und holte einen Becher aus einem der Oberschränke.
Mit einem Kaffee setzte er sich an den Küchentisch. Trotzdem er die Verschwörungstheorie ad acta gelegt hatte, bereitete ihm das Kuvert ohne Absender Sorgen. Sowas hatte er noch nie in seinem Briefkasten gefunden, genauso wenig, wie sein Auto in die Luft geflogen war. Sein Verstand stellte sofort einen Zusammenhang her. Zwei merkwürdige Ereignisse mussten einfach einen haben.
„Du spinnst“, murmelte er, griff nach dem Umschlag und drehte ihn in seinen Händen.
Sollte er ihn der Polizei übergeben? Damit machte er sich lächerlich, wenn darin bloß ein harmloser Brief steckte. Andernfalls, wenn sich Milzbrand oder andere tödliche Gifte darin befanden ...
„Du spinnst echt“, brummelte er erneut, riss kurzerhand das Kuvert auf und beförderte einen Zettel ans Tageslicht. „Hätte Mann dich damals vergasst, wäre dir fieles erspart geblieben.“
Winfried kratzte sich am Kinn. Vergasst? Meinte der Schreiberling vergast? Spielte er auf Winfrieds Forschungen hinsichtlich des Holocausts an? Wahrscheinlich. Eines war jedenfalls sicher: Dudentechnisch war der Mensch eine Niete. Leider konnte man damit kein vernünftiges Täterprofil erstellen, denn das traf ja auf viele Leute zu.
Er steckte den Zettel zurück in den Umschlag und nahm sich vor, ihn zur Polizei zu bringen. Vielleicht gab es daran verwertbare DNA-Spuren. ‚Hättest du ihn mit Handschuhen angefasst, wäre das möglich, aber so ...‘, spottete es in seinem Schädel.
Tja, dumm gelaufen, aber wer konnte auch ahnen, dass ein Bekennerschreiben in dem Kuvert steckte? Jedenfalls nahm Winfried an, dass es eines sein sollte. Oder war das Zusammentreffen mit der Explosion ein Zufall? ‚Du drehst dich im Kreis‘, flüsterte es in seinem Kopf.
Vorhin hatte ihm einer der Beamten ein Visitenkärtchen gegeben, das er nun hervorkramte, zusammen mit seinem Smartphone. Kaum hatte er gewählt, wurde am anderen Ende abgenommen: „Dirk Lautenschläger, Kommissariat 13.“
„Hallo, hier ist Winfried Dröger. Vorhin ist mein Wagen explodiert und nun bekomme ich eine Art Drohbrief.“
„Eine Art?“
„Man könnte den Inhalt bestimmt auf mehrere Arten deuten.“
„Kommen Sie doch bitte mit dem Schreiben aufs Revier.“
„Okay. Ich mach mich auf den Weg.“ Er legte auf und wählte die Nummer eines Taxidienstes. Da sein Autochen häufig Gast in der Werkstatt war, hatte er selbige gespeichert.
Anschließend ging er ins Bad, um sein Gesicht zu inspizieren. Das Pflaster an der Schläfe verlieh seinem Otto-Normalverbraucher-Aussehen einen verwegenen Touch. Vielleicht sollte er es immer tragen, um Aufmerksamkeit bei Männern zu erregen, überlegte er ironisch. Normalerweise wurde er nämlich immer übersehen.
Der Taxifahrer, der ihn schon oft chauffiert hatte, guckte erstaunt, als er sein Ziel angab. „Nanu, Professor. Haben Sie was ausgefressen?“
Winfried zwinkerte dem Mann zu. „Wer weiß? Vielleicht hab ich ein paar Leichen im Keller.“
„Haben wir die nicht alle?“ Sein Chauffeur fädelte sich in den fließenden Verkehr ein.
Das Kommissariat lag in dem Viertel, in dem auch der Verlag seinen Sitz hatte. Im Empfang erklärte Winfried sein Anliegen.
Die Beamtin wies auf eine Reihe Holzstühle. „Bitte setzen Sie sich. Ich sage dem Kollegen Lautenschläger Bescheid, dass Sie hier sind.“
Die Stühle erwiesen sich als so hart wie sie aussahen. Winfried rutschte hin und her, bis er eine einigermaßen bequeme Position fand. Hatte man extra solche Folterinstrumente aufgestellt, damit Verbrecher ihre Strafe bereits vor Haftantritt erhielten?
Auf diese Frage hatte er noch keine schlüssige Antwort gefunden, als Lautenschläger auftauchte. „Folgen Sie mir bitte unauffällig.“
Was für ein Scherzkeks. Winfried fiel ein, dass Lautenschläger schon bei der Befragung schrägen Sinn für Humor bewiesen hatte.
Sie gingen durch einen Flur, in dem links und rechts Türen offenstanden. Viele Räume waren leer. Bei einem der letzten blieb Lautenschläger stehen und deutete einen Diener an. „Nach Ihnen.“
„Merci beaucoup“, murmelte Winfried, betrat das Büro und ließ sich auf dem - glücklicherweise gepolsterten - Stuhl vorm Schreibtisch nieder.
