Cover

Zeitreise 3 - Sebastian - Einsamer Rebell

Cord ist neugierig auf die Zukunft. Gibt es dort fliegende Autos? Hat man eine Lösung für das Ressourcen-Problem gefunden? Vor allem interessiert ihn, wie sich die Computertechnologie weiterentwickelt hat, natürlich, denn diesbezüglich ist er ja ein Fachmann. Außerdem sind da noch seine Träume von einem Mann mit starker Anziehungskraft.

~ * ~

 

Dies ist die dritte Zeitreisen-Story, die ohne Vorkenntnisse der ersten beiden gelesen und verstanden werden kann.

Prolog

Sobald Cord alt genug war, um Buchstaben und Zahlen zu lesen, wünschte er sich einen Computer. Seine Eltern schenkten ihm ein kindgerechtes Modell, dem er schnell entwuchs. Dennoch musste er damit vorliebnehmen, bis er die Grundschule verlassen hatte und aufs Gymnasium wechselte. Zu dem Zeitpunkt war er elf, seinen Mitschülern geistig weit voraus und entsprechend ein Außenseiter. Wer wollte schon mit einem Streber zu tun haben?

Sobald er seinen ersten richtigen Computer beherrschte, bat er um Internetzugang. Seine Eltern, stolz auf ihren hyperintelligenten Sohn, richteten ihm sofort einen Anschluss ein. Ab da begann seine Karriere als Spieledesigner. Anfangs war er nur Anwender, doch das wurde ihm rasch langweilig. Er entwarf also selbst ein Spiel und stellte es im Internet Testusern zur Verfügung.

Anfangs hatte er damit mäßigen Erfolg. Die Anwendungen strotzten vor Bugs und waren vom Ablauf her sehr einfach gestrickt. Na ja, Rom wurde auch nicht an einem Tag erfunden, sagte er sich und machte weiter.

Mit der Pubertät kam die Erkenntnis, kein Interesse an Mädchen zu haben. Cord begann, seine Schulkameraden mit erwachter Neugier zu beobachten. Wohlweislich hielt er sein Faible geheim, auch gegenüber seinen Eltern. Die beiden hackten bei jeder sich bietenden Gelegenheit auf Homosexuellen herum. Er glaubte nicht, dass sie mit ihrem Sohn anders verfahren würden. Sie waren eher distanzierte Personen, die ihr Fähnchen nach dem Wind ausrichteten.

Cord konsumierte alles, was er im Internet über schwule Sexpraktiken finden konnte. Als er erstmal zu einem Jugendtreffen im Magnus-Hirschfeld-Zentrum ging, war er also theoretisch schon ein alter Hase, was sämtliche Vögelvarianten betraf. Zu dem Zeitpunkt hatte er allerdings noch nicht den Wunsch, es auch praktisch auszuprobieren. Vielmehr suchte er Gleichgesinnte, die er in Lionel, Marcel und Garrett fand.

Fortan hingen sie oft bei Marcel in der Garage ab. Diese war zu einer Werkstatt umfunktioniert, in der Marcel jedwedes technische Gerät auseinander und zusammenbaute. Bei ihren Zusammenkünften entwickelte sich die Idee, eine Zeitmaschine zu konstruieren. Mit Feuereifer fingen sie die Sache an, doch mit einem Fehlschlag ging auch die Euphorie verloren. Schuld daran war auch, dass Cord immer öfter mit Lionel in der Szene abhing. In die meisten Clubs wurden sie zwar wegen ihres Alters nicht reingelassen, doch davor fand genug statt, um Kontakte zu knüpfen. Lionel baggerte die Typen an und Cord bekam, was dabei abfiel. Eine Art Symbiose.

Nach dem Abitur trennten sich ihre Wege endgültig. Cord zog nach Heidelberg, um Informatik zu studieren. Das hätte er auch in Hamburg tun können, doch er wollte unbedingt von zu Hause weg. Garrett reiste für ein Jahr nach Australien, Lionel fand einen festen Freund und Marcel schrieb sich an der Uni Hamburg für Maschinenbau ein.

Nach Abschluss seines Studiums kehrte Cord in die Hansestadt zurück, suchte sich aber gleich eine eigene Bleibe. Noch während des letzten Semesters hatte er einen Arbeitsvertrag bei einem Softwarehersteller unterschrieben, der ihm gute Bezahlung und einen Homeoffice-Arbeitsplatz bot. Er knüpfte wieder Kontakt zu Lionel und Garrett, die regelmäßig durch die Clubs zogen. Sein Ding war das nicht. Lieber vergrub er sich in der virtuellen Welt, wo er alles nach seinen Wünschen gestalten konnte.

Im Laufe der Zeit lebte auch die Freundschaft zu Marcel, der zwischendurch in einer festen Beziehung gesteckt hatte, wieder auf. Anlass war die Zeitmaschine, an der Garrett und Marcel erneut bastelten. Cord glaubte nicht an einen Erfolg des Projekts. Das war doch bloß die Spinnerei von gelangweilten Jugendlichen.

