Cover

Werwölfe sind auch nur Schafe im Wolfspelz 2

Sämtliche Personen, Orte und Begebenheiten sind frei erfunden, Ähnlichkeiten rein zufällig. Der Inhalt dieses Buches sagt nichts über die sexuelle Orientierung des Covermodels aus. Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck oder eine andere Verwertung, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung der Autorin.

Copyright Texte: Sissi Kaipurgay/Kaiserlos

Foto: depositphotos

Korrektur: Aschure, dankeschön!

Kontakt: http://www.bookrix.de/-sissisuchtkaiser/

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Der Kuschelwolf

Tyll ist, seit er in seiner Pubertät von einem Tier gebissen wurde, ein unruhiger Geist. In keinem Job hält er es lange aus. Er greift zu, als er ein unmoralisches Angebot von Fazel, dem Inhaber einer Restaurantkette, erhält. Das Arrangement gibt ihm genug Zeit für seine einzige und leider unrentable Passion: Zeichnen. Zu seinem Model kürt er heimlich Mohammed, Fazels Bodyguard und Mädchen für alles.

1.

Tyll schlenderte an der Straße auf und ab, wobei er die anderen Typen abcheckte. Die Konkurrenz war heute groß. Das schöne Wetter hatte rund zehn weitere Stricher angelockt. In den letzten Wochen, bei eisigkaltem Wind und Temperaturen zwischen fünf bis zehn Grad, waren es weniger als die Hälfte gewesen.

Vielleicht hatte es nicht an der Witterung gelegen, sondern daran, dass die zumeist osteuropäischen Zuhälter Nachschub besorgen mussten. Es herrschte nämlich starke Fluktuation in dem Gewerbe. Überwiegend wurde auf dem Straßenstrich - wenn überhaupt - in slawischen Sprachen, von Polnisch bis Russisch, geredet. Was die Verständigung mit Freiern anging, benötigte man ja auch kein Deutsch. Es reichten internationale Schlagworte, wie Blowjob, Fuck, Handjob und fuck off.

Von seinem Nebenjob war Tyll genauso wenig begeistert wie viele seiner Mitbewerber, was er an deren sauertöpfischen Mienen erkannte, konnte aber dank eines Tricks gut damit leben. Erwischte er einen unangenehmen Freier, zog er sich geistig in seine zweite Gestalt zurück. Auf diese Weise hatte er so manch miesen Fick glimpflich überstanden.

Kurz nach seinem 15. Geburtstag war ihm erstmals aufgefallen, dass in ihm ein Tier steckte. Damals hatte er das Kribbeln, das aus seiner Haut wollen der Pubertät zugeschrieben und dem Umstand, aufs eigene Geschlecht zu stehen. Ungefähr ein halbes Jahr später war sein zweites Ich erstmals in Erscheinung getreten. Er war in einem Waldstück unterwegs, als es hervorbrach. Zum Glück handelte es sich um ein wenig frequentiertes Areal, sonst hätte er einiges Aufsehen erregt. Unter Einsatz all seiner Willenskraft hatte er das Tier schließlich, nach einer ausgiebigen Runde unter den Baumkronen, wieder zurückgedrängt.

Es dauerte einige Wochen, bis er den Schock verdaut hatte und weitere, bis er es erneut - diesmal freiwillig - raus ließ. Schnell stellte er fest, dass sie gut miteinander klarkamen, wenn er dem Tier regelmäßig Freigänge erlaubte. Lediglich in Stresssituationen geriet es außer Kontrolle. Einmal hätte er sich fast in Gegenwart seiner Eltern gewandelt, als sie erbittert um seinen Werdegang stritten.

Bis heute war er nicht sicher, ob die gespaltene Persönlichkeit seinem Erbgut entstammte - wobei er sich das bei seinen kreuzbiederen Eltern schwer vorstellen konnte - oder ob es auf den Besuch eines Wildgeheges zurückzuführen war. Einige Wochen, bevor das Kribbeln einsetzte, hatte seine Familie einen Ausflug in einen Freizeitpark unternommen. Neben den Attraktionen, wie Achterbahn, Karussells und anderen Fahrgeschäften, gab es dort wilde Tiere, die man teilweise streicheln durfte. Bei der Gelegenheit hatte er sich eine Wunde zugezogen, nichts Schlimmes, nur einen Riss in der Fingerkuppe. Weitaus schmerzhafter war der Biss einer Graugans, der er dummerweise seine Finger entgegenstreckte. Na ja, eher hatte sie ihn gezwickt. Jedenfalls schmerzte das stärker als die andere Wunde.

Seine Eltern wussten weder von dem einen, noch von dem anderen. Wenn sie es je erfuhren ... lieber nicht darüber nachdenken. Die beiden waren liebe Leute, aber ein wenig unbedarft, eine nette Umschreibung für simpel gestrickt. Für sie gab es lediglich schwarz und weiß. Wozu sein Tun oder sein zweites Ich für sie zählen würde, war damit ja wohl klar.

Sie wollten für ihn nur das Beste, also eine solide Ausbildung und anschließend einen Job in einem angesehenen Unternehmen. Leider-leider schaffte er es einfach nicht, sesshaft zu werden. Seine Lehre zum Einzelhändler hatte er abgebrochen und hielt es auch sonst nirgendwo lange aus. Das Einzige, was ihn fesselte, war malen. Damit konnte er sich stundenlang beschäftigen, ohne müde zu werden. Bedauerlicherweise eine brotlose Kunst.

