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Werwölfe sind auch nur Schafe im Wolfspelz 3

Werwölfe - dieser Spezies sagt man ja so einiges nach. Angeblich sind sie aggressiv und töten Mensch und Tier. Sie wandeln sich stets bei Vollmond, um in einen Blutrausch zu verfallen. Alles Humbug! Werwölfe sind Menschen wie du und ich. Sie haben sich voll in die Gesellschaft integriert und können ihre tierische Seite steuern. Manche sind zahm wie Lämmer, andere neigen zu Neurosen. Eben ganz normale Macken, wie jeder sie kennt.

 

Warnhinweis: Enthält geringe Spuren von Eiweiß und Nüssen! Für Leser, die von diesen Inhaltsstoffen abhängig sind, weniger geeignet!


Das Übel mit dem Seelengefährten

William, ein Nerd, wie er im Buche steht, der auch noch ausgerechnet in einem Buchladen arbeitet, erkennt, dass Fazel, ein Kunde, sein Gefährte ist. Es hätte kaum unpassender sein können: Der unscheinbare Bücherwurm und der obercoole Latinlover. Unfähig, dem Ruf des Blutes zu widerstehen, begibt sich William trotzdem auf die Jagd.

1.

Sorgfältig wickelte William das Buch in Geschenkpapier, auf dem er einen Geschäfts-Aufkleber mitsamt einer Schleife anbrachte. Die Kundin, die ihm mit ungeduldigem Gesichtsausdruck zuguckte, zahlte mit EC-Karte. Anschließend hastete sie, das Päckchen in der Hand, aus dem Laden.

Seufzend räumte William das Einwickelpapier in eine Schublade. Heutzutage hatte es jeder eilig. Was trieb die Menschen bloß an? Im Gegensatz zu früher hatte man doch viel weniger zu tun. Die Schmutzwäsche erledigte sich fast von selbst, genau wie das dreckige Geschirr und Teppichklopfen gehörte ebenfalls der Vergangenheit an.

„William?“, rief seine Kollegin Margit aus dem hinteren Teil des Ladens. „Kannst du mir mal helfen?“

Gemeinsam schafften sie einen Karton frisch eingetroffener Ware zu dem Regal, in das sie einsortiert werden sollte. Margit dankte ihm mit einem Lächeln und begann, die Lektüre auszupacken. Er begab sich wieder hinter den Tresen, vor dem ein Mann wartete.

„Was kann ich für Sie tun?“, erkundigte er sich freundlich.

„Ich brauche die Biografie von Becker, dem Tennisstar.“

Plötzlich traf ihn eine Wolke anziehenden Dufts. Kein Parfum, Seife oder Rasierwasser, sondern etwas Ursprüngliches, das all seine Sinne ansprach. Sämtliche Härchen stellten sich auf und unten probte ebenfalls jemand Aufstand. Davon hatte ihm seine Mutter oft vorgeschwärmt. Also, nicht von der Erektion, sondern der umwerfenden Wirkung der Pheromone, wenn man seinen Seelengefährten traf. Sie hatte das mit seinem Vater erlebt.

„Hallo?“, meldete sich der Kunde ungeduldig. „Die Biografie?“

„Entschuldigen Sie. Natürlich. Ich fürchte, die muss ich bestellen.“ William wandte sich dem Monitor zu, auf dem ihr Bestand gelistet war. Wie bereits vermutet, befand sich die gewünschte Lektüre nicht darunter. „Bis heute Abend kann ich Ihnen das Buch besorgen.“

„Gut. Dann tun Sie das.“

„Ihr Name bitte?“

„Fazel Özdemir.“

„Wie schreibt man das?“

Der Kunde buchstabierte den Namen und gab ihm eine Handynummer. „Bis später dann.“

Nachdenklich guckte er Özdemir hinterher. Wieso traf es ihn ausgerechnet bei solchem Exemplar Mann? Der Typ spielte Klassen über seiner Liga. Südländisches, sexy Äußeres und eine Hammerfigur. William hingegen entsprach dem Durchschnitt, beziehungsweise unteren Durchschnitt, mit seinen langweilig braunen Haaren und Augen. Er war dürr, dazu noch Brillenträger. Bei Özdemir hatte er doch niemals eine Chance. Wollte das Schicksal ihn verhöhnen?

Er bestellte das Buch, wobei er überlegte, was Özdemir mit der Biografie wollte. Na klar, wohl lesen, aber irgendwie passte das nicht zu dem Kunden. Leute in teuren Klamotten kauften eher Wirtschaftsratgeber oder andere Fachliteratur, um noch mehr Geld zu verdienen. Oder stand in dem Buch eine Zauberformel für Reichtum? Vielleicht sollte er auch mal einen Blick in die Lektüre werfen.

Eigentlich war William recht zufrieden mit seinem Leben. Er arbeitete in seinem Traumberuf - er liebte Bücher - und wohnte in der Nähe seiner Arbeitsstelle, im wunderschönen Eppendorf. Seine Wohnung war klein, aber fein. 1,5 Zimmer mit Balkon, von dem man auf einen Park guckte. In dem Haus direkt daneben lebten seine Eltern, bei denen er oft zum Essen einkehrte. Ein Auto leistete er sich nicht, weil er es ohnehin nirgends abstellen könnte. Man kam auch mit Bus und Bahn überall hin. Lediglich zu den Freilaufgebieten war es etwas beschwerlich, mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu gelangen. Da er selten solches Bedürfnis verspürte, störte ihn dieser Umstand nicht.

Er brauchte also keinen Reichtum, weil das an seiner Lebenssituation kaum etwas ändern würde. Dafür, in einer dicken Villa zu wohnen, war er einfach nicht der Typ. Auch Autos waren ihm ziemlich egal, genau wie edle Klamotten. Lediglich ein gutes Glas Rotwein und anspruchsvolle Lektüre fand er elementar wichtig. Gesellschaft, die Liebe seines Lebens, wäre natürlich auch schön, doch es lagen einige böse Enttäuschungen hinter ihm, daher hatte er damit abgeschlossen. Mit Mitte dreißig noch den Mann seiner Träume zu treffen, schätzte er als illusorisch ein.