Umso erstaunter war er, als eines der Experimente klappte. Wenig später unternahm erst Marcel, der einen Mittelaltermenschen mitbrachte, dann Garrett, der in der Vergangenheit blieb, eine Reise mit der Maschine. Da Marcel den Apparat nicht in der elterlichen Garage lassen wollte, wurde er Cord aufs Auge gedrückt. Ungefähr zu dem Zeitpunkt fingen seine seltsamen Träume an.



1.

Es goss in Strömen. Die Umgebung bestand aus merkwürdigen Bäumen, die Strommasten ähnelten: Kahle Stämme, Kronen aus Querstreben und Leitungen, die diese mit dem nächsten verbanden. Es war dunkel, sofern nicht gerade ein Blitz aufleuchtete. Bei jedem Schritt rutschte Cord auf dem matschigen Boden. Immer wieder schaute er sich um, weil er spürte, dass in der Nähe Gefahr lauerte. Welcher Natur diese war, wusste er allerdings nicht.

Plötzlich tauchte aus dem Nichts ein nackter Typ auf. Der Mann trug eine Halbmaske, bestehend aus einem Stoffstreifen mit Gucklöchern. Am eindrucksvollsten war das, was zwischen den Beinen des Kerls hing: Ein riesiger Hammer. Obwohl Cord den Mann nicht kannte, schreckte er nicht zurück. Im Gegenteil: Es zog ihn magisch zu dem Kerl hin. Er vermutete, dass es an dem abnormal großen Schwanz lag. Welcher schwule Mann würde solchem Riesengerät nicht hinterherlaufen?

Der Typ packte ihn im Nacken und gab ihm einen leidenschaftlichen Kuss. Hände wanderten über seinen Körper. Cord revanchierte sich, indem er den Kerl ebenfalls begrabschte. Sie kamen gerade so richtig schön in Fahrt, als plötzlich grelle Lichter aufblendeten.

Hände hoch! Ihr seid umstellt!“, ertönte es blechern aus einem Lautsprecher.

Mit einem Schlag war Cord wach und blinzelte ins Dunkel. Jedes Mal endete der Traum, bevor es zur Sache ging. Mal rannte der Typ weg, mal wurden sie auf andere Weise auseinandergetrieben. Er nannte diese Träume CIA, Coitus-Interruptus-Alpträume.

Seufzend knipste er die Nachttischlampe an. Vier Uhr. An Schlaf war nicht mehr zu denken. Sein Puls raste und das Kopfkissen war nassgeschwitzt. Er setzte sich auf und überlegte, ob der Typ ihm irgendetwas sagen wollte. Eine Art telepathisch übermittelter Hilfeschrei. Vielleicht suchte der Mann dringend jemanden, der solchen Monsterschwanz verkraftete. ‚Ha, ha! Toll kombiniert, Sherlock‘, spottete Cords Verstand.

Abermals seufzend krabbelte er aus dem Bett und ging in die Küche, um einen Schluck Wasser zu trinken. In der Fensterscheibe spiegelte sich, als er die Flasche an seine Lippen setzte, sein nacktes Ich. 177 Zentimeter blonde Schönheit, sofern man auf spindeldürre Männer stand. Er betrachtete seinen Halbsteifen, der sich noch nicht ganz von dem Traum erholt hatte. Voller Hoffnung richtete sich sein Schwanz jedes Mal auf und ließ sich selbst von dem bitteren Ende nicht beirren. Vielleicht sollte er den Begriff CIA in SFT - Schwanz-Fopper-Traum - ändern.

Zurück im Schlafzimmer zog er das Kissen ab und hängte den feuchten Bezug über eine Stuhllehne. In Shorts und T-Shirt gekleidet begab er sich ins Wohnzimmer und setzte sich vor eines seiner vielen Notebooks. Er wechselte die Geräte nach Lust und Laune.

Wie so häufig nach diesem Traum, suchte er im Internet nach dem Gesicht des Riesenschwanzträgers. Manchmal fand er eines, bei dem die Kinnpartie stimmte, manchmal eines, wo die Augen passten. Auch nach dem Schwanz hatte er bereits mehrfach gefahndet, doch noch nie etwas Vergleichbares entdeckt. Welcher Typ besaß schon einen 40-Zentimeter-Hammer? Es gab zwar einen Mann, der behauptete, über fast 50 Zentimeter zu verfügen, doch laut Berichten bestand diese Schniedellänge überwiegend aus Vorhaut.

Ehrlich gesagt wäre ihm solches Gerät - also, die 40 Zentimeter - auch etwas zu viel des Guten. Schließlich wollte er beim Sex nicht zweigeteilt werden. Wenn seine Freunde von dem Traum wüssten, würden sie ihm garantiert Spitznamen wie Schwanzus-Longus-Fetischist oder ähnlich blödes verpassen.

Zurück zu dem Hilfeschrei: Wartete irgendwo ein Typ auf Rettung? Die Vorstellung hatte etwas Verlockendes. Cord war nämlich ein großer Fan von Superhelden und stolzer Besitzer einer großen Comic-Sammlung. Frage war, wo genau der Mann wartete. In der Zukunft oder in der Vergangenheit? Die komischen Bäume wiesen seines Erachtens auf eine höher entwickelte Technologie hin. Er würde sowieso niemals in die Vergangenheit reisen. Ohne Computer wäre er nur ein halber Mensch.

