Cover

Werwölfe sind auch nur Schafe im Wolfspelz

Sämtliche Personen, Orte und Begebenheiten sind frei erfunden, Ähnlichkeiten rein zufällig. Der Inhalt dieses Buches sagt nichts über die sexuelle Orientierung des Covermodels aus. Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck oder eine andere Verwertung, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung der Autorin.

Copyright Texte: Sissi Kaipurgay/Kaiserlos

Foto: depositphotos

Korrektur: Aschure, dankeschön!

Kontakt: http://www.bookrix.de/-sissisuchtkaiser/

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Stichwort Schaf

Werwölfe - dieser Spezies sagt man ja so einiges nach. Angeblich sind sie aggressiv und töten Mensch und Tier. Sie wandeln sich stets bei Vollmond, um in einen Blutrausch zu verfallen. Alles Humbug! Werwölfe sind Menschen wie du und ich. Sie haben sich voll in die Gesellschaft integriert und können ihre tierische Seite steuern. Manche sind zahm wie Lämmer, andere neigen zu Neurosen. Eben ganz normale Macken, wie jeder sie kennt.



Jefferson hat ein klitzekleines Problem: Fällt ein bestimmtes Wort, setzt bei ihm die Wandlung ein. Zum Glück arbeitet er im Bankgeschäft, wo es ziemlich ausgeschlossen ist, dass jemand es benutzt. Dann erscheint jedoch ein Kunde, der seine Beherrschung auf eine harte Probe stellt.

1.

Mit konzentriert zusammengezogenen Augenbrauen studierte Jefferson die Daten seines nächsten Kunden Oskar Lüblow. Der Mann war im Tierfuttersektor tätig und besaß, neben 15 Läden in Hamburg, zahlreiche Shops in Zoohandlungen. Zur Ausweitung der Geschäftsaktivitäten hatte Lüblow eine Finanzierung bei der Hippo-Bank beantragt. Im Grunde ein geringes Risiko, angesichts der vorhandenen Immobilien und Umsätze, doch seine Chefs - diese Bürokraten! - verlangten seit der großen Bankenkrise stets eine ausführliche Prüfung.

Sein Telefon klingelte. Er nahm den Hörer ab. „Hallo Cordula.“

„Herr Lüblow ist eingetroffen“, meldete die Kollegin aus dem Empfang.

„Wunderbar. Ich hole ihn gleich ab.“ Jefferson legte auf, sperrte seinen Bildschirm, schlüpfte in sein Jackett, das über der Stuhllehne hing und verließ den Raum.

In der Aufzugskabine kontrollierte er sein Äußeres in der verspiegelten Seitenwand. Sein Seitenscheitel war akkurat gezogen, der Krawattenknoten saß perfekt. Zufrieden mit dem Ergebnis seiner Musterung richtete er seinen Blick auf die Türen. Der erste Moment war entscheidend beim Kundenkontakt. Er musste gleich signalisieren, am längeren Hebel zu sitzen, dann lief alles wunderbar. Das hatte er aus seiner zweiten Gestalt auf sein menschliches Leben übertragen und war damit bisher gut gefahren.

Im Empfang stand ein braunhaariger Mann in grauem Anzug, ein Aktenköfferchen in der Hand. Ein Typ, an dem er auf der Straße vorbeigegangen wäre, ohne sich an ihn zu erinnern. Was hatte er auch erwartet? Erfolg machte nicht automatisch attraktiv. Na ja, Ausnahmen bestätigten die Regel, wie man an ihm sah.

Mit einem verbindlichen Lächeln auf den Lippen trat er auf Lüblow zu. „Guten Tag. Ich bin Jefferson Hartwig.“

„Angenehm“, erwiderte Lüblow und schüttelte seine Hand.

Fester, warmer Händedruck. Jefferson schnüffelte unauffällig. Der Mann roch gut. „Folgen Sie mir bitte.“

Er ging zurück zum Aufzug und ließ Lüblow den Vortritt. In der Kabine drückte er den Knopf für den 6. Stock. Als sich der Lift in Bewegung setzte, begann er mit Smalltalk. „Unglaublich warm für Anfang April, nicht wahr?“

„Allerdings. Ich fürchte, mein Deo hat versagt“, entgegnete Lüblow mit einem entschuldigenden Lächeln.

Daher stammte also der leckere Schweißduft. „Wenn die globale Erwärmung so weitergeht, werden wir unsere Dresscodes ändern müssen. Wahrscheinlich werden bald kurze Hosen erlaubt, so wie in Neuseeland.“

Lüblow rümpfte die Nase. „Dann doch lieber schwitzen, als Stachelbeine angucken.“

„Sind Sie Ästhet?“

Lüblow zuckte mit den Achseln. „In mancherlei Hinsicht schon.“

Der Aufzug stoppte. Die Kabinentüren glitten mit einem sanften Pling! auseinander. Jefferson ging diesmal voraus, hielt vor seinem Büro und wandte sich an Lüblow. „Möchten Sie etwas trinken?“

„Wasser, bitte.“

„Dann setzten Sie sich doch schon. Ich bin gleich für Sie da.“ Er wies auf die offenstehende Tür und begab sich in die Teeküche, wo er zwei Fläschchen Wasser aus dem Kühlschrank nahm und sich ein Glas schnappte.

Seit einigen Jahren kümmerte sich jeder selbst um Getränke. Davor hatte es Assistenten gegeben, die für sowas zuständig waren. Überall wurde gespart. Manchmal fragte sich Jefferson, wann es soweit war, dass man seinen eigenen Stuhl von zu Hause mitbringen musste.

