Vampire - sie dringen nachts in Schlafzimmer ein, um unschuldige Jungfrauen zu überfallen. Entweder wandeln sie die Damen, sofern sie ihnen gefallen, andernfalls stillen sie bloß ihren Durst. Sie sind stets in der Dunkelheit unterwegs, da sie in der Sonne verbrennen. Lediglich Silberkugeln und Pflöcke können sie töten. Knoblauch, Kruzifixe und Weihwasser helfen, sich vor diesen üblen Gestalten zu schützen. Oder sind sie gar keine Bösewichte, sondern edle Prinzen?
Seit rund 400 Jahren ist Ronaldo ein Vampir. Mittlerweile hat er sich mit der Neuzeit, die einige Veränderungen mit sich brachte, einigermaßen angefreundet und besitzt einen gut laufenden Reitstall. Eigentlich ist er mit seinem Single-Dasein zufrieden, doch dann trifft er auf Kaspar, einen süßen Pechvogel. Leider ist Kaspar ein Mensch und mit solchen fängt er niemals etwas Ernstes an. Die Dinge entwickeln sich jedoch ganz anders als gedacht.
Ronaldo ließ den leblosen Rattenkörper fallen und schob ihn mit der Fußspitze unter einen Busch. Dafür, das Tier mit Erde zu bedecken, fehlte ihm der Elan, aber ein bisschen Pietät musste schon sein. Er rülpste, wischte sich mit dem Handrücken über den Mund und blinzelte ins fahle Mondlicht. Was für eine beschissene Nacht! Eine gefühlte Ewigkeit hatte er nach einem brauchbaren Blutspender gesucht und bloß diese räudige Ratte gefunden. Lecker schmeckte anders.
Während er den mondbeschienenen Pfad in Richtung Parkplatz ging, trat er missmutig nach Tannenzapfen und Steinchen. Die Zeiten, in denen er sich von Menschenblut ernährt hatte, sehnte er wahrlich nicht zurück, aber früher war es trotzdem besser gewesen. Beispielsweise war es wesentlich leichter, sich eine neue Identität zuzulegen. Etwas, das er wegen seines fehlenden Alterungsprozesses alle paar Jahre machen musste. Heutzutage kostete sowas eine Stange Geld und wurde zunehmend schwieriger. Gute Fälscher gab es immer seltener und die paar, die noch existierten, waren völlig überlaufen.
Früher hatte man seinesgleichen respektiert. Ihr Name war voller Ehrfurcht ausgesprochen worden. Heutzutage wurden alle Vampire in eine Schublade mit den Schauspielern geworfen, die in Filmen glitzernde Superhelden darstellten. Angeblich war seinesgleichen durchweg reich, schön und von einer geheimnisvollen Aura umgeben. Stattdessen lebten Vampire ganz normale Leben, genau wie Ottonormalverbraucher.
Auch sie brauchten ein Dach überm Kopf, hatten Hygiene- und Luxusbedürfnisse. Dafür mussten sie hart arbeiten und manch einer konnte sich dennoch nichts leisten. Selbst unter ihnen gab es welche, die keinerlei besondere Fähigkeiten vorwiesen. Okay, mit Ausnahme derer, sich in eine Fledermaus zu verwandeln. Okay-okay, und derer, ohne Nahrung, außer Blut, auszukommen und demzufolge keinerlei Ausscheidungen zu produzieren. Was nützte einem das im Arbeitsleben? Einen Schiss!
Seufzend ließ sich Ronaldo auf einem umgefallenen Baumstamm nieder. Er hatte im Vergleich zu vielen anderen Glück gehabt. Sein letzter Lebensgefährte, Baldwin, der leider in 1870 einem Pflock zum Opfer gefallen war, hatte ihm ein großes Anwesen hinterlassen. Im Laufe der Jahrzehnte wurde aus dem einstigen Landgut ein florierendes Gestüt. Inzwischen beschäftigte Ronaldo fünf Angestellte und nannte zwei prächtige Zuchthengste sowie etliche Stuten sein eigen. Reichtümer scheffelte er damit zwar nicht, aber es ließ sich gut davon leben.
Er angelte eine Schachtel Zigaretten aus seiner Jackentasche, zündete sich eine an und inhalierte den ersten Zug. Dieses Laster hatte er sich vor ungefähr 35 Jahren zugelegt. All seine Versuche, es wieder loszuwerden, waren fehlgeschlagen. Warum auch? Schließlich wurden Vampire nie krank. Das einzige, was ihn daran störte, waren die irre hohen Preise. Irgendwann, sobald der geeignete Zeitpunkt gekommen war, würde er mit dem Scheiß aufhören.
Gerade hatte er die Kippe ausgetreten und schickte sich an aufzustehen, da tauchten Lichtkegel auf. Räder knirschten auf dem Kies. Ein dunkler Wagen geriet in sein Sichtfeld. Instinktiv duckte sich Ronaldo tiefer in die Schatten. Wer mitten in der Nacht einen Parkplatz im Wald aufsuchte, war wohl kaum scharf auf Zuschauer.
Das Auto, ein schwarzer SUV, hielt. Jemand stieg auf der von Ronaldo abgewandten Seite aus und ging zum Kofferraum. Neugierig reckte er den Hals. Der Fahrer hievte etwas Schweres aus dem Wagen, schulterte es und marschierte auf seinen Standort zu. Vorsichtig rutschte Ronaldo vom Stamm und legte sich dahinter auf die Lauer.
Der Typ lief an ihm vorbei und das Bündel über seiner Schulter entpuppte sich als verschnürter Mensch. Er erkannte braune Haare und ein panisch aufgerissenes Auge. Hoffentlich wollte der Mann den Burschen nicht umbringen. Sinnlose Morde konnte Ronaldo auf den Tod nicht ausstehen. Wenn jemand infolge seines Blutdurstes starb, war das wenigstens ein triftiger Grund.
Leise und in sicherer Entfernung folgte er dem Mann. Als dieser stehenblieb und die Fracht ablud, versteckte sich Ronaldo hinter einem Baumstamm. Die Klinge eines Messers blitzte auf. Bereit einzuschreiten spannte er seine Muskeln an. Aufmerksam verfolgte er, wie der Mann den Gefangenen auf recht unschöne Weise von sämtlicher Kleidung befreite, indem er sie einfach zerschnitt. Zum Schluss löste er die Fußfesseln und zerrte den Burschen - ein übrigens recht hübsches Kerlchen - auf die Füße.