Er dachte schon seit einer Weile darüber nach, eine Spritztour mit der Zeitmaschine zu unternehmen. Bislang hatte ihn seine Arbeit davon abgehalten, doch nun bahnte sich eine Durststrecke an. Das entwickelte Spiel musste, bevor es in den Verkauf ging, ausführlich getestet werden. Für die Behebung etwaiger Bugs war eine ganze Riege von Entwicklern zuständig. Seine Person wurde somit vorläufig nicht gebraucht. Der Chef war der Meinung, seinen kreativen Kopf mit solchem Kram nur unnötig zu belasten.

Eigentlich benötigte er keine Freizeit für seine Reise, da er mit der Maschine ja punktgenau dort wieder landen konnte, wo er losgefahren war. Für die Vorbereitung veranschlagte er jedoch etliche Stunden. Anders als seine Freunde, würde er niemals blind irgendwohin reisen. Leider standen ihm für sein Vorhaben keine Daten aus Geschichtsbüchern zur Verfügung. Die Zukunft wurde ja erst noch geschrieben. Es war nur möglich, aus den vorhandenen Gegebenheiten Rückschlüsse auf die Entwicklung zu ziehen.

Da Cord eh schon aufgestanden war und nichts anderes - es stand später bloß eine Videokonferenz mit seinem Team an - zu tun hatte, begann er zu planen. Nach seiner Einschätzung dürfte die Luftverschmutzung in den kommenden Jahren sehr zunehmen. Atemmasken gehörten also unbedingt ins Gepäck, genau wie Medikamente und Einweghandschuhe. Kondome in Elefantengröße, für den Fall, dass er seinen Traumtypen traf? Oder besaßen in der Zukunft alle Männer Riesenschniedel, ähnlich einem dritten Bein? Durch die gute Ernährung liefen ja schon in der heutigen Zeit haufenweise Riesenbabys herum. In jedem Fall musste eine Packung Kondome und Gleitgel mit.

Vielleicht sollte er erstmal überlegen, in welches Jahr er überhaupt reisen wollte. Nachdenklich tippte sich Cord gegens Kinn. Also, wenn schon, denn schon. Er setzte sich 2220 als Ziel. In 200 Jahren waren die Menschen entweder ausgestorben oder endlich schlauer geworden.

Als nächstes wandte er sich den praktischen Utensilien zu. Das übliche Werkzeug musste mit, Wechselklamotten, Schlafsack, Isomatte, ein Zelt? Nein, das wäre zu viel Gepäck. Schließlich wollte er sich frei bewegen. Apropos: Er musste nachher zu Globetrottel, um allerlei Nützliches zu besorgen, wie Trockennahrung, ein Allzweckmesser und so weiter.

Cord unterbrach seine Tätigkeit, um Kaffee aufzusetzen. Der Rest vom Vortag war ungenießbar. Anschließend stieg er unter die Dusche, rasierte sich und zog frische Klamotten an. Während er seine erste Koffeindröhnung genoss entschied er, Marcel und Aurelian einen spontanen Besuch abzustatten, um sich mit den beiden auszutauschen. Schließlich besaßen die zwei bereits Erfahrung im Zeitreisen.

Wenig später schwang er sich in seinen Smart. Das Elektrofahrzeug hatte er sich erst kürzlich beschafft, zusammen mit einem Carport, auf dem Solarzellen angebracht waren. Sein Beitrag für eine saubere Umwelt. Eigentlich Augenwischerei, weil die Entsorgung der Batterien sowie deren Beschaffung, wenn die dafür benötigen Rohstoffe ausgingen, noch nicht gelöst war. Man wurde echt auf Schritt und Tritt von Wirtschaft und Politikern verarscht.

Marcel, der ins Mittelalter gereist war, gab ihm den Tipp, ein Nylonseil mitzunehmen. „Ohne das Seil hätte ich Aurelian niemals retten können.“

Also ob in jedem Jahrhundert ein Mann in einer Grube auf einen wartete. Cord notierte es trotzdem auf seiner Liste. Zudem eine Taschenlampe sowie exklusive Duftartikel, die er verwenden wollte, um Einheimische friedlich zu stimmen. Mit Plastikschmuck, wie Garrett ihn für die Reise zu den Indianern verwendet hatte, kam man in der Zukunft nämlich garantiert nicht weit.

Bevor er sich auf den Rückweg machte, folgte er Aurelian in den Stall, um seiner Lieblingsstute Madita Guten Tag zu sagen. Das alte Mädchen freute sich ein Loch in den Bauch ihn zu sehen. Na ja, vielleicht war es eher die Möhre aus Aurelians Vorrat, über die sie in Begeisterung geriet.

Nach der Konferenz, die zwei Stunden dauerte, begab er sich nach Barmbek, um bei Globetrottel einzukaufen. Beladen mit allerlei notwendigem Zeug kehrte er nach Hause zurück und begann zu packen. Sein neuer Rucksack - der alte stammte noch aus seiner frühen Jugend - war grün schwarz, optimale Tarnfarben und fasste unglaublich viel. Aus Gewichtsgründen musste er trotzdem aufpassen, nur das Allernötigste hineinzulegen. Schließlich war er kein Packesel, sondern nur ein schmächtiger Nerd.