Aktuell arbeitete er im Shop einer Tankstelle. Die Entlohnung reichte weder zum Leben noch zum Sterben. Obwohl er bloß ein WG-Zimmer bewohnte, blieb kaum etwas übrig. Aus diesem Grund besserte er sein Einkommen auf dem Straßenstrich auf.

Ein Wagen näherte sich, bremste ab und rollte langsam an ihm vorbei. Der Freier hielt und winkte einen Dunkelhaarigen heran, der nach kurzer Unterredung in das Fahrzeug stieg. Trotzdem Tyll, mit den blonden Haaren, dem hübschen Gesicht und der knackigen Figur, ein echter Hingucker war, traf er nicht jedermanns Geschmack. Ein Glück. Schließlich wollte er nicht alle Kunden allein bedienen. Mehr als zwei schaffte er eh nicht an einem Abend. Manchmal, wenn’s hart zur Sache ging, sogar nur einen.

Ein weiterer Freier in einem weißen SUV beäugte durch die halb runtergelassene Seitenscheibe das Angebot. Diesmal erhielt ein Typ, der noch kleiner als Tyll war, den Zuschlag. Ihm tat das Bürschchen leid. Zum einen sah der Kunde nicht nach Kuschelkater aus, zum anderen wirkte der Stricher wie ein Novize. Na ja, eventuell nur ein Trick, um Kundschaft anzulocken.

Wenig später hielt an der gegenüberliegenden Seite ein Wagen. Der Fahrer war für Tyll kein Unbekannter: Er hatte sich für den Typen schon mehrfach gebückt. Besonders zärtlich war der Kunde nicht, aber das konnte man von keinem der Freier behaupten. Im Ganzen war’s okay gewesen.

Der Typ stieg aus, guckte nach rechts und links und überquerte die Fahrbahn. Tyll klebte sich ein Lächeln auf die Lippen, das der Mann nicht erwiderte. Vermutlich ein Fremdwort für ihn, denn er trug stets eine finstere Miene zur Schau. Vielleicht handelte es sich um einen Drogenbaron oder Mafiaboss. Das südländische Äußere entsprach dem Klischee solcher Klientel.

„Ich hab wenig Zeit“, sprach der Typ ihn an. „Schwing deinen Hintern in den Wagen.“

„Ich wünsche dir auch einen guten Tag“, entgegnete Tyll und folgte dem Mann, der bereits den Rückweg angetreten hatte. „Schönes Wetter heute, nicht wahr?“

Er rechnete nicht mit einer Antwort und lag richtig. Stumm schwang sich der Typ hinters Lenkrad, er auf den Beifahrersitz. Kaum hatte er den Gurt befestigt, fuhr sein Kunde los. Im Innenraum roch es nach Leder und einem teuren Aftershave. Das Radio war zwar an, doch aus den Lautsprechern ertönte keine Musik.

Wie immer ging es auf den Parkplatz eines Supermarktes, der um diese Zeit verlassen dalag. Der Mann stoppte an einer Stelle, die von der Straße schwer einzusehen war. Zudem wurde das Licht der Laternen von hohen Bäumen abgeschirmt.

Tyll schnallte sich ab und guckte im Halbdunkel rüber zu seinem Kunden. „Blasen?“

Der Mann nickte.

Innerlich seufzend, weil mal wieder die ganze Arbeit an ihm hängenblieb, beugte er sich rüber und öffnete die Jeans des Typen. Er fand ein Würmchen vor, das sich unter seiner kundigen Zunge rasch in eine Kobra verwandelte. Der Kunde gehörte zu den wenigen, die er ohne Gummi blies. Zum einen war der Mann gepflegt, zum anderen zahlte er einen Spezialpreis. Das eine funktionierte nicht ohne das andere. Einen stinkenden Schwanz hätte er selbst für eine Million abgelehnt. Ein unsinniges Gedankenspiel, denn so viel blechte kein Mensch fürs Blasen.

Dank Tylls patentierter Technik kam der Kunde schnell. Anschließend spuckte er das Ejakulat in seine Handfläche, die er mit einem Taschentuch säuberte. Schlucken würde er selbst nicht für eine Million. Manche Dinge waren einem besonderen Menschen vorbehalten, wobei es solchen in Tylls Leben nicht gab. Früher oder später würde jedoch einer auftauchen, davon war er überzeugt.

Sein Kunde brachte sich untenrum in Ordnung, reichte ihm einen Geldschein und fischte eine Packung Kaugummi aus dem Handschuhfach. „Auch?“

„Ja, bitte.“ Er nahm einen der Streifen.

„Pass mal auf: Ich hab keine Zeit, dich ständig auf dem Strich aufzugabeln. Vorschlag: Du stehst mir die nächsten drei Monate exklusiv zur Verfügung. Dafür bekommst du Kost und Logis und ein Taschengeld.“

„Taschengeld?“

„Dreihundert pro Tag.“

Tyll runzelte die Stirn. Das war verdammt viel. Wie oft wollte der Typ dafür ran? Etwa zehnmal täglich?

„Mein Bodyguard wird dich auf dem Laufenden halten, wann deine Anwesenheit vonnöten ist. Ich bin oft unterwegs“, fügte sein Kunde hinzu.

