Cover

Zeitreise 4

Theobald - der biedere Baron

Dies ist die vierte Zeitreisen-Story, die ohne Vorkenntnisse der ersten beiden verstanden werden kann.

Sämtliche Personen, Orte und Begebenheiten sind frei erfunden, Ähnlichkeiten rein zufällig. Der Inhalt dieses Buches sagt nichts über die sexuelle Orientierung des Covermodels aus. Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck oder eine andere Verwertung, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung der Autorin.


Texte: Sissi Kaipurgay/Kaiserlos

Korrekturen: Aschure, Dankeschön!

Fotos: shutterstock, depositphotos

Kontakt: http://www.bookrix.de/-sissisuchtkaiser/

https://www.sissikaipurgay.de/


Zeitreise 4 - Theobald, der biedere Baron

Lionel, der vierte im Bunde der Freunde, die eine Zeitmaschine entwickelt haben, beschließt, ebenfalls zu reisen. Seine Entscheidung fällt zugunsten 3500. Insgeheim erwartet er, bei der Gelegenheit über seinen Traumprinzen zu stolpern, genau wie seine Kumpel. Sein Abenteuer entwickelt sich jedoch anders als erhofft, denn der Junge, den er in der Zukunft kennenlernt, ist mit 12 Jahren viel zu jung für ihn.


Prolog

Als Kind war Lionel ein Sonnenschein. Ihm flogen die Herzen nur so zu, egal wo er auftauchte. Als Teenager entwickelte sich daraus eine gewisse Arroganz, womit er sich erstmals Feinde zulegte. Keine gefährlichen, denn sein Beliebtheitsgrad bewahrte ihn davor, zum allgemeinen Prügelknaben zu werden.

Als er rausfand, mehr auf Jungs als auf Mädchen zu stehen, befürchtete er, wegen dieser Eigenschaft seine Stellung einzubüßen. Er hielt sie also offiziell geheim. Seine Eltern ermutigten ihn zwar, zu seiner Homosexualität zu stehen, aber die mussten ja auch nicht jeden Tag in die Schule. Dass Kinder grausam waren, wusste Lionel aus erster Hand, da er oft genug daneben stand, wenn auf anderen rumgehackt wurde.

Die dunkle Seite der Macht - wie er im Scherz seine Neigung nannte - wollte jedoch auf Dauer kein Mauerblümchendasein führen; also ging er ins Magnus-Hirschfeld-Zentrum, um Gleichgesinnte zu treffen. Auf diese Weise lernte er Cord, Garrett und Marcel kennen. Drei Jungs, die er normalerweise kaum beachtet hätte. Trotz ihrer Unterschiede kamen sie super miteinander aus.

Wie gut er es hatte erkannte er daran, dass zwei seiner neuen Kumpels sogar daheim ungeoutet waren. Das hatte er schon vorher gewusst, doch als selbstverständlich angesehen. Sie trafen sich regelmäßig bei Marcel, dessen Eltern ebenfalls überaus tolerant waren, in der Garage. Letztere war für Marcel, einen ambitionierten Bastler, zur Werkstatt umfunktioniert worden. Lionel besaß ebenfalls zwei rechte Hände, war jedoch weniger manisch veranlagt als sein Kumpel. Ihn interessierte es mehr, mit seiner Sexualität etwas anzufangen, als an irgendwelchen Geräten rumzuschrauben.

Vorerst blieb es bei Fantasien, da er zu jung war, um entsprechende Etablissements aufzusuchen. Die Schule schied als Betätigungsfeld aus und der Fußballverein, in dem er kickte, natürlich auch. Mit Feuereifer beteiligte er sich daher an dem Vorhaben, eine Zeitmaschine zu entwickeln. Als erste Versuche fehlschlugen, verlor er aber schnell das Interesse. Zudem hatte er rausgefunden, dass man auch vor den Clubs Kontakte schließen konnte.

Die ersten Male lungerte er allein an solchen Orten herum. Nachdem er seine Jungfräulichkeit verloren hatte, gewann er an Sicherheit. Oft schloss sich Cord ihm an. Sie bildeten eine Symbiose: Typen, die Lionel nicht sonderlich gefielen, bekam sein Freund ab. Es war eine wilde Zeit mit nicht ausschließlich positiven Erfahrungen. Lionel lernte, dass hinter so manch schöner Larve ein Arschloch steckte. Einmal hätte ihm solcher Typ beinahe selbiges aufgerissen.

Aufgrund dieser Vorkommnisse war er einer festen Beziehung gegenüber nicht abgeneigt. Wie es der Zufall so wollte, spielte ihm das Schicksal Marten zu: Ein süßer Twink mit unersättlichem, sexuellem Appetit. Ab dem Moment war das Projekt Zeitmaschine völlig vergessen.



1.

„Weißt du was, Alter? Heirate doch dein Spiegelbild.“ Moshe knallte die Wohnungstür hinter sich zu.

Das Poltern, mit dem Moshe mitsamt zwei Trolleys die Stufen im Treppenhaus runterpolterte, hörte sich genauso anklagend an wie die Worte davor. Lionel seufzte und guckte in den Garderobenspiegel. Okay, er war eitel, aber musste man deshalb so ausflippen? ‚Eitel ist das eine, gefühlskalt das andere‘, flüsterte eine Stimme in seinem Kopf. Zugegeben: Es hatte an Zuneigung für Moshe gemangelt. Im Grunde waren sie nur zusammen gewesen, weil es im Bett stimmte.

Er begab sich ins Wohnzimmer auf die Couch. Die Beziehung mit Moshe war seine vierte, die in die Brüche ging. Mit 26 ein beachtlicher Verschleiß an Langzeitpartnern. Vielleicht gab es niemanden, der zu ihm passte oder diese Person befand sich in einer fernen Zeitzone. Seine drei Kumpel aus Jugendtagen hatten ihre Partner in anderen Jahrhunderten aufgestöbert. Sollte er das auch mal ausprobieren?

Je länger er darüber nachdachte, desto mehr elektrisierte ihn die Idee. Was er allerdings brauchte, bevor‘s losging, war mehr Input. Garrett konnte er nicht fragen, denn der war in der Vergangenheit geblieben. Mit der Zeitmaschine wäre das natürlich kein Problem, aber für solchen Zweck wollte er den Apparat nicht benutzen. Außerdem hatte er noch ein schlechtes Gewissen, wegen der Manipulation der Zentraleinheit. Wegen ihm war Garrett im falschen Jahrhundert gelandet. Im Nachhinein ein absolut dämlicher Streich. Daran konnte auch die Tatsache, dass Garrett dadurch einen Partner gefunden hatte, nichts ändern.

Lionel setzte seinen Plan gleich in die Tat um und rief Marcel an. Erfreut schlug der vor, sich spontan zu treffen. Anschließend guckte sich Lionel auf Google an, wo sein Freund hingezogen war. Zu seiner Schande hatte er Marcel seit dessen Umzug auf einen Reiterhof in Norderstedt nicht mehr gesehen. Na ja, er war mit anderen Dingen beschäftigt gewesen.