Lautenschläger nahm dahinter Platz. „Dann zeigen Sie doch bitte mal das Corpus delicti.“
Mit spitzen Fingern holte er den Brief aus der Innentasche seiner Jacke und legte ihn auf die Tischplatte. „Leider hab ich das Schreiben angefasst.“
„Ich hoffe mit Glacéhandschuhen.“ Lautenschläger zog ein Paar Einmalhandschuhe, die er von irgendwo herbeigezaubert hatte, über, bevor er nach dem Kuvert griff und den Zettel herausfischte.
„Bedauerlicherweise hatte ich keine parat.“
„Hätte Mann dich damals vergasst, wäre dir fieles erspart geblieben“, las Lautenschläger laut vor. „Eine Idee, was der Schreiber damit meint?“
„Ich arbeite an einem Projekt, das sich mit dem Holocaust im weiteren Sinne beschäftigt. Es geht um die demografische Entwicklung, hätte die Massenvernichtung nicht stattgefunden. Unter Zugrundelegung, dass jedes mögliche Paar 2,5 Kinder ...“ „Herr Dröger!“, unterbrach ihn Lautenschläger. „Sparen Sie sich Ihren fachlichen Vortrag für Ihre Kollegen oder Schüler auf.“
„Ähm ... sorry.“ Winfried grinste schief. „Jedenfalls gehe ich davon aus, dass der Absender auf meine Tätigkeit anspielt.“
„Also meint er oder sie mit vergasst nicht vergessen, sondern vergast“, rekapitulierte Lautenschläger.
„Eine durchaus interessante Variation. Darauf bin ich gar nicht gekommen.“
„Also: Wir suchen einen Weißen, größer als 1,50, mit eklatanter Rechtschreibschwäche.“
Fragend zog Winfried die Augenbrauen hoch.
„Um den Brief einzuwerfen, muss er größer als ein Kind sein und die vermutlich rechtsradikale Gesinnung weist darauf hin, dass es ich um keinen Angehörigen einer ethnischen Minderheit handelt.“
„Stimmt. Schwarze Rechtsaußen sind eher selten. Wobei Judenhasser auch in anderen Bevölkerungsgruppen als deutschen vorkommen.“
„Tja. Dummheit ist eben international.“ Lautenschläger beförderte Brief und Kuvert in einen Plastikbeutel und streifte die Handschuhe ab. „Irgendeine Vermutung, wer Ihr Feind sein könnte?“
Winfried schüttelte den Kopf. „Eigentlich komme ich mit fast allen Leuten gut aus.“
„Schön zu hören. Seien Sie einfach vorsichtig. Falls wieder ein Brief wie dieser kommt, rufen Sie mich an.“
„Natürlich.“
„Die Überreste Ihres Fahrzeugs sind übrigens von unseren Spezialisten untersucht worden. Möchten Sie das Ergebnis wissen?“
„Selbstverständlich.“
„Nach ersten Einschätzungen handelt es sich um einen Brandsatz mit Fernzünder. Das heißt, dass dieser absichtlich ausgelöst wurde, noch bevor Sie Ihren Wagen erreicht haben.“
„Und ich dachte, es ist ein Fehler in der Elektrik.“
Lautenschläger schnaubte abfällig. „Ihr Fahrzeug hätte mit einem Gastank ausgerüstet sein müssen, um solche Explosion hervorzurufen.“
„Die Hoffnung stirbt eben zuletzt.“ Winfried erhob sich. „Sagen Sie mir Bescheid, wenn es neue Erkenntnisse gibt?“
„Natürlich.“ Auch Lautenschläger stand auf und geleitete ihn zum Empfang, wo sie sich mit Handschlag voneinander verabschiedeten.
Nach einer Nacht, in der Winfried von merkwürdigen Träumen gequält worden war, weckte ihn das Läuten seines Telefons. Schlaftrunken torkelte er ins Wohnzimmer und sah die Nummer seiner Eltern auf dem Display. Was wollten die denn so früh am Morgen?
„Hi Mama“, nahm er das Gespräch an.
„Hallo mein Liebling. Hab ich dich geweckt?“
„Iwo! Wer schläft denn morgens um sieben noch?“, erwiderte er bissig.
„Tut mir leid. Es hat mir nur keine Ruhe gelassen, dass mein Sohn von einem Verrückten verfolgt wird.“
„Hä?“
„In den Frühnachrichten haben sie deine ausgebrannte Rostlaube gezeigt. Obwohl das Kennzeichen verdeckt war, hab ich sie gleich erkannt.“
„Seit wann schläfst du nachts nicht mehr?“
„Ich leide unter seniler Bettflucht. Außerdem schnarcht dein Vater.“
„Dann richte dir doch ein eigenes Schlafzimmer ein.“
„Lenk nicht ab, Sohn. Wieso hat jemand dein Auto angezündet?“
„Das weiß ich nicht.“
„Vielleicht ein abgeblitzter Verehrer?“, mutmaßte seine Mutter.