Das hörte sich schon besser an. Zeit zum Malen wäre also drin. Sehr verlockend. „Also müsste ich bei dir wohnen?“

„So sieht’s aus.“ Der Mann startete den Motor und fuhr vom Parkplatz.

In Tylls Kopf arbeitete es fieberhaft. Für und Wider gaben sich die Klinke in die Hand. Letztendlich überwog das Für. Reichlich Knete, dafür wenig zu tun. Sein Zimmer könnte er sogar in der Zeit untervermieten. „Okay. Ich bin dabei.“

„Wunderbar“, brummelte sein Kunde, stoppte am Bordstein und zückte eine Visitenkarte, die er Tyll überreichte. „Finde dich morgen Nachmittag um drei bei mir ein. Mohammed wird dich empfangen und einweisen.“

„Soll ich mein Gepäck dann schon mitbringen?“

Ungeduldig tippelte der Mann, der laut dem Kärtchen Fazel Özdemir hieß und eine Restaurantkette betrieb, aufs Lenkrad. „Ist mir egal. Hauptsache, ich finde deinen Arsch an Ort und Stelle vor.“

„Alles klar. Schönen Abend noch“, flötete Tyll, stieg aus und schaute dem davonfahrenden Wagen hinterher. Hatte er das gerade geträumt?



2.

Um Punkt drei läutete er am folgenden Tag an der Tür einer Villa, die auf einem großzügigen Grundstück stand. Es handelte sich um eine noble Adresse in Ottensen, unweit der Elbe. Vielleicht konnte man vom ersten Stock aus sogar die Schiffe beobachten.

Tyll hatte fast all sein Gepäck dabei. Einen Trolley Klamotten. Im Rucksack und einem weiteren Rollkoffer befanden sich seine Malutensilien. Die restlichen Sachen, ein bisschen Tand und weitere Kleidung, hatte er in einem Karton auf seinem Kleiderschrank verstaut. Seine Kumpels in der WG kannten jemanden, der jemanden kannte, der vorübergehend das Zimmer mieten wollte. Es war also eine Win-Win-Situation: Es kam doppelt Geld herein.

Ein riesiger Mann öffnete die Tür. Tyll schätzte ihn auf eins neunzig. Er musste den Kopf in den Nacken legen, um den Typen anzuschauen. Genau wie Fazel war der Mann südländischen Ursprungs, wie man unschwer an den dunklen Augen und Haaren sowie dem olivfarbenen Teint erkannte.

„Du bist Tyll?“, fragte der Mann.

„Richtig. Und du bist Mohammed?“

Der Mann nickte und trat beiseite. „Komm rein. Ich hab den Auftrag, dir alles zu zeigen.“

Im Erdgeschoss befand sich eine große Küche aus Edelstahl, ein Bad, Wohnzimmer, Arbeitszimmer, Salon und Wintergarten. Mohammed wies auf eine geschlossene Tür. „Da unten hause ich, wenn ich im Dienst bin.“

Im ersten Stock zeigte Mohammed ihm ein Zimmer mit den Worten: „Hier wohnst du. Mehr brauchst du nicht zu wissen.“

„Wie sieht es mit den Mahlzeiten aus?“

„Helene, die Köchin, bereitet an jedem Wochentag ein Mittagessen zu. Ansonsten ist Selbstverpflegung angesagt. Die Küche ist blitzsauber zurückzulassen.“

„Okay. Wo finde ich dich, wenn ich noch Fragen habe?“

Mit dem Kinn wies Mohammed auf ein altmodisches Telefon, das auf dem Schreibtisch am Fenster stand. „Wähle die 1, dann erreichst du mich.“

„Danke.“

Mohammed deutete einen Diener an und ließ ihn allein. Tyll legte seinen Rucksack ab und schaute sich um. Sein Domizil war ungefähr 25 Quadratmeter groß. Neben dem bereits erwähnten Schreibtisch befand sich ein breites Bett, Kleiderschrank, eine Kommode, zwei Stühle und ein Flat Screen darin. Der Boden war mit hellem Teppich ausgelegt, die Tapete ebenfalls beige. Zwei Bilder hingen an den Wänden, beides abstrakte Motive. Er beäugte sie näher und erkannte, dass es sich um Originale handelte. Seinem Geschmack entsprachen sie nicht, waren aber bestimmt arschteuer.

Im angrenzenden Bad bewunderte er die gläserne Duschkabine, Badewanne mit goldenen Delphin-Armaturen und den Spiegel überm Waschbecken. Ein großes Exemplar mit hübschem Schliff, in dem man gesünder wirkte als man war. Sein sonst eher blasses Gesicht sah sonnengebräunt aus.

Er riss sich von dem Anblick los und ging zurück in sein Zimmer. Der Raum in der WG war nur halb so groß und mit Sperrmüll ausgestattet. Teils mit Möbeln aus seinem Jugendzimmer, teils mit geschenktem Kram. Dieses Zimmer war eine eindeutige Verbesserung, wenn auch leider nur für begrenzte Zeit. Tyll nahm sich vor, das Beste daraus zu machen.

Als erstes rief er bei seinem aktuellen Arbeitgeber an und kündigte. Scheißjobs gab’s wie Sand am Meer. In drei Monaten fand er bestimmt locker einen neuen. Als nächstes wählte er die 1.