Um drei vernichtete er die Reste des chinesischen Essens, das er sich am Vortag bestellt hatte. Derart gestärkt und mit einer Thermoskanne Kaffee ausgerüstet, setzte er sich in die fertig beladene Zeitmaschine. Beim Anblick der Zentraleinheit fiel ihm ein, dass er vergessen hatte sich ein Ziel auszusuchen. Na, super! Eine Fahrt ins Blaue war wohl weniger ratsam, also holte er sein Notebook - das natürlich nicht fehlen durfte - hervor und betrachtete eine Landkarte von Deutschland. Alles südlich der Elbe schied schon mal aus. Schlussendlich wählte er den Speckgürtel von Berlin als Zielort, tippte die Koordinaten in den Rechner und als Ankunftszeit zehn Uhr morgens.

Nachdem er das Notebook wieder sicher verstaut hatte, atmete er tief durch und drückte den Startknopf. Die Maschine fing an zu vibrieren. Es fühlte sich an, als ob er in ein schwarzes Loch gesogen wurde. Die Umgebung verschwamm und wich tiefer Dunkelheit, wobei ein Brummen jegliches andere Geräusch verschluckte.

Cord wollte gerade eine leichte Panikattacke erleiden, als es heller wurde und der Lärm nachließ. Das Vibrieren hörte auf. Er stand inmitten grüner Büsche. Hohe Baumkronen schirmten die Sonnenstrahlen ab. Probeweise holte er tief Luft. Sie schien sauber zu sein. ‚Idiot! Gifte riecht man nicht immer!‘, schalt eine Stimme in seinem Kopf. Vorsichthalber legte er einen Atemschutz an, bevor er aus der Maschine kletterte und sich umschaute.

Er war in einem eingefriedeten Garten gelandet. Unweit seines Standorts erhob sich ein Zaun aus Maschendraht. Jenseits der Büsche sah er gepflegten Rasen und dahinter ein Gebäude. Graue Untertassen bewegten sich über die grüne Fläche. Vermutlich Mähroboter.

„Eindringling in Quadrant B, Planquadrat B5“, schnarrte plötzlich eine Roboterstimme.

Erschrocken guckte sich Cord um und entdeckte, ungefähr einen Meter entfernt, eine der Untertassen.

„Eindringling in Quadrant B, Planquadrat B5.“

Mit einem Satz war er zurück an der Maschine, holte sein Werkzeug hervor und kniete sich vor den Mähroboter, der offensichtlich auch Marktschreier-Funktionen besaß.

„Eindringling in Quadrant B, Planquadrat B5.“

Flink öffnete er mit einem Schraubendreher den Deckel und beäugte das Innenleben.

„Eindringling in Quadrant B, Planquadrat B5.“

Also, riesige Fortschritte hatte man in den 400 Jahren nicht gemacht.

„Eindringling in Quadrant B, Planquadrat B5.“

Es gelang ihm, das Sprachmodul auszuschalten. Erleichtert, weil die blecherne Stimme endlich schwieg, untersuchte er den Roboter genauer. Ein simples Modell mit eingebautem Wärmesensor. Wahrscheinlich gab es alle naslang Fehlalarm, wenn sich ein Tier aufs Grundstück verirrte; sofern noch welche existierten.

Das Ding ließ sich mittels einer kleinen Konsole, ungefähr so groß wie die eines Smartphones, programmieren. Er legte die Atemschutzmaske, die er hinderlich fand, ab und probierte ein bisschen herum. Nachdem er dem Roboter ein einigermaßen authentisches „Wuff!“ entlockt hatte, machte er sich daran, die Bewegungsabläufe zu ändern. Schließlich startete er einen Test. Der Roboter glitt einige Meter davon, kläffte und drehte sich um die eigene Achse, bevor er wieder eine Strecke zurücklegte, um erneut zu bellen und eine Drehung zu vollführen. Schade, dass er keine wedelnde Rute besaß. Sie hätte das Bild komplettiert.

Cord packte sein Werkzeug ein, verstaute es in der Zeitmaschine und spähte hinüber zum Haus. Es war bestimmt sinnvoll, Kontakt mit einem Menschen aus dieser Zeit aufzunehmen, um die Lage zu peilen. Vielleicht herrschte Krieg und er machte sich besser gleich wieder vom Acker.

Er breitete die Tarndecke über die Maschine, schulterte seinen Rucksack und überlegte, welche Lüge er dem Hausbewohner auftischen sollte, um seine Anwesenheit zu erklären. Letztendlich entschied er, sich auf seine Spontanität zu verlassen. Sofern er sich äußerlich nur wenig von den Zukunftsmenschen unterschied, konnte er sich als Tramper ausgeben. Andernfalls würde er eben behaupten, zu Besuch von einem anderen Stern zu sein.

Als er über den Rasen schritt, heftete sich der umfunktionierte Mähroboter an seine Fersen. Hatte er den Apparat aus Versehen auf Anhänglichkeit programmiert? Oder folgten diese Dinger demjenigen, der zuletzt in ihnen rumgestochert hatte?