Als er in sein Büro kam, stand Lüblow am Fenster und kehrte ihm den Rücken zu. „Tolle Aussicht.“

Er stellte seine Fracht auf dem Schreibtisch ab. „Allerdings. Eine Schande, dass man während der Arbeit so wenig davon hat.“

„Man sollte in solchen Lagen Wohnhäuser statt Büros bauen“, stimmte Lüblow zu, wandte sich um und nahm auf dem Stuhl vorm Schreibtisch Platz, das Köfferchen auf dem Schoß.

Jefferson entfernte den Kronkorken von einer der Flaschen und umrundete den Schreibtisch, um sich in seinem Sessel niederzulassen. Er legte seine Fingerspitzen gegeneinander und eine Schweigeminute ein. Das machte sich immer gut, um Kunden zu verunsichern.

Lüblow schenkte sich Wasser ein, nippte daran und lehnte sich entspannt zurück. Seine Strategie schien bei diesem Mann nicht aufzugehen. Ach, im Grunde war sie sowieso überflüssig, genau wie die ganze andere Prozedur.

„Also, kommen wir zum Geschäftlichen“, ergriff er das Wort, entsperrte den Monitor und tat, als würde er konzentriert Lüblows Daten studieren. „Hm-hm“, machte er dabei.

„Ich habe alle erforderlichen Unterlagen mitgebracht“, erzählte Lüblow, öffnete sein Köfferchen, holte einen Stapel Papier heraus und legte diesen auf den Schreibtisch.

„Sehr schön, sehr schön“, murmelte Jefferson und klickte sinnlos mit der Maus herum.

Nach einem Weilchen richtete er seine Aufmerksamkeit wieder auf Lüblow, der inzwischen mit leerem Blick aus dem Fenster starrte. Der arme Kerl langweilte sich offensichtlich zu Tode.

„Ich nehme an, das ist Ihr Business-Plan.“ Jefferson wies auf den Stapel.

Lüblow nickte. „Inklusive bunter Grafiken.“

Darüber würde sich der Vorstand garantiert ein Loch in den Bauch freuen. Die Herren reagierten jedes Mal mit großer Euphorie, wenn es farbige Unterlagen gab. Manchmal kam sich Jefferson vor wie im Kindergarten. „Darf ich?“, fragte er und schnappte sich zugleich die Papiere.

Lüblow hatte sich wirklich Mühe gegeben. Für jedes neue Geschäft gab es drei Seiten mit Zahlenkolonnen und Bildern der Objekte. Sehr hübsch!

„Was meinen Sie: Wann kann ich mit der Zuteilung rechnen?“, hakte Lüblow nach.

„Ich denke, das wird höchsten zwei Wochen in Anspruch nehmen.“ Es dauerte mindestens eine Woche, bis er die Unterlagen vom Vorstand zurückbekam, obwohl die Herrschaften in den oberen Etagen den ganzen Tag in der Nase bohrten. Jefferson vermutete, dass man auf diese Weise ausgelastete Kapazitäten vortäuschen wollte.

„Wunderbar. Sind wir dann erstmal durch?“ Lüblow guckte demonstrativ auf die große Uhr, die links an der Wand hing.

„Von meiner Seite aus ja.“

„Dann will ich Sie nicht länger aufhalten“, entgegnete Lüblow, stand auf und zeigte zum Fenster. „Sehen Sie nur. Eine ganze Herde Schäfchenwolken.“

Schäfchen? Schäfchen! SCHÄFCHEN! In Jeffersons Schädel sprang das Wort umher wie ein Tennisball. Seine Haut begann zu kribbeln. Sein Kiefer knackte. Im Rücken setzten Schmerzen ein. Er biss die Zähne zusammen, ballte die Hände zu Fäusten und kämpfte dagegen an. Einige Atemzüge später ließen die ersten Anzeichen seine Verwandlung nach. Es dauerte zwei weitere Atemzüge, bis er in der Lage war, sein Pokerface wieder aufzusetzen.

Lüblow starrte ihn aus aufgerissenen Augen an. „Alles in Ordnung mit Ihnen?“

„Sorry. Ich hab wohl heute Mittag zu viel gegessen“, log Jefferson. „Das liegt mir auf dem Magen.“

„Na, dann bin ich beruhigt.“ Lüblow warf ihm ein Lächeln zu. „Melden Sie sich, wenn es Probleme gibt?“

„Natürlich.“ Er fischte eine Visitenkarte aus seiner Schublade und reichte sie Lüblow. „Rufen Sie mich an, wenn Sie Fragen haben.“

Anschließend geleitete er den Kunden aus dem Büro bis zu Fahrstuhl, wo sie sich mit Handschlag verabschiedeten.

Auf dem Rückweg ging Jefferson mit seinem inneren Tier ins Gericht: ‚Du kannst nicht einfach so rauswollen, nur weil ein bestimmtes Wort fällt.‘ Keine Antwort. Wahrscheinlich kratzte es seinen Wolf nicht die Bohne, was andere oder sein Mensch dachten. Sein Tier war rein trieb- und instinktgesteuert. Aus irgendeinem beschissenen Grund wollte es sich bei einem bestimmten Wort, an das er lieber nicht mal dachte, zeigen. Leider auch bei jeder Abwandlung desselben. Glücklicherweise passierte es überaus selten, dass dieses Reizwort fiel.

Als er wieder hinter seinem Schreibtisch saß gönnte er sich einige Momente, um das Gespräch zu resümieren. Lüblow war, was das Darlehen betraf, offenbar tiefenentspannt. Das gefiel ihm. Nichts hasste er mehr, als nervöse Leute. Außerdem war Lüblow auf den zweiten Blick erstaunlich attraktiv. Hübsche, blaue Augen, eine angenehme Stimme und - soweit er das beurteilen konnte - eine gute Figur.