„Ja?“, meldete sich Mohammed.

„Fazel hat gesagt, dass du mir meine Präsenzzeiten nennen wirst.“

Brummelte Mohammed tatsächlich: Der redet viel, wenn der Tag lang ist, oder lag es nur an der schlechten Verbindung, dass sich Tyll einbildete es zu hören? „Bitte?“, hakte er nach.

„Fazel wird gegen sieben nach Hause kommen und um acht wieder aufbrechen.“

„Dankeschön. Wie sieht es morgen aus?“

„Planmäßig bricht er um neun auf und kehrt um vier zurück.“

„Merci vielmals“, säuselte Tyll, legte auf und begann, seine Sachen auszupacken. Wenn Fazel nur eine Stunde blieb, sollte er wohl besser rechtzeitig sein Loch vorbereiten. Na gut, das musste er immer, wenn ein Fick anstand. Freier dachten offenbar, Stricher wären allzeit bereit, ähnlich wie Liebespuppen. Ein Körnchen Wahrheit steckte ja auch darin. Schließlich boten sie sich auf solche Weise an.

Als alles verstaut war, ließ er sich am Schreibtisch nieder. Hohe Bäume verstellten den Blick auf die Elbe. Nur links und rechts davon sah er im Sonnenlicht Wasser schimmern. Das Grundstück war penibel gepflegt. Bestimmt das Werk eines Gärtners. Fazel konnte er sich nur schwer mit einem Rasenmäher vorstellen.

Er schlug seinen Skizzenblock auf und guckte sinnend in die Ferne. Aus einem Impuls heraus fing er an, Fazels Gesicht zu zeichnen. Im Laufe seines Tuns fiel ihm auf, dass es Mohammeds Visage war. Eine kühne Nase, buschige Brauen und von langen Wimpern umrahmte Kohleaugen, hohe Wangenknochen, ein energisches Kinn. Irgendwie erinnerte ihn Mohammed an einen Gorilla, mit der leicht fliehenden Stirn und den breiten Nüstern. Vielleicht besaß der Typ auch die entsprechende Körperbehaarung. Kurzerhand versah er Mohammed mit einem haarigen Unterteil.

Schon in der Schule war er unangenehm aufgefallen, wenn er seine Lehrer skizzierte. Bei jedem hob er besondere Merkmale hervor, was einige gar nicht lustig fanden. Dessen ungeachtet war malen außerhalb des Kunstunterrichts eh ungern gesehen. Auch unter seinen Mitschülern hatte er sich Feinde geschaffen, wenn er deren Gesichter mit spitzem Bleistift zeichnete. In der Innenstadt, in einer Fußgängerzone, hatte er sein Glück versucht und Portraits angeboten. Seine realistische Ader war schlecht angekommen. Insofern war seine Beobachtungsgabe, genau wie sein geschicktes Händchen, mehr ein Makel denn ein Segen.

Schließlich klappte er den Block zu, weil sein Magen knurrte. Er schlich die Treppe runter - in dem totenstillen Haus traute er sich nicht, ein Geräusch zu verursachen - und inspizierte die Küche. Im Kühlschrank fand er alles, was das Herz eines hungrigen Künstlers erfreute. Diverse Käse-, Aufschnitt- und Schokoladensorten. Softdrinks in Massen, desgleichen Bier. Zudem standen drei vorbereitete, abgedeckte Teller darin, von denen er einen herausnahm. Irgendein Braten mit Kartoffeln, Erbsen und Karotten. Tyll liebte Möhren über alles.

Während die Mikrowelle ihren Dienst verrichtete, schnüffelte er ein bisschen herum. Wohnzimmer und Salon wirkten nahezu unbewohnt. Es sah so aus, als ob gleich Fotografen eines Lifestyle-Magazins kämen, um die vorbildliche Einrichtung abzulichten. Im Wintergarten hingegen herrschte nahezu Unordnung. Zeitschriften lagen auf dem Tisch, daneben eine Schale mit mehreren Pfeifen. Also, als Pfeifenraucher hätte er Fazel niemals eingeschätzt.

Die Tür zum Arbeitszimmer war geschlossen. Tyll spähte durchs Schlüsselloch, konnte aber kaum etwas - bis auf volle Bücherregale - erkennen. Auch die Kellertür war zu. Er überlegte, ob er unter dem Vorwand, Mohammed zu suchen, runtergehen sollte, ließ es aber bleiben. Mit dem Boliden legte er sich besser nicht an.

Nachdem er einen letzten Blick ins Bad, ein Traum in Weiß mit goldenen Armaturen, Dusche sowie Badewanne, geworfen hatte, setzte er sich mit seinem Essen an den Küchentisch. Wozu brauchte man als Einzelperson derart viel Platz? Richtete Fazel oft Feiern aus? Ach, was ging ihn das an! So lange der Zaster floss war ihm der Rest egal, außer es gab Leichen im Keller.

Er stellte den leeren Teller in die Geschirrspülmaschine, nahm eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank und begab sich auf die Terrasse. In der Sonne war es angenehm, trotz der kühlen Brise. Am hinteren Ende des Gartens werkelte ein Mann in grüner Montur. Wahrscheinlich brauchte die Anlage tägliche Pflege. Der Rasen wirkte, als ob ihn jemand akribisch mit einer Schere auf gleiche Länge gestutzt hätte. Das Gleiche galt für Büsche und Stauden. Nirgendwo sah Tyll ein welkes Blatt oder einen kahlen Zweig.