Die Terrasse bestand aus federndem, undefinierbar braun-grau-grünem Material. Vielleicht eine Form von Müllverwertung? Cord klopfte gegen die Terrassentür. Nichts bewegte sich. Er linste durch die Scheibe. Der Raum, wohl das Wohnzimmer, war mit dunklen Möbeln eingerichtet. In einem Kamin glomm ein wahrscheinlich unechtes Feuer. Cord hatte keinerlei Rauch aufsteigen sehen. Oder gab es inzwischen entsprechende Filter?

Erneut klopfte er gegen die Tür, diesmal kräftiger. Drinnen regte sich etwas. Ein Mann geriet in sein Blickfeld. Der Typ trug eine graue Hose, dazu ein schwarzes Oberteil und sah ziemlich attraktiv aus.

Stirnrunzelnd öffnete der Mann die Tür. „Ja, bitte?“

„Entschuldigen Sie die Störung. Ich fürchte, ich hab mich verlaufen. Befinde ich mich in Berlin?“

Der Typ musterte ihn mit hochgezogenen Augenbrauen. „Verlaufen?“

„Ich war per Anhalter unterwegs, aber meine Mitfahrgelegenheit musste dahinten ...“ Cord wies vage mit dem Kinn in die Richtung, aus der er gekommen war. „... abbiegen. Ich bin also ausgestiegen und querfeldein gelaufen.“

„Ah so“, murmelte der Mann und beäugte den Roboter, der sich neben ihm niedergelassen hatte. „Was ist denn damit passiert?“

Mit einem schiefen Grinsen zuckte Cord die Achseln. „Sorry. Eine kleine Spielerei. Ich hab ihm eingeredet, ein Hund zu sein.“

Aufs Kommando kläffte der Roboter.

„Sie kennen sich mit Computern aus?“, erkundigte sich der Typ.

„Ich hab Informatik studiert.“

Nochmals taxierte ihn der Mann, öffnete die Tür weiter und trat beiseite. „Sie kommen wie gerufen. Meine Alarmanlage streikt.“

Frohlockend nahm Cord die Einladung an und sah sich um. Wie vermutete handelte es sich bei dem Feuer um eine Attrappe. Das Mobiliar wirkte teuer, genau wie die gerahmten Gemälde an den Wänden.

„Ich bin Flavian Grützburg“, stellte sich der Mann vor, ohne ihm die Hand anzubieten.

„Cord Geringer.“

Flavian bedeutete ihm mit einem Wink zu folgen. Sie kamen an einer Küche vorbei, in der jemand wirtschaftete. Es roch schwach nach Essen. Am Ende des Flures ging’s eine Treppe runter, an deren Fuß Flavian stehenblieb.

„Stell dein Gepäck besser hier ab. Im Kontrollraum ist wenig Platz.“

Cord gehorchte und betrat hinter Flavian eine Kammer. Etliche Monitore waren an der Stirnseite des Raumes angebracht. Man sah das Anwesen aus verschiedenen Blickwinkeln. Zwei der Bildschirme waren schwarz. Auf dem Tisch, der sich darunter befand, standen diverse schwarze Kästen. An einem davon blinkten einige Lämpchen.

„Meinst du, du bekommst das wieder hin?“, wollte Flavian wissen.

„Gib mir eine halbe Stunde, um mich mit dem System vertraut zu machen.“

„Gut. Ich lass dich dann mal allein.“ Flavian verließ den Raum und schloss hinter sich die Tür.

Seufzend nahm Cord die Anlage in Augenschein. So etwas gehörte nun echt nicht zu seinem Spezialgebiet. Er setzte sich auf einen futuristischen Hocker aus durchsichtigem Material und begann, auf die Tastatur einzuhacken.

Wenig später war er mit dem System vertraut. Sämtliche Monitore zeigten wieder Bilder. Auf ihnen verfolgte er, wie sein modifizierter Roboter kreuz und quer über den Rasen rollte. Vielleicht sollte er das Maschinchen wieder ummodeln, bevor dessen Herrchen sauer wurde.

Während er müßig herumsaß überlegte er, was für eine glückliche Fügung es doch war, ausgerechnet in Flavians Garten gelandet zu sein. Der Typ war zwar nicht der aus seinem Traum, doch auch ziemlich ansehnlich. Wenn es weiter so gut lief, konnte er ja eventuell erstmal hier unterkriechen. Das wäre klasse. Darauf, irgendwo in der Pampa zu campieren, hatte er nämlich überhaupt keine Lust.

Als er Schritte auf dem Gang hörte, beugte er sich über die Tastatur und tat fürchterlich beschäftigt. Aus dem Augenwinkel sah er Flavian hereinkommen. „Ich bin gleich soweit“, murmelte er, angeblich ganz auf das System konzentriert.