Jefferson besann sich auf seine Pflichten. Am Kopierer scannte er die Unterlagen, die er per Mail an die Sekretärin des Vorstands schickte. Damit war der Fall für ihn erstmal erledigt.

Nach Feierabend, auf dem Heimweg, den er zu Fuß zurücklegte, kam ihm Lüblow wieder in den Sinn. Er war relativ sicher, dass sie fürs gleiche Team spielten. Lüblow hatte ihn heimlich abgecheckt. Falls ein eindeutiges Angebot kam: Durfte er darauf eingehen? Normalerweise ließ er die Finger von Kundschaft. Das brachte nur Ärger. Er war zwar kein Schrankschwuler, aber ein Schrank-Werwolf.

Es konnte durchaus passieren, dass beim Orgasmus, wenn er sich gar nicht unter Kontrolle hatte, seine Augenfarbe zu gelb wechselte. Er bevorzugte daher den Doggystyle, sowohl passiv als auch aktiv. So kam er nicht in Erklärungsnot. Einmal hatte ein One-Night-Stand den Wechsel bemerkt und ihn gelöchert, wie das zustande käme. Jefferson hatte sich mit einem Geburtsfehler rausgeredet.

So ganz an den Haaren herbeigezogen war das gar nicht. Schließlich hatte er das Wolfsgen von seinem Vater geerbt. Seine beiden Schwestern hingegen waren leer ausgegangen, vermutlich, weil das Erbgut ihrer Mutter, einer reinrassigen Menschin, dominierte. Wegen der Mischehe war Jeffersons Wolf auch weniger ausgeprägt als der seines Vaters. Es gab Bestrebungen in der Community, Ehen mit reinen Homo Sapiens zu verbieten. Tja, es gab überall Spinner. Dagegen war wohl keine Spezies gefeit.

Jefferson mied die örtlichen Werwolf-Gruppen, wie er alle Arten von Vereinen mied. Egal in welchem Bereich, fand immer das Gleiche statt: Jemand schwang sich zum Leitwolf auf und glaubte, irgendwelche Regeln festlegen zu müssen. Er lebte lieber nach seinen eigenen Gesetzen.

Dank des hohen Menschenanteils in seinem Genmaterial blieb es ihm erspart, sich bei Vollmond zwingend zu wandeln. Er ließ seinen Wolf nur raus, wenn es gerade passte und er dazu Lust hatte. Okay, mit Ausnahme dieser Trigger-Geschichte. In seiner Vergangenheit musste es irgendein Ereignis gegeben haben, das zu dieser Zwangsreaktion geführt hatte. Da er keinen Wolfs-Psychiater kannte und sich aus naheliegenden Gründen keinem anderen anvertrauen konnte, ertrug er sein Schicksal als unabänderlich. Es war ja nicht so, dass er jeden Tag mit dem verbotenen Wort konfrontiert wurde.

Daheim angekommen inspizierte er seine Kühlschrankinhalt. Leider mit dem Ergebnis, gleich wieder losgehen zu dürfen, um seine Vorräte aufzustocken. Er war echt kein Muttersöhnchen, trotzdem vermisste er sie total. Sie hatte ihn häufig unter der Woche mit Essen versorgt und sonntags sowieso. Seit zwei Jahren lebten seine Eltern, beide mittlerweile Rentner, in ihrer alten Heimat Dresden; zu weit weg, um ihrem Sohn eine Mahlzeit zukommen zu lassen.

Seine Schwestern hatte es schon eher in die Ferne gezogen. Eine wohnte in Heidelberg, zusammen mit Gatten, zwei Kindern und drei Hunden. Die andere war nach Fürstenfeldbruck gegangen, um dort als Pferdewirtin zu arbeiten.

Mit dem Umzug seiner Eltern war auch Jeffersons loser Kontakt zur Werwolf-Community erloschen. Sein Vater hatte zu der ultralinken Gruppierung gehört. Daneben gab es noch die ultrarechte, liberale und kirchliche Fraktion. Warum sollte es bei Werwölfen auch anders zugehen, als beim Homo Sapiens?

Im Supermarkt drehte er eine Runde in der Non-Food-Abteilung, wo ihm ein Werwolf-Schmöker in die Finger fiel. Er überflog den Klappentext und warf das Buch zurück auf den Grabbeltisch. Das ganze Gedöns um Gefährten und Rudel war doch sowas von gestern. Als ob Werwölfe im Mittelalter stehengeblieben wären.

Während er seinen Einkaufswagen mit allem Möglichen füllte, ärgerte er sich maßlos über das Geschreibsel. Erst an der Kasse schaffte er es, seinen Missmut abzuwerfen. Es war schließlich nur Prosa, kein wissenschaftlicher Bericht. Davon mal abgesehen wussten Wissenschaftler nichts von ihrer Existenz und diejenigen, die dazu gehörten, hielten natürlich das Maul. Wer wollte schon im Versuchslabor enden? Die Population in Deutschland betrug zwar annähernd 150.000 Wölfe, doch im Vergleich zu der gesamten Bevölkerung war das eine geringe Menge, die sich leicht - unter dem Deckmantel der Forschung - ausrotten ließ.

Schwer beladen trat er erneut den Heimweg an.



2.

Der Bankmensch ging Oskar nicht mehr aus dem Kopf. Zum einen war der Typ haarsträubend attraktiv, mit den schwarzen Haaren, blauen Augen, markanten Gesichtszügen und der schlanken Figur. Zum anderen haftete dem Mann etwas Geheimnisvolles an.