„Ich werde darüber nachdenken. Es waren so viele ONS ... da muss ich mal meinen Bettpfosten konsultieren, in den ich immer die Namen der Männer schnitze.“
„Du sollst deine alte Mutter nicht verkackeiern!“
„Tschuldige
„Wie dem auch sei ... ich habe eine Agentur kontaktiert, um dir einen Bodyguard zu beschaffen. Er müsste gleich bei dir auftauchen.“
„Bitte?“
„Keine Widerrede! Der Mann wird dich auf Schritt und Tritt begleiten, bis der Verrückte gefunden worden ist.“
„Auch aufs Klo?“
„Winfried! Die Lage ist ernst. Mit solchen Irren ist nicht zu spaßen.“
„Okay-okay“, murmelte er. „Darf ich mich jetzt wieder hinlegen?“
„Musst du nicht zur Arbeit?“
„Ich bin derzeit im Homeoffice, weil ich an meinem Buch arbeite.“
„Und wann öffnet dein Homeoffice?“
„Nicht vor neun. Tschüss, Mama.“ Er schickte ihr einen Luftkuss, legte auf und latschte zurück ins Schlafzimmer.
Kaum war er wieder unter seine Decke gekrochen, läutete die Türglocke. Leise fluchend krabbelte er erneut aus dem Bett und trottete in den Flur. „Ja?“, brummelte er in die Gegensprechanlage.
„Mich schickt die Agentur Brand & Eilig. Ihre Mutter hat mich engagiert.“
Winfried betätigte den Summer, öffnete die Wohnungstür einen Spalt und begab sich in die Küche, um den Kaffeeautomaten in Betrieb zu setzen. Während er vor sich hin werkelte, vernahm er Schritte, das Zuklappen der Tür und wieder harte Schuhsohlen, diesmal auf den Dielen des Flures. Ein Mann, ganz in schwarz, mit verspiegelter Sonnenbrille, tauchte im Türrahmen auf.
„Voll das Klischee“, stellte Winfried fest. „Fehlt nur der Knopf im Ohr.“
„Ihnen auch einen guten Morgen. Ich bin Ronan Kasper und klebe fortan an Ihren Fersen.“
„Vorm ersten Kaffee hab ich keine Sprechstunde.“
Kaspers einer Mundwinkel zuckte kurz hoch. „Wo darf ich warten, bis Sie geöffnet haben?“
„Geradeaus ist das Wohnzimmer.“
Kasper verschwand aus seinem Blickfeld, wobei Winfried der Rollkoffer auffiel, den der Mann hinter sich herschleppte. Das sah nach einem längeren Aufenthalt aus.
Nachdem er sich mit einigen Schlucken Kaffee gedopt hatte, brachte er einen Becher für seinen Gast ins Wohnzimmer. Kasper saß auf der Couch, ein Bein übers andere geschlagen und hatte die Sonnenbrille abgenommen. Braune Augen, von sündhaft langen Wimpern umrahmt, taxierten ihn von oben bis unten.
„Netter Pyjama.“
War das ironisch gemeint? „Nicht wahr? Ich liebe diese gestreiften Modelle.“
„Sehr chic.“ Kasper schnappte sich den Becher. „Gibt es Milch?“
„Schwarzer Kaffee ist gut für die Potenz.“
Kasper grinste breit. „Dann erst recht her mit der Milch.“
Was für ein Angeber. Winfried latschte wieder in die Küche, um mit einer Tüte zurückzukehren. Kasper kippte reichlich in den Kaffee, bevor er daran nippte.
„Verstehe ich das richtig, dass Sie gerade hier eingezogen sind?“ Vielsagend guckte Winfried den Trolley an.
„Mein Auftrag ist klar definiert. Weichen Sie meinem Sohn nicht von der Seite, lauten die Worte Ihrer Mutter.“
„Niemand hört auf meine Mutter, also fangen Sie nicht damit an.“
„Leider verdiene ich mein Geld damit, auf andere Leute zu hören.“
„Ach?“ Winfried hockte sich auf eine Sesselarmlehne. „Ich dachte Sie passen auf, dass Leuten nichts passiert.“
Kasper ließ schneeweiße Zähne aufblitzen. „Auch.“
„Kann ich mal Ihre Dienstmarke sehen?“
„Das fällt Ihnen aber früh ein.“ Kasper zückte eine Börse, klappte sie auf und hielt sie ihm hin.
Das Plastikkärtchen, das darin steckte, wies Ronan Kasper als Mitarbeiter von Brand & Eilig aus. Ähnlichkeit mit dem Foto war vorhanden, daher beließ Winfried es dabei und nickte huldvoll. „Danke.“
„Wie sieht Ihr heutiger Plan aus?“
„Schlafen bis neun. Beim ersten Kaffee meine E-Mails checken. Duschen, frühstücken, an meinem Buch arbeiten. Ein leichter Imbiss gegen zwei. Um drei muss ich im Institut sein, um an einem Meeting teilzunehmen. Abendessen gegen sechs, sofern ich dann schon zurück bin. Danach ...“ „Stopp!“, fiel Kasper ihm ins Wort. „Mir reichen eigentlich die ersten Tagespunkte.“
„Ich geh dann mal wieder ins Bett“, brummelte Winfried, stand auf und bedachte den Bodyguard mit einem bösen Blick. „Vor neun wünsche ich keine Störung.“
„Sehr wohl, Eure Lordschaft.“
An Schlaf war natürlich nicht mehr zu denken, nun, wo sich ein Fremder in seiner Wohnung befand. Er legte sich aufs Bett und guckte sinnend an die Decke. Wie wurde er den verdammten Heini bloß wieder los? Ungewaschen herumrennen half bestimmt nicht, außerdem widersprach das seinem Stolz. Dafür, eklige Manieren an den Tag zu legen, wie Rülpsen, Furzen und sich am Sack kratzen, galt das Gleiche. Winfried war nämlich ein bisschen eitel.