Wenig später brach er auf. Da die Sonne schien, öffnete er das Verdeck seines Mazda MX und drehte die Heizung auf volle Pulle. An einer roten Ampel kramte er seine Sonnenbrille aus dem Handschuhfach und guckte in den Spiegel, bevor er sie aufsetzte. Irgendwo in seinem Stammbaum befand sich ein Südländer. Entgegen seinen Eltern hatte er schwarze Haare. Manchmal scherzte seine Mutter, dass er unmöglich von ihr stammen könnte, denn sie war blond und sein Vater braunhaarig.

Auf der Weiterfahrt dachte er darüber nach, welchen Winkel der Welt er sich als Ziel aussuchen sollte. Ägypten zur Zeit der Pharaonen? Ach nein, lieber nicht. Am Ende warf man ihn den Krokodilen zum Fraß vor. Rom, als dieses in seiner Blüte stand? Auch sehr gefährlich. Überhaupt waren fast alle Destinationen der Vergangenheit mit erheblichen Gefahren behaftet. Damals hatte ein Menschenleben nichts bedeutet.

Rund zwanzig Minuten später erreichte er den Reiterhof. Er parkte seinen Wagen vor dem Wohngebäude, stieg aus und schaute sich um. Die Gegend gefiel ihm. Obwohl man relativ zentral wohnte, gab es rundum viel Freiraum.

Hey, Lionel!“, schallte Marcels Stimme über den Hof.

Lionel entdeckte seinen Kumpel vor der Scheune. Lächelnd ging er auf Marcel zu, wobei er seine Sonnenbrille abnahm. Ja, er besaß sehr wohl Manieren, auch wenn er die manchmal vergaß. „Hi. Du hast dich ja mächtig verbessert.“

„Kann man wohl sagen.“ Marcel wies mit dem Daumen auf das Gebäude. „Willst du mal reingucken?“

„Klar.“

Nebeneinander schlenderten sie durch den Gang, an dem rechts und links Boxen lagen. Nur wenige waren besetzt. Bestimmt befanden sich die meisten Hottehüs auf den Weiden. Hinten im Stall trafen sie einen Mann mit langen braunen Haaren, vermutlich Aurelian. Cord hatte ihm von dem Mittelaltermenschen erzählt.

„Schatz, das ist Lionel“, stellte Marcel vor. „Lionel, das ist Aurelian.“

Sie reichten einander die Hand. Aurelian war ein attraktiver Typ und könnte Lionel auch gefallen.

„Wie läuft es bei euch so?“, erkundigte er sich.

„Wunderbar. Die Übernahme hat erstaunlich gut geklappt. Wir haben reichlich neue Einstellpferde und können - wenn es so weiterläuft - bald eine Hilfskraft gebrauchen“, erwiderte Marcel.

„Zeit für eine Kaffeepause“, befand Aurelian, der in einer grünen Latzhose und Gummistiefeln steckte. „Ich geh schon mal und setz die Maschine in Betrieb.“

„Hot-hot-hot“, murmelte Lionel anerkennend, als er Aurelians Gestalt hinterherschaute.

„Such dir einen eigenen Prinzen.“ Marcel schlang einen Arm um seine Schultern. „Ich zeig dir mal meine Werkstatt.“

„Apropos: Die Zeitmaschine steht noch bei Cord, oder?“

„Richtig. Ab und zu gurken wir damit zu Garrett. Wieso?“, fragte Marcel und führte ihn in einen Raum, der das Herz jeden Hobbyhandwerkers höher schlagen ließ.

„Nur so.“ Lionel schaute sich um. „Wow! Du hast dich sehr verbessert.“

„Allerdings, und das in jederlei Hinsicht.“

„Darf ich fragen, wie du das alles finanziert hast?“

„Ja, darfst du, aber das verrate ich dir nicht.“ Marcel feixte. „Über Geld redet man nicht, das hat man.“

„Ha-ha!“ Schmunzelnd schüttelte Lionel den Kopf. „Ich überlege, ob ich auch ein bisschen in der Geschichte rumreise. Dafür brauche ich allerdings ein paar Tipps von dir.“

„Kein Problem. Wenn du ein bisschen Zeit mitgebracht hast, kannst du dich nachher auch mit Sebastian und Cord unterhalten. Die kommen zum Abendessen her.“

„Ist das eine Einladung?“

Marcel zuckte mit den Achseln. „Klar. Wir haben reichlich eingekauft.“

Freudig rieb sich Lionel die Hände, denn in seinem leeren Kühlschrank saßen die Mäuse mit verheulten Augen herum. Auch so ein Thema, über das sich seine Verflossenen aufgeregt hatten: Seine fehlenden Ambitionen, in der Küche zu werkeln. Zugegeben: Er ließ sich lieber bekochen, als es selbst zu tun und zum Helfen hatte er auch keine große Lust. Das machte ihn doch nicht zu einem schlechten Menschen, oder?

Sie verließen den Stall, gingen über den gepflasterten Hof und die Treppe hinauf, die ins Obergeschoss des Haupthauses führte. Als Marcel die Tür aufschloss, wehte ihnen Kaffeearoma entgegen. Aurelian, der in der Küche hantierte, drückte Marcel ein Tablett mit den Worten: „Bring das bitte ins Wohngemach“, in die Hände.

Wohngemach? Ach so, Aurelian stammte ja aus der dunklen Zeit. Schmunzelnd folgte er Marcel ins Wohnzimmer, das spartanisch eingerichtet war. Neben dem Esstisch mit sechs Stühlen gab es eine Couch, vor der eine umgedrehte Obstkiste stand, die wohl als Couchtisch fungierte. An der Wand hingen ein Flat-Screen und zwei gerahmte schwarzweiß Fotografien, beides männliche Akte.

Lionel gefiel die sparsame Möblierung. Manchmal wünschte er, er könnte seine zugemüllten Bude einfach den Rücken kehren und ganz von vorne anfangen. Natürlich tat er das nicht, denn er war - trotz seinem großspurigen Gehabe - ein Mensch, der sich schwer von Dingen trennte. Daher lebte er inmitten der seit seiner Jugend angesammelten Sachen, ohne davon etwas zu benötigen. Irgendwann wollte er den ganzen Scheiß bei eBay verscherbeln ... irgendwann.

Bei Kaffee und Keksen - von Marcels Mutter gebacken - plauderte er mit den beiden über ihre Erlebnisse in der Vergangenheit. Also, eine Reise rückwärts schied für ihn schon mal aus. Auf gewissen Luxus wollte Lionel keinesfalls verzichten. Allein die Schilderung des Aborts auf der Burg, auf der Aurelian gelebt hatte, verursachte ihm angeekelte Schauder.

Er lernte aus der Unterhaltung, dass man sich seinen Zielort genau aussuchen sollte. Wäre Marcel inmitten eines Dorfes gelandet, hätten die Bewohner ihn vermutlich als Hexer verurteilt, gefoltert und exekutiert. Auch die Verschiebung der Landflächen sollte man beachten, um nicht versehentlich in ein großes Gewässer zu geraten.