„Ich will deine Visage nie wieder sehen“, zischelte der Typ. „Beim nächsten Mal kommst du nicht mit einem blauen Auge davon.“
Er verpasste dem Burschen einen harschen Schubs, so dass dieser auf die Knie fiel, wandte sich um und marschierte an Ronaldos Versteck vorbei in Richtung Parkplatz. Nachdem die Schritte verklungen waren, wandte er seine Aufmerksamkeit wieder auf das Bürschlein. Das machte einen recht miserablen Eindruck. Ein Auge war völlig zugeschwollen und an einigen Stellen wies der Körper dunkle Flecken auf.
Eines war sicher: So durfte er den Jungen nicht zurücklassen. Dessen Hände waren auf dem Rücken gefesselt und unter dem Tuch, das um seinen Kopf geschlungen war, verbarg sich vermutlich ein Knebel. Der Bursche könnte ersticken.
Auf Zehenspitzen schlich Ronaldo davon, um dann umzukehren und mit festen Schritten zurück zu gehen. Schließlich sollte es wie ein Zufall aussehen. Entsprechend überrascht tat er, als er den Burschen, der weiterhin kniete, entdeckte.
„Ach du meine Güte! Was ist denn mit dir passiert?“
Bürschi guckte ihn aus einem großen Auge hilflos an.
„Ich Dummerchen! Du kannst mir ja gar nicht antworten“, schwafelte Ronaldo weiter, näherte sich dem Knaben und machte sich an dem Knebel zu schaffen. Knoten schienen nicht das Spezialgebiet des fiesen Typen zu sein. Leicht ließ er sich lösen. Anschließend pflückte er ein großes Stück Stoff aus dem Mund des Burschen.
Während der Junge hustete, kümmerte sich Ronaldo um die Handfessel. Auch sie war dilettantisch verknotet. War das extra geschehen, damit sich Bürschi befreien konnte? Nachdenklich betrachtete er das Stück Seil, wand es um seine Hand und schaute abwartend auf den Jungen runter. Na gut, es war schon ein ausgewachsener Mann, zwischen den Beinen mit den dafür nötigen Attributen ausgestattet.
„Danke!“, krächzte der Bursche.
„Kannst du aufstehen?“ Ohne eine Antwort abzuwarten fasste er dem Mann unter die Achsel und hievte ihn in eine aufrechte Position. Strenger Geruch stieg ihm dabei in die Nase. Vermutlich hatte sich der Arme vor Angst eingepinkelt.
„Kommst du klar?“, erkundigte sich Ronaldo.
Der Mann schüttelte den Kopf. Na gut, seine Frage war dumm. Wie sollte ein Stadtbursche im Adoniskostüm mitten in der Wildnis zurechtkommen, zumal er lädiert wirkte? Schweren Herzens entschied Ronaldo, sich des Kerlchens anzunehmen. Er streifte seine Jacke ab, hängte sie dem Mann um die Schultern und überlegte, welches Kleidungsstück er noch entbehren könnte, um die Körpermitte zu bedecken. Schließlich schlüpfte er aus seinem Hemd und band es dem Mann so um die Hüften, dass wie eine Schürze aussah.
„Danke!“, krächzte der Kerl.
„Kannst du noch mehr Worte?“
„Hast du was zu trinken für mich?“
„Leider nein.“ Er fasste den Mann am Ellbogen. „Wir gehen jetzt erstmal zu meinem Wagen.“
Ungelenk humpelte der Typ neben ihm her, so dass er schließlich einen Arm um dessen Taille schlang, damit sie besser vorankamen. Am Wagen angekommen half er dem Mann auf den Beifahrersitz und schwang sich hinters Lenkrad. Entgegen herkömmlichem Glauben flogen Vampire nämlich nicht von A nach B, sondern fuhren, wie ganz normale Menschen. Eine Wandlung zur Fledermaus bedeutete, ohne Klamotten - weil die beim Gestaltwechsel von einem abfielen - unterwegs zu sein. Das war aus wohl verständlichen Gründen häufig sehr unvorteilhaft.
„Ich schlage vor, wir fahren zu mir. Oder soll ich dich irgendwo hinbringen?“
Die Antwort bestand in einem Kopfschütteln. Ronaldo startete den Motor, lenkte seinen Wagen auf die Straße und stellte die Heizung auf volle Pulle, da sein Beifahrer zitterte. Für Menschen dürfte es recht kühl sein, vor allem, wenn man nur spärlich bekleidet war.
Sein Fahrgast schwieg die ganze Zeit, was er als angenehm empfand. Plappernde Leute waren ihm zuwider. Zum Glück hatte er seinen Durst gestillt, denn der Geruch des dicht unter der Oberfläche geronnenen Blutes wehte ihm um die Nase. Er bevorzugte zwar frische Nahrung, doch in der Not hätte er auch welche genommen, deren Verfallsdatum bereits überschritten war.
Kurz bevor sie sein Anwesen erreichten - es lag zwanzig Minuten Fahrzeit von ihrem Ausgangspunkt entfernt - fragte er: „Wie heißt du?“
„Kaspar“, flüsterte sein Beifahrer.
„Ich bin Ronaldo.“
„Danke, dass du mir hilfst.“
„Ja, welch glückliche Fügung des Schicksals, dass ich ausgerechnet heute Nacht noch einen Spaziergang machen wollte, nicht wahr?“ Er bog in die Auffahrt und ließ den Wagen vorm Haupthaus ausrollen. „Nichts für ungut, aber du kannst eine Dusche vertragen.“
„Vor Angst hab ich mir in die Hose gemacht“, bestätigte Kaspar mit deutlicher Beschämung seine Vermutung.
Erneut musste Ronaldo seinen unerwarteten Gast auf dem Weg zur Haustür stützen. Kaspar war rund einen Kopf kleiner als er und sehr schmal. Kein Wunder, dass der andere Typ das verschnürte Paket derart souverän über die Schulter geworfen hatte. Es wäre auch für ihn ein leichtes, Kaspar zu tragen, doch er durfte seine übermenschlichen Kräfte nicht zeigen. Eine Lektion, die er schon als frischgebackener Vampir schnell gelernt hatte.