Schließlich gab er die Grübelei auf, holte frische Klamotten aus dem Schrank und begab sich ins Bad. Beim Duschen ließ er sich Zeit, in der Hoffnung, dass das Geräusch die Blase des Bodyguards animierte, Wasser lassen zu wollen. Nichts war qualvoller, als dringend pinkeln zu müssen und vor dem besetzten Klo zu stehen. Na gut, es gab vieles, das qualvoller war, beispielsweise Folter - Fingernägel ausreißen, Gliedmaße abschneiden, Waterboarding und so.
Als er, gekämmt und geschniegelt, in den Flur spähte, sah er leider keinen, von einem Fuß auf den anderen tretenden, Kasper. ‚Du benimmst dich kindisch‘, schimpfte sein Verstand. Trotz dieser Schelte nahm er sich vor, den Bodyguard weiter bei jeder Gelegenheit zu ärgern. Es störte ihn nicht nur, den Typen gegen seinen Willen aufgedrückt bekommen zu haben. Kasper war zudem noch ausnehmend attraktiv, also das Gegenteil von ihm. Auch dafür musste er den Kerl bestrafen.
In der Küche begann er, den Tisch für eine Person zu decken, wobei er möglichst laut mit dem Geschirr klapperte.
Es dauerte gar nicht lange, da erschien Mr. Perfekt im Türrahmen. „Haben Sie eine Scheibe Toast für einen armen Bodyguard über?“
Prompt schmolz Winfrieds Herz. „Na gut. Aber nur eine.“
Aus der einen wurden drei Scheiben. Der arme Kerl schien kurz vorm Verhungern zu sein. Zwischen den Bissen fragte Kasper ihn nach den Vorkommnissen des letzten Tages aus. So genau, wie Winfried es vermochte, schilderte er die Ereignisse. Als Kasper nach dem Brief fragte, musste er leider passen, weil der ja bei Lautenschläger geblieben war.
„Woran genau arbeiten Sie denn?“ Kasper schielte rüber zur Kaffeemaschine.
„An einem Buch über die Völkerwanderung, aber das ist privat. Im Institut beschäftige ich mich mit verschiedenen Projekten. Aktuell erstelle ich eine Prognose über die demografische Entwicklung der Bevölkerung, die stattgefunden hätte, wenn es den 2. Weltkrieg und die damit einhergehende Massenvernichtung einiger Personengruppen nicht gegeben hätte.“
„Und wofür ist sowas gut?“ Begehrlich beäugte Kasper die Toastbrotpackung.
„Man weiß nie, wozu Forschung und Statistik gut ist. Manchmal hat sie irgendwann einen Nutzen, manchmal erzeugt sie bloß Papiermüll.“
„So, so“, murmelte Kasper, der erneut die Kaffeemaschine anguckte.
Seufzend stand Winfried auf, schenkte Mr. Perfekt Kaffee nach und füllte seine Tasse ebenfalls. Anschließend steckte er zwei weitere Scheiben Brot in den Toaster. Er war echt ein Weichei.
„Der Text des Drohbriefes weist ja auf ein antisemitisches Motiv hin. Jedenfalls würde ich das so sehen“, meinte Kasper, kippte Milch in den Kaffee und nippte daran.
„Außer der Schreiber meint mit vergasst vergessen.“
„Auch eine Interpretationsmöglichkeit.“
„Da sieht man mal, wie falsche Rechtschreibung den Sinn eines Satzes verändern kann.“
„Letztendlich bleibt es eine Drohung, vergessen hin oder her. Die Sprengung Ihres Wagens war ja schon mal eine eindrucksvolle Demonstration.“
„Es kann auch an einem Fehler in der Elektrik gelegen haben“, merkte Winfried an, obwohl er mittlerweile nicht mehr daran glaubte. Er war es aber gewohnt, jede Eventualität in Betracht zu ziehen.
„Gibt es dazu schon ein Statement von der Polizei?“ Der Toaster spuckte die gerösteten Scheiben aus, woraufhin Kaspers Blick dorthin huschte. „Sind die für mich?“
„Ich bin schon seit zwei Scheiben satt.“
„Sorry. Morgens hab ich immer Bärenhunger und der Anruf kam vorm Frühstück.“ Kasper stand auf, holte sich den Toast und begann, die Scheiben mit Butter zu beschmieren.
Winfried verlor den Faden, weil sein Blick an Kaspers Schritt hängenblieb. Mein lieber Herr Gesangsverein! Entweder trug der Kerl eine Hasenpfote in der Pants oder da lauerte ein echter Hammer.
„Hat die Polizei schon etwas herausgefunden?“, brachte sich Kasper in Erinnerung.