Über die Arbeit geriet Özdemir erstmal in Vergessenheit. Freitags kamen stets mehr Kunden als sonst in den Laden. Vermutlich, weil sie für das Wochenende Lektüre brauchten. Es war so viel zu tun, dass sogar Williams Chefin Lisbeth ihren Schreibtisch verließ, um im Geschäft auszuhelfen.

Gegen vier traf eine Sendung Bücher ein, unter anderem auch die Becker-Biografie. Er schickte Özdemir eine Standard-SMS: „Ihr Buch ist da. Wir haben bis 18:30 Uhr geöffnet und freuen uns auf Ihren Besuch.“

Danach war’s mit seiner Seelenruhe vorbei. Immer, wenn die Ladenglocke neue Kundschaft ankündigte, schaute er zum Eingang.

Um kurz nach sechs, er hatte schon fast aufgegeben, betrat Özdemir das Geschäft. Prompt reagierte sein Körper mit einer Gänsehaut. Waren deshalb, weil es sich um die falschen Männer handelte, seine beiden Beziehungen und drei unglücklichen Lieben gescheitert? Bei keinem von denen war sein Organismus derart ausgeflippt. Erneut stellte er sich die Frage, warum es ausgerechnet Özdemir sein musste.

Lisbeth stand gerade hinterm Tresen und kassierte. Es hätte dumm ausgesehen sie wegzuscheuchen, um Özdemir zu bedienen. Außerdem: Wozu auch? Um Özdemir auf einen Kaffee einzuladen? Mehr als eine ironisch hochgezogene Augenbraue wäre wohl kaum zu erwarten.

Einige Minuten später verließ Özdemir mit der Biografie den Laden. Somit war Williams Chance vertan. Er sagte sich, dass er ohnehin keine gehabt hätte. Leider war sein Herz dieser Logik nicht zugänglich: Es jammerte ihm die Ohren voll, die Gelegenheit ungenutzt verstreichen lassen zu haben. Beschimpfungen wie Weichei, Idiot und Versager hallten durch seinen Schädel. Im Grunde hatte das Organ recht: Er hätte es zumindest versuchen müssen.

Entsprechend niedergeschlagen ging er nach Feierabend heim. Vor dem Fernseher verspeiste er eine aufgewärmte Mahlzeit. Anschließend begab er sich zu seinen Eltern, um ihnen ihr Leid zu klagen. Wie immer um diese Zeit saßen die beiden vor der Glotze. Seine Mutter strickte, während sein Vater eine Unterhaltungsshow verfolgte.

Bei seinem Auftauchen im Wohnzimmer, er benutzte seinen Schlüssel, legte seine Mutter das Strickzeug beiseite. „Hallo Schatz. Möchtest du was trinken?“

„Danke, nein. Bleib sitzen.“ Er gesellte sich zu ihr auf die Couch. „Ich glaube, ich hab heute meinen Seelengefährten getroffen.“

Seine Mutter klatschte mit erfreuter Miene in die Hände. „Nein! Wie schön!“

„Leider sind meine Gefühle wohl einseitig.“

„Sowas ist nie einseitig“, mischte sich sein Vater ein. „Vielleicht merkt dein Partner es erst später.“

William seufzte. „Vielleicht im nächsten Leben.“

„Wer ist es denn?“, wollte seine Mutter wissen.

„Ein Kunde. Sein Name ist Fazel Özdemir.“

„Da klingelt was bei mir“, murmelte sein Vater stirnrunzelnd. „Den Namen hab ich neulich irgendwo gehört. Wahrscheinlich in der Gruppe.“

Seine Eltern waren in der Rudelgemeinde sehr aktiv. Sie gehörten zum liberalen Flügel. Als Kind und Jugendlicher hatte William sie stets zu Treffen begleitet, mit dem Erwachsenwerden jedoch die Lust daran verloren. Vereinsmeierei war einfach nicht sein Ding.

„Dann müsste doch rauszufinden sein, wo dieser Fazel wohnt.“ Seine Mutter tätschelte ihm den Arm. „Also gibt es noch Hoffnung.“

„Wenn du ihn siehst, wirst du deine Meinung ändern“, entgegnete William.

„Wieso?“

„Er sieht aus wie eine Kiez-Größe. Vielleicht ist er sogar ein Zuhälter.“

„Sohn! Reiß dich zusammen! Man darf Leute nicht nach ihrem Äußeren beurteilen“, maßregelte ihn sein Vater.

„Das sehe ich genauso“, stimmte seine Mutter zu. „Nun beruhige dich erstmal. Du bist ja total zappelig.“

„Ich geh noch ein bisschen raus.“ Er küsste sie auf die Wange, stand auf und winkte in Richtung seines Vaters. „Schönen Abend.“

„Mach’s gut, mein Junge“, gab sein alter Herr zurück, ohne die Mattscheibe aus den Augen zu lassen.

„Kommst du morgen Mittag zum Essen?“, rief seine Mutter ihm hinterher.

„Gerne“, erwiderte er im Hinausgehen.

Vor der Haustür atmete er tief durch. Ihm war seine Unruhe gar nicht aufgefallen, bis seine Mutter es erwähnt hatte.

Er schlug den Weg in Richtung Park ein. Die Luft roch würzig nach beginnendem Leben. Überall spross Grün. Vereinzelt kamen ihm Spaziergänger entgegen, zumeist zu zweit oder mit Hund. Das machte ihm seine Einsamkeit bewusst. Bisher hatte er das selten empfunden, doch die Begegnung mit Özdemir schien auch dieses Gefühl zu verstärken.

Je länger er darüber nachdachte, desto entschlossener wurde er, es wenigstens zu versuchen. Vielleicht steckte hinter der aalglatten Fassade ein lieber Mensch. Sein Vater hatte ja recht: Der erste Eindruck trog häufig. William sah aus wie eine graue Maus, war jedoch - nach seiner Meinung - durchaus interessant. Allerdings nur für Menschen, die Intelligenz zu schätzen wussten. Manchmal wünschte er, attraktiver und dafür dümmer zu sein. Tja, man konnte eben nicht alles haben.

Auf dem Rückweg begann es zu nieseln. Er schlug den Kragen seiner Jacke hoch und beschleunigte seine Schritte. Kurz bevor er das schützende Vordach des Hauses, in dem er wohnte, erreichte, fing es an zu schütten. Die letzten Meter rannte er, wurde aber trotzdem klitschnass. Leise vor sich hin fluchend schloss er die Haustür auf und joggte die Stufen in den ersten Stock hinauf.