Das Areal war von hohen Hecken umgeben. Er ging zu der an der linken Seite und versuchte zu erkennen, ob sich dahinter ein Zaun befand. Sein Tier, das er später rauslassen wollte, brauchte mehr Auslauf als nur den Garten. Leider konnte er nicht mit Sicherheit feststellen, ob das Grundstück eingezäunt war. Nun, dann musste sein zweites Ich das eben selbst rausfinden.

Gemächlich schlenderte er zurück zur Terrasse, wobei er einen Schluck Wasser trank. Ein bisschen neidisch war er auf das Anwesen, doch was brachte das? Er würde sich in diesem Leben so etwas niemals leisten können.

In seinem Zimmer machte er sich daran, die Skizze von Mohammed in Kreide umzusetzen. Seine Gedanken wanderten dabei umher. War er der einzige mit der Gabe, sich zu verwandeln? Bisher hatte er noch keinen weiteren Menschen gefunden, der eine zweite Gestalt besaß; abgesehen von denen, die in der Öffentlichkeit den Wohltäter mimten und heimlich Leute quälten. Seine Recherchen im Internet waren ohne Ergebnis verlaufen. Natürlich. Niemand war so irre, zu seinem inneren Tier zu stehen. Solche Leute landeten doch umgehend in der Klapsmühle oder Irrenanstalt.

Seit seiner ersten Wandlung hatte er unzählige Romane zu dem Thema gelesen. In einem waren sich fast alle Autoren einig: Gestaltwandler hatten einen Gefährten, den sie früher oder später fanden. Sie lebten zumeist in Rudeln und schützten ihr Territorium notfalls mit Gewalt. Es gab Omegas, Alphas und Fußvolk. In schwulen Storys wurden die Wandler manchmal sogar schwanger. Eine Vorstellung, die bei ihm Schüttelfrost auslöste. Hoffentlich entsprang das nur der Fantasie der Schreiberlinge. Nützliches hatte er leider nicht gefunden. Na ja, wie auch? In Prosa gab es nun mal keine empirischen Studien oder Tatsachenberichte.

Übers Malen vergaß er völlig die Zeit und schrak zusammen, als es plötzlich an der Tür klopfte. „Fazel will dich sehen“, drang Mohammeds Stimme durchs Holz.

Scheiße! Scheiße-Scheiße-Scheiße!

„Komme sofort!“, gab er zurück, hastete ins Bad und schrubbte seine schmutzigen Hände. Anschließend schmierte er seinen Anus mit Gleitgel ein. Das musste reichen, denn er wollte Fazel nicht warten lassen.

Im Flur stand Mohammed, die Arme vor der Brust verschränkt und mit aalglatter Miene. Was sollte das denn? Seit wann brauchte er einen Aufpasser? Tyll war versucht, dem Typen die Zunge rauszustrecken, beherrschte sich jedoch. Es hätte kindisch ausgesehen. Hocherhobenen Hauptes stolzierte er die Treppe runter.

„Ins Wohnzimmer“, instruierte ihn Mohammed in seinem Rücken.

Fazel stand vor dem Kamin und sah ihm mit deutlicher Ungeduld entgegen. Angesichts seiner Kleidung - Jeans und ein schwarzes T-Shirt - lüpfte er eine Augenbraue. „Hast du nichts Besseres als solche Lumpen?“

Bisher hatten seine Klamotten auch gereicht. Tyll zuckte mit den Achseln. „Leider nein.“

„Geh morgen mit ihm einkaufen“, wandte sich Fazel an Mohammed. „Lack, Leder, eng und sexy.“

Der Gorilla nickte lediglich.

„Hose runter und bücken“, richtete Fazel wieder das Wort an Tyll und wies mit dem Kinn auf die Couchlehne. „Kannst dich da festhalten.“

Er gehorchte, wobei er aus dem Augenwinkel feststellte, dass Mohammed im Türrahmen festgewachsen war. Hatte Fazel einen entsprechenden Befehl gegeben oder störte es ihn schlichtweg nicht, wenn der Gorilla zuguckte? Tyll störte es sehr. Auch wenn er seinen Arsch freiwillig feilbot, wollte er dabei kein Publikum.

Fazel, der unsanft in seinen Hintern eindrang, brachte ihn auf andere Gedanken. Ein Glück, dass es sich um ein normalgroßes Exemplar handelte. Anderenfalls hätte es noch mehr wehgetan. Tyll krampfte seine Finger ins Couchpolster und zwang sich, entspannt zu bleiben. Wie bereits vermutet ließ Fazel ihm keine Zeit, sich an die Dehnung zu gewöhnen, sondern machte gleich Tempo.

Während Tyll den Fick über sich ergehen ließ, dachte er über mit Teflon ausgekleidete Arschlöcher nach. Genau sowas bräuchte er. Oder aber ein weniger großes Arschloch als Fazel, das ihm zumindest eine kurze Eingewöhnungsphase gönnte. Für 300 Mäuse konnte man leider einiges erwarten. Insofern verstand er Fazel ein bisschen, was den rauen Akt trotzdem nicht in einem günstigeren Licht erscheinen ließ.