Was mochte Kaspar ausgefressen haben, um solche Behandlung zu verdienen? Handelte es sich um einen Zuhälter, dem Kaspar den Gehorsam verweigert hatte? Welch ekliger Gedanke! Trotz seines hohen Alters kam Ronaldo immer noch nicht mit einigen Gepflogenheiten in der Gesellschaft zurecht. Zuhälterei gehörte in jedem Fall dazu, genau wie Kindesmisshandlung und -pornografie.
Er führte Kaspar direkt ins Bad, wo er seinen Gast auf dem Klodeckel absetzte. „Ich hol dir was zu trinken. Versuche, nicht umzukippen, okay?“
Nachdem Kaspar genickt hatte, besorgte er ein Glas Wasser aus der Küche. Zu Alibizwecken lagerte er stets einen kleinen Vorrat an Ess- und Trinkbarem. Es kam ab und zu vor, dass einer seiner Angestellten bei ihm reinschaute, um etwas zu besprechen. Dafür galt es, den Anschein von Normalität wahren.
Kaspar leerte das Glas in zwei Zügen. „Darf ich noch mehr haben? Es reicht Wasser aus dem Hahn.“
Flink füllte Ronaldo erneut das Glas und gab es seinem Gast zurück, woraufhin der den Inhalt ebenfalls runterstürzte. Eine kurze Bestandsaufnahme bestätigte indessen seinen ersten Eindruck: Einige Blutergüsse im Rippenbereich, an den Beinen und Armen, dazu das blaue Auge. Kaspar war offenbar ziemlich vermöbelt worden.
„Wie kommt es, dass du nackt, gefesselt und geknebelt im Wald herumlungerst?“, hakte er nach.
„Eine Verkettung unglücklicher Umstände.“ Vorsichtig betastete Kaspar das lädierte Auge. „Sehe ich schlimm aus?“
„Hab schon hübschere Männer gesehen“, erwiderte Ronaldo.
In der Andeutung eines Lächelns zuckte Kaspars linker Mundwinkel kurz hoch. „Sehr diplomatisch.“
Er nahm das Glas wieder an sich. „Schaffst du es, allein zu duschen?“
Kaspar beäugte die Duschkabine. „Hast du vielleicht einen Hocker? Mit ist ein bisschen schwindlig.“
Gute Frage. Ronaldo erinnerte sich, dass in der Werkstatt einige alte Schemel standen. Die waren zwar aus Holz, doch wenn sie die Aktion nicht überstanden, eben reif für den Sperrmüll. Er holte eines dieser Möbel, stellte es in die Dusche und legte ein sauberes Handtuch aufs Waschbecken.
„Wenn du Hilfe brauchst, ruf mich“, informierte er Kaspar, bevor er das Bad verließ.
In der Küche ließ er sich am Tisch nieder und knabberte einen Blutstick, wobei er sinnend aus dem Fenster ins Dunkel guckte. Was war diese Verkettung unglücklicher Umstände denn genau? Hatte Kaspar Mitglieder der Mafia bei einem Verbrechen gestört? Dann wäre er wohl mit einem Betonblock an den Füßen in der Elbe versenkt worden. Es musste also etwas weniger Schlimmes sein. Oder war Kaspar lediglich lästig geworden? Hatte er sich einen Kleinkriminellen ins Haus geholt?
Seufzend schnappte er sich einen weiteren Blutstick und inspizierte diesen aus der Nähe. Das Ding bestand angeblich aus pflanzlichen Fasern, die geröstet und in Blut getränkt wurden. Es schmeckte jedenfalls scheiße. ‚Und warum kaufst du den Kram, wenn du ihn nicht magst?‘, flüsterte eine Stimme in seinem Kopf. Gute Frage. Er hatte echt keine Ahnung.
Aus ethischen Gründen war es verboten, menschliches Blut zu trinken. Aus dem gleichen Grund hatte man vor rund 60 Jahren auch untersagt, lebende Tiere auszusaugen. Lediglich einmal pro Monat war es jedem Vampir gestattet, einen Kleinnager in freier Wildbahn zu erlegen. Human getötete und schockgefrorene Kaninchen, Hamster, Mäuse und Ratten konnte man über einen speziellen Lieferdienst beziehen. Dieser Dienst bot außerdem Knabbereien, wie beispielsweise Blutsticks und vegane Getränke mit Blutgeschmack an. Letztere hatte Ronaldo noch nie probiert und auch nicht vor, daran etwas zu ändern.
Man munkelte, dass hochrangige Vampire Beziehungen zu Blutbanken besaßen und Konserven für Partys oder andere Veranstaltungen auf diese Weise besorgten. Auch hieß es, dass sich einige einen menschlichen Wirt hielten, den sie regelmäßig zur Ader ließen oder eine eigene Zucht von tierischen Blutspendern unterhielten. Das waren aber alles unbestätigte Gerüchte. Es interessierte Ronaldo sowieso nicht sonderlich, so lange er mit der vorhandenen Nahrung über die Runden kam.
Er stopfte sich den Blutstick in den Mund und warf einen Blick auf die Uhr. Gleich halb zwei. Zeit ins Bett zu gehen. Entgegen dem verbreiteten Gerücht, Vampire würden tagsüber schlafen, pflegte er das nachts zu tun. Seinesgleichen zerfiel im Sonnenlicht auch nicht zu Staub. Vermutlich hatten sich diese Mär Leute ausgedacht, um ihre Ängste zu bezwingen.
Das Wasserrauschen im Bad hörte auf. In der eintretenden Stille vernahm Ronaldo leises Ächzen und das Platschen nackter Fußsohlen auf den Fliesen. Ihm fiel ein, dass er nach Kleidung für Kaspar raussuchen sollte.
Im Schlafzimmer kramte er aus seinem Kleiderschrank eine beim Waschen eingelaufene Jeans, Boxer und ein T-Shirt hervor. Als er den Stapel ins Bad brachte, hockte Kaspar wieder auf dem Klodeckel und sah etwas besser als vorher aus. Na ja, eigentlich unverändert, aber der Gestank war fort. Eine Wohltat für Ronaldos sensibles Geruchsorgan.
„Darf ich heute Nacht hierbleiben?“, erkundigte sich Kaspar leise und mit einem Blick, der Steine schmelzen könnte. Selbst das lädierte Auge behinderte diese Wirkung nicht.
„Selbstverständlich. Bin doch kein Unmensch.“ Er legte die Klamotten aufs Waschbecken. „Hast du Hunger?“
Kaspar nickte.