In seiner Wohnung schüttelte er die Sneakers von seinen Füßen und brachte die triefende Jacke ins Bad, wo er sie in die Dusche hängte. Nachdem er eine trockene Hose und Socken angezogen hatte, machte er es sich auf der Couch gemütlich. Zu einem fesselnden Krimi genoss er ein Glas Rotwein und fühlte sich wieder mit der Welt im Einklang.

Am nächsten Morgen erledigte er den nötigen Einkauf. Bis es Zeit war, zu seinen Eltern aufzubrechen, räumte er ein bisschen auf. Generell war er ein sehr ordentlicher Mensch, doch im Laufe der Woche sammelte sich doch das eine oder andere an. Einige Zeitschriften auf dem Boden neben der Couch. Auf dem Balkon stand eine Tasche Leergut, die er zum nächsten Glascontainer brachte.

Als er bei seinen Eltern ankam, wehte ihm aromatischer Essensduft entgegen. Er begab sich in die Küche, gab seiner Mutter einen Begrüßungskuss und spähte in die Töpfe. „Spargel? Lecker!“

„Hat dein Vater heute Morgen auf dem Markt besorgt“, erwiderte sie und wies mit dem Kochlöffel auf einen Stapel Geschirr. „Deckst du bitte den Tisch?“

Im Wohnzimmer saß sein Vater im Ohrensessel und las Zeitung. Bei Williams Eintreten faltete er sie zusammen. „Moin, mein Junge.“

„Hi Paps. Was gibt’s neues in der Welt?“ Er begann, das Geschirr auf dem Esstisch zu verteilen.

„Immer das Gleiche. Ich wüsste zu gern, warum es freie Wahlen gibt, wenn die Bürger trotzdem die größten Idioten wählen.“

„Wer am besten manipuliert, gewinnt eben.“

„Du sagst es“, brummelte sein Vater. „Übrigens hab ich gestern noch mit Jeremy telefoniert.“

Jeremy war der Vorsitzende der örtlichen Rudelgemeinschaft. „Ach ja?“

„Er kennt diesen Özdemir. Es handelt sich um einen Neuzugang.“

Mitten in der Bewegung hielt William inne. „Du meinst, er ist erst kürzlich gewandelt worden?“

„Richtig. Die näheren Umstände hat Jeremy mir nicht verraten, bloß gesagt, dass dieser Özdemir ein ziemlich übler Gesell ist.“

„Na, also hab ich recht behalten“, meinte William und fuhr fort, die Servietten zu falten.

„Jeremy ist in mancher Hinsicht ein wenig zu konservativ. Für ihn sind Leute schon dann üble Gesellen, wenn sie bei Kreuzworträtseln schummeln.“

Seit wann war sein Vater gegenüber einem Rudelmitglied derart kritisch? „Und? Was hat Özdemir auf dem Kerbholz?“

„Angeblich findet in seinem Haus Glücksspiel statt. Man munkelt auch etwas über illegale Drogen und Sexpartys.“

„Klingt nach einem Rockstar.“ William nahm rittlings auf einem Stuhl Platz und verschränkte seine Arme auf der Rückenlehne. „Was macht er denn beruflich?“

„Ich hab hier einige Eckdaten notiert.“ Sein Vater zog ein gefaltetes Blatt Papier aus der Brusttasche seines Hemdes. „Name, Adresse, Telefonnummer, häufige Aufenthaltsorte, wie Clubs und Restaurants. Özdemir ist Inhaber einer Restaurantkette.“

„Lässt Jeremy Özdemir etwa beschatten?“

Sein Vater grinste schief. „Scheint so, nicht wahr?“

„William? Kommst du bitte mal?“, meldete sich seine Mutter aus der Küche.



2.

Später, als er wieder zu Hause eingetroffen war, überflog er die Notizen. Entweder hatte Jeremy einen Detektiv auf Özdemir angesetzt oder kundschaftete den Mann selber 24/7 aus. Die Menge und Detailtreue der Informationen roch verdächtig danach. Man sollte sich wohl besser nicht mit Jeremy anlegen.

William ließ sich auf der Couch nieder und studierte den Zettel ausführlicher. Regelmäßig suchte Özdemir zwei Clubs auf, das S.L.U.T. und das Golden Rain. Der eine Name sagte ihm etwas, der andere nicht. Selbst in jungen Jahren war er nicht in solche Etablissements gegangen. Er mochte keine laute Musik und Fleischbeschau noch weniger.

Özdemir war 45, ungefähr 180 Zentimeter groß und 90 Kilo schwer. Augenfarbe: Braun. Gut, das hatte er auch schon festgestellt. Geboren war Özdemir in Ankara und wohnte in Ottensen.

William klappte sein Notebook auf, um sich die Adresse anzuschauen. Eine noble Gegend mit großen Grundstücken und feudalen Bauten. Natürlich gehörte Özdemir eine der schneeweißen Villen. Was auch sonst? Bei der Gelegenheit guckte er sich ebenfalls die Clubs an. Der eine war ein Fetisch-Schuppen, der andere eine Disco in St. Georg.

Als nächstes rief er die Website von Özdemirs Firma auf. Es handelte sich um ein Unternehmen, das Franchise-Verträge vergab und eigene Restaurants betrieb. In Hamburg befanden sich acht davon, in der Umgebung zehn Lokale von Franchise-Nehmern.

Das Klingeln seines Festnetzanschlusses ließ William aufseufzen. Es konnte nur seine Mutter sein, denn sonst rief ihn nie jemand an - mit Ausnahme irgendwelcher Werbe- oder Meinungsumfrage-Fuzzis, die seine Nummer wo auch immer her hatten.