Was allerdings kein Geheimnis war: Jefferson Hartwigs sexuelle Ausrichtung. Bereits beim Händeschütteln hatte der Typ ihn von oben bis unten taxiert. Etwas, das kein Hetero tat, insbesondere nicht mit dem Fokus auf seiner Mitte. Andererseits könnte es sich bei dem Mann um einen extrem dominanten Typ handeln, der jeden Konkurrenten auf die Schwanzgröße hin prüfte.

‚Was für ein Unsinn‘, flüsterte sein Verstand. ‚Sorry. War nur ein Joke‘, gab Oskar schief grinsend im Geiste zurück. Die Kassiererin, die gerade seinen Einkauf scannte, erwiderte sein Lächeln. Das machte den Tag doch gleich heller. Vor ungefähr einer Stunde hatte er ein unerfreuliches Personalgespräch geführt, daher konnte er solche Aufmunterung gut gebrauchen.

Vor dem Supermarkt stieg er auf sein Fahrrad und radelte nach Hause. Kurze Wege erledigte er gern mit dem Drahtesel. Das hielt fit und schonte die Umwelt. Kaum hatte er sein Haus betreten, schossen King und Arthur, seine beiden Kater, herbei und strichen ihm um die Beine.

„Ja-ja. Es gibt ja gleich Fresschen“, versprach er und versuchte, nicht über einen von ihnen zu stolpern.

In der Küche packte er seine Tasche aus und öffnete eine Dose, die er auf zwei Näpfe verteilte. Kings Napf war blau, Arthurs grün. Die beiden stürzten sich auf ihr Abendessen, als wären sie am Verhungern. Amüsiert sah Oskar einen Moment zu, wie sie das Fressen praktisch inhalierten, bevor er seine Einkäufe verstaute.

Nachdem er eine Tüte Tiefkühlnahrung in eine Pfanne geworfen hatte, begab er sich ins Wohnzimmer und öffnete die Tür zur Terrasse. Bald konnte man den Freisitz wieder benutzen. Momentan war es dafür aber noch zu kühl, trotz des Sonnenscheins. Eine frische Brise vertrieb die Wärme.

Sein Grundstück grenzte unmittelbar ans Niendorfer Gehege. Hohe Bäume, wohin man auch schaute. Manchmal traute sich sogar Rotwild bis an den Zaun. Das hatte er vom Schlafzimmerfenster aus beobachtet.

Zurück in der Küche, wo inzwischen gähnende Leere in den Näpfen herrschte, stellte er die Herdplatte an und holte einen Teller aus dem Schrank. King hockte zu seinen Füßen und maunzte, in der Hoffnung auf Nachschub. Arthur war weniger verfressen und bereits abgezwitschert.

„Nein, es gibt heute nichts mehr“, redete Oskar auf den Kater ein. „Denk an deine schlanke Linie. Wie willst du mit Hängebauch die Nachbarsmieze bezirzen?“

Da King kastriert war, handelte es sich um eine rein rhetorische Frage. Oskar hatte das zwar ungern machen lassen, wollte aber auch nicht schuld sein, wenn in der Nachbarschaft die Katzen geschwängert wurden. Viele Anrainer hielten nämlich Stubentiger. Drei von der Sorte lieferten sich häufig Revierkämpfe mit seinen Katern.

Schließlich gab King auf und schlenderte davon. Dieser Kater schaffte es, wie ein Vorwurf herumzulaufen. Kopfschüttelnd schaute Oskar dem Tier hinterher. Im nächsten Leben wollte er auf jeden Fall in solcher Gestalt wiedergeboren werden. Katzen hatten es echt gut. Wenn sie schmusen wollten, bekamen sie ihre Kuscheleinheiten und wenn sie genug davon hatten, verzogen sie sich. Als Mensch war es schwer, Zärtlichkeiten zu kriegen und ein Affront, sich währenddessen einfach vom Acker zu machen.

Mein Gott! Hatte er heute einen Philosophen gefrühstückt? Er wandte sich der Pfanne zu, in der inzwischen das Gemüse fröhlich vor sich hin brutzelte.

Etwas später, als er am Küchentisch seine Mahlzeit verspeiste, wanderten seine Gedanken wieder zu Jefferson Hartwig. Er würde zu gern mehr über den Mann erfahren. Was sprach eigentlich dagegen, Hartwig zu einem angeblichen Geschäftsessen einzuladen? Nach seiner Meinung gar nichts.



Am nächsten Morgen war er zu beschäftigt, um seinen Plan auszuführen. Erst mittags, in einer Verschnaufpause, fand er die Zeit dazu. Natürlich erreichte er in Hartwigs Büro nur den Anrufbeantworter. Klar. Um diese Tageszeit waren alle Büroleute außer Haus, um irgendwo zu speisen.

Gegen halb zwei versuchte er sein Glück erneut.

Diesmal nahm Hartwig ab. „Hippo-Bank, Abteilung Geschäftskunden, mein Name ist Jefferson Hartwig. Was kann ich für Sie tun?“

Wow! Da hatte jemand sein Sprüchlein aber drauf! „Hi, hier ist Oskar Lüblow. Ich hätte ein paar Fragen und würde die gern bei einem Abendessen besprechen.“

„Kann ich Ihnen nicht sofort helfen?“

„Mir wäre es im privaten Rahmen lieber.“

„Tja. Dann müssen wir uns wohl treffen. Machen Sie einen Vorschlag“, entgegnete Hartwig.