Im Anschluss an die Kaffeerunde half er Marcel, einen Pferdeanhänger zu reparieren. Sein Kumpel plante, sich ein weiteres Standbein mit der Vermietung solcher Hänger zu schaffen. Marcel hatte schon immer sehr praktisch gedacht. Lionel war ähnlich gestrickt, nur mangelte es ihm an Durchhaltevermögen. Wie er es geschafft hatte, sein Mathematikstudium durchzuhalten, war ihm ein Rätsel. Das Gleiche galt für seinen aktuellen Job in der Versicherungsbranche. Tagein tagaus finanzmathematische Berechnungen anzustellen, ödete ihn immer mehr an.

Schließlich erklärte Marcel ihr Werk für beendet. Aurelian hatte vor ungefähr einer Viertelstunde verkündet, schon mal mit den Vorbereitungen fürs Abendessen zu beginnen. Sie bugsierten den Anhänger zwischen zwei weitere Modelle, räumten in der Werkstatt auf und begaben sich in Marcels Wohnung.

Auf dem Balkon war ein Grill aufgebaut. Aurelian hatte bereits Geschirr, Besteck und Gläser auf den Tisch gestellt, die sie nur noch verteilen brauchten. Anschließend kümmerte sich Marcel ums Grillfleisch und Lionel half Aurelian bei den Beilagen.

Wenig später traf Cord mit seinem Lover ein. Bisher hatte Lionel nur von Sebastian gehört und spähte daher neugierig in den Flur, als Marcel zur Tür ging, um zu öffnen. Cords Fang war nicht von schlechten Eltern. Er hätte den Typen auch nicht von der Bettkante gestoßen. Ja, wieso bekamen seine Kumpel solche Sahneschnitten ab und er ging leer aus?

Sebastian sah nicht nur gut aus, sondern wirkte auch noch sympathisch. Schnell kamen sie ins Gespräch. Lionel erfuhr, dass sich in der Zukunft - zumindest in der näheren - kaum etwas geändert hatte. Oder hieß es ändern würde? Scheiß-kompliziert, diese ganze Zeitreiserei. Die Sache mit den Roboter-Puffs gefiel ihm genauso wenig wie Sebastian. Also schied dieses Ziel auch aus.

„Fahr doch einfach ganz weit in die Zukunft“, schlug Cord vor. „Ins Jahr 10.000 oder so.“

„Dann ist die Erde vermutlich verpufft und ich ende im Weltall.“ Lionel schüttelte den Kopf. „Apropos: Könnte man die Maschine mit Rädern ausstatten? Das wäre doch sinnvoll für den Fall, dass man an der falschen Stelle auftaucht. Ihr hattet bisher ja bloß Glück, an geschützten Orten gelandet zu sein.“

„Gute Idee“, fand Marcel. „Ich hab da noch einen Pferdeanhänger, der nur für Ersatzteile taugt. Vielleicht kann man das Fahrgestell unter die Maschine bauen. Nur für den Antrieb wüsste ich auf Anhieb keine Lösung.“

„Und wenn man einen Golfcart nimmt?“, sinnierte Lionel.

„Das könnte klappen, aber woher nehmen?“, erwiderte Marcel.

„Was ist das?“, wollte Aurelian wissen.

„Ein Elektromobil für Leute, die Golf spielen, um über den Platz zu eiern“, erklärte Lionel.

„Das ist doch das Gleiche wie diese Behindertenmobile“, mischte sich Cord ein. „Die sind bestimmt billiger.“

„Ich gurke doch nicht mit solcher Karre durch die Gegend!“, wehrte Lionel ab.

„Hat da jemand Standesdünkel?“, stichelte Marcel.

Eingeschnappt hielt er den Mund, während seine Kumpels die Idee weiter spannen. Standesdünkel! Es sah eben scheiße aus, mit solchem Ding rumzufahren. Schlimm genug, dass diese Behindi-Karren auf 25 Stundenkilometer gedrosselt waren.

Schließlich holte Marcel ein Notebook, um zu recherchieren, wie und wo man so ein Gefährt beschaffen konnte. Schnell fand sich ein Modell, das bezahlbar war und von einem User im Umkreis von 50 Kilometern angeboten wurde. Marcel schickte dem Typen eine Nachricht, auf die prompt eine Antwort kam. Innerhalb von dreißig Minuten waren sich die beiden handelseinig. Am folgenden Tag sollte Marcel die Karre für 250 Euro abholen.

Lionel zog seine vorgeschobene Unterlippe wieder ein und beteiligte sich an der Planung für den Umbau. Erstmal musste die Maschine auf den Reiterhof geschafft werden, was Cord erledigen wollte. Um ein Gefühl für das Ding zu bekommen, klinkte sich Lionel bei der Aktion ein. Der Umbau würde im Laufe der Woche stattfinden, so dass die Zeitmaschine am folgenden Wochenende startklar wäre, sofern es keine unvorhersehbaren Schwierigkeiten gab.

Als er sich gegen elf auf den Heimweg begab, war er euphorisch gestimmt. Daheim setzte er sich vors Notebook und überlegte, welcher Ort am besten geeignet für eine Landung in der späten Zukunft war. Die Küstenregionen schieden schon mal aus. Spätestens in 300 Jahren waren die allesamt überflutet. Amerika? Angesichts der politischen Entwicklung auch keine gute Wahl. Wenn die Amis weiter solche Hirnis wählten, stand denen eine dunkle Zukunft bevor.

Letztendlich beschloss er, dass Stuttgart der beste Punkt war: Ungefähr in der Mitte gelegen, daher nicht vom Meer bedroht; sprachlich für ihn kein Problem, auch wenn er die Mundart nicht verstand, doch die dürfte bis 3500 - sein Zieljahrhundert - verschwunden sein. Überhaupt müssten bis dahin viele Barrieren weg sein, weil sich die Bevölkerung immer mehr mischte. Vielleicht gab es dann nur Menschen mit gelb-brauner Hautfarbe, schwarzen Haaren und alle über zwei Meter groß.

In dieser Nacht träumte er von riesigen Männern mit unterarmdicken Schwänzen, die ihn an einen Marterpfahl banden und von oben bis unten mit Sperma vollspritzen.



2.

Am folgenden Mittag parkte er seinen Wagen vor Cords Grundstück. Als er aufs Haus zuging fiel ihm eine weiße Untertasse, die über den Rasen eierte, ins Auge. Das Ding änderte plötzlich den Kurs und raste bellend auf ihn zu. Was war denn das? Ein Hunde-Mäh-Roboter? Diese zwei-in-eins-Produkte wurden immer verrückter.

Robby! Aus!“, erschallte Cords Stimme von links.