Tatsächlich stand die Nummer seiner Eltern im Display. Er ging ran. „Hallo Mama. Was ist denn noch?“

„Ich hab ganz vergessen dir zu sagen, dass wir bis morgen Abend bei einem Freilauf-Event in Nordhackstedt sind.“

Seine Eltern liebten solche Ausflüge, an denen er als Kind und Jugendlicher ebenfalls teilgenommen hatte. Es gab doch nichts schöneres, als mit anderen Wölfen durch die Einöde Nordfrieslands zu streifen und hinterher am Lagerfeuer über das Erlebte zu plaudern. Allein der Gedanke erregte bei William Kotzreiz. Diese Pfadfinderspielchen zwischen Kohlrübenäckern hatte er gründlich satt. „Viel Spaß.“

„Danke, mein Schatz. Ich wollte nur Bescheid geben, weil ...“ Sie seufzte. „Ich hab Papas Notizen gelesen und dachte, dass ich dich vielleicht in einen dieser Clubs begleiten sollte. Das ginge dann aber erst nächstes Wochenende.“

Bitte? „Du kannst nicht mit mir in solche Läden gehen! Wie sieht denn das aus?“

„Gunther? Gehst du mit deinem Sohn in einen dieser Bumsclubs?“, hörte er sie rufen.

Seine Eltern waren aufgeklärte Leute, manchmal für seinen Geschmack zu aufgeklärt. Dennoch passten sie niemals in einen Club, in dem das Publikum Mitte zwanzig war; mal ganz abgesehen von dem Fetisch-Kram. „Also bitte! Ich bin doch kein Kind mehr!“

„Du bist immer noch unser Sohn!“, entgegnete seine Mutter vehement. „Dein Glück liegt uns am Herzen. Dafür schlagen wir uns gern mal eine Nacht in solchem bumsfidelen Laden um die Ohren.“

„Ich komm schon allein klar.“

Sie seufzte. „War ja nur ein Angebot. Falls du doch Begleitung brauchst, sag einfach Bescheid.“

„Mhm“, machte er vage. „Also, viel Spaß auf eurem Ausflug.“

„Willst du nicht mitkommen? Es sind zwei nette, schwule Wölfe dabei.“

Nett? Nein danke! „Vielleicht ein anderes Mal.“

„Na gut. Halt die Ohren steif, mein Schatz.“ Sie schickte ihm einen Schmatzer, bevor sie auflegte.

Er steckte das Mobilteil zurück in die Ladestation und nahm wieder auf der Couch Platz. Die Vorstellung, in Begleitung seines Vaters oder seiner Mutter in einen Club zu gehen, amüsierte ihn einerseits, andererseits verursachte sie einen unangenehmen Schauer. Er sah förmlich seine Mutter in hautenger Jeans und Glitzeroberteil vor sich, wie sie auf der Tanzfläche herumzappelte. Nur über seine Leiche!

Allerdings stellte sich die Frage, wie er allein mit solchem Ausflug klarkam. Er besaß ja nicht mal passende Klamotten. Wenn er seinen üblichen Dress - ordentliche Jeans und ein weißes Oberhemd - trug, würde man ihn vielleicht gar nicht reinlassen. Abgesehen davon: Spätestens im Club hätte er mit Spott zu rechnen.

Ihm fiel der Secondhandladen, etwas die Straße runter, ein. Ab und zu hatte er in dessen Angebot bereits gekramt und das eine oder andere Stück gefunden. Zweifelsohne gab es dort ein paar billige Klamotten für einen passenden Auftritt in der Disco.

William machte sich auf den Weg. Zum Glück hatte der Laden noch offen, anders als viele andere kleine Geschäfte in der Umgebung. Eine anstrengende Stunde später kehrte er mit einem Arm voll Kleidung heim. Die geschickte Verkäuferin hatte ihm mehr aufgeschwatzt, als er eigentlich erwerben wollte. Egal. Somit hatte er für die nächsten Clubbesuche jeweils ein anderes Outfit. Er ging davon aus, dass die Kontaktaufnahme mit Özdemir nicht gleich beim ersten Mal klappen würde.

Vor dem Spiegel im Flur probierte er verschiedene Varianten aus. Zu der hautengen, schwarzen Hüfthose sah das bis zum Bauchnabel aufgeknöpfte, blutrote Hemd ziemlich scharf aus. Leider besaß er weder das passende Gesicht noch den Körper für solches Styling. Er wirkte wie ein kostümierter Bibliothekar. Die weiße Jeans, ebenfalls hauteng, kombiniert mit einem genauso figurbetonten T-Shirt in Silber, erweckte den gleichen Eindruck. Vielleicht sollte er sich die Haare schwarz färben lassen und einige Monate Muskelaufbau betreiben, überlegte er ironisch.

Letztendlich, wegen des Motto-Abends im S.L.U.T., entschied er, die künstlich gebleichte Jeans, Hosenträger, ein Polohemd und Schnürboots zu tragen. Bei seinem Anblick gruselte ihm ein bisschen. Wer stand denn auf solchen Scheiß? Da versteh mal einer die Szene.

Die Zeit bis zum Aufbruch verbrachte er in einem Wechselbad aus Zweifeln an seinem Vorhaben und ängstlicher Erwartung. Wenn Özdemir - entgegen der sonstigen Routine - gar nicht da war, sollte er dann bleiben und warten? Und was tun, wenn ihn jemand anmachte? Oder wenn er gar nicht erst rein kam?

Um zehn, als er seine Wohnung im Skin-Outfit und mit Kontaktlinsen, anstelle seiner Brille, verließ, war er ein Nervenbündel. Er holte sein Fahrrad aus dem Keller und traf dabei Herrn Wolter, der im Erdgeschoss wohnte und gerade mit Isi, einer Pudeldame, hereinkam.

„Guten Abend“, wünschte er und fügte erklärend hinzu: „Ich gehe heute zu einer Faschingsparty.“

„Was soll denn das darstellen? Einen Nazi?“, mutmaßte Herr Wolter stirnrunzelnd.

„Einen Skinhead, und zwar einen links ausgerichteten.“

„So, so“, murmelte Herr Wolter und zog an Isis Leine, bis die Pudeldame aufhörte, an Williams Stiefeln zu schnuppern. „Dann wünsche ich viel Spaß.“

Das klang wenig überzeugt. Verständlich. William würde um Typen in seinem Aufzug auch einen großen Bogen machen.

Er erreichte sein Ziel nach rund zwanzig Minuten gemächlichen Radelns. Während er seinen Drahtesel an einem Stahlbügel festschloss, warf er unsichere Blicke in Richtung des Clubs. Von außen war nicht zu erkennen, ob sich drinnen überhaupt jemand aufhielt. Die Eingangstür war mit einer Klappe in Augenhöhe versehen. Vermutlich für die Gesichtskontrolle.