„Heute Abend um sieben im Palermo? Das ist ein Italiener ...“ „Den kenne ich“, fuhr Hartwig ihm ins Wort. „Mein Lieblingslokal. Ich bestelle für sieben einen Tisch.“

„Wunderbar. Dann bis nachher.“ Oskar legte auf und atmete ein paarmal tief durch. Sein Herzschlag hatte sich verdoppelt. Hartwigs tiefe Stimme klang am Telefon wahnsinnig sexy.

Er lehnte sich in seinem Sessel zurück und rief sich Hartwigs Bild vor Augen. Der Typ war reines Dynamit. Wenn Hartwig im Bett so sonor stöhnte, wie er redete ... vermutlich würde Oskar allein davon kommen. Sein Schwanz nickte eifrig. Der Bastard hatte sich in seiner Pants breitgemacht.

„Sorry. Du hast noch Sendepause“, informierte er seinen Ständer, schnappte sich seine Aktentasche und begab sich auf den Weg in die Tiefgarage. In der Filiale in Harvestehude war eine Besprechung anberaumt. Es ging um mehr Verkaufsfläche.

Sein Büro befand sich über dem Wellingsbütteler Shop. Leider zu weit weg, um mit dem Fahrrad hinzufahren. Seit einer Weile hielt er Ausschau nach einer geeigneten Landfläche in Niendorf, doch bisher ohne Erfolg. Entweder die Miete war zu hoch, die Quadratmeterzahl zu gering oder die Lage inakzeptabel. Für seine Klientel benötigte Oskar unbedingt Kfz-Stellplätze, die möglichst direkt an den Laden anschlossen oder ebenerdig zu erreichen waren. Wer wollte schon schwere Gebinde Tiernahrung oder Zubehör über weite Strecken schleppen?

Um halb sechs traf er zu Hause ein, versorgte die Stubentiger und sprang unter die Dusche. Vorm Kleiderschrank verplemperte er eine halbe Stunde, weil er sich nicht entscheiden konnte. Lässig oder legerer Businesslook? Sexy oder konservativ? Letztendlich schlüpfte er in schwarze Jeans zu einem braunen Seidenhemd, das seine Augenfarbe betonte. Ein Jackett in einem dunkleren Braunton rundete sein Outfit ab.

King und Arthur, die seiner Aktion auf dem Bett beigewohnt hatten, waren keine nützlichen Ratgeber. Letzterer pennte und King schenkte der eigenen Körperpflege mehr Aufmerksamkeit als ihm. Vielleicht sollte er sich einen Hund anschaffen. Na gut, der wäre auch kein Stilberater.

Am liebsten wäre ihm ein Mann, aber damit hatte Oskar ständig Pech. Entweder wollten die Typen nur vögeln oder waren scharf auf sein Geld. Seine letzte Beziehung hatte ihn nämlich einige Tausender gekostet. Gutgläubigkeit zahlte sich eben nicht aus. Garantiert lachte Falk immer noch über den naiven Idioten, der ihm mal eben 10.000 Euro geliehen hatte. Mit der Kohle war der gute Falk auf Nimmerwiedersehen verschwunden.

Nachdem er sich von den Katern verabschiedet hatte, steckte er Börse und Schlüssel ein und machte sich auf den Weg. Er ging zu Fuß, da er ein bisschen Wein zu trinken gedachte. Radeln unter Alkoholeinfluss war noch gefährlicher als Auto zu fahren, da es nur zwei Räder besaß.

Um kurz vor sieben betrat er das Palermo, schaute sich um und entdeckte Hartwig an einem Zweiertisch in einer Nische. Genau wie er trug der Mann Zivil: Eine Jeans, dazu ein blaues Hemd.

Hartwig guckte ihm mit einem professionellen Lächeln entgegen und stand auf, als er den Tisch erreichte. „So schnell sieht man sich also wieder.“

Sie schüttelten einander die Hände. Oskar nahm auf dem freien Stuhl Platz. Er saß kaum, da tauchte ein Kellner auf. „Was wünschen die Herren zu trinken?“

Mit der Auswahl der Getränke und Speisen vergingen die nächsten Minuten. Als das erledigt war, hob Oskar sein Glas und prostete Hartwig zu. „Schön, dass Sie es einrichten konnten.“

„Es passt mir sogar sehr gut. Ich hätte sonst selbst kochen müssen. Ach ja, Sie sind natürlich eingeladen. Die Bank bezahlt.“ Hartwig stieß mit ihm an. „Auf erfolgreiche Geschäfte.“

Sollte er gleich auf privat umlenken? Ach nein, das wäre plump. Oskar nippte an seinem Rotwein - sie hatten einen Liter geordert - und stellte fest, dass Hartwigs Hemd ebenfalls zur Augenfarbe passte. Überhaupt sah der Mann in dem legeren Look unglaublich heiß aus. „Ich suche schon etwas länger eine attraktive Geschäftsfläche in diesem Stadtteil. Sie haben nicht zufällig einen Geheimtipp für mich?“

„Leider hab ich keine Connection zur Immobilienabteilung.“

„Schade. Ich würde mein Büro nämlich zu gern hierher verlegen.“

„Wo ist das denn momentan?“, fragte Hartwig.

„In Wellingsbüttel. Zum Glück fahre ich gegen den Strom, sonst würde ich jeden Tag im Stau stehen.“

Der Ober brachte ihre Vorspeisen, was erneut für eine Pause sorgte. Oskar beäugte seine Antipasti und überlegte, wie er am besten das Thema wechselte. Er spießte ein Stück Aubergine auf und betrachtete sie sinnend. „Haben Sie Haustiere?“

Hartwig schüttelte den Kopf. „Dafür bin ich nicht der Typ.“

„Also, ich bin der Meinung, zu jedem Mensch passt ein Tier. Bei Ihnen würde ich auf Zierfische tippen.“ Er steckte sich den Bissen in den Mund.