„Ich guck mal, was ich dahabe.“ Ronaldo begab sich in die Küche, wo er den Kühlschrankinhalt checkte. Toastbrot, Butter, Käse, ein Apfel. Das sah doch nach einer reichhaltigen Mahlzeit aus.
Obwohl sein Menschenleben etliche Jahre zurücklag, besaß er eine vage Erinnerung an menschliche Essgewohnheiten. Seitdem gab es viele Gelegenheiten, um deren Veränderungen zu studieren. Mittlerweile bevorzugten ja viele Leute vegetarisch oder vegan. Er hatte sich dieser Mode angepasst, was einige Vorteile beinhaltete. Die Sachen verdarben nicht so schnell und es sparte Geld. Nicht, dass er knausern müsste. Er hasste es bloß, seine Mäuse für Überflüssiges rauszuwerfen.
Kaspars Tag war bis zu einem gewissen Punkt super gelaufen. Er hatte die geteilte gegen späte Schicht tauschen können und in den ersten beiden Stunden sehr viel Trinkgeld eingenommen. Leider war ihm dann seine Nikotinsucht zum Verhängnis geworden. Normalerweise rauchte er kaum, doch wenn er im Stress war, brauchte er zwischendurch eine Kippe.
Er holte sich also das Okay von seinem Kollegen - der übrigens viel häufiger als er rauchen ging - und seine Zigaretten aus dem Personalraum. Auf dem Weg zur Hintertür kam er am Büro, dessen Tür nur angelehnt war, vorbei. Drinnen wurde hitzig diskutiert. Neugierig blieb er stehen und lauschte.
„... vereinbart, dass du zwei Kilo besorgst“, vernahm er das Organ seines obersten Chefs Bernd. Dem gehörte das Lokal und drei weitere in Hamburg.
„Ey, der Stoff ist echt gut. Den kannst du locker strecken“, erwiderte eine unbekannte Stimme.
Drogen? Hatte Bernd sowas nötig?
„Das interessiert mich einen Scheiß! Sieh zu, dass du die vereinbarte Menge ranschaffst!“, wetterte Bernd.
Ausgerechnet in diesem Moment kam jemand durch die Hintertür. Kaspar bemühte sich, einen möglichst unschuldigen Eindruck zu erwecken und ging an dem Typen vorbei. Während er rauchte überlegte er, ob er sich verhört hatte. Bernd und harte Drogen? Wozu? Die Geschäfte liefen glänzend, jedenfalls nach seiner Meinung. Andererseits konnte man nie genug Geld haben.
Er legte den Vorfall zu den Akten und kehrte zur Arbeit zurück. Zum Schichtende hin waren kaum noch Gäste im Lokal, so dass sein Kollege ihm eher freigab. Kaspar wechselte im Personalraum seine Kleidung um und wollte gerade zur Hintertür, um das Gebäude zu verlassen, da rannte er unversehens gegen eine Faust.
Zu zweit fesselten sie ihn, wobei weitere Schläge auf ihn einprasselten. Im Geiste betete er, dass sie ihn am Leben ließ und geriet in Panik, als man ihn in einen Kofferraum verfrachtete. Es folgten die schrecklichsten Minuten seines Lebens. Keiner Bewegung fähig im Dunkeln eingesperrt zu sein, hin und her geschleudert zu werden, wenn der Wagen anfuhr oder bremste, unwissend, was mit ihm geschehen würde, verursachte ihm Bauchkrämpfe. Vor Angst pinkelte er sich in die Hose und hätte er nicht vor rund einer Stunde sein großes Geschäft erledigt, wäre das wohl auch in seiner Pants gelandet.
Als Bernd ihn wieder aus dem Kofferraum hievte und in einen Wald schleppte, hatte er schon halbwegs mit seinem Leben abgeschlossen. Er konnte sein Glück daher kaum fassen, als das erwartete Szenario nicht eintraf. Wie es aber nun mal so ist, wurde ihm im nächsten Moment seine missliche Lage bewusst: Allein irgendwo im Nirgendwo, nackt, angeschlagen und gefesselt. Ronaldos Auftauchen kam ihm daher wie das eines Engels vor. Eigentlich glaubte er nicht an Gott, doch in dem Augenblick dankte er dem Schöpfer für die unendliche Güte, ihm einen Retter zu schicken.
Gekleidet in die viel zu großen Klamotten seines Gastgebers saß er am Küchentisch und verspeiste drei Scheiben Brot. Zum Nachtisch gab’s einen Apfel. Kaspar fühlte sich einerseits zerschlagen und hundemüde, andererseits total aufgedreht. Zunehmend neugierig betrachtete er Ronaldo, der ihm gegenübersaß und mit seinem Smartphone spielte.
„Bist du Landwirt?“ In der Dunkelheit hatte er Ställe und eingezäunte Flächen neben dem Wohnhaus gesehen.
„So ähnlich“, murmelte Ronaldo. „Ich mache in Pferden.“
„Echt? Ich dachte, sowas bringt heutzutage kein Geld mehr ein.“
Ronaldo zuckte mit den Achseln. „Für mich reicht’s.“
Inzwischen hatte er den Apfel bis aufs Kerngehäuse aufgegessen. Suchend schaute er sich um. Wortlos nahm Ronaldo ihm den Apfelrest aus der Hand und entsorgte ihn in den Mülleimer, der außerhalb seines Sichtfeldes stand.
„Danke. Und danke, dass du mich gerettet hast. Ich weiß gar nicht, wie ich das wieder gutmachen soll.“
„Ich war nur zur rechten Zeit am rechten Ort.“ Ronaldo stand auf. „Ich kümmere mich mal um dein Bett.“
Kaspar erhob sich ebenfalls, allerdings weitaus schwerfälliger. Seine Rippen taten weh, genau wie ein Bein und sein Rücken, von dem Matschauge ganz zu schweigen. Eigentlich schmerzte sein ganzer Körper. Wie lange er im Kofferraum gelegen hatte, entzog sich seiner Kenntnis, doch lange genug, dass die Stricke Striemen an Hand- und Fußgelenken hinterlassen hatten.
Im Flur traf er Ronaldo, die Arme voller Bettwäsche. Er folgte seinem Gastgeber in ein riesiges Wohnzimmer, in dem eine ausladende Couchgarnitur stand. Ronaldo legte die Last ab, breitete ein Laken über das Polster und warf ein Kissen und eine Decke darauf. Als würde der Anblick Kaspar sedieren, spürte er plötzlich allumfassende Müdigkeit.