Gerade als sein Fahrrad gesichert war, näherten sich zwei Männer in Lederkluft dem Club und klopften an die Tür. Wie vermutet wurde die Klappe geöffnet. Offenbar bestanden die beiden vor dem kritischen Auge des Kontrolleurs, denn gleich darauf ging die Tür auf. William erhaschte einen Blick auf fluoreszierendes, blaues Licht, bevor ihm die Sicht wieder verstellt war.

Sein Wolf mochte solche Beleuchtung nicht. Es war ein Kampf mit dem Tier, sich zu der Tür zu begeben und zu klopfen. Darüber vergaß William, vor Anspannung zu zittern. Erst als die Klappe aufschwang, setzte seine Nervosität erneut ein.

„Hi. Du bist neu, oder?“, fragte ein Typ, von dem er nur Augen und Nase sah.

„Ähm ... ja.“

„Okay. Kannst reinkommen.“

Hürde eins war also gemeistert.

Im Club war es zwar dunkel, bis auf das blaue Neonlicht, aber dank seiner zweiten Natur gewöhnte sich William sofort daran. Ungefähr 20 Männer saßen und standen herum. Alle starrten ihn an. Unbehaglich mied er ihre Blicke und steuerte auf den Tresen zu, wobei er stolperte und nur dank einem Typen, der ihn am Arm festhielt, nicht auf die Schnauze fiel.

„Danke“, murmelte er und musterte den Mann aus dem Augenwinkel.

Genau wie er trug der Gast ausgeblichene Jeans, allerdings ohne Oberteil. Der Kopf war kahl und im Mundwinkel steckte eine Zigarette. Überhaupt war es ziemlich verqualmt in dem Raum.

„Kein Problem. Kann ich dir was ausgeben?“ Der Typ blies einen Rauchkringel in die Luft.

Wenn er ja sagte, musste er dann mit dem Mann vögeln? Bisher war William lediglich einmal auf einen Kaffee eingeladen worden, allerdings nicht in ein Etablissement, in dem es Möglichkeiten für Sex gab.

Offenbar interpretierte der Mann sein Zögern richtig: „Keine Sorge. Das beinhaltet nicht die Einladung, gleich nach hinten zu gehen und zu ficken.“

„Dann nehme ich dankend an. Ich weiß aber nicht, ob ich später dazu bereit bin.“

Der Typ lachte. „Alles klar.“ Er drückte die Zigarette in einem Aschenbecher aus und winkte den Barkeeper herbei. „Was möchtest du trinken?“, wandte er sich wieder an William.

„Gibt’s Bier vom Fass?“

„Lego!“, rief der Barkeeper. „Duckstein oder Holsten?“

„Ein Duck, bitte.“

„Für mich auch“, bat sein Wohltäter ein, stützte einen Arm auf die Theke und musterte William. „Du siehst aus, als ob du dich in deiner Haut nicht sonderlich wohlfühlst.“

Sein Wolf knurrte. „Der Eindruck täuscht.“

„Lass mich raten: Du bist von Beruf Lehrer.“

„Wie kommst du denn darauf?“

Der Typ zuckte mit den Achseln. „Ist so ein Bauchgefühl.“

„Falsch geraten. Ich arbeite in einem Buchladen.“

„Na, dann lag ich doch nicht soooo falsch.“ Der Mann gab dem Barkeeper einen Schein und schob William ein Bier rüber. „Ich bin übrigens Ken.“

Es lag ihm auf der Zunge zu antworten: ‚Und ich bin Barbie‘, doch stattdessen erwiderte er: „William.“

„Freut mich.“ Ken prostete ihm zu. „Auf einen angenehmen Abend.“

Das Pils schmeckte lecker. Es prickelte auf der Zunge und ölte seine Kehle. Mit Ken entspann sich eine seichte Unterhaltung, die sich hauptsächlich um schwule Locations in Hamburg drehte. William konnte dazu wenig beitragen, weshalb sich sein Part auf Bemerkungen wie ‚Ach nein!‘, ‚Hört sich gut an‘ und ‚Das muss ich mir auch mal ansehen‘ beschränkte.

Im Laufe des zweiten Bieres gesellte sich ein Kai zu ihnen, mit dem Ken schließlich in die hinteren Räume verschwand. William warf einen Blick auf die Uhr. Halb zwölf. Die Notizen seines Vaters beinhalteten nicht, um welche Uhrzeit Özdemir in den Clubs aufzutauchen pflegte. Da seit elf alle paar Minuten neue Gäste aufkreuzten ging William davon aus, dass die Stoßzeit gerade erst einsetzte. Vielleicht kam Özdemir ja noch. Stoßzeit? Ha-ha! Was für ein hübsches Wort im Zusammenhang mit diesem Etablissement.

Als hätte er Özdemir gedanklich heraufbeschworen, schneite jener kurz darauf herein und zwar in Begleitung eines blonden Bubis. William schätzte den Burschen auf Anfang-Mitte zwanzig. Mit dem Jungspund konnte er leider nicht konkurrieren. Stand Özdemir auf solches Grünzeug? Und wieso merkte nur er dieses Gefährtending? Seine Mutter hatte erzählt, dass die Anziehung beidseitiger Natur war.

Özdemir steuerte auf den Tresen zu und nahm den Platz ein, den Ken verlassen hatte. „Was willst du trinken?“, wandte er sich an den Blonden.

„Das teuerste, was auf der Karte steht.“

Jason!“, rief Özdemir dem Barkeeper zu. „Was kostet hier am meisten?“

„Ein Fick mit mir“, gab der Angesprochene zurück.

„Etwas Flüssiges“, konkretisierte Özdemir.

Feixend schnappte sich Jason eine Flasche und zwei Gläser, kam herüber und stellte seine Fracht auf die Theke. „Port Charlotte Heavily Peated, 10 Jahre alt, 55,1 Prozent Alkohol.“

„Und was kostet ein Glas?“, wollte der Blonde wissen.

„28. Fazel bekommt aber einen Vorzugspreis: 25“, antwortete Jason mit einem strahlenden Lächeln.

„Dann schenk ein“, erwiderte Fazel.