Zum Glück war es schnell vorbei. Inzwischen kannte er das leise Ächzen, das stets Fazels Abgang begleitete. Im nächsten Moment verschwand der Kolben aus seinem Inneren. Nach einem tiefen Atemzug richtete sich Tyll auf, wobei er seine Hose hochzog. Als er sie schloss, begegnete er Mohammeds starrem Blick. Guckte der Gorilla verächtlich? Wäre die Situation umgekehrt, hätte er es jedenfalls getan. Er war kein Stück stolz auf seine Rolle.

„Lass uns los“, brummelte Fazel, woraufhin Mohammed zur Seite trat und somit aus seinem Sichtfeld verschwand. Ohne in seine Richtung zu gucken verließ Fazel den Raum. Gleich darauf fiel die Haustür ins Schloss.

Tyll joggte die Treppe hoch, zog schon auf dem Weg zum Bad seine Klamotten aus und stellte sich unter die Dusche. Danach fühlte er sich wieder wie ein Mensch. Apropos: Sein Tier verlangte nach Auslauf.

Er begab sich ins Erdgeschoss, trat durch die Terrassentür und sog genüsslich die milde Luft ein. Inzwischen war es dunkel und der Wind hatte sich gelegt. Hinter einem dichten Busch wandelte er sich in seine tierische Gestalt. Unbekannte Düfte strömten auf ihn ein. Er hob die Nase in die Luft und begann, über das Grundstück zu streifen. Hier witterte er einen Igel, dort eine Maus.

Als er davon genug hatte, erforschte er das Terrain jenseits der Hecke. Es gab keinen Zaun, so dass er ungehindert aufs angrenzende Areal gelangte. Eine Katze, die seinen Weg kreuzte, nahm Reißaus. Aus sportlichen Gründen verfolgte er sie ein bisschen, bis er genug davon hatte.

Nach einer ganze Weile lenkte er sein Tier zurück zum Busch. In Menschengestalt stieg er in seine Kleidung und schlüpfte ins Haus. Nachdem er die Terrassentür sorgfältig verriegelte hatte, nahm er in der Küche einen späten Imbiss zu sich. Im Anschluss ging er in sein Zimmer und direkt ins Bett.



3.

Am nächsten Morgen wachte er in aller Herrgottsfrühe auf. Draußen veranstalteten die Vögel ein lautes Zwitscherkonzert. Lächelnd lauschte er dem Piepsen, Tschilpen und Pfeifen. Sowas hatte er zuletzt gehört, als er noch bei seinen Eltern wohnte. Die beiden lebten in einer Etagenwohnung in Billstedt, direkt neben einem kleinen Park. Sein WG-Zimmer lag in Eimsbüttel, weit weg von jeglichem Grün.

Er kroch aus dem Bett, verrichtete im Bad seine Morgentoilette und trottete gähnend die Treppe runter. Auf halber Strecke fiel ihm ein, dass Fazel erst um neun aufbrechen würde. Er kehrte also um, präparierte seinen Hintern und trat erneut den Weg nach unten an.

In der Küche schloss er Bekanntschaft mit dem ultramodernen Kaffeeautomaten. Während das Gerät einen Milchkaffee produzierte, holte er Brot, Butter und Käse aus dem Kühlschrank. Gerade hatte er sich am Tisch niedergelassen, da tauchte Mohammed auf.

„Morgen“, murmelte der Gorilla, nahm einen Becher aus einem der Schränke und stellte ihn neben Tylls.

„Magst du mir meinen Kaffee rüberreichen?“, erkundigte er sich höflich.

Wortlos reichte Mohammed ihm den Becher und kehrte ihm den Rücken zu.

„Dankeschön.“ Keine Erwiderung. Er wartete einen Moment. „Bist du mit dem falschen Fuß aufgestanden?“

„Quasselst du morgens immer so viel?“, entgegnete Mohammed über die Schulter.

„Pft“, grummelte Tyll, wandte sich ab, nippte an seinem Kaffee und seufzte genüsslich. Solchen Automat wollte er auch haben, wenn er groß war.

„Um zehn starten wir zum Einkaufen“, teilte Mohammed ihm mit.

„Wo fahren wir denn hin?“

„Wirst du schon sehen.“ Den Becher in der Hand verließ Mohammed die Küche.

Es juckte Tyll, dem Gorilla ‚du mich auch, Arschloch‘ hinterherzurufen. Zusammen mit seiner Unrast war allerdings auch seine Fähigkeit, jemandem lange böse zu sein, verschwunden. Er widmete sich daher mit großem Appetit seinem Frühstück, kehrte in sein Zimmer zurück und fing eine neue Skizze an. Diesmal stellte sie Mohammed als Teufel dar, mit spitzen Hörnern, einem meterlangen Schweif und Riesendödel.

Um Punkt zehn stand Tyll im Entree. Er hatte keine Lust, sich wieder von Mohammed abholen zu lassen und daher die Uhrzeit im Auge behalten. Kaum war er unten angekommen, sprang die Kellertür auf und Mohammed erschien. Stilecht trug der Gorilla einen schwarzen Anzug, Sonnenbrille und eine coole Miene.

Tyll rieb sich übertrieben eifrig die Hände. „Dann lassen wir mal Fazels Kreditkarte brennen!“

Sogar durch die dunklen Gläser schaffte es Mohammed, ihm einen vernichtenden Blick zuzuwerfen.