Stumm lehnte sich Flavian an die Wand, den Blick auf die Monitore gerichtet. Um es nicht auf die Spitze zu treiben, betätigte Cord ein letztes Mal eine Taste und drehte sich zu Flavian um. „Es scheint alles wieder zu laufen.“

„Du suchst nicht zufällig ein neues Betätigungsfeld?“

Er zuckte mit den Achseln. „Eigentlich nicht, aber ich höre gern dein Angebot.“

„Ich brauche ständig Springer, die in Spitzenzeiten aushelfen. Außerdem kann ich auch hier regelmäßig Hilfe gebrauchen.“ Flavian verdrehte die Augen. „Fast alle Geräte besitzen künstliche Intelligenz, wobei ich mich manchmal frage, ob es nicht eher künstliche Dummheit ist.“

„Ich weiß nicht, ob ich bei allen Geräten nützlich bin“, gab Cord zu bedenken.

„Notfalls kann ich immer noch den Kundendienst rufen, wobei es ewig dauert, bis sich mal einer her bequemt. Servicewüste Deutschland.“ Flavian schickte den Worten einen Stoßseufzer hinterher.

Also hatte sich wenig verändert. „Sieht dein Angebot einen Schlafplatz vor?“

Flavian nickte. „Unterm Dach steht ein Appartement leer. Das kannst du bewohnen, so lange du für mich arbeitest.“

Das klang sehr interessant. „Hast du zufällig einen Kaffee für mich, bei dem wir alles weitere besprechen können?“

„Leider muss ich gleich in die Firma. Du kannst aber mitkommen und dich schon mal umsehen. Kaffee gibt es dort an jeder Ecke.“

„Gern.“ Cord sprang auf und folgte Flavian ins Erdgeschoss. Der Essensgeruch war stärker geworden und sehr vertraut. Er tippte auf Sauerkraut mit Eisbein. Als er einen kurzen Blick in die Küche warf, sah er eine rundliche Frau darin werkeln.

„Meine Mutter“, erklärte Flavian. „Kochen ist ihre Passion.“

Das erweckte einen sympathischen Eindruck. Überhaupt schien Flavian in Ordnung zu sein. So wie seine Kumpel, auf den ersten Schlag seinen Seelengefährten gefunden zu haben, zweifelte Cord allerdings an. Außerdem war er deswegen ja sowieso nicht hier. Er wollte bloß seinen Horizont erweitern.

Flavian nahm eine Jacke von der Garderobe. „Bis nachher, Mama!“

„Pass auf dich auf, mein Sohn!“, gab die Frau zurück.

Sie verließen das Haus. Flavian bog nach links ab, wo sich ein flacher Anbau befand. Wie von Geisterhand öffnete sich ein Tor, hinter dem ein Wagen stand. Die runde Karosserie erinnerte Cord an Entwürfe des Designers Colani.

Der Innenraum war ebenso kantenlos gestaltet. Flavian betätigte einen Knopf, woraufhin das Fahrzeug rückwärts aus der Garage fuhr, wendete und bis zum Straßenrand rollte. Ab da übernahm Flavian mittels eines Joysticks das Lenken.

Zu gern hätte Cord Fragen zu dem Auto gestellt, doch das wäre verdächtig gewesen. Sobald wie möglich musste er einen Internetzugang nutzen, um sich über diese Zeit zu informieren.

„Nette Karre“, merkte er an.

„Nicht wahr? Ich mag’s ein bisschen altmodisch.“

Was Flavian damit meinte begriff Cord, als sie von der unbelebten Straße in eine andere, auf der reger Verkehr herrschte, einbogen. Eckige Wagen, wohin er auch schaute. Die Modelle wirkten wie Schuhkartons und schienen ausschließlich auf zwei Personen zugeschnitten zu sein. Nur selten begegnete ihnen auf dem Weg ein größerer Karton, der auf mehr Insassen ausgelegt war. Hatte man die Geburtenrate begrenzt, so wie damals in China?

Die Gebäude, an denen sie vorbeifuhren, bestanden hauptsächlich aus Glas und grauem Material. Dazwischen gab es grüne Inseln mit Bäumen und Sträuchern. Alles wirkte genau abgezirkelt, wie bei einer Modelleisenbahn. Auch fiel Cord auf, dass kein Müll herumlag. Die Bürgersteige waren picobello sauber, genau wie die Grünanlagen.


2.

Hatte sich das Arschloch einen Toyboy zugelegt? Nachdenklich schaute Sebastian dem Wagen, der in die Tiefgarage der Grützburg tauchte, hinterher. Normalerweise ging sein Spezialfeind regelmäßig ins PlayCenter, um es mit einem der Androiden zu treiben.

Sebastian wandte sich um und schlenderte davon. Wegen der überall angebrachten Überwachungskameras musste er überaus vorsichtig sein. Seine Tarnung bestand aktuell aus einem grauen Bart, dicker Brille und einem Fatsuit. In dieser Aufmachung hatte er drei Stunden in der Nähe der Tiefgarageneinfahrt herumgelungert.

Seit Monaten spionierte er Flavian Grützburg aus, um eine Schwachstelle zu finden. Ideales Ziel wäre dessen Mutter, doch die verließ das Haus nur selten und dann in Begleitung eines Bodyguards. Außerdem vergriff sich Sebastian nicht an alten Damen. Selbst ein Rebell wie er besaß moralische Grenzen.