„Ich hau mich aufs Ohr“, verkündete Ronaldo. „Oder brauchst du noch was?“
„Momentan nicht. Schlaf gut.“
Ronaldo ließ ihn allein und schloss hinter sich die Tür. Leise ächzend setzte sich Kaspar auf das improvisierte Bett. Nicht auszudenken, was passiert wäre, hätte Ronaldo ihn nicht aufgesammelt. Wahrscheinlich wäre er die ganze Nacht nackig durch den Wald geirrt. Eine Vorstellung, die ihm einen kalten Schauder über den Rücken jagte. Womöglich hätte ihn irgendein wildes Tier gebissen. Man hörte ja immer wieder von Wildschweinen und Wölfen, die in der Umgebung ihr Unwesen trieben. Ganz zu schweigen von Zecken. Sein Gemächt wäre diesem Ungeziefer schutzlos ausgeliefert gewesen. Ein angeekelter Schauder lief ihm über den Rücken. Nichts fand er abstoßender als blutsaugende Viecher.
Er schob die unangenehmen Bilder beiseite, streifte die geliehene Jeans ab und kroch unter die Decke. Trotzdem er todmüde war dauerte es ein Weilchen, bis er einschlief.
Am nächsten Morgen wachte er auf und guckte sich verwirrt um. Im nächsten Moment kam die Erinnerung zurück. Bernd, der Drogendeal, der Kofferraum und seine Rettung.
Es war totenstill im Haus. Kaspar lauschte angestrengt, vernahm jedoch keinen Mucks. Er spähte zum Fenster. Dahinter befand sich eine Terrasse, an die sich eine Wiese anschloss. Nett. Gepflegter Rasen war ihm ein Gräuel.
Schwerfällig - gestern Nacht hatte es weniger wehgetan - richtete er sich auf und schwang seine Füße auf den Boden. Er checkte seine Umgebung. Chrom und Schwarz dominierten den Raum. Gegenüber hing ein riesengroßer Flat-Screen an der Wand. In einem Regal türmten sich Bücher.
Kaspar stand auf und musterte die Lektüre. Ein Sammelsurium aus allen möglichen Genres sowie einigen Bildbänden. Plötzlich vernahm er Schritte und wandte sich hastig um, als hätte er etwas Verbotenes getan.
Ronaldo erschien im Türrahmen. „Morgen. Gut geschlafen?“
„Danke, ja, den Umständen entsprechend.“
Fragend hob Ronaldo eine Augenbraue.
„Ich hatte ein paar Alpträume“, erklärte Kaspar.
„Verständlich. Möchtest du Kaffee?“
„Ja, bitte, gern.“ Er streifte die geliehene Jeans über und folgte Ronaldo - mit einem Schlenker übers Bad - in die Küche.
Während sich sein Gastgeber am Kaffeeautomaten zu schaffen machte, dachte er über seine Situation nach. Seinen Job war er wohl los, aber lieber den als sein Leben. Apropos: Wie war das mit ‚Visage nicht mehr sehen‘ gemeint? Hatte sich Bernd nur aufs Restaurant bezogen oder generell auf Hamburg? Falls ja, hatte er ein dickes Problem.
„Wenn du Hunger hast, guck in den Kühlschrank“, meldete sich Ronaldo zu Wort. „Nimm dir, was du magst.“
„Und was ist mit dir?“
Die Arme vor der Brust verschränkt lehnte sich Ronaldo gegen die Fensterbank. „Ich bin im Moment auf Diät. Magenprobleme.“
„Oh! Das tut mir leid.“ Kaspar überlegte, ob er ebenfalls hungern sollte, um seinen Gastgeber nicht in Versuchung zu führen. Sein knurrender Magen riet ihm davon ab. Er holte also aus dem Kühlschrank Toastbrot, Butter, Käse und Marmelade.
Derweil stelle Ronaldo einen Beller sowie Teller auf den Tisch und legte Besteck dazu. Anschließend nahm er mit einem Glas Wasser Kaspar gegenüber Platz.
„Darf ich erfahren, was du gestern nackt und gefesselt im Wald wolltest?“, erkundigte sich sein Gastgeber.
„Das ist eine längere Geschichte.“
Ronaldo lehnte sich zurück. „Ich hab Zeit.“
„Ich arbeite im Restaurant Feuerberg in Barmbek. Das ist eine Kette. Bestimmt hast du die Lokale schon mal gesehen. Es gibt auch einen in Lemsahl. Das dürfte ganz in der Nähe sein. Die Speisekarte ...“ „Kaspar! Komm zur Sache!“, unterbrach ihn Ronaldo.
„Sorry.“ Er belegte seinen Toast mit Käse, biss hinein und schielte rüber zur Kaffeemaschine. „Isch glaube, der ischt durch“, machte er Ronaldo aufmerksam.
Gleich darauf stand vor ihm ein gefüllter Becher. Milch gab es leider nicht, wie er bei der Inspektion des Kühlschrankinhaltes festgestellt hatte.
„Gestern hatte ich Spätschicht“, erzählte Kaspar weiter. „Als zwischendurch weniger los war, hab ich meinen Kollegen gefragt, ob ich eine rauchen gehen darf. Wie ich dann mit meinen Kippen zur Hintertür will, höre ich Stimmen im Büro. Ich weiß, das tut man nicht, aber ich hab trotzdem gelauscht. Bernd - das ist mein Chef - hat mit jemanden über Stoff geredet. Ich glaube, die meinten Drogen. Bernd wollte zwei Kilo, doch der Typ hat wohl weniger geliefert. Darüber haben sie gestritten.“
„Ist dein Chef der Eigentümer der Restaurants oder nur ein Geschäftsführer?“, wollte Ronaldo wissen.
„Der Besitzer.“ Kaspar strich Marmelade auf seinen zweiten Toast. „Jedenfalls stehe ich da, die Ohren gespitzt, da kommt jemand durch die Hintertür rein. Ein Typ, den ich schon ein paarmal gesehen habe, aber nicht namentlich kenne.“
„Und der hat dir das Veilchen verpasst?“
Da Kaspar gerade kaute, schüttelte er lediglich den Kopf.