„Sag mal, gehst du zum Lachen in den Keller?“, maulte er.

„Nö. Nur zum Schlafen.“

Vor dem Grundstück stand ein schwarzer SUV, dessen Türen Mohammed mittels einer Fernbedienung öffnete. Klar! Was für einen Wagen hätte ein Bodyguard auch sonst fahren sollen? Tyll ließ sich auf dem Beifahrersitz nieder, schnallte sich an und begann, am Radio herumzufummeln.

Lass das!“, fuhr Mohammed ihn an, woraufhin der die Unterlippe vorschob und Arme vor der Brust verschränkte.

„Nichts darf man!“

„Halt einfach den Schnabel und fass nichts an“, entgegnete Mohammed und startete den Motor.

Innerhalb weniger Minuten erreichten sie ihr Ziel. Es wunderte Tyll nicht großartig, als Mohammed in ein Parkhaus in St. Pauli fuhr. Fazels Anweisungen waren ja eindeutig gewesen. Vermutlich bekam er irgendwelche obszönen Kleidungsstücke verpasst, die er in seinem Leben niemals anziehen würde.

„Machst du sowas öfter?“, wandte er sich an Mohammed, der die Sonnenbrille hochgeschoben hatte und konzentriert geradeaus guckte.

„In Parkhäuser fahren? Gelegentlich.“

„Mit Strichern einkaufen gehen“, präzisierte Tyll.

„Ich war schon ein paarmal mit Liebhabern von Fazel unterwegs.“

„Ach? Das waren keine Käuflichen?“

„Der finanzielle Aspekt seiner Beziehungen geht mich nichts an.“ Mohammed steuerte den Wagen in eine Parklücke und stellte den Motor ab. „Tu mir einen Gefallen: Halt die Klappe, sonst reißt mein Geduldsfaden.“

„Gna-gna-gna“, brummelte Tyll, stieg aus und stopfte seine Hände in die Hosentaschen.

Im ersten Laden erwarb Mohammed drei arschfreie Unterhosen. Tyll hasste diese Dinger, sagte sich aber, dass die Tragezeit auf einige Stunden innerhalb der nächsten drei Monate begrenzt war. Im nächsten Geschäft probierte er diverse Hosen aus lederähnlichem Material an. Es gelang ihm Mohammed zu überreden, ein akzeptables Exemplar zu kaufen. Bei den Oberteilen konnte er sich aber nicht durchsetzen. Mohammed bestand auf zwei hautenge Tanktops mit strategisch platzierten Löchern.

Zu guter Letzt ging’s in ein Schuhgeschäft. Erstaunlicherweise ließ Mohammed ihm fast freie Wahl, unter der Bedingung, dass die Treter einigermaßen zum neuen Outfit passten. Der abschätzige Blick, mit dem er dabei Tylls abgewrackte Sneakers musterte, sprach Bände. Zugegeben: Die Teile waren völlig hinüber. Bei Regen wurden seine Socken von unten und oben nass.

Als stolzer Besitzer eines Paars schwarzer Stiefel verließ er den Laden. Solche hatte er sich schon immer gewünscht, bisher aber nie leisten können.

Auf dem Weg zum Parkhaus kamen sie an diversen Imbissen vorbei. An einem Dönerstand stoppte Tyll. „Ich hab Hunger.“

Mohammed, inzwischen die Sonnenbrille wieder auf der Nase, lächelte schmal. „Lass mich raten: Ich soll dir einen Döner ausgeben.“

„Ist der nicht mit in Fazels Etat?“

Vermutlich verdrehte Mohammed die Augen, was die dunklen Gläser jedoch nicht preisgaben. „Mann-o-Mann! Also gut. Aber nicht hier. Ich kenne einen besseren Laden.“

Rund ein halbe Stunde später saßen sie auf einer Bank in der Sonne und aßen den leckersten Döner, den er je verspeist hatte. Mit der Sonnenbrille im Haar und einem Spritzer weißer Sauce auf der Nasenspitze, wirkte Mohammed richtiggehend menschlich. Wer hätte das gedacht?

Dieser Eindruck verschwand, als sie wieder im Wagen saßen. Kaum streckte Tyll eine Hand in Richtung Autoradio aus, donnerte Mohammed: „Pfoten weg!

Beleidigt schob er die Unterlippe vor. Eine der Tüten hatte er zwischen seinen Füßen abgestellt. Er begann, darin herumzukramen. Nacheinander beförderte er die Jockstraps ans Tageslicht und beäugte sie von allen Seiten. Es handelte sich um ein schwarzes, rotes und grünes Modell.

„Ich hasse diese Dinger“, brummelte er. „Kalter Hintern und unter den Eiern klemmen die.“

„Die sind ja auch nur für einen Zweck gedacht“, erwiderte Mohammed mit einem kurzen Seitenblick.

„Ach ja? Um zu scheißen, ohne sie auszuziehen?“

„So ähnlich.“

Die Tanktops, die Aussparungen an den Brustwarzen und am Nabel aufwiesen, ließ Tyll unkommentiert. Wenigstens verlangte Fazel nicht, dass er sich an diesen Stellen piercen ließ. Oh Mann! Bloß nicht daran denken, sonst implizierte er diese Idee vielleicht Fazel. So etwas nannte sich dann selbsterfüllende Prophezeiung.