Drei Straßen weiter parkte sein Wagen. Wie fast alle anderen fuhr er ein Single-Modell. Alleinstehenden Bürgern bis zu einer bestimmten Einkommensgrenze war es nicht erlaubt, ein größeres Fahrzeug zu halten. Zudem hatte man den Import ausländischer Fabrikate gestoppt, was die Auswahl ohnehin stark eingrenzte. Letzteres mit der Begründung, den inländischen Markt zu schützen. Ersteres, um des Parkplatzproblems Herr zu werden.

Sebastian vermutete, dass es nur ein weiterer Schritt dahingehend war, die breite Masse zu kontrollieren. Manchmal zog er Parallelen zum dritten Reich. Die Regierung setzte alles daran, den normalen Bürger zufriedenzustellen, indem sie diesem gewissen Luxus ermöglichte. So wurden Reisen im Inland steuerlich gefördert und fleißige Arbeitnehmer regelmäßig zur Kur geschickt. Desgleichen galt für kulturelle Zerstreuung. Theater, Oper und Kino wurden ebenfalls subventioniert, damit es sich jeder leisten konnte. Das besaß doch Ähnlichkeit mit dem KdF-Programm der Nazis: Brot und Spiele hielten das Volk bei Laune.

An einer Geburtenkontrolle war die Regierung bislang gescheitert. Allerdings erledigten die Menschen das ganz von selbst. Kaum jemand band sich noch längerfristig. Bei geregeltem Grundeinkommen brauchte niemand um seine Altersversorgung bangen. Paare mit zwei Kindern galten als überaus selten, welche mit mehr als Exoten.

Er stieg in seinen Wagen, startete den Motor und fädelte sich in den fließenden Verkehr ein.

Bis zu seiner Volljährigkeit war er ein ganz normaler, angepasster Jugendlicher gewesen. Täglich hatte er brav die, vom Arzt wegen seiner Aufmerksamkeitsdefizitstörung verschriebenen, Medikamente eingenommen. Nach seinem Schulabschluss war er zum Studieren von Hamburg nach Berlin in ein Wohnheim gezogen. Im Laufe des ersten Semesters hatte er die Pillen probeweise abgesetzt und festgestellt, dass er sie gar nicht mehr brauchte. Mit jedem vergehenden Monat war ihm bewusster geworden, wie stark die Arznei seine Wahrnehmung beeinträchtigt hatte.

Inzwischen gehörte er zu den Regimegegnern, einer kleinen Gruppe unzufriedener Bürger. Sie agierten verdeckt und finanzierten sich über Spenden von Leuten, die ihre Sache zwar gut fanden, sich aber selbst nicht trauten aktiv zu werden. Zudem verkaufte Sebastian manchmal sein Knowhow an Sympathisanten, für die er schwarzarbeitete.

Der Grund, weshalb er Grützburg observierte, war, dass die Regierung an einem Projekt arbeitete, alle Bürger mit Mikrochips zu versehen. Das wusste er aus zuverlässigen Quellen und auch, dass Grützburgs Konzern maßgeblich an der Entwicklung beteiligt war. Sein Ziel: Grützburg mittels Erpressung dazu zu bewegen, die Pläne offenzulegen.

Den anderen war diese Vorgehen zu brutal. Sie zogen es vor eine Demonstration zu organisieren, um auf die Missstände hinzuweisen. Genauso gut konnte in China ein Reissack platzen. Sebastian hatte sich daher für einen Alleingang entschieden. Sollten die anderen doch Plakate malen und sich Parolen ausdenken. Ihm war sowas inzwischen zu blöde geworden. Es musste endlich mal etwas passieren, das einen messbaren Effekt hatte.

Nach zwanzig Minuten Fahrt erreichte er sein Heim: Ein Häuschen mit zwei Zimmern, Bad und Küche. Es stand inmitten eines Waldstücks am Schlachtensee und gehörte einem vermögenden Sympathisanten, der ihm das Objekt kostenlos zur Verfügung stellte.

Nachdem er sein Trainingsprogramm, das wegen des frühen Ortstermins ausgefallen war, absolviert hatte, verspeiste er eine Schale Müsli. Anschließend brachte er sich im Internet auf den neuesten Stand.

Es war mühselig, zwischen den ganzen überflüssigen Nachrichten wichtige zu entdecken. Eine Bloggerin war nach einer Operation gestorben. Sie hatte sich zwei Zehen und den halben Brustkorb entfernen lassen, um besser in Schuhgröße 32 und Klamotten XXS zu passen. Schuld an ihrem Tod war jedoch nicht die OP, sondern ein Messer, das ihr eine Konkurrentin zwischen die verbliebenen Rippen gerammt hatte. Die Weiber wurden immer verrückter.

Mal wieder war er heilfroh, mit der Damenwelt nichts am Hut zu haben. Männer konnten zwar genauso dämlich sein, hackten sich gegenseitig aber selten die Augen aus.

Bei der Gender-Pride-Parade in Düsseldorf hatte es Ausschreitungen gegeben. Die Polizei war dagegen mit Pfefferkanonen vorgegangen. 47 Personen mussten im Krankenhaus mit Verätzungen behandelt werden, darunter auch einige Beamte. Wann wurden die Oberen denn endlich schlauer und hörten auf, mit derart mittelalterlichen Methoden zu arbeiten?