Kauend rollte Hartwig mit den Augen, schluckte und entgegnete: „Viel zu langweilig. Ich könnte mir höchstens einen Papagei vorstellen.“

„Die sind anstrengend. Wie wäre es mit ein paar Kanarienvögeln?“

„Ist das ein Verkaufsgespräch?“

„Ich handele lediglich mit Tierfutter, keine Sorge.“ Er zwinkerte Hartwig zu. „Allerdings könnte ich Ihnen einen guten Preis für Vogelfutter machen.“

„Seeehr verführerisch“, erwiderte Hartwig ironisch.

Einige Momente herrschte Schweigen. Die Antipasti waren oberlecker, in Hartwigs Gesellschaft gleich doppelt so sehr wie sonst. Schließlich ergriff Oskar wieder das Wort: „Ich überlege, ob ich mir ein paar Schafe anschaffe. Dann spare ich mir das Rasenmähen.“

An irgendeiner Stelle der beiden Sätze erstarrte sein Gegenüber zur Salzsäule. Hartwigs Augen flackerten und der Kiefer mahlte. Täuschte das, oder lugte da ein spitzer Zahn aus dem Mund? Außerdem wirkte Hartwigs Gesicht haariger als vorher, wie von Pelz überzogen. Im nächsten Moment war der Eindruck vorbei. Hartwig blinzelte mehrmals und schien von weit her zu kommen.

„Alles okay mit Ihnen?“, erkundigte sich Oskar besorgt. Vielleicht hatte sich in Hartwigs Essen etwas Merkwürdiges befunden, eine Gräte oder so.

„Ähm, danke. Ich hab mich nur verschluckt.“ Hartwig beäugte die Antipasti, als wären es Fremdkörper.

„Stimmt was mit Ihrer Vorspeise nicht?“

„Doch, doch. Alles in Ordnung“, wiegelte Hartwig ab, stocherte in dem Gemüse herum und fügte hinzu: „Worüber wollten Sie eigentlich mit mir sprechen? Doch bestimmt nicht über Haustiere.“

„Also, ehrlich gesagt ...“ Oskar schob seine Antipasti hin und her, den Blick gesenkt. „Ich wollte Sie gern wiedersehen.“

„Dann war das nur ein Vorwand?“

„Richtig. Sind Sie jetzt sauer?“ Er schaute hoch.

Ein Lächeln spielte um Hartwigs Lippen und ließ attraktive Fältchen in den Augenwinkeln entstehen. „Ich fühle mich eher geschmeichelt.“

Oskar atmete auf. „Können wir dann zum Du übergehen?“

Hartwig zuckte mit den Achseln. „Gern. Ich bin Jefferson. Wenn dir das zu lang ist, darfst du mich Jeff nennen.“

„Oskar. Wenn dir das zu lang ist: Pech gehabt. Ich mag keine Abkürzungen meines Namens.“



3.

Jefferson hatte sich das schon gedacht. Was gäbe es auch zu besprechen? Oskar war ziemlich sexy und es durchaus wert, seine Prinzipien zu vernachlässigen. Er hatte schon viel zu lange keinen Sex mehr gehabt. Mit den Jahren wurden die Gelegenheiten seltener und seine Lust, in der Szene nach jemandem zu suchen, ließ ebenfalls nach.

Der Ober tauchte mit ihren Hauptgerichten auf, woraufhin sie ihre Teller beiseiteschoben, damit Platz war. Jefferson hatte Tagliatelle mit Lachs und Oskar Lasagne bestellt. Fast bereute er angesichts des mit Käse überbackenen Karrees seine Wahl. Allerdings sah seine Portion auch sehr lecker aus.

Eine Weile aßen sie schweigen. Oskar schloss bei jedem Bissen vor Genuss die Augen. Sehr vielversprechend. Wer gutes Essen zu schätzen wusste, war erfahrungsgemäß ein sinnlicher Mensch. Vielleicht war neben ein bisschen Vögeln sogar ein wenig Schmusen drin. Jefferson liebte es, seinen Orgasmus unter Küssen und Streicheleinheiten ausklingen zu lassen. Solche Chancen gab es noch weniger als die auf Sex. Die meisten wollten einen wegstecken und danach ihrer Wege gehen.

„Wie bist du gerade auf Tierfutter gekommen?“, nahm er die Unterhaltung wieder auf.

Oskar zuckte mit den Schultern. „Das war nicht meine Idee, sondern die meines Vaters. Als er starb, hab ich das Erbe angetreten.“

„Er ist schon tot? Du bist doch erst ...“ Jetzt bloß nichts falsches sagen. Vielleicht war Oskar eitel. „Ende zwanzig?“

„Knapp daneben. Anfang dreißig trifft es besser. Meine Eltern sind bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Zu dem Zeitpunkt war ich gerade volljährig.“

„Das tut mir leid.“

„Inzwischen bin ich drüber weg. Sind ja ein paar Jahre vergangen.“ Oskar trank einen Schluck Wein. „Mein Vater hatte ein Geschäft. Ich dachte, expandieren ist die beste Lösung, um Krisenzeiten zu überstehen. Dass es so viel wird, hätte ich mir damals nie träumen lassen.“

„Das ist eine Menge Verantwortung.“

Oskar nickte. „Ich hab derzeit 40 Festangestellte und 15 Aushilfen.“

„Und du wohnst in der Nähe?“

Erneutes Nicken. „Ungefähr zwanzig Minuten zu Fuß von hier.“

„Witzig. Ich wohne auch gleich um die Ecke.“

„Dann kannst du ja zu Fuß zur Arbeit gehen“, stellte Oskar fest.