„Ähm ... ja. Die Spezialisten tippen auf einen Brandsatz mit Fernzünder.“
„Und warum hat der Täter den ausgelöst, obwohl Sie noch gar nicht im Wagen saßen?“
„Weil er kein Mörder ist?“, schlug Winfried vor.
„Sie hätten trotzdem getötet werden können, von umherfliegenden Teilen oder dem Schock“, gab Kasper, der eine Scheibe dick mit Marmelade bestrich, zu bedenken.
„Das wäre aber nur Kollateralschaden.“
„Alles eine Frage der Betrachtung.“ Kasper lehnte sich zurück und biss herzhaft in den Marmeladentoast.
Wo steckte der Kerl nur all die Kalorien hin? ‚Vielleicht in seinen Schwanz‘, flüsterte es kichernd in seinem Kopf. Das würde jedenfalls die Ausbuchtung erklären.
„Ich gehe mal davon aus, dass Sie auch hier schlafen werden“, wechselte Winfried das Thema.
Kasper nickte. „Ich muss Sie 24 Stunden am Tag im Auge behalten.“
„Scheißen darf ich aber allein, oder?“
Erneutes Nicken. „Duschen und pinkeln auch.“
„Das hört sich ja paradiesisch an. Dann kümmere ich mich mal um das Gästezimmer.“
„Legen Sie mir nur Wäsche hin. Ich beziehe das Bett selbst.“ Kasper beäugte das Angebot und griff nach dem Käse. „Wenn es Ihnen recht ist.“
„Ich reiß mich nicht darum“, entgegnete Winfried, stand auf und ging ins Schlafzimmer, um Bettwäsche zu holen.
Im nebenan liegenden Raum erlebte er eine Überraschung: Kaspers Trolley stand bereits darin. Zorn wallte hoch. Hatte der Typ etwa überall rumgeschnüffelt? Auch in seinem Schlafzimmer? Lag da irgendetwas herum, das nicht für fremde Augen bestimmt war?
Rasch schaute er nach, bevor er in die Küche stampfte und sich vor Kasper aufbaute. „Was fällt Ihnen ein, einfach in alle Zimmer zu gucken?“
„Es ist mein Job, Schwachstellen zu finden“, erklärte Kasper seelenruhig. „Ich hab nur die Fenster und Türen geprüft.“
Das nahm ihm den Wind aus den Segeln. Seufzend ließ er sich auf seinen Stuhl plumpsen. „Ich hab Ihnen Bettwäsche hingelegt.“
„Dankeschön.“ Den Becher in der Hand stand Kasper auf. „Dann will ich Sie nicht länger stören.“
Sprach’s und schritt aus dem Raum. Im nächsten Moment guckte er um die Ecke. „Und danke, dass Sie vor neun das Frühstücksbuffet geöffnet haben.“
Scherzkeks! Widerwillig schmunzelte Winfried. ‚Nimm dich in Acht! Der Kerl macht einen auf sympathisch, damit du gefügig bist‘, mahnte sein Verstand. Er nahm sich vor, distanzierter mit Kasper umzugehen. Ein schwieriges Unterfangen, da er harmoniesüchtig war.
Während er den Tisch abräumte fiel ihm ein, dass er vor zwei Wochen bei einer Talkshow zu Gast war. Es ging um die Verurteilung von NS-Verbrechern. Er hatte das Ereignis total verdrängt, da die Runde in allgemeines Bla-bla ausgeartet war. Am liebsten wäre er mittendrin gegangen, zumal ihn niemand nach seiner Meinung fragte.
Davon mal abgesehen fand er den anonymen Brief überaus merkwürdig. Stellte man nicht Forderungen an den Empfänger und drohte nur bei Nichterfüllung mit dem Tod? Oder war selbiger bereits beschlossene Sache? Dann hätte es ihn doch bereits in der Tiefgarage erwischt. Sehr-sehr bizarr, das Ganze.
Bevor er sich an seinen Schreibtisch setzte, schaute er ins Gästezimmer. Sein Bodyguard hatte sich auf dem Bett ausgestreckt und betrieb Augenpflege. Cooler Job. Schlafenderweise Geld verdienen.
Sobald er vor seinem Notebook saß, geriet Kasper in Vergessenheit. Winfrieds Plan bestand darin, die Völkerwanderung - ein Begriff, der inzwischen von vielen Seiten angefochten wurde - anhand einer Familienchronik darzustellen. Die fiktive Familie lebte in Rom, aus dem sie kurz nach Zerfall des römischen Reiches fortzog, um im Laufe von vier Generationen bis nach Britannien zu kommen. Er beschränkte sich bei der Schilderung auf Äußerlichkeiten, wie die Landschaft, politische Lage und Eindrücke der Reisenden. Wenn er die Worte seines Lektoren richtig münzte, sollte er die Geschichte mit ein bisschen Sex würzen. Etwas, das ihm zutiefst widerstrebte. Schließlich war er kein Prosa-Autor, sondern ein Wissenschaftler. Andererseits hatte Sander recht. Um Leser zu finden, musste er mehr als nur Fakten liefern.