Als würde es sich um flüssiges Gold handeln - bei dem Preis ein passender Vergleich - schenkte Jason einen Fingerbreit in die Gläser. „Wartet fünf Minuten, bevor ihr trinkt, damit sich die Aromen entfalten können.“

William überlegte, ob er sich auch so einen Whisky einschenken lassen sollte, um Özdemirs Aufmerksamkeit zu erregen. 55 Prozent waren ihm allerdings zu happig. Schließlich musste er noch radeln. Auf zwei Rädern fuhr am besoffen ziemlich wackelig.

„Mit dem Drink ist meine Schuld aber endgültig abgegolten“, brummelte Özdemir.

„Geizkragen“, entgegnete der Blonde mit einem frechen Grinsen.

„Ts! Das sagt ausgerechnet der, dem ich pro Tag 300 Tacken in den Hintern geschoben hab.“

„Auf dem Strich hättest du mehr bezahlt.“ Der Blonde schnupperte an dem Glas. „Das riecht lecker.“

War der Typ ein Prostituierter?, rätselte William. Er konnte sich gut vorstellen, dass Özdemir für Sex bezahlte. Für ihn wäre das keine Option. Entweder stimmte die Chemie oder er ließ es bleiben. Das lief seit Jahren auf Handbetrieb hinaus.

Neue Gäste trafen ein. Einer von ihnen, ein großer Mann mit schwarzem Haar, ging direkt auf den Blonden zu und umarmte ihn von hinten. „Hi Häschen.“

Der Angesprochene drehte den Kopf und bekam einen Kuss. „Hi Großer.“

Von irgendwoher kam der südländische Typ William bekannt vor. 20 Kilo Muskelmasse weniger und die Bartstoppeln weggedacht ... da klingelte was bei ihm. Wie hieß noch gleich der dunkelhaarige Junge, den er ein paarmal bei den Freilauf-Treffen gesehen hatte?

„Du bekommst aber keinen Whisky“, meldete sich Özdemir zu Wort. „Will ja schließlich nicht arm werden.“

„Ist eh nicht mein Ding.“ Großer wandte sich wieder an Häschen. „Trink aus und lass uns los. Die Spätvorstellung fängt bald an.“

Brav griff Häschen nach dem Glas und stürzte den Inhalt in einem Zug runter. Pikiert krauste der Barkeeper die Stirn. Verständlich. Derart edles Zeug musste man in kleinen Schlucken genießen.

„Mann, Mohammed!“, moserte Özdemir. „Sei nicht so ungemütlich.“

Ach ja! Mohammed! Offenbar erinnerte sich selbiger nicht an William. Na ja, es war schon ein paar Jährchen her. Zudem trug er keine Brille. Damals hatte er ein hässliches, dickes Gestell, das er todschick fand, auf der Nase gehabt. Ein bisschen beleidigt war er trotzdem, dass Mohammed ihn nicht erkannte.

„Wir wollen ins Kino“, rechtfertigte sich Mohammed.

„Ja, ja. Zwitschert schon ab und lasst den armen Fazel allein.“

„Danke für den Drink“, flötete Häschen, tätschelte Fazels Schulter und folgte Mohammed zum Ausgang.



3.

Missmutig beäugte Fazel seinen schweineteuren Drink. Ehrlich gesagt hatte er gehofft, bei Tyll noch mal zum Zug zu kommen. Der kleine Arsch ließ sich echt super bumsen. ‚Idiot! Mohammed würde dich zu Hackfleisch verarbeiten!‘, schimpfte sein Verstand.

Er setzte das Glas eine seine Lippen, schloss die Augen und genoss einen winzigen Schluck. Das Zeug war wirklich hammerlecker. Fazel war zwar kein Whiskykenner, wusste aber einen guten Tropfen wohl zu schätzen.

„Und? Schmeckt der Drink so gut, wie er aussieht?“, sprach ihn sein Tresennachbar an.

Er drehte sich in dessen Richtung. Ein unauffälliger Typ in unsäglich hässlichen Klamotten, vielleicht nur dem hiesigen Dresscode geschuldet. Fazel kümmerte sich nicht um die Regeln. Niemals würde er seine Designer-Klamotten gegen Leder oder solchen Assi-Look austauschen.

„Er schmeckt sogar noch besser“, erwiderte er.

„Dann hat sich die Investition ja gelohnt.“

Eigentlich war der Mann gar nicht so unattraktiv. Regelmäßige Gesichtszüge, braune Haare, die sich über den Ohren lockten. In den Augenwinkeln offenbarten sich beim Lächeln, das der Mann ihm schenkte, kleine Fältchen. Ein schlanker Körper in der grottigen Kluft. Für einen Fick wäre der Typ allemal okay.

Unversehens klopfte ihm jemand auf die Schulter. Als er sich umschaute erblickte er Ken, der wohl gerade abgespritzt hatte, wenn er das Leuchten in den dunklen Augen richtig deutete.

„Hey, Fazel, altes Haus! Pack deinen Bagger wieder ein.“ Ken gluckste. „An William hab ich mir schon die Zähne ausgebissen.“

Ach? Das machte den Mann doch gleich um Längen interessanter. „Vielleicht hab ich ja mehr Glück.“

Erneut lachte Ken. „Dann wünsche ich dir viel Erfolg. Ich hau ab. Bis denne.“

Fazel wandte sich wieder dem Typen ... William, was für ein Name!, zu. „Werde ich bei dir mehr Glück haben?“

„Kommt drauf an. Für einen schnellen Fick im Stehen bin ich nicht zu haben.“

„Dann für einen langen im Liegen?“

William zuckte mit den Achseln. „Hört sich jedenfalls schon besser an.“

Fazel bedeutete dem Barkeeper mit Gesten, ihm ein gezapftes Pils zu bringen und beäugte Williams leeres Glas. „Möchtest du auch noch eins?“

„Ich weiß nicht recht. Muss schließlich noch Fahrrad fahren.“

Was war das denn für ein komischer Kauz? „Lieber was Antialkoholisches?“

William überlegte kurz. „Ach nein. Ein Pils wird schon noch gehen.“

Fazel gab das entsprechend an den Barkeeper weiter und überlegte, ob er erstmalig in seinem Leben auf einem Fahrradgepäckträger einem One-Night-Stand entgegenschaukeln würde. Lustige Vorstellung. Sein Hintern war anderer Meinung. Der erinnerte sich noch, wie hart es war, auf dem Stahlgestell zu sitzen. Erstaunlich, wie stark sich manche Eindrücke aus der Jugend einprägten.