Mohammed setzte ihn bloß ab, murmelte: „Bis später“, und brauste davon.

Mit der Keycard, die Tyll vor ihrem Aufbruch erhalten hatte, ließ er sich ins Haus. Essensduft wehte ihm entgegen. Er spähte in die Küche, wo eine Frau in mittleren Jahren herumwerkelte.

„Hi!“, machte er auf sich aufmerksam, woraufhin sie herumwirbelte und ihn erschrocken anguckte. „Ich bin Tyll und wohne für ein paar Wochen hier.“

„Ich bin Helene und koche seit Jahren hier.“ Sie wischte sich die Finger an einem Geschirrtuch ab, kam herüber und reichte ihm die Hand. „Mohammed hat dich angekündigt. Möchtest du gleich etwas essen?“

„Was gibt es denn?“

„Gemüseeintopf mit Hackklößchen.“

„Klingt lecker, aber ich hatte gerade einen Döner. Später esse ich gern davon.“

Helen zog eine enttäuschte Miene. „Schade. Ich stelle also wieder alles in den Kühlschrank.“

„Morgen bewahre ich meinen Hunger auf“, versprach Tyll, lächelte ihr zu und erklomm die Stufen ins Obergeschoss.

Bevor er die neuen Sachen im Schrank verstaute, posierte er darin vorm Spiegel. Geil sah das Zeug schon aus, war aber höllisch unbequem. Mit der Hose konnte er nur sitzen, wenn er eingequetschte Eier in Kauf nahm. Na gut, dafür war sie ja auch nicht gedacht.

Die Stiefel behielt er an, hockte sich an den Schreibtisch und schlug seinen Skizzenblock auf.


Die folgenden Tage verliefen nach ähnlichem Muster: Morgens ließ sich Fazel von ihm einen blasen, abends musste er sich bücken. Meist stand Mohammed daneben. Dass die neuen Klamotten gefielen erkannte Tyll lediglich daran, dass Fazel nicht meckerte. Ihm sollte es egal sein. Er wollte auch gar nicht gefallen, sondern bloß ordentlich bezahlt werden. Die Kohle trudelte täglich in einem verschlossenen Kuvert, das Mohammed ihm überbrachte, ein.

Am Samstag änderten sich die Zeiten ein wenig, da Fazel lange pennte. Entsprechend spät ging Tyll für einen Blowjob auf die Knie. Abends trafen zwei Kumpel von Fazel ein, die beim üblichen Fick, über die Couchlehne gebeugt, das Publikum bildeten. Anschließend verließen die drei das Haus.

Obwohl Tyll seit drei Jahren dem Nebenerwerb nachging, fühlte er sich mehr und mehr als Stück Fleisch. Dagegen konnte auch der Rückzug in seine zweite Gestalt nichts ausrichten. Selbst sein Tier empfand die rücksichtlose Benutzung seiner Löcher allmählich als ätzend. Bei jedem Mal juckte es stärker unter seiner Haut, drohte sein zweites Ich aus ihm herauszuspringen.

Als Ausgleich gestattete Tyll seinem Tier an diesem Abend, länger unterwegs zu sein. Stundenlang streifte es durch die Gegend, stöberte einige Mäuse auf und beschnüffelte neugierig einen Igel. Von letzterer Begegnung behielt es eine Wunde an der Schnauze zurück. Nachdem sich Tyll zurück in seine Menschengestalt gewandelt hatte, betastete er seine schmerzende Nase.

„Du bist so blöde“, murmelte er, schlüpfte in seine Kleidung, trat hinter dem Busch hervor und rannte geradewegs in jemanden hinein. Vor Schreck vollführte er einen Satz zurück.

„Ich bin’s nur“, brummelte Mohammed. „Ist das dein Hobby, dich nachts im Garten auszuziehen?“

Wie viel hatte Mohammed gesehen? Tylls Herz klopfte vor Furcht so heftig, dass es schmerzte. „Ich mag nun mal FKK.“

„So, so.“ Mohammed kratzte sich am Kinn. „Mir soll’s egal sein. Hab mich bloß gewundert, weil die Terrassentür offenstand.“

Beim nächsten Mal sollte er wohl lieber die Haustür benutzen. „Tut mir leid.“

Mohammed zuckte mit den Achseln. „Kein Problem, nur lass Fazel das nicht mitkriegen. Der wird fuchsteufelswild, wenn man derart nachlässig mit seinem Haus umgeht.“

„Verstanden.“

Endlich drehte sich Mohammed um und ging zurück zum Haus. Tyll atmete auf. Langsam folgte er Mohammed, der im Wohnzimmer wartete und die Terrassentür hinter ihm schloss.

„Wieso bist du eigentlich schon zurück?“, fragte er. Vorhin war Mohammed mit Fazel und dessen Freunden aufgebrochen.

„Die drei veranstalten eine Privatparty. Da war ich überflüssig.“

Wollte er wissen, was darunter zu verstehen war? Wohl lieber nicht. „Dann ... gute Nacht.“

„Mhm. Schlaf schön“, erwiderte Mohammed unerwartet sanft.


Impressum

Texte: Sissi Kaiserlos
Bildmaterialien: depositphotos
Cover: Lars Rogmann
Lektorat: Aschure, dankeschön!
Tag der Veröffentlichung: 18.05.2020

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