Lionel entdeckte seinen Kumpel am Schuppen und steuerte auf ihn zu, mit dem nun stummen Mäh-Dingenskirchen an den Fersen. „Ist das eine Art Wachhund-Ersatz?“

„Eigentlich soll Robby ein Schoßhündchen mit Mähfunktion sein. Ich arbeite noch daran.“ Cord winkte ihn in den Schuppen, wo die Zeitmaschine stand. „Sebastian ist schon rüber zu Marcel gefahren, um uns zurück zu bringen. Lass uns starten.“

Plötzlich war ihm mulmig zumute. „Moment! Ich muss mich erst mental darauf vorbereiten.“

Eine Augenbraue gelüpft, spottete Cord: „Ach? Hat der Herr Muffensausen?“

„Quatsch!“ Er atmete tief durch. „Ich bin so weit.“

Cord schwang sich in die Maschine und begann, auf der Tastatur der Zentraleinheit herum zu tippen. Lionel nahm auf dem Notsitz Platz, faltete die Hände und fing an, im Geiste Gebete zu sprechen. Als Kind war er mit seinen Eltern manchmal in der Kirche gewesen, daher kannte er zumindest das Vaterunser. Außerdem bezog er Hermes, den Götterboten, mit ein, weil der doch bestimmt für Zeitreisen zuständig war.

„Kann’s losgehen?“, erkundigte sich Cord, immer noch in dem ätzend überheblichen Tonfall.

Innerlich zitterte Lionel, doch äußerlich machte er einen auf cooler Kerl. „Gib Gas!“

Die Maschine begann zu vibrieren. Vor seinen Augen verschwamm die Umgebung und löste sich in schwarzer Schwärze auf. Eisiger Wind toste ihm um die Ohren und verursachte, zusammen mit dem Summen, einen Höllenlärm. Als er schon dachte, sein letztes Stündlein hätte geschlagen, verstummte der Geräuschpegel und die Dunkelheit lichtete sich. Lionel schaute sich blinzelnd um. Sie befanden sich auf Marcels Hof, und zwar hinter dem Haus. Er erkannte das Mauerwerk und den Zaun. Heimlich atmete er auf.

„Und? Alles klar bei dir?“, fragte Cord, nun aber mit besorgter Miene.

„Logo. War doch ’ne coole Fahrt.“ Allzu oft musste er das nicht haben. Mit leicht weichen Knien kletterte er vom Sitz.

Zusammen breiteten sie eine Tarnplane über die Maschine, bevor sie zur Vorderseite des Hauses gingen. Sebastian stand neben Marcel vor einer Elektrokarre. Eigentlich sah die gar nicht so übel aus, mit der ferrariroten Karosserie und den schwarzen Sitzen.

„Sie hat wenig Stauraum“, meinte Marcel, als sie sich zu den beiden gesellten. „Vielleicht können wir das mit einem Dachgepäckträger kompensieren.“

„Das Ding hat gar kein Dach, falls dir das noch nicht aufgefallen ist“, merkte Lionel an.

„Es bekommt aber eines. Stell dir vor, du landest in der Regenzeit. Du willst doch bestimmt keinen Schirm mitnehmen, oder?“ Marcel knuffte ihm gegen den Arm. „Komm mal mit. Ich weiß schon, woraus wir ein Dach basteln.“

Eigentlich hatte Lionel geplant, den restlichen Sonntag auf seinem Balkon zu verbringen. Scheibenkleister. Stattdessen half er Marcel, die Karosserie der Zeitmaschine zu zerschneiden und den oberen Teil an der Elektrokarre anzuschrauben. Das sah ziemlich doof aus, aber Marcel behauptete, wenn es erstmal rot lackiert war, würde es wie aus einem Guss wirken.

Am späten Nachmittag fuhr Lionel mit Bus und Bahn zu Cord. Eigentlich wollte er gleich weiter, doch sein Kumpel überredete ihn, noch auf einen Kaffee zu bleiben. Letztendlich aß er mit Cord und Sebastian zu Abend und kehrte erst gegen zehn heim. Seine Kraft reichte noch für eine Dusche, dann fiel er ins Bett und pennte tief und traumlos.



In der folgenden Woche erschien er zweimal bei Marcel, um beim Umbau der Maschine zu helfen. Zusätzlich rüsteten sie das Gerät mit Solarzellen aus, um die Stromversorgung am Zielort zu gewährleisten. Am Freitagabend starteten sie einen erfolgreichen Testlauf, den sie anschließend mit ein paar Bier feierten.

Den Samstagmorgen verbrachte er damit, Reiseutensilien zu besorgen, wie ein neuer Schlafsack, Trockennahrung, eine Stirnlampe, ein Schweizer Taschenmesser, ein Rucksack und so weiter. Seine Sachen zu packen, nahm eine halbe Ewigkeit in Anspruch. Sollte er dreimal oder nur zweimal Ersatzklamotten mitnehmen? Lieber die schwarze oder die braune Lederjacke? Und welche Schuhe? Sportliche Sneakers oder robuste Stiefel?

Als Rucksack und Tasche bereitstanden überlegte er, ob er sich von seinen Eltern verabschieden sollte. Es kam ihm merkwürdig vor, für längere Zeit zu verreisen und es nicht zu tun. Er kehrte zwar am Tag seiner Abreise - zumindest planmäßig - zurück, trotzdem ... Letztendlich ließ er es bleiben, weil es ihn sowieso in Erklärungsnot gebracht hätte. Außerdem lebten die beiden seit seinem Auszug eh ihr eigenes Leben und waren zumeist unterwegs. Ihnen würde gar nicht auffallen, wenn ihr Sohn für einige Tage verschwand.

Während er zu Marcel fuhr, ging er im Geiste nochmals seinen Plan durch. Zielort Stuttgart, Ankunftszeit 3500, neun Uhr. Via Google hatte er sich mit der Umgebung ein wenig vertraut gemacht, zweifelte aber an, dass es bei seinem Eintreffen noch so aussehen würde. Die Gebäude dürften so viele Jahrzehnte nicht überdauert haben. Sofern ihn eine totale Einöde erwartete, wollte er sich nur kurz umsehen und sofort weiterreisen. Hoffentlich gab es an seinem Ziel noch Sauerstoff. Wie lange konnte ein Mensch eigentlich ohne überleben?

‚Mach dich nicht verrückt!‘, mahnte eine Stimme in seinem Kopf. ‚Wenn dir etwas zustößt, verklagst du einfach den Reiseveranstalter.‘

Lionel parkte seine Wagen vor dem Hauptgebäude und begab sich auf die Suche nach Marcel. Aurelian winkte ihm von der Koppel aus zu. „Marcel ist kurz weg.“

Wunderbar. Einen Aufschub konnte er gut gebrauchen, denn ihm war ganz schön mulmig zumute. Er gesellte sich zu Aurelian, der ein braunes Pferd striegelte.