„Aber der hat dich gefesselt?“
Erneut verneinte er, schluckte den Bissen runter und fuhr fort: „Ich bin an dem Typen vorbei nach draußen geschlüpft. Da nichts passierte, hab ich die Sache zu den Akten gelegt und bin wieder an die Arbeit gegangen. Ab elf war kaum noch was los. Mein Kollege meinte, ...“
„Kaspar! Komm zum Punkt!“, schimpfte Ronaldo, woraufhin er den Kopf einzog.
„Sorry. Ich weiß, ich verzettele mich oft.“
„Also, wie ging’s weiter?“
„Ich hab mich umgezogen und wollte zur Hintertür raus, da bin ich gegen eine Faust gelaufen. Bernd und der andere Typ haben mich vermöbelt, verschnürt und in den Kofferraum von Bernds Wagen verfrachtet.“ Er betastete sein Matschauge. „Ich dachte, ich verrecke da drin.“
„Dieser Bernd hat dich also zum Wald gefahren, aus dem Kofferraum geholt, dir die Kleider vom Leib geschnitten und ist wieder weggefahren?“, resümierte Ronaldo.
„Genau. Außerdem sagte er, er will mich nie wieder sehen.“
„Dein Ex-Chef ist kein netter Mensch.“
„Darf ich noch einen Toast?“, fragte Kaspar mit sehnsüchtigem Blick auf die Packung.
„Nur zu. Bedien dich.“
Er steckte zwei weitere Scheiben in den Toaster. „Eigentlich ist Bernd ein guter Vorgesetzter. Er war immer fair zu mir.“
„Tja. Nun hast du ein hübsches Veilchen von dem fairen Bernd.“
„Der Lauscher an der Wand, trägt später einen Verband“, reimte Kaspar mehr schlecht als recht, gefolgt von einem Seufzer. „Ich hab ja selbst schuld. Wäre ich direkt nach draußen gegangen, hätte ich keinen Ärger bekommen.“
„Und wäre dein feiner Chef kein Dealer, hättest auch keinen bekommen.“
„Ich weiß. Dabei kann ich mir das von Bernd gar nicht vorstellen. Der verdient genug mit seinen Läden.“
„Geld macht gierig.“
„Und mehr Geld macht noch gieriger“, stimmte er zu, schnappte sich einen fertig gebräunten Toast und bestrich ihn mit Butter. „Darfst du nicht wenigstens einen Zwieback oder so knabbern?“
„Momentan nicht. Vielleicht später.“
Während er die Toastscheibe mit Käse belegte grübelte er, ob er Ronaldo bitten konnte, ihn weiterhin zu beherbergen. Ihm war mulmig zumute bei dem Gedanken, in seine Wohnung zurückzukehren. Immerhin kannte Bernd die Adresse. Er wollte nicht mit einem Eimer Zement an den Füßen in der Elbe enden.
„Dir ist vorher nie etwas Ungewöhnliches aufgefallen?“, erkundigte sich Ronaldo. „Die Übergabe eines Pakets oder so?“
Kaspar schüttelte den Kopf.
„Nichts gegen den einen oder anderen Joint, aber bei härteren Drogen hört für mich der Spaß auf.“
Sein Stichwort! „Für mich auch. Ich hab Angst in meine Wohnung zu gehen.“
Ronaldo runzelte die Stirn. „Warum?“
„Weil Bernd die vielleicht beobachtet.“
„Er wird wohl kaum erwarten, dass du nackig das Land verlässt.“
„Ich glaube nicht, dass er sich über solche Lappalien Gedanken macht.“ Kaspar atmete tief durch. „Kann ich noch ein bisschen hierbleiben?“ Er setzte seinen patentierten Welpenblick auf.
Ronaldo verstand sich selbst nicht. Wieso hatte er ja gesagt? Seit wann konnte ihn ein Hundeblick erweichen? ‚Das Bürschchen ist süß. Gib zu, dass du heiß auf seinen Apfelarsch bist‘, flüsterte sein Verstand. ‚Ich vögele nicht mit Sterblichen‘, gab er im Geiste zurück.
„Da vorne ist es.“ Kaspar wies auf ein hässliches Rotklinkergebäude.
Nicht nur, dass er das Kerlchen weiter beherbergte: Er hatte sich auch noch bereiterklärt, mit Kaspar zu dessen Wohnung zu fahren, um ein paar Sachen zu holen. Vielleicht hatte das Blut der räudigen Ratte ihn irre gemacht.
Er hielt am Bordstein. „Soll ich mitkommen?“
„Ja, bitte.“
Anstatt die Haustür aufzuschließen, drückte Kaspar den Klingelknopf neben dem Namen Russ und erklärte: „Meine Nachbarin hat einen Schlüssel für meine Wohnung.“
„Und wo ist deiner?“
„Entweder in Bernds Kofferraum oder im Wald.“
Logisch. Nackte Leute trugen selten Schlüssel bei sich. Ronaldo hätte die zerschnittenen Klamotten durchsuchen sollen. Wahrscheinlich befand sich darin auch Kaspars Brieftasche und Handy.
„Mehr hatte ich zum Glück nicht dabei. Ich lass immer alles zu Hause, was ich nicht unbedingt brauche“, berichtete Kaspar weiter.
Die Gegensprechanlage knackste. „Ja?“, erklang eine Frauenstimme.
„Ich bin’s, Kaspar.“
Der Türöffner summte. Im Treppenhaus empfing sie Zitronenduft. Er stieg hinter Kaspar die Stufen hinauf. Im 1. Stock stand eine alte Dame in der offenen Wohnungstür.
„Was ist dir denn passiert?“, empfing sie Kaspar.
„Es war eine Verkettung unglücklicher Umstände.“
„Das sagst du immer.“ Die Frau schüttelte, mit einem amüsiert-mitleidigen Gesichtsausdruck, den Kopf und reichte Kaspar einen Schlüssel mit Bärchenanhänger.
„Ich lass gleich morgen einen nachmachen“, versicherte Kaspar. „Dankeschön.“
Nach einem argwöhnischen Blick auf Ronaldo schenkte die Frau Kaspar ein Lächeln. „Pass auf dich auf, mein Junge.“ Sprach’s und verschwand in ihre Wohnung.