Seufzend nippte Sebastian an seinem Kaffee. Apropos: Wegen andauernder Streiks in den Anbaugebieten stiegen die Preise für Rohkaffee weiter. Mittlerweile kostete ein Pfund dreimal so viel wie vor einem Monat. Oder war das nur eine Masche der Importeure, um mehr Geld zu verdienen?

Abermals stieß er einen Seufzer aus und richtete seinen Blick aus dem Fenster. Eben hatte noch die Sonne geschienen, nun goss es in Strömen. Der April machte seinem Namen alle Ehre.

Er lenkte seine Aufmerksamkeit wieder auf den Bildschirm. Griechenland, das einstige Armenhaus Europas, meldete einen neuen Rekord an Flüchtlingen. Vor 150 Jahren, als die Flut überallhin schwappte, hatte man sich geeinigt, die Grenzen zu schließen und den Hellenen einen hohen Ausgleich dafür zu zahlen, dass sie die Immigranten im Landesinneren behielten. Seitdem war dort eine neue Kultur entstanden, nämlich ganze Städte aus Behelfsunterkünften. Vergleichsweise waren die Probleme in Deutschland klein. Na ja, jedes Päckchen wog schwer.


3.

Das Gebäude war beeindruckend. Sechs Aufzüge und drei Rolltreppen beförderten ohne Unterlass Personen von Stockwerk zu Stockwerk. In gläsernen Büros saßen Mitarbeiter vor High-Tech-Arbeitsplätzen. In der 60. Etage, wo die Wände aus undurchsichtigem Material bestanden, befand sich die Zentrale. Flavian führte ihn durch einen Raum, in dem zwei hübsche Damen saßen, in ein riesiges Büro mit Weitblick.

„Von hier aus regiere ich“, verkündete Flavian mit einer ausholenden Geste und rief in Richtung Vorzimmer: „Sam? Bringst du uns bitte Kaffee?“

Cord stellte sich vors Fenster und bewunderte die Aussicht. Entgegen seiner Befürchtungen hatte sich Berlin zu keinem zweiten Frankfurt gemausert. Die Grützburg - der Name stand über der Tiefgaragenzufahrt - war weit und breit das höchste Gebäude. Von seinem Standpunkt aus sah er nur vier weitere, die damit konkurrieren konnten.

„Setz dich doch“, bat Flavian, der inzwischen hinterm Schreibtisch Platz genommen hatte.

Cord ließ sich auf einem der beiden Besucherstühle davor nieder. „Beeindruckend. Wie viele Leute arbeiten für dich?“

„Insgesamt rund 10.000, wenn ich alle Tochterfirmen mitrechne.“

„Und was genau produzierst du?“

„An diesen Standort hauptsächlich Träume, also Spiele. Etwas weiter östlich steht eine Fabrik, in der Hardware hergestellt wird und im Süden noch eine.“

„Was für Hardware?“, wollte Cord wissen.

„Platinen, Chips, Elektronikbauteile. In Griechenland werden sie zusammengebaut.“

„Wieso ausgerechnet in Griechenland?“

Flavian hob erstaunt die Augenbrauen. „Na, weil es da am günstigsten ist.“

Um mit seiner Unwissenheit keinen Verdacht zu erregen, zwinkerte er Flavian zu. „Das war scherzhaft gemeint.“

Eine der Sekretärinnen brachte ein Tablett herein, stellte es auf dem Schreibtisch ab und stöckelte wieder davon. Er schnappte sich einen der beiden Becher, aus dem das Aroma von Koffein aufstieg.

„Was genau soll ich hier tun?“, erkundigte er sich und nippte an seinem Kaffee.

„Momentan nichts. Ich habe nur gerne jemanden in petto, falls eine Lücke entsteht.“

„Okay. Bekomme ich zum Nichtstun einen Arbeitsplatz?“

Flavian wies auf eine Tür, die sich links in der Wand befand. „Du kannst da drüben sitzen und dir einen Überblick über die laufenden Projekte verschaffen.“

„Sehr schön. Dann fang ich mal gleich damit an.“ Er stand auf.

„Willst du gar nicht wissen, wie viel ich dir dafür bezahle?“

„So lange ich Kost und Logis frei habe, ist mir das relativ egal.“

„Dann reden wir später darüber.“

Cord nickte, ging in den Nebenraum, schloss die Tür und schaute sich um. Auch dieses Büro war luxuriös ausgestattet. Neugierig betrachtete er das an der Wand hängende Gemälde, bevor er sich hinter den leeren Schreibtisch setzte. Er zog nacheinander die Schubladen auf. In der rechten oberen befand sich ein Paneel mit mehreren Knöpfen. Kleine Symbole halfen ihm dabei, den Richtigen zu drücken. Die Schreibtischplatte öffnete sich. Ein Bildschirm mit Tastatur fuhr hoch. Nacheinander probierte er den mit Telefonsymbol, Lampe, Sonne und Wolke aus. Die beiden letzten bedienten die Jalousien vorm