„Ich hab die Wohnung nach meinem Arbeitsplatz ausgesucht. Nichts hasse ich mehr, als lange Wege.“

„Sehr klug. Leider ist das gar nicht so einfach. Schöne Immobilien werden nie an der Stelle frei, an der man sie gerne hätte.“

Es entspann sich ein Gespräch über ihre Wohnsituationen. Jefferson erfuhr, dass Oskar in einem Haus direkt am Niendorfer Gehege lebte. Beneidenswert. Er nannte eine Etagenwohnung mit Balkon, drei Zimmern, rund 75 Quadratmetern sein eigen. Das Objekt hatte ein Vermögen gekostet. Einzelhäuser bewegten sich weit außerhalb seiner Möglichkeiten. Wenn er eifrig sparte, wäre das vielleicht in 25 Jahren eine Option.

Als das Thema erschöpft war sah er sich veranlasst, gleich für klare Fronten zu sorgen. „Ich sag’s lieber gleich: Ich bin nur ein Mann für eine Nacht.“

Die Hoffnung auf eine Beziehung hatte er sich schon lange abgeschminkt. Wer wollte schon mit einem Mutanten zusammenleben? Obwohl er seine Wandlung sehr gut im Griff hatte, - mit Ausnahme bei dem verbotenen Wort - ließ sich auf Dauer sein Tier nicht verleugnen. Seine zweite Gestalt gehört nun mal zu ihm. Ab und zu drängte es ihn, sie rauszulassen. Gerade bei starker Anspannung verschaffte ihm das ein Ventil.

Sein Gegenüber zog erstaunt die Augenbrauen hoch. „Also, das hab ich bisher immer andersherum gehört.“

„Sorry. Ich wollte nur von vornherein klarstellen, dass ich nicht an etwas Ernstem interessiert bin.“

„Generell, oder bin ich nur nicht dein Typ?“ Oskar klang leicht verschnupft.

„Ich bin nun mal ein Einzelgänger.“ Jefferson setzte sein schönstes Lächeln auf. „Und du bist so was von mein Typ.“

Oskars Mundwinkel zuckten hoch. „Schön zu hören. Das andere ... ich nehme es mal zur Kenntnis, ohne meine Meinung darüber abzugeben.“

„Ich weiß wohl auch so, wie du dazu stehst.“

Ein Kellner tauchte auf, um ihre inzwischen leeren Teller abzuräumen. „Haben die Herren noch einen Wunsch?“

„Einen Espresso, bitte.“ Fragend sah er Oskar an, der sich seiner Bestellung anschloss. Nachdem der Bedienstete mit dem schmutzigen Geschirr verschwunden war, nahm Jefferson den Faden wieder auf: „Weder Haustiere noch feste Partner sind mein Ding.“

Oskar zuckte lediglich mit den Achseln und verteilte den Rest Rotwein auf ihre Gläser. Einerseits war es angenehm, keiner Diskussion ausgesetzt zu werden, andererseits kam sich Jefferson mies vor. Warum hatte er nicht den Mund gehalten? Die meisten wollten doch eh nur Sex.

Kurz darauf erschien der Kellner und servierte ihre Espressos. Er bat um die Rechnung. Weiterhin herrschte Schweigen. Oskar rührte in der Tasse, den Blick in die Ferne gerichtet. Vielleicht war es besser, wenn sich ihre privaten Wege gleich wieder trennten.

Plötzlich beugte sich Oskar über den Tisch. „Kennst du den? Eine Blondine sagt zu ihrer Freundin: Ich hab das Gefühl, dass mich mein Mann betrügt. Und ob die Kinder von ihm sind, wage ich auch zu bezweifeln.“

Was für ein blöder Witz, trotzdem musste Jefferson schmunzeln. „Sind Blondinen-Witze dein geheimes Laster?“

Grinsend nickte Oskar. „Irgendwie steh ich drauf. Außerdem ist das ein guter Test. Wer nicht schreiend wegläuft ist hartgesotten genug, um es mit mir aufzunehmen.“

Er horchte auf. „Wieso? Hast du irgendwelche ekligen Kinks?“

„Nö. Mein 35-Zentimeter-Schwanz hat bloß so manchen in die Flucht geschlagen“, erwiderte Oskar trocken.

Der Kellner, der gerade mit der Rechnung antanzte, starrte sein Gegenüber aus aufgerissenen Augen an. Amüsierte bemerkte Jefferson, dass der Typ zwischen Oskars Gesicht und Schritt hin und her guckte. Zugegeben: Sein Blick wäre dort auch hingewandert, wenn der Tisch nicht im Weg wäre.

„Ach, das ist doch gar nichts. Bei mir reichen zwei Lineale zum Messen nicht aus“, konterte er, woraufhin der Ober die Augen verdrehte, ihm die Rechnung reichte und mit seiner VISA-Karte wieder verschwand.

„Zu dir oder zu mir?“, erkundigte sich Oskar, als sie durch die Tür des Lokals nach draußen traten.

„Zu dir.“ Auch eines seiner Prinzipien: Nimm nie einen Lover mit in deine Wohnung. So bleibt dir der Fluchtweg offen.

„Ich muss dich vor Arthur und King warnen. Die beiden haaren wie verrückt.“

„Was sind das? Hunde?“

„Zwei liebe Katerchen.“

„Kein Problem.“ Eher würden die Tiere mit ihm eines haben. Im Allgemeinen reagierten sie mit großem Misstrauen auf seinen Wolf.