Sie mussten zwei weitere Treppen zu Kaspars Bude hinaufsteigen. Die Behausung bestand aus lediglich einem Zimmer, einer winzigen Küche und ebensolchem Bad. Vor etwa 200 Jahren hatte Ronaldo mal ähnlich beschränkt gewohnt. Er erinnerte sich mit Grausen daran. Platz war für ihn wichtig. Vermutlich litt er unter einem Trauma, weil ihn mal jemand in einen Sarg gesperrt hatte.
Während Kaspar Klamotten in einen Rucksack stopfte, schaute er sich unbehaglich um. Die Wände schienen immer näher zu kommen. Es fiel ihm schwer, sich nichts anmerken zu lassen.
„Bin schon fertig“, verkündete Kaspar. „Jetzt fehlt nur noch meine Kosmetik-Ausrüstung.“
Einige Minuten später verließen sie die Wohnung. Kaspar schleppte den Rucksack, eine Sporttasche sowie zwei Plastiktüten. In letzteren befand sich Zeug aus dem Bad, in der Tasche Bücher, Notebook und eine Spielekonsole.
Auf dem Rückweg guckte Kaspar stumm durch das Seitenfenster. Einerseits angenehm, denn das ständige Geplapper fiel Ronaldo auf den Keks, andererseits tat ihm das Bürschchen leid. Von einem Drogenbaron zusammengeschlagen zu werden, seinen Job zu verlieren und in Angst zu leben, war wirklich beschissen. Trotz seiner nahezu 400 Jahre besaß er Empathie, was man von vielen seiner Artgenossen nicht behaupten konnte. Die meisten stumpften ab. Einige versuchten, sich mit Drogenexzessen zu betäuben, andere suchten ihr Heil im Glauben.
Ronaldo vermutete, dass die ersten Vampire im alten Griechenland entstanden, denn die Anbetung von Zeus, Poseidon, Hera, Demeter, Apollon, Artemis, Athene, Ares, Aphrodite, Hermes, Hephaistos und Hestia war bis heute erhalten geblieben. Allerdings sah man von menschlichen Opfergaben, wie es bis vor ungefähr 150 Jahren Brauch war, ab. Stattdessen wurden auf dem Altar in Blut getränkte Puppen dargeboten. Solche Messen fanden nur im privaten Rahmen statt. Er hatte kürzlich mal an einer teilgenommen, konnte dem aber nichts abgewinnen.
Zurück zu Kaspar: Wie sollte er in den folgenden Tagen glaubhaft einen Sterblichen imitieren? ‚Super! Da machst du dir ja echt früh Gedanken drüber, Kumpel!‘, höhnte eine Stimme in seinem Kopf. ‚Spar dir den Atem und gib mir lieber konstruktive Vorschläge‘, erwiderte er im Geiste. Das Ausbleiben einer Antwort wunderte ihn nicht. Für Spott und Hohn war die Stimme immer zu haben, doch wenn’s ernst wurde, verpisste sie sich immer.
„Tut mir leid, dass ich dir auf die Pelle rücke“, flüsterte Kaspar. „Ich wüsste nicht, wo ich sonst hin sollte.“
„Hast du keine Familie?“ Aus dem Augenwinkel sah er, dass Kaspar den Kopf schüttelte. „Wie kommt das?“
„Meine Eltern sind beide gestorben. Danach war ich bei verschiedenen Pflegefamilien.“
Armer Junge. Zwar erinnerte sich Ronaldo kaum an seine menschlichen Eltern, aber an seinen vampirischen Ziehvater sehr wohl. Leider gehörte Adamo zu der Generation, die wegen eines fehlerhaften Gens im Sonnenlicht zu Staub zerfiel. So hatte es ihn eines Tages erwischt. „Tut mir leid.“
„Ist schon lange her“, murmelte Kaspar und fragte unvermittelt: „Hast du eigentlich eine Freundin?“
Perplex erwiderte Ronaldo: „Ähm ... nein. Wieso?“
„Als kleines Dankeschön könnte ich dir täglich einen blasen. Man sagt, ich bin besser als manche Frau.“
Es verschlug ihm die Sprache. Das kam echt nicht oft vor. Kaspar wirkte total unschuldig und dann sowas.
„Hab ich dich geschockt?“, hakte Kaspar leise nach.
„Das kann man wohl sagen.“ Ronaldo lenkte seinen Wagen in den Carport und schaltete den Motor ab. „Machst du sowas öfter?“
„Äh - was?“
„Unseriöse Angebote?“
„Das ist das erste Mal. Bisher war ich noch nie in solcher Lage.“
Ronaldos Schwanz fand den Vorschlag klasse. Kein Wunder, hatte der doch seit einer Ewigkeit keine Mundhöhle von innen gesehen. Es kam aber nicht infrage, sich von seiner Libido steuern zu lassen. „Danke für das Angebot, aber nein.“
Kaspar zuckte mit den Achseln. „Falls du es dir überlegst, sag Bescheid.“
Diesmal übernahm es Ronaldo, einen Teil des Gepäcks zu tragen. Er brachte es in den ersten Stock, wo zwei Gästezimmer lagen. Außerdem gab es ein Bad und eine mit dem allernötigsten ausgestattete Teeküche. Manchmal übernachteten in den Räumen Gäste von außerhalb, die eines seiner Zuchtpferde kaufen wollten.
„Wow!“ Mit deutlicher Begeisterung schaute sich Kaspar in dem ihm zugedachten Zimmer um. „Das ist ja besser als meine Butze.“
Insgeheim musste Ronaldo ihm zustimmen. „Morgen frage ich mal meine Leute, ob sie Hilfe gebrachen können, damit du dich ein bisschen nützlich machen kannst.“
„Danke.“ Kaspar strahlte ihn an. „Darf ich dir um den Hals fallen?“
„Untersteh dich!“ Vorsichtshalber trat er einen Schritt zurück. „Mach’s dir gemütlich. Später zeige ich dir die Ställe.“
Er stieg die Treppe wieder runter, verließ das Haus und blieb stehen, da Erasmus, ein alter Kumpel, auf ihn zukam. Es handelte sich ebenfalls um einen Vampir, Besitzer eines Hengstes, der in Ronaldos Stall eingemietet war.
„Hi. Hast du was zu trinken für mich?“ Erasmus guckte sich um und fuhr leiser fort: „Mir sind leider die Hamster ausgegangen. Ich bekomme erst morgen Nachschub.“
„Keine Ahnung, was ich noch da habe“, entgegnete Ronaldo. „Muss mal in meiner Tiefkühltruhe kramen.“
Selbige befand sich im Keller. Sie stiegen also die Treppe runter und inspizierten den Inhalt der Truhe. Zwischen Kaninchen und Mäusen fanden sie zwei Hamster, von denen Ronaldo einen in die Mikrowelle legte, um ihn aufzutauen. Den anderen steckte sich Erasmus in die Jackentasche.