„Ist das deins?“

Aurelian schüttelte den Kopf. „Ein Einstell-Pferd. Der Eigner ist im Urlaub, daher übernehme ich für eine Weile die Pflege.“

„Hoffentlich nicht unentgeltlich.“

„Natürlich nicht. Marcel würde mir die Hosen stramm ziehen.“

Vor Lionels innerem Auge entstand ein entsprechendes Bild, das er rasch vertrieb. Aurelian war tabu, selbst gedanklich. „Kann ich irgendetwas helfen?“

„Magst du ein bisschen mit Madita ...“ Mit dem Kinn wies Aurelian auf ein in der Nähe grasendes, gesatteltes Pferd. „... ausreiten? Ich schaffe das heute wohl nicht mehr.“

Zuletzt hatte Lionel als kleiner Steppke auf einem Gaul gesessen und dementsprechend wenig Erfahrung. „Klar. Wohin denn?“

„Madita kennt den Weg. Es geht immer über die Wiese zum Wald und im großen Bogen zurück.“

Na, wunderbar. Dann konnte ja nichts schiefgehen. Lionel salutierte, „Aye-aye“, begab sich zu dem Gaul und schaffte es beim ersten Anlauf, sich auf den Sattel zu schwingen. Das Pferd, das ihm - nach seiner Meinung mit milder Nachsicht - zugeschaut hatte, wieherte und trabte los. Aurelian öffnete und schloss das Tor der Koppel für ihn und rief ihm hinterher: „Treib sie nicht an. Sie ist nicht mehr die jüngste.“

Sehr beruhigend. Lionel war schon die gemäßigte Gangart des Gauls zu schnell und der Boden schien kilometerweit entfernt. Da sich einige Pferdehalter auf dem Gelände aufhielten, setzte er ein cooles Lächeln auf und mimte den erfahrenen Cowboy, bis sie außer Sichtweite waren.

Er beugte sich vor und bat das Pferd: „Schön langsam gehen. Ich kotz dir sonst in den Nacken.“

Anscheinend hatte der Gaul - oder hieß es Gäulin? - ihn verstanden. Madita schaukelte ihn gemütlich durch die Landschaft und fand allein zum Hof zurück. Obwohl der Ausritt nur kurz gewesen war, taten Lionel nach dem Absteigen sämtliche Muskeln weh. Wahrscheinlich hatte er sich total verkrampft, ohne es zu bemerken.

Inzwischen war Marcel eingetroffen, saß auf dem Zaun und schaute ihm entgegen. „Hi. Du siehst aus, als hätte dir jemand in die Eier getreten.“

„Die sind nur ordentlich geschaukelt worden und ein bisschen seekrank.“

Sie gingen zur Zeitmaschine, die sie unterhalb der Treppe, die zu Aurelians und Marcels Wohnung führte, abgestellt hatten. Gemeinsam falteten sie die Tarndecke zusammen und legten sie über die Sitze.

„Was ist denn nun mit den Batterien? Hast du nochmal gemessen?“, fragte Lionel.

Marcel zeigte ihm ein Daumenhoch. „Durch unseren Testlauf sind die so voll, dass du doppelte Reichweite hast. Das Ladekabel und Adapter findest du unterm Fahrersitz, aber die Solarzellen müssten eigentlich genug Energie liefern.“

Nachdenklich musterte er die Maschine. Wollte er wirklich losfahren? Hatte er an alles gedacht? ‚Hallo? Jetzt mach keinen Rückzieher!‘, schimpfte die Stimme in seinem Kopf.

„Falls du in einer anderen Zeit bleiben möchtest, bring bitte die Maschine zurück. Ich könnte natürlich versuchen, eine zweite zu konstruieren, aber mir ist es lieber, wenn es nur eine davon gibt. Immerhin birgt es einige Risiken, das Ding zu benutzen.“ Marcel seufzte. „Ich möchte nicht wissen, was wir schon durcheinandergebracht haben. Immerhin hab ich im Mittelalter Spuren hinterlassen und Garrett im letzten Jahrhundert.“

„Hast du Berichte über irgendwelche mysteriösen Vorgänge gefunden?“

„Das nicht, aber du weißt doch: Ein einziges Sandkorn kann ganze Berge versetzen.“

„Tja“, murmelte Lionel. „Dann sollte ich wohl mal aufbrechen.“

„Ich lass dich mal in Ruhe grübeln“, meinte Marcel, klopfte ihm auf die Schulter und fügte im Weggehen hinzu: „Falls du mich brauchst: Ich bin auf der Koppel.“

Dankbar für die Rücksichtnahme seines Kumpels, ließ sich Lionel auf dem Fahrersitz nieder. Was hatte er eigentlich zu verlieren? Wenn’s ihm nicht gefiel, kehrte er eben sofort wieder um. Leider hatte sein Unterbewusstsein Bilder aus zahlreichen Horrorfilmen parat. Er sah sich im Maul eines Sauriers oder inmitten eines Kriegsschauplatzes a la Mad Max. Vielleicht sollte er solchen Scheiß nicht mehr gucken. Egal. Der Schaden war ja bereits angerichtet.

Er holte sein Gepäck aus dem Wagen, verstaute es in der Maschine und startete die Zentraleinheit. Das Display leuchtete auf, war aber passwortgeschützt. Mist! Marcel hatte den Testlauf gestartet und er nicht aufgepasst. Stirnrunzelnd starrte Lionel in die Ferne. Damals hatten sie mit einer Maus experimentiert. Die kam auf jeden Fall in dem Wort vor, das erinnerte er noch. Maus ...? Ah! Mausefalle!

Er programmierte die Zentraleinheit. Beim Anblick der Zahl 3500 überkam ihn wieder ein mulmiges Gefühl. Wollte er wirklich so viele Jahre in die Ferne reisen? Reichten nicht 500? ‚Weichei!‘, flüsterte es in seinem Schädel.

„Klappe“, erwiderte er halblaut, speicherte seine Abreisedaten und begab sich zu Marcel und Aurelian, um Tschüss zu sagen.

Die beiden begleiteten ihn zurück zur Maschine. Nun blieb ihm gar keine andere Wahl, als den Startknopf zu drücken, sonst hätte er sich lächerlich gemacht. Das Vibrieren setzte ein. Er winkte und guckte zu, wie ihre Umrisse verschwammen. Schwärze umfing ihn.



Drei Ewigkeiten später ließ das Tosen in seinen Ohren nach. Langsamer als bei seiner ersten Tour wich die Dunkelheit einem hellen Grau. Wachsam spähte Lionel umher. Ringsherum Bäume, Sträucher und die Trümmer eines ehemaligen Gebäudes. Zwei Wände mit leeren Fensteraussparungen standen noch, daran erkannte er, was die Gesteinsbrocken mal dargestellt hatten.

Da weder Saurier noch andere böse Gesellen in Sicht waren, stieg er aus der Maschine und erkundete seine Umgebung. Im drei Richtungen sah er Baumwipfel, bloß im Norden erkannte er einige Hochhäuser. War das verlassene Haus lediglich ein Einzelfall oder die gesamte Bevölkerung in Städte gezogen? Er spähte nach oben, wo dicke, graue Wolken alles verdeckten. Ganz schön bedrückend.

Mit seiner Karre kam er nur mühsam voran. Alle naslang musste er dicke Äste beiseite räumen oder umgestürzten Bäumen ausweichen. Schließlich erreichte er eine Straße, die offenbar wenig benutzt wurde, denn der Asphalt war an vielen Stellen aufgeplatzt. Das Vorankommen ging trotzdem wesentlich leichter, da nichts Gravierendes auf dem Weg herumlag.