Seine ersten Lebensjahre hatte Fazel in Ankara zugebracht. Kurz vor seiner Einschulung waren seine Eltern nach Deutschland übergesiedelt. ‚Kommt her‘, hatte sein Onkel, der schon lange in Hamburg lebte, gesagt. ‚Hier fließt Milch und Honig.‘ Der Umzug war für ihn ein brutaler Schritt. Zu dem Zeitpunkt konnte er kaum ein Wort Deutsch und verlor all seine Freunde.

Mit Hartnäckigkeit und unermüdlichem Fleiß hatte er innerhalb der folgenden Jahre seine Sprachkenntnisse aufpoliert und perfektioniert; zwangsläufig, da keiner seiner Klassenkameraden türkisch sprach. Anfangs hatte er sich deshalb auf Mathe gestürzt. Zahlen waren ja international.

Zwanzig Jahre später hatten seine Eltern das Handtuch geworfen und ihre Zelte in Hamburg abgebrochen. Der versprochene Milch-und-Honig-Fluss war ausgeblieben. Mit seinen drei Schwestern zogen sie zurück nach Ankara. Fazel war geblieben. Er hatte gerade den Posten als Geschäftsführer eines Restaurants ergattert. Außerdem mochte er das westliche Leben, insbesondere wegen der Freizügigkeit gegenüber Schwulen.

Mittlerweile gehörte ihm ein kleines Imperium. Vom Tellerwäscher zum Millionär hatte sich bei ihm bewahrheitet. Na ja, eher von der Fachkraft für Service zum Gutverdiener. Hätte sich seine Familie nicht von ihm losgesagt, wegen seiner abartigen Neigung, könnte sie an seinem Reichtum partizipieren. Tja, persönliches Pech. Es tat zwar weh, doch inzwischen hatte sich Fazel damit abgefunden. Er konnte ihre Einstellung nicht ändern, so what?

Zwei Krüge, die der Barkeeper in sein Blickfeld schob, beendeten seinen gedanklichen Ausflug. Er reichte einen William und hob den anderen. „Ich bin übrigens Fazel.“

„Angenehm. William.“

Das Bier rann wohltuend kühl durch Fazels Kehle. Er wischte sich den Schaum von der Oberlippe und taxierte die anderen Gäste. Fast alle davon kannte er. Zumeist hielt sich Stammpublikum im S.L.U.T. auf. Gerade das machte den Club so angenehm. Wenn er fremde Gesichter brauchte, ging er ins Golden Rain. Dort verkehrte gemischtes Volk und es war, wegen einer hohen Anzahl an Touristen unter den Leuten, wunderbar anonym.

„Also: Zu dir oder zu mir?“, wandte er sich wieder an William.

„Hast du es eilig?“

Allerdings. Aus irgendeinem Grund spielte seine Libido verrückt. Je länger er neben William saß, desto stärker juckte sein Schritt. Es war aber nicht nur zwischen seinen Beinen unangenehm: Auch in seinem Brustkorb und im Prinzip überall spürte er ein Kribbeln, als ob Ameisen über seine Haut pilgerten.

„Ich wollte nur vorab schon mal klare Verhältnisse schaffen“, verteidigte er sich.

„Wie wäre es mit ein bisschen Smalltalk, bevor’s ans Eingemachte geht?“

„Klar. Lass uns übers Wetter reden.“

William schüttelte missbilligend den Kopf. „So wird das nichts. Ich glaube, ich gehe doch lieber allein nach Hause.“

Das Tier in Fazel stieß ein drohendes Knurren aus. Obwohl er nun schon einige Wochen zwei Gestalten besaß, war er daran noch kein bisschen gewöhnt. Er wusste jedoch, wann er sich besser nicht mit seinem Wolf anlegte und lenkte daher ein. „Erzähl doch mal: Was machst du so beruflich?“

„Ich bin Buchhändler.“ Beim Sprechen guckte William ihn aufmerksam an.

„Schöner Beruf“, erwiderte er, von dem intensiven Blick irritiert. „Ist irgendetwas?“, hakte er nach.

William winkte ab. „Ich wollte nur gucken, ob du genauso dämlich wie Kai reagierst.“

„Wieso? Was hat der denn verbrochen?“

„Mich auf eine Stufe mit einem Lehrer gestellt.“

„Was ist daran schlimm? Pädagogen sind hoch angesehene Leute.“

„Und spießig.“

Fazel musste grinsen. „Okay, da ist was dran. Aber das ist auch nichts Schlechtes.“

„So, so“, brummelte William, trank einen großen Schluck Bier und fügte hinzu: „Was treibst du so, außer mit männlichen Huren auszugehen?“

Hatte da jemand gelauscht? Na gut, Tyll und er hatten nicht gerade leise geredet. „Ich hab ein kleines Geschäft.“

„Was für eines?“

„Ein paar Restaurants.“

„Das klingt eher groß.“

„Ertappt.“ Fazel leerte sein Glas. „Ich hab ein bisschen tiefgestapelt, damit du nicht vor Demut vor mir auf die Knie fällst.“

„Den Tag wirst du nicht erleben, und wenn du der Kaiser von China wärest.“

„Also bläst du gar nicht?“ Wurde William rot? Bei der Beleuchtung schlecht zu erkennen. „Das war ein Joke. Guck nicht so belämmert.“

Ein hinreißendes Grinsen erscheine auf Williams Lippen, schüchtern und zugleich frech. Moment! Seit wann dachte er derart bescheuertes Zeug? Musste an seiner überbordenden Libido liegen. Sein aufmüpfiger Schwanz wurde in seiner Lederhose fast zu Tode gewürgt. Machte dieser arschteure Whisky so geil?

„An Blaskonzerte hab ich überhaupt nicht gedacht, weil ich dabei auch lieber liege“, erwiderte William.

„Du bist ja ein richtiger Liege-Fetischist.“

„Ich hab’s halt gern bequem.“

Fazel beäugte Williams fast leeres Glas. „Brechen wir danach auf?“

„Von mir aus, wobei die zu-mir-oder-zu-dir-Frage noch nicht geklärt ist.“

„Können wir zu dir? Bei mir ist es gerade schlecht. Ich hab die Handwerker im Haus“, log Fazel.