Apropos Sex: Irgendetwas sagte ihm, dass Kasper am gleichen Ufer fischte. Winfrieds Gaydar war nicht sonderlich ausgeprägt, aber einige Anzeichen merkte er trotzdem auf Anhieb. Beispielsweise, dass Kasper ihn von oben bis unten gründlich gemustert hatte. Sowas tat kein Mann, der auf Frauen stand. Irrtum natürlich vorbehalten. Schließlich konnte er nicht für alle Männer sprechen.
Wie war er von der Völkerwanderung auf Kasper gekommen? Ach ja, Sex. Musste er wirklich im Detail beschreiben, wie Janus und Mathilda, das aktuelle Paar, das sich mitten im Burgunderreich befand, es miteinander taten? Oder reichte ein bisschen Gefühlsduselei? Leider war er sowohl in dem einen als auch dem anderen nicht sonderlich bewandert. Die zwei Männer, mit denen er eine Art Beziehung geführt hatte, waren wegen seiner emotionalen Kälte wieder ausgestiegen. Winfried fand sich eigentlich gar nicht kühl, aber vielleicht hatte er bloß ein falsches Bild von sich.
Mit einem zufriedenen Seufzer drehte sich Ronan auf die Seite und blinzelte ins helle Licht. Die Unterbringung war diesmal ziemlich luxuriös. Das Zimmer wirkte gemütlich und hatte alles, was man sich als Gast wünschen konnte. Ein Flachbildfernseher hing gegenüber dem Bett an der Wand. Vorm Fenster stand ein Schreibtisch, ausgerüstet mit genug Steckdosen, um alle möglichen Geräte einzustöpseln. Das Bett war gemütlich, nicht zu hart und nicht zu weich und der Schrankplatz vollkommen ausreichend für seine Klamotten.
Nach seinem letzten Einsatz, die Begleitung einer Tournee einer bekannten Schlagerikone, konnte er ein bisschen Komfort gut gebrauchen. Die Dame war sehr anstrengend und die Unterbringung dürftig gewesen. Während die Diva eine Suite bewohnte, musste er sich mit einem ihrer Komparsen ein kleines Zimmer teilen.
Das anstrengendste war, sich die Frau vom Hals zu halten. Anscheinend glaubte sie, dass jeder Bodyguard ihr automatisch verfiel. Tja. Bei ihm hatte sie damit auf Granit gebissen, was sie jedoch geflissentlich ignorierte. Schließlich hatte er handgreiflich werden müssen. Danach war er gegen einen Kollegen ausgetauscht und für eine Woche nach Hause geschickt worden. Unbezahlter Urlaub, weil sich die Diva über ihn beschwert hatte. Was für eine blöde Kuh!
Dieser Einsatz ließ sich schon mal viel besser an. Der Professor, wie er Winfried Dröger heimlich nannte, schien okay zu sein. Zudem fehlte dem Mann jegliche Starallüre. Etwas, das er nach der Schlager-Trulla sehr zu schätzen wusste.
Es war ihm unbegreiflich, wieso jemand einen harmlosen Typen wie den Professor bedrohte. Andererseits gab es auf der Welt leider unzählige Spinner, die jemanden umbrachten, nur weil ihnen die Nase/Hautfarbe/Religion nicht passte. Genau deswegen hatte Ronan die Polizei verlassen. Er war es leid gewesen, für jeden Scheiß den Kopf hinzuhalten.
Ausschlaggebend war die Festnahme eines mutmaßlichen Mörders, der ihn und seine Kollegen erst mit einer Waffe bedroht und - nachdem sie ihn überwältigt hatten - anfing zu kratzen und zu beißen. Dafür, dass er dem Kerl einen Tritt in die Eier verpasst hatte, durfte er sich hinterher verantworten. Kurzerhand hatte er seine Kündigung eingereicht und sich bei einem privaten Sicherheitsdienstleister beworben. Damit verlor er zwar seinen Beamtenstatus, doch drauf geschissen. Dafür brauchte er nicht mehr im 3-Schicht-System arbeiten und konnte jedem, der seine Klienten bedrohte, in die Eier treten, ohne hinterher vor den Kadi gezerrt zu werden.
Apropos Eier: Der Prof hatte echt welche in der Hose, die Autobombe zu verharmlosen. Außerdem war ihm aufgefallen, dass sie im gleichen Team spielten. Ronan hatte nämlich, als er im Schlafzimmer die Fenster kontrollierte, einen kurzen Blick in die Nachtschrankschubladen geworfen. Dildo und Co lagen darin, neben einem schwulen Farbmagazin.
Er schwang die Beine über die Bettkante, gähnte, streckte sich und nahm am Schreibtisch Platz. Nachdem er sein Notebook aufgeklappt hatte, begann er, seine Hausaufgaben zu machen. Normalerweise tat er das vor einem Einsatz, aber dieser hatte ihn ja praktisch vorm Aufstehen ereilt.
Über den Professor gab es etliche Einträge in der Suchmaschine. Er klickte sich durch die Liste, verweilte mal hier mal dort länger. Schließlich stieß er auf einen Link, der ihn zu der Aufzeichnung einer Talkrunde führte. Um den Professor, der ja schreiben wollte, nicht zu stören, setzte er Kopfhörer auf, bevor er das Video startete.