Nach einer Weile gerieten Gebäude, wesentlich niedriger als die, die er vorhin gesehen hatte, in sein Blickfeld. Sie schienen bewohnt zu sein, denn es brannte Licht in einigen Fenstern. Lionel bog von der Straße in einen schmalen Pfad ab, der in einem Wäldchen mündete.

Nachdem er den kleinen Rucksack für kurze Expeditionen mit dem Nötigsten bestückt hatte, deckte er die Maschine ab und marschierte querfeldein auf die Ortschaft zu. Leider hatte er keinen Kompass gekauft, so dass unklar war, ob es sich um Stuttgart handelte. Dieses lag nördlich von seinem Landeplatz.

Plötzlich tauchte etwas Helles dicht unter den Wolken auf. Lionel beobachtete, wie das Objekt in der Ferne verschwand. Es war wesentlich größer und schneller als die Flugzeuge in seiner Zeit. Ein Raumschiff?

Während er weitermarschierte, konsultierte er sein Smartphone. Es war geladen, doch es gab keine Verbindung zum Internet. Das hätte ihn auch gewundert. Das Gerät und die Software dürften inzwischen antik sein.

Das erste Haus an der Straße entpuppte sich als leerstehend, das zweite ebenfalls. Durch blinde Scheiben spähte Lionel in Räume, in denen Sperrmüll stand. Das dritte war durch einen hohen Zaun abgeschirmt und bewohnt. Der Garten wirkte gepflegt und es parkten drei Fahrzeuge unter einem Dach, das mit dunkelblauen, schräg aufgestellten Platten bestückt war. Kabel führten zu den Wagen. Vermutlich die Weiterentwicklung der Sonnenkollektoren, die auf seinem fahrbaren Untersatz klebten.

Auf seinem weiteren Weg wurden die Grundstücke kleiner, dafür die Häuser größer. Ab und zu begegnete ihm jemand, ohne von ihm Notiz zu nehmen. Kleidungstechnisch unterschieden sich die Leute kaum von ihm. Mode war ja auch etwas, das immer wieder Altbewährtes rauskramte und als neu anpries.

Gelegentlich kam er an kleinen Läden vorbei, vornehmlich solchen, die Rauchwaren anboten. Vor einem der Schaufenster blieb er stehen, um das Angebot zu betrachten. Es handelte sich überwiegend um ähnliche Produkte wie die E-Zigarette, in allen möglichen Designs. Dazwischen befanden sich Glaskolben, die mit Marihuana-Emblemen bedruckt waren. An der Tür hing ein Schild, das den Eintritt für unter Sechzehnjährige verbot.

Erneut zischte ein hellerleuchtetes Objekt in der Höhe vorbei. Es war noch schneller als der vorige und erzeugte eine Schallwelle, die noch ein Weilchen in Lionels Ohren rauschte.

Je länger er wanderte, desto mehr drängte sich die Frage auf, was er eigentlich hier wollte. Den Erzählungen seiner Kumpel zufolge, waren sie praktisch ihrem Traumprinzen vor die Füße gefallen. Wo war denn - bitteschön - seiner?

Unversehens zupfte jemand an seinem Ärmel. Verwundert guckte er nach unten und sah in ein Paar himmelblaue Augen. Sie gehörten einem Jungen mit hellbraunen Haaren, schätzungsweise zwischen zehn und fünfzehn Jahre alt.

„Haben Sie ein paar Franken für mich?“, fragte der Bursche.

Sein Traumprinz war der Kleine zwar nicht, aber unglaublich süß mit dem Welpenblick und Schmutzfleck auf der Stupsnase. Überhaupt sah der Junge etwas verwahrlost aus. Lionel zückte seine Börse, kramte ein paar Münzen hervor und legte sie dem Kleinen in die ausgestreckte Hand. Kaum hatten sie die Handfläche berührt, schlossen sich Finger darum, machte der Bursche kehrt und wetzte davon.

„Ein Danke wäre ganz nett gewesen“, brummelte Lionel amüsiert, steckte seine Börse wieder ein und schaute sich um.

Die Gegend wirkte ein wenig runtergekommen. An den Gebäuden fehlten vereinzelt Fassadenplatten. Die noch hingen, waren verschmutzt. Müll lag in Hauseingängen und am Straßenrand. Fahrzeuge sah er nur wenige. Auch sie waren älteren Datums und ungepflegt.

Langsam ging er weiter, wobei er aufmerksam nach links und rechts guckte. Er hätte besser geradeaus sehen sollen, denn mit einem Mal standen sechs Jungs vor ihm. Der Größte, der ihm knapp bis zur Schulter reichte, dafür aber nur halb so breit wie er war, trat auf ihn zu.

„Hey, Mann, gib uns deinen Zaster!“, forderte der Junge.

„Also, würdest du höflicher fragen, würde ich dir vielleicht etwas geben“, entgegnete Lionel.

Im nächsten Moment war er von den Burschen umringt. Zwei von ihnen hielten Eisenstangen in den Händen. Ihre Mienen waren entschlossen. Wahrscheinlich der Mut der Verzweiflung.

„Na gut“, gab Lionel nach. „Ich gebe euch, was ich habe. Viel ist das leider nicht.“

Er machte Anstalten seine Brieftasche hervor zu holen, da tauchte plötzlich der Kleine von eben wieder auf und fauchte: „Lasst ihn in Ruhe! Er gehört zu mir!

Zu Lionels Erstaunen trollten sich die Jungs, nachdem sie untereinander fragende Blicke getauscht hatten. Er wandte sich an seinen Retter. „Dankeschön. Ich glaube aber nicht, dass sie mir was getan hätten.“

„Wie blöd bist du denn?“ Bürschi schnaubte. „Sie hätten dich bis auf die Unterhose ausgeraubt.“

„Bist du so eine Art Chef in der Gegend?“

Der Kleine zuckte mit den Achseln. „Nö. Ich hab nur ein paar Freunde, die größer und stärker sind als die da.“

„Wie heißt du?“

„Pauli. Und du?“

„Lionel.“

Pauli musterte ihn von oben bis unten. „Du kommst nicht von hier, oder?“

„Stimmt. Woran sieht man das?“

„Daran, dass du allein hier rumläufst.“ Pauli feixte. „So, ich muss dann wieder. Hasta la vista.“ Sprach’s, drehte sich um und stiefelte davon.

Warte mal!“, stieß er hervor, woraufhin Pauli stehenblieb und sich zu ihm umdrehte. „Ich kenne mich hier nicht aus. Kannst du mich ein bisschen rumführen?“

„Für Knete tue ich fast alles.“

Hoffentlich schloss das Sex aus. Pauli war eindeutig zu jung, um sich zu prostituieren. „Sind fünfzig Mäuse okay?“

Pauli schlich näher. „Das gleiche Geld, wie du mir schon gegeben hast?“

Lionel nickte. „Ich hab nur Euro bei mir.“

Wortlos streckte Pauli ihm eine Hand hin.