„Sogar nachts am Wochenende?“

„Das nicht, aber überall stehen Leitern, Farbe und solches Zeug herum.“

„Ein schlagendes Argument. Dann fahren wir wohl besser zu mir.“

„Fahren? Zu zweit auf deinem Drahtesel?“

„Gibt es keine Taxis, die Fahrräder mitnehmen?“, entgegnete William, stürzte den Rest Pils runter und zückte ein Smartphone. „Ich guck mal nach.“

Zunehmend ungeduldig tippelte Fazel auf den Tresen, wobei er sich umschaute. Etliche Gäste hatten sich in den hinteren Bereich zurückgezogen. In einer Ecke knutschte ein Pärchen. Jason stand an der Zapfanlage und zwinkerte ihm zu, als sich ihre Blicke trafen. Er nutzte die Gelegenheit, winkte den Barkeeper herbei und zahlte.

„In drei Minuten steht das Taxi vor der Tür“, verkündete William, steckte das Smartphone wieder ein und schlüpfte in eine Lederjacke. „Ich geh schon mal raus.“

Er schloss sich William an. Draußen atmete er tief durch. So lange man im Club saß, war der Qualm einigermaßen auszuhalten, doch sobald man den Unterschied merkte, stank es gewaltig. Beide Hände in den Jackentaschen vergraben guckte er zu, wie William ein Herrenfahrrad aufschloss. Ein recht altmodisches Modell, keines von den neuen Super-Sportgeräten. Es passte weitaus besser zu dem Mann als die Klamotten.

Ein Taxi hielt am Bordstein. Der Fahrer stieg aus und öffnete die Heckklappe, woraufhin William das Fahrrad rüber schob und dem Typen übergab. Gleich darauf war der Drahtesel verstaut und ihr Chauffeur schwang sich wieder hinters Lenkrad. William kletterte auf den Rücksitz, Fazel hinterher. Flink tippte er die Adresse, die William dem Fahrer gab, in sein Smartphone. So brauchte er nicht erst nachzufragen, wenn er später ein Taxi rief.

Die Fahrt dauerte knapp eine Viertelstunde. William verströmte zunehmende Nervosität, zusammen mit einem anziehenden Duft. Fazels Körper reagierte auf letzteres mit verstärktem Kribbeln. Sein Verstand riet ihm jedoch, seinen tierischen Trieb zu unterdrücken, um William nicht in die Flucht zu schlagen. Zwar hatte er mittlerweile die Vermutung, es mit einem weiteren Gestaltwandler zu tun zu haben, aber vielleicht irrte er sich. Bisher war noch nichts passiert, um seinen Verdacht zu erhärten.

Mohammed, sein wölfischer Tutor, hatte ihm erklärt, woran man ihresgleichen erkannte: Ein gelegentliches, gelbes Aufblitzen der Augen sowie intensiver Geruch, den man jedoch erst mit etwas Erfahrung als solchen einstufen konnte. Ein gebürtiger Werwolf besaß solche Instinkte von Anfang an, ein später gewandelter musste sie erst erlernen.

Manchmal war er sauer auf Mohammed, der ihn in diese Lage gebracht hatte, manchmal schätzte er seinen neuen Status. Immerhin brachte dieser einige Vorteile mit sich. Man war weniger anfällig für Krankheiten, gegen manche sogar resistent und erheblich kräftiger, zumindest in Wolfsgestalt, als zuvor. Doof fand er, dass sein Wolf einen eigenen Kopf besaß. Das Tier schein in ihm ein Eigenleben zu führen. Das hatte zur Folge, dass er zuweilen gegen sich selbst kämpfen musste, zum Beispiel, wenn der Wolf unbedingt raus wollte und es dazu keine Gelegenheit gab.

Neulich, als er gegen Mitternacht dem tierischen Drang nachgegeben hatte, war er durch den Klövensteen gestrolcht. Mohammeds Wagen stand auf dem Parkplatz, daher wusste er, dass sich jener und vermutlich auch dessen Kaninchenwandler-Lover im Waldstück aufhielten. Sein Wolf hatte das Karnickel aufgespürt und ein bisschen spielen wollen. Tja, dumm gelaufen. Natürlich war sofort Mohammed aufgetaucht und hatte ihn zur Sau gemacht. Als Entschuldigung hatte er Tyll, das Kaninchen, auf einen Drink ins S.L.U.T. eingeladen. Schließlich besaß er Manieren. Na ja, nicht immer, aber er arbeitete daran.

Das Taxi hielt. William zahlte, noch bevor er seine Börse zücken konnte. Während der Chauffeur das Fahrrad auslud, schaute sich Fazel um. Sie befanden sich in einer Nebenstraße des Eppendorfer Marktplatzes. Altbauten, Kopfsteinpflaster und Torbögen, die zu Hinterhöfen führten. Nette Gegend, doch für seinen Geschmack zu eng bebaut.

Er folgte William, der ihn bat im Erdgeschoss zu warten und das Fahrrad runter in den Keller trug. Das Treppenhaus verströmte gutbürgerlichen Mief. Die Wände waren bis Schulterhöhe mit altbackenen Kacheln gefliest. Der Boden bestand aus Linoleum und schien regelmäßig gebohnert zu werden, denn er glänzte und war rutschig.

William kam zurück. Hintereinander stiegen sie die Treppe hinauf, wobei Fazels Blick an dem kernigen Hintern in der ausgeblichenen Jeans klebte. Vor Vorfreude drohte seine Hose zu platzen. Sein Wolf grollte leise, wobei sich das Kribbeln seiner Haut verstärkte. Irgendetwas zog ihn magisch zu William hin. Bestimmt seine ausufernde Libido. Normalerweise sah er Bettsport gelassen entgegen. Bei William jedoch nahm sein Speichelfluss erheblich zu und die Vorstellung, dass es gleich nicht zu einem Akt kam, versetzte ihn in leichte Panik.

 

Impressum

Texte: Sissi Kaiserlos
Bildmaterialien: shutterstock, depositphotos
Cover: Lars Rogmann
Lektorat: Aschure, dankeschön!
Tag der Veröffentlichung: 03.05.2020

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