„Ich hab einen Menschen aufgenommen“, berichtete Ronaldo, lehnte sich gegen die Truhe und verschränkte die Arme vor der Brust. „Der arme Kerl ist von einem Arschloch splitternackt im Wald ausgesetzt worden.“
„Ist er sexy?“, wollte Erasmus wissen.
„Derzeit ist er durch ein Veilchen entstellt, aber ja, er ist durchaus einen zweiten Blick wert.“
„Und wieso hat das Arschloch ihn ausgesetzt?“
„Er ist Zeuge eines Drogendeals geworden.“
Erasmus stieß einen Pfiff aus. „Heidewitzka! Da kann er von Glück reden, dass er seine Zunge noch besitzt und lebt.“
„Die Zeiten haben sich geändert. Einen Menschen umzubringen, ohne dafür in den Knast zu wandern, ist schwierig geworden.“
„Leider ja.“ Erasmus seufzte. „Das waren noch Zeiten, als man seinen Durst an Menschen stillen durfte.“
Die Mikrowelle finalisierte mit einem ‚Pling‘. Ronaldo holte den Hamster heraus, schnitt die Plastikfolie, in die das Tier eingeschweißt war, auf und reichte es Erasmus. „Wohl bekomm’s.“
Er hatte bereits ein Karnickel gefrühstückt und dementsprechend keinen Hunger. Während Erasmus den Hamster aussaugte, dachte er über seinen Gast nach. Im Grund müsste man diesen Bernd unschädlich machen, um Kaspar eine Rückkehr in sein Leben zu ermöglichen. Leider waren ihm die Hände gebunden, weil unschädlich machen unter Strafe stand. Auch sich Bernd zu offenbaren, um durch Angst Druck zu erzeugen, war verboten.
Genüsslich seufzend warf Erasmus den leeren Hamster in einen dafür vorgesehenen Behälter. Dessen Inhalt vergrub Ronaldo regelmäßig in dem kleinen Wäldchen auf seinem Anwesen.
„Danke, Bruder. Bei Gelegenheit revanchiere ich mich mal.“
Ein Geräusch an der Kellertreppe ließ Ronaldo aufhorchen. Im nächsten Moment erklang Kaspars Stimme: „Ronaldo? Bist du da unten?“
„Ist das dein Gast?“, fragte Erasmus leise.
Er nickte und rief: „Warte in der Küche auf mich!“
„Hui! Du kannst ja richtig streng sein.“ Erasmus gluckste. „Dann guck ich mir deinen Menschen doch mal an.“
Hintereinander gingen sie die Treppe hoch und betraten die Küche, in der Kaspar auf einem Stuhl hockte und ihnen entgegensah. Bei Erasmus‘ Anblick bekam der Bursche große Augen. Na ja, ein großes Auge. Das andere war weiterhin zugeschwollen.
„Hallöchen“, säuselte Erasmus, der mit den blonden Locken und hübschem Gesicht ein echter Hingucker war. „Wer bist du denn?“
„Kaspar“, krächzte selbiger.
„Und dieser Prince Charming ist Erasmus“, übernahm Ronaldo die weitere Vorstellung. „Ein- bis zweimal pro Woche besucht er seinen Hengst, der in meinem Stall steht.“
„Mein Stichwort“, erkannte Erasmus. „Der Junge wartet bestimmt schon ungeduldig auf mich.“
Zu dritt gingen sie rüber zu den Ställen. Neben zwei Angestellten, die den Wochenenddienst versahen, befanden sich einige Pferdehalter auf der Koppel und in den Boxen. Ronaldo grüßte nach links und rechts, während sie die Boxengasse runterschritten. Excalibur, so hieß Erasmus‘ Pferd, wieherte bei ihrem Erscheinen.
Ronaldo scheuchte Kaspar, der stehengeblieben war, weiter. „Gib den beiden etwas Privatsphäre.“
Nacheinander zeigte er seinem Gast die Sattelkammer, Teeküche mit Umkleideraum, Duschen und Toiletten sowie Werkstatt. Anschließend führte er Kaspar auf die Koppel, auf der Detlef gerade einen Wallach longierte. „Hast du ein bisschen Ahnung von Pferden?“
Kaspar zuckte mit den Schultern. „Geht so. Ich war als Kind mal reiten.“
„Dann bist du ja praktisch ein Fachmann.“ Er zwinkerte Kaspar zu. „Möchtest du noch mehr sehen?“
„Darf ich mich allein ein bisschen umgucken?“
„Natürlich. Falls du Fragen hast, findest du mich auf der Terrasse.“ Er ging zurück zum Haus und richtete sich, mit Lektüre sowie ein paar Blutsticks, auf der Terrasse ein.
Nach einer Weile wurde er schläfrig. Mit rund 400 Jahren durfte man sich ja wohl auch tagsüber ein Nickerchen gönnen, also schloss er die Augen. Gerade war er am Eindösen, als Geraschel im Gebüsch ihn zurück ins Jetzt riss. Kaspar, ein paar Zweiglein im Haar, tauchte aus dem Dickicht links von ihm auf.
„Es ist voll schön hier. Gehört das alles dir?“
„Mhm.“ Ronaldo blinzelte ins Sonnenlicht. „Bist du so lieb und benutzt die Vordertür, anstatt dich von der Seite anzuschleichen?“
„Dann hätte ich läuten müssen.“
Schlauer Bursche. „Ich gebe dir einen Schlüssel.“
Ein Strahlen erschien auf Kaspars Gesicht. „Danke! Darf ich dich jetzt umarmen?“
„Auf keinen Fall!“
„Blasen?“
„Noch viel weniger!“
Kaspar schob die Unterlippe vor und verschwand auf dem gleichen Weg, wie er gekommen war. Amüsiert schüttelte Ronaldo den Kopf. Der Junge war echt niedlich.
Texte: Sissi Kaiserlos
Bildmaterialien: shutterstock, depositphotos
Cover: Lars Rogmann
Lektorat: Aschure - dankeschön
Tag der Veröffentlichung: 02.07.2020
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