„Du willst Vorkasse?“

„Hältst du mich für blöde? Klar will ich erst die Knete sehen.“ Er reichte Pauli einen braunen Schein, der rasch in dessen Hosentasche verschwand. „Okay. Was willst du sehen? Die Kirchen? Oder das Rotlichtviertel?“

Gab es keine Auswahl dazwischen? „Verrate mir doch erstmal, wie diese Stadt heißt.“



3.

Pauli plapperte unentwegt und scheuchte ihn quer durch die Stadt, bei der es sich, wie vermutet, um Stuttgart handelte. Zwischendurch legten sie Pausen ein, um sich mit Lionels Vorräten - Energieriegel und Mineralwasser - zu stärken.

Gegen halb neun taten Lionel die Füße und Ohren weh. Pauli merkte man ebenfalls leichte Ermüdungserscheinungen an: Endlich stand sein Mundwerk mal für ein paar Minuten still. Schließlich verstummte Pauli ganz und schlenderte, beide Hände in den Hosentaschen, neben ihm her.

Mittlerweile kannte Lionel Paulis ganze Lebensgeschichte. Der Junge war erst zwölf und lebte seit drei Jahren auf der Straße. Seine Eltern waren bei einem Unglück in der Fabrik, in der sie arbeiteten, umgekommen. Pauli wurde in ein Heim gesteckt, aus dem er wenig später ausbüxte. Laut seiner Aussage gab es ungefähr 30 Jungs und Mädels, die sein Schicksal teilten. Einige waren von ihren Eltern verstoßen worden, einige auch Waisen.

Anscheinend hatten sich die Oberhäupter Stuttgarts damit abgefunden, denn es gab regelmäßige Lieferungen ins Ghetto - wie Pauli die Gegend nannte - mit Lebensmitteln, Kleidung und anderen nötigen Dingen, wie Hygieneartikeln. Verwaltet wurde das Zeug von einer Gruppe älterer Obdachloser, die dafür sorgten, dass auch die Schwächeren etwas abbekamen.

Pauli hatte ihm anvertraut, für eine Passage zum Mars93 zu sparen. Angeblich würde dort Milch und Honig fließen. Lionel vermutete, dass Pauli einem Traum nachhing. Verständlich, in dieser aussichtslosen Situation. Ganz genau konnte Pauli ihm die herrschenden politischen Zustände nicht auseinandersetzen, sondern nur grob umreißen. Es sah so aus: Die meisten Leute arbeiteten in Fabriken oder Ernte-Produktionsgemeinschaften und bekamen gerade mal genug Lohn, um zu überleben. Eine kleinere Gruppe verdiente besser und eine noch kleinere schwelgte im Luxus. Also hatte sich in den letzten Jahrhunderten wenig geändert. Stets kamen nach Umbrüchen Leute an die Macht, die über kurz oder lang genau solche Ausbeuter wie ihre Vorgänger wurden.

Pauli war bereits mit fünf eingeschult worden, was erklärte, wieso der Junge so viel wusste. Die Schulpflicht war auf sechs Jahre begrenzt. Vermutlich wollte man so verhindern, dass Leute mit geringem Einkommen ihren Nachwuchs zu viel Bildung angedeihen ließen.

„Verrätst du mir endlich, woher du kommst?“, meldete sich Pauli zu Wort.

„Das glaubst du mir sowieso nicht.“

„Dann kannst du es mir auch sagen.“

„Also gut.“ Lionel steuerte einen Brunnen an und ließ sich auf der breiten Umrandung nieder. Pauli setzte sich neben ihn und guckte erwartungsvoll zu ihm hoch. „Ich komme aus der Vergangenheit.“

„Boah! Wie lahm! Da kommen wir doch alle her.“

„Ich bin 1993 geboren.“

Pauli fiel die Kinnlade runter. Man sah förmlich, wie es in seinem Schädel ratterte. „Aber ... aber dann bist du ja ... ähm, ungefähr 1.500 Jahre alt.“

„Ich bin 27.“

Krass!“ Pauli beäugte ihn staunend aus der Nähe. „Wie hast du das gemacht, dass du gar nicht so alt bist?“

„Ich bin mit meiner Zeitmaschine hergereist.“

Erneut blieb Pauli der Mund offenstehen. „Du willst mich verarschen!“

„Hast du eine bessere Erklärung?“

„Im Viewer hab ich mal gesehen, wie sie aus einer alten eine junge Frau gemacht haben.“

Viewer? Wohl ein Fernseher. Lionel zuckte mit den Schultern. „Hab ja gleich gesagt, dass du mir nicht glaubst.“

Pauli hüllte sich einige Momente in Schweigen und streifte ihn mit skeptischen Seitenblicken. „Also gut. Wo steht dieser Apparat?“

„Du hältst mich wohl für unterbelichtet, was? Wenn ich dir die Maschine zeige, haust du doch damit ab.“

Ein schuldbewusster Ausdruck stahl sich auf Paulis Miene. „Nie im Leben!“

Wie schön, dass sich der Kleine ein bisschen Unschuld bewahrt hatte.

„Wenn ich dir ein Geheimnis verrate, zeigst du mir dann die Maschine?“, fuhr Pauli fort.

Was kam nun? Erfuhr er etwa gleich von Paulis erstem Sex? Hoffentlich nicht! „Okay. Aber ich zeige sie dir nur. Ausprobieren ist nicht.“

Pauli machte ein sehr ernstes Gesicht, schaute sich nach allen Seiten um und winkte ihn mit dem Finger näher. „Ich hab Geld für die Überfahrt nach Mars93 gespart“, flüsterte er Lionel ins Ohr.

„Ist nicht wahr!“

Pauli nickte, ein stolzes Lächeln auf den Lippen. „Aber es ist so gut versteckt, dass es niemand findet.“

„Du auch nicht?“

„Pfft!“

„Gut. Dann lass uns gehen. Es ist ziemlich weit bis zum Versteck.“ Lionel stand auf und warf sich seinen Rucksack über die Schulter.

Von Pauli ließ er sich bis zu einem Gebäude mit rotem Türmchen auf dem Dach führen. Dieses Haus hatte er sich vorhin gemerkt. Ab da wusste er den Weg.

Inzwischen brannte in fast allen Fenstern Licht und auf den Straßen war so gut wie nichts mehr los. Schweigend trabte Pauli neben ihm her und schien in Gedanken versunken. Das verschaffte Lionel Gelegenheit, seine Eindrücke zu verarbeiten.

Wie hatte Cord noch gleich die Zukunft bezeichnet? Als abgespeckte Variante von 2020, der man alle interessanten Kanten genommen hatte. Genauso wirkte auf ihn 3500 und das Ganze noch dazu mit grauer Farbe übergossen. Beispielsweise bestand die Amüsiermeile aus einer Aneinanderreihung von Kinos, Theatern, Fastfood-Shops, Bars, Restaurants und - in den kleinen Seitenstraßen - Sexshops. Neben letzteren befanden sich Toy-Häuser, in denen Liebesdienste von Androiden angeboten wurden. Wenn man St. Pauli, selbst in der aktuellen, gemäßigten Version, damit verglich, war das ein Unterschied wie Tag und Nacht.