Hinterher guckte er nachdenklich ins Leere. Dröger hatte zwar kaum etwas gesagt, aber seine Miene sprach Bände; insbesondere der angeekelte Ausdruck, als einer der Teilnehmer Straferlass für NS-Täter favorisierte. Wenn man das und die Publikationen über den Holocaust addierte, kam genug Potential für einen rechts angehauchten Menschen heraus, um Dröger zu hassen.
Ronan stand auf, tigerte ein paarmal im Zimmer auf und ab und entschied schließlich, den Professor auf die Sendung anzusprechen. Eigentlich war er nicht dafür zuständig, den Täter oder die Drahtzieher zu finden, doch das Bullengen hatte sich nicht mit seiner Kündigung verflüchtigt.
Auf Socken ging er in den Flur und spähte ins Arbeitszimmer, dessen Tür bloß angelehnt war. Er sah den Professor, der konzentriert auf den Monitor eines Notebooks schaute, im Profil. Auf den zweiten Blick war der Mann gar nicht so unscheinbar wie auf den ersten. ‚Hör bloß auf!‘, schimpfte es in seinem Kopf. ‚Er ist dein Klient und sonst nichts!‘
Ronan räusperte sich, um Drögers Aufmerksamkeit auf sich zu richten. Als der Professor in seine Richtung guckte, setzte er ein entschuldigendes Lächeln auf. „Sorry, dass ich störe, aber ich hab eine Frage.“
Dröger wandte sich ihm ganz zu. „Ja, bitte?“
„Sie haben gar nicht erwähnt, dass Sie im Fernsehen waren.“
„Das hatte ich ganz vergessen. Ich hab doch sowieso nichts gesagt.“
„Das brauchten Sie auch nicht. Man kann in Ihrem Gesicht lesen.“
„Tja ... an meinem Pokerface muss ich dringend arbeiten.“ Dröger erhob sich. „Ich kann noch einen Kaffee vertragen. Sie auch?“
Ronan nickte und folgte dem Professor in die Küche. „Haben Sie vor der Sache mit Ihrem Wagen Drohbriefe erhalten?“
„In den letzten Jahren kamen ab und zu mal E-Mails mit ekelhaftem Inhalt. Meist kurz nach einer Publikation. Ansonsten war Ruhe.“
„Haben Sie die Mails noch?“
Dröger, der gerade am Kaffeeautomaten hantierte, nickte. „Sowas schmeißt man doch nicht weg. Vielleicht veröffentliche ich den Schmutz irgendwann als Sammelband.“
„Darf ich sie sehen?“
„Geben Sie mir Ihre E-Mail-Adresse, dann leite ich sie gleich weiter.“
Wenig später kehrte er mit einem Becher Kaffee an seinen Schreibtisch zurück. Es dauerte ein Weilchen, bis Drögers Nachricht mit zahlreichen Anhängen eintraf. Der Professor hatte die Mails jeweils in ein Dokument kopiert.
Nacheinander las Ronan den Kram und kam aus dem Kopfschütteln gar nicht wieder raus. Es gab wirklich kranke Geister. Drei Absender wollten Dröger den Schwanz abschneiden, zwei die Eier zermalmen und einer äußerte sich sehr unflätig über des Professors Mutter. Eines hatten alle gemein: Sie waren mit einfachen Worten verfasst und mit Rechtschreibfehlern gespickt. So bezeichnete ein Absender Drögers Mutter als Huhre. Vielleicht dachte der Schreiberling, das käme von Huhn. Ein lustiger Einfall, aber lachen konnte Ronan trotzdem nicht darüber.
Geräusche im Flur ließen ihn aufhorchen. Schritte entfernten sich in Richtung Wohnungstür. Er sprang auf, hastete aus dem Raum und sah, dass Dröger ins Treppenhaus ging. Auf seinen Socken geriet er ins Rutschen, als er hinterherlief. Vor den Postkästen erreichte er den Professor und packte ihn am Ärmel.
„Wohin so eilig?“, stieß er hervor.
Dröger, der ihn mit großen Augen anstarrte, antwortete: „Nur meinen Briefkasten leeren.“
„Das übernehme ich.“ Ronan streckte eine Hand nach dem Schlüssel aus.
„Ist das nicht ein klein wenig übertrieben?“
„Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste.“
Mit missmutiger Miene händigte Dröger ihm den Schlüsselbund aus und stampfte zurück in die Wohnung. Die Tür krachte ins Schloss. Na, da war jemand wohl richtig angepisst.
Im Postkasten lag nur Werbung. Mittels des Schlüssels, der ebenfalls an dem Bund hing, ließ sich Ronan selbst in die Wohnung und brachte die Reklame in die Küche.
„Sind Sie sicher, dass sich keine Bombe unter den Prospekten befindet?“, merkte Dröger, der mit vor der Brust verschränkten Armen am Fenster stand, bissig an.
„Wenn Ihnen von einer Briefbombe der Arm abgerissen wurde, sprechen wir uns wieder.“ Hocherhobenen Hauptes stolzierte Ronan aus der Küche ins Gästezimmer, wo ihm auffiel, dass er weiterhin den Schlüsselbund in der Hand hielt. Er legte ihn im Flur auf die Garderobe, bevor er sich am Schreibtisch niederließ.
Offenbar schätzte der Professor die Lage falsch ein. Mit Leuten, die Autos in die Luft jagten, war nicht zu spaßen.