Auf dem Weg erzählte Oskar weitere Blondinenwitze, unter anderem: Zwei Blondinen bewerfen sich mit Stroh. Wie nennt man das? Gedankenaustausch. Oder: Zwei blonde Freundinnen unterhalten sich. „Du, ich musste gestern einen Schwangerschaftstest machen.“ „Waren die Fragen denn sehr schwer?“

Für Jefferson war das okay. Wahrscheinlich plapperte Oskar bloß aus Nervosität. Sofern das nicht der Fall war, würde er das niemals feststellen, da er nach dem Sex die Biege zu machen plante.

Oskars Haus entpuppte sich als Bungalow auf einem riesigen Grundstück. Beidseitig schützen hohe Hecken vor den Blicken der Nachbarn. Oskar schloss die Haustür auf und bat ihn mit einem angedeuteten Diener, als erster einzutreten. Drinnen kam ihm einer der Stubentiger entgegen, ein schwarz-weiß geflecktes Tier, das bei seinem Anblick fauchte.

„Arthur!“, schimpfte Oskar in seinem Rücken. „Benimm dich!“

Natürlich scherte sich der Kater einen Dreck um die Anweisung, fauchte erneut und stob davon. Ein ebenfalls schwarz-weißes Tier beobachtete das Ganze von einem Türrahmen aus, drehte sich um und verschwand aus seinem Blickfeld.

„Was ist denn mit den Viechern los?“ Oskar warf den Schlüsselbund auf eine Kommode. „Möchtest du was trinken?“

„Ein Schluck Wasser wäre nicht schlecht.“

„Geh doch schon mal ins Wohnzimmer“, bat Oskar, wies mit dem Kinn in die Richtung, in die der zweite Kater verschwunden war und ließ ihn stehen.

Von dem rechteckigen Entree ging links ein Flur ab. Rechts befand sich ein Gäste-WC. Er nutzte die Gelegenheit, um seine Blase zu leeren. Nachdem er sich die Hände gewaschen und einen prüfenden Blick in den Spiegel geworfen hatte, begab er sich ins Wohnzimmer. Oskar stand vor einer offenen Terrassentür. Die Lichtverhältnisse reichten aus, um dahinter eine Rasenfläche und die Umrisse hoher Bäume zu erkennen. Eine wirklich beneidenswerte Lage. Sein Wolf würde sich ein Loch in den Bauch freuen, so nah am Naturschutzgebiet zu wohnen.

„Ich versteh nicht, was mit den Tigern los ist“, brummelte Oskar, wandte sich um und reichte ihm ein Glas. „Die beiden sind nach draußen gerannt, als wäre der Leibhaftige hinter ihnen her.“

„Katzen mögen mich nicht.“

„Ach, das liegt bestimmt nicht an dir. Vielleicht haben sie eine Maus oder so entdeckt. Oder sie sind heiß auf die Nachbarskatzen.“

Jefferson verkniff sich ein wölfisches Grinsen und nippte am Wasser. „Tolle Hütte.“

„Nicht wahr? Ein Glücksgriff. Es ist zwar zu groß, aber Platz kann man ja immer gebrauchen.“ Oskar schlenderte zum Kamin und betätigte einen Schalter, woraufhin ein Pseudofeuer anfing zu glühen.

„Benutzt du nie echtes Holz?“

„Selten. Höchstens mal, wenn es im Sommer kühl wird und ich keine Lust hab, deswegen die Heizung anzustellen.“

Stille trat ein. Jefferson trank einen weiteren Schluck, wobei er durchs Fenster guckte. Sein Wolf sehnte sich danach, mal wieder Erde unter den Pfoten zu spüren. Ab und zu fuhr er nachts zu dem Spielplatz, der sich inmitten des Naturschutzgebietes befand, um ein bisschen unter den Bäumen herumzustreunen. Ein gefährliches Unterfangen, da er seine Kleidung im Wagen lassen und die Schlüssel verstecken musste.

„Einen muss ich dir noch erzählen. Der ist nämlich echt gut“, beendete Oskar das Schweigen. „Kommt eine braun gefärbte Blondine zum Schäfer und fragt: Wenn ich errate, wie viele Schafe Sie haben, darf ich mir dann eines aussuchen? Der Schäfer sagt: Okay. Die Blondine: 75. Das ist richtig, wundert sich der Schäfer. Sie sucht sich eines aus und geht davon. Ruft der Schäfer ihr hinterher: Wenn ich errate, was Ihre richtige Haarfarbe ist, bekomme ich dann meinen Hund zurück?"

Glas klirrte auf den Boden, Stoff riss. Jefferson schaffte es nicht, bei so häufiger Erwähnung des Reizwortes die Wandlung aufzuhalten. Sein Wolf brach mit Macht hervor. Das letzte, was er sah, bevor er in den Garten flüchtete, waren Oskars weitaufgerissene Augen.

Das Gras unter seinen Pfoten war feucht. Am Ende des Grundstücks stieß er auf einen Zaun, der für ihn kein Hindernis darstellte. Mit einem Satz sprang er darüber hinweg und tauchte ins Dunkel zwischen den Bäumen. Laub raschelte, Äste knackten, als er seinem Bewegungsdrang nachgab. Im nächsten Moment witterte er ein Kaninchen und nahm die Verfolgung auf.


Impressum

Texte: Sissi Kaiserlos
Bildmaterialien: depositphotos
Cover: Lars Rogmann
Lektorat: Aschure, dankeschön!
Tag der Veröffentlichung: 12.04.2020

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