Es schien, als ob man sämtliches Leben aus der Stadt gesogen hätte. Die meisten Leute, denen sie begegnet waren, hinterließen den Eindruck von Robotern. Das bunte Treiben, das in einer Samstagnacht bei gutem Wetter in Hamburg herrschte, suchte man vergeblich.

Pauli hatte ihm außerdem die Stiftskirche, das neue Schloss und die Staatsgalerie gezeigt. Lionel war noch nie in Stuttgart gewesen und konnte daher nicht beurteilen, ob die Gebäude in einem besseren Zustand als in seiner Zeit waren. Zumindest standen sie noch.

Jedenfalls gefiel ihm das, was er bisher gesehen hatte, überhaupt nicht. Vielleicht war es das Beste, wenn er in eine andere Zeit reiste, 500 oder 1000 Jahre zurück.

Nachdem sie das letzte Haus hinter sich gelassen hatten, meinte Pauli: „Falls du vorhast mich zu irgendwas zu zwingen: Ich kratze und beiße!“

„Keine Sorge. Ich bin total harmlos.“

„Das sagen sie alle.“

„Ist dir mal was Schlimmes mit jemandem passiert?“, hakte Lionel nach.

„Mir hat mal ein Typ ein blaues Auge gehauen, weil ich ihn beklaut hab. Ansonsten lassen mich alle in Ruhe.“

Ein Wunder, bei dem hübschen Kerlchen. Vielleicht wirkten diese Roboter-Bums-Clubs Wunder. Cord hatte davon erzählt, dass die Bürger Freimarken für diese Etablissements bekämen. Vielleicht war das immer noch so.

Als sie von der Straße in den Pfad, der zum Wäldchen führte, einbogen, kramte er seine Stirnlampe hervor, schaltete sie an und leuchte ihnen damit den Weg. Kurz darauf erreichten sie die Maschine. Lionel befreite sie von der Tarndecke.

„Die sieht ja aus wie ein Spielzeugauto“, platzte Pauli heraus.

„Das hab ich auch gesagt. Es erfüllt aber seinen Zweck.“

Pauli kletterte auf den Fahrersitz und begann, an den Knöpfen herumzuspielen. Da ohne Passwort nichts passieren konnte, ließ Lionel ihn machen.

„Können wir mit dem Ding zum Mars93 fliegen?“, erkundigte sich Pauli, den Blick hoffnungsvoll auf ihn gerichtet.

„Bisher wurde es nur auf der Erde ausprobiert.“

„Und wie funktioniert es?“

Er gesellte sich zu Pauli und erklärte die einzelnen Bauteile. Der Kleine hörte mit gerunzelter Stirn zu.

„Und mit diesem Ding bist du echt aus der Vergangenheit hergekommen?“, wollte Pauli schließlich wissen.

„Richtig. Ich bin vor einigen Stunden in Hamburg gestartet und wenige Minuten später hier gelandet.“

„Hamburg? Das gibt’s doch gar nicht mehr.“

„Wieso?“

„Das liegt unter Wasser.“

Schlechte Neuigkeiten. Ein Glück, dass er einen südlichen Zielort gewählt hatte. „Wann wurde es denn überschwemmt?“

Erneut zog Pauli die Stirn kraus. „Ich glaub, das war 2700 oder so.“

„Hast du eine aktuelle Landkarte der Welt?“

Pauli schüttelte den Kopf. „Ich hab zwar meinen Mobil-Viewer aus dem Heim mitgenommen, aber er funktioniert nicht mehr.“

„Kein Strom?“

„Kein Geld, um Tele-Monopol zu bezahlen.“

Vermutlich die Gesellschaft, die irgendwann aus all den Telefon-Giganten gebildet worden war.

„Wenn du die Kordi-dingens vom Mars03 hättest, könnten wir dorthin fliegen?“, hakte Pauli nach.

„Eventuell. Wie gesagt wurde die Maschine bisher nur mit irdischen Daten gefüttert. Es ist gar nicht vorgesehen, die Koordinaten anderer Planeten einzugeben. In meiner Zeit war man noch nicht soweit, weiter als bis zum Mond zu fliegen.“

„Echt?“, staunte Pauli. „Bis dahin ist es doch nur ein Katzensprung.“

„Katzensprung? Jetzt übertreibst du aber.“

„Mag sein. Es will eh keiner dahin. Da gibt’s ja nichts.“

„Wie viele Planeten gibt es denn, außer Mars93, auf denen Leben möglich ist?“

Stumm bewegte Pauli die Lippen und antwortete schließlich: „Zwölf. Die meisten wollen zur Venus3, weil da ganz viel los sein soll.“

„Und wieso willst du da nicht hin?“

„Viel los interessiert mich nicht. Mars93 ist besser.“

Gute Begründung, dachte Lionel sarkastisch. „Soll ich dich zurück in die Stadt begleiten?“

„Pah! Ich bin schon groß“, erwiderte Pauli, kletterte aus der Maschine und setzte hinterher: „Oder kann ich hierbleiben?“

Durfte er Pauli trauen? Andererseits: Selbst wenn der Kleine ihn beklaute, blieb ihm immer noch die Maschine und damit der Weg zurück in seine Zeit. Apropos: War sein Geld in dieser Zeit überhaupt etwas wert? Bisher hatte Pauli darüber kein Wort verloren.

„Klar. Es wird aber nicht sonderlich gemütlich.“

„Egal. Ich mag es hier lieber als in dem alten Haus.“

Wahrscheinlich stank es dort nach Pisse und anderen Ausscheidungen. Innerlich schüttelte sich Lionel bei der Vorstellung. „Kannst du mit meiner Knete überhaupt etwas anfangen?“

Pauli zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Ich zeig es morgen Massimo.“

„Massimo?“

„Er gehört zu den Älteren und kümmert sich um solche Dinge.“

„Gut. Ich würde mich jetzt gern aufs Ohr hauen. Fass mal mit an.“ Er reichte Pauli einen Zipfel der Tarndecke.

Gemeinsam befestigten sie die Decke zwischen dem Dach der Maschine und zwei Bäumen, für den Fall, dass es regnete. Anschließend holte Lionel Isomatte und Schlafsack hervor. Mithilfe der Sitzpolster bauten sie eine Unterlage, auf der sie beide Platz fanden. Zum Glück war der Boden trocken und die Luft einigermaßen warm, so dass der ausgebreitete Schlafsack als Zudecke ausreichte.

Bevor sie ihr provisorisches Lager einweihten, pinkelte Lionel gegen einen Baumstamm in angemessener Entfernung. Auf die übliche Hygiene verzichtete er, weil er mit dem Wasser haushalten musste. Bestimmt konnte Pauli ihm morgen eine Quelle zeigen, um seine drei Plastikflaschen nachzufüllen.


Impressum

Texte: Sissi Kaipurgay
Bildmaterialien: depositphotos / shutterstock
Tag der Veröffentlichung: 26.03.2020

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