Ronan vertiefte sich in einen der Artikel, die er im Internet gefunden hatte. Hut ab. Dröger hatte fachlich echt was drauf. Solche Leute waren erfahrungsgemäß im realen Leben etwas hilflos. Na gut, nicht hilflos, sondern ein bisschen weltfremd.
Nach einer Weile fühlte er sich ausreichend informiert, klappte das Notebook zu und guckte aus dem Fenster. Draußen schien die Sonne, erreichte aber die unteren Stockwerke nicht. Ein echter Nachteil der ansonsten schönen Gegend: Die Gebäude beschatteten sich gegenseitig oder wurden von hohen Bäumen vom Sonnenlicht abgeschirmt.
Er begab sich in den Flur und spähte ins Arbeitszimmer. Dröger tippte konzentriert. Da störte er wohl besser nicht. Auf Zehenspitzen - seine schmutzigen Socken hatte er vorhin abgestreift - ging er ins Wohnzimmer und trat raus auf die Terrasse. Auch die lag im Schatten, was bei der herrschenden Hitze eine Wohltat war.
Anscheinend benutzte der Professor sie selten, denn die beiden Plastikstühle wirkten schmutzig. Kritisch beäugte Ronan die zwei Möbelstücke und entschied, dass sie in diesem Zustand unbenutzbar waren.
Kurzerhand besorgte er aus der Küche einen nassen Wischlappen, mit dem er einen der Stühle säuberte. Nachdem er einige Papiertücher auf die Sitzfläche gelegt hatte, ließ er sich darauf nieder. Links und rechts lagen verwaiste Terrassen. Geradeaus befand sich ein Gehweg, dahinter die Straße.
Der Verkehr hielt sich in Grenzen, da es sich um eine Sackgasse handelte. Nur hin und wieder rumpelte ein Wagen über das Kopfsteinpflaster, während Ronan - die Beine ausgestreckt und Arme hinterm Kopf verschränkt - die weiche, warme Luft genoss.
Seine Wohnung lag in Hamm, einem überwiegend von mittellosen Bürgern bewohntem Stadtteil. Die Mieten waren dort erschwinglich und es gab auch einige Parks. Dennoch merkte man, dass das Viertel zu den benachteiligten gehörte. Dort tobte sich kein Stadtarchitekt mit Verschönerungsmaßnahmen aus, die das Gebiet wirklich bitter nötig hätte.
Ronan war in der Gegend aufgewachsen. Trotzdem merkte er sehr wohl noch die Hässlichkeit der Häuser und Umgebung. Manchmal störte es ihn, manchmal war es ihm egal. Da letzteres überwog und er nicht einsah, mehr Knete für Miete auszugeben, hatte er nie über einen Wohnungswechsel nachgedacht. Außerdem lebten seine Eltern ebenfalls in dem Stadtteil. Ein weiterer Grund zu bleiben.
War es Neid auf Drögers Wohlstand, der den Täter antrieb? Vermutlich eine Mischung aus ideologischem Eifer und Missgunst. Nur selten stammten solche Leute aus der Oberschicht - Ausnahmen bestätigten die Regel - und sahen daher in allen, die mehr hatten, ihre natürlichen Feinde. Verständlich. Ronan kannte dieses Gefühl. Er hätte nichts dagegen, wenn die monetären Mittel gerechter verteilt werden würden.
Allmählich spürte er Hunger. Mittlerweile war es halb zwei, womit der Zeitpunkt, zu dem Dröger einen leichten Imbiss plante, näher rückte. Allerdings zweifelte er an, erneut zum Essen eingeladen zu werden. Nach der Sache mit der Post war der Professor vielleicht weiterhin auf Krawall gebürstet.
Vergeblich klopfte Ronan seine Taschen nach Zigaretten ab. Eigentlich war es eh eine Art Phantom-Handlung, wie Phantomschmerz, weil er seit Jahren nicht mehr rauchte und daher nie Kippen bei sich trug. Im Moment könnte er aber gut eine gebrauchen.
Rund eine halbe Stunde später vernahm er Rumoren in der Wohnung. Hoffnungsvoll ging er rein und schaute in die Küche. Dröger saß am Tisch, vor sich einen Teller mit Butterbrot.
„Guten Appetit“, wünschte er.
„Danke“, murmelte der Professor ohne ihn eines Blickes zu würdigen.
Aha. Also war der Herr wirklich nachtragend. „Zur Info: Ich werde Sie zu Ihrem Termin chauffieren.“
„Mhm“, machte Dröger.
„Oder möchten Sie fahren?“
„Nö.“
Ronan gab auf. Sollte der Professor doch in Ruhe weiterschmollen. Er suchte sein Zimmer auf und holte seine Notration hervor, bestehend aus einem Müsliriegel und Apfel. Von früheren Einsätzen war er es gewohnt, sich selbst versorgen zu müssen. Entsprechend hatte er immer etwa zu beißen dabei.
Texte: Sissi Kaiserlos
Bildmaterialien: shutterstock depositphotos
Cover: Lars Rogmann
Lektorat: Aschure - dankeschön
Tag der Veröffentlichung: 03.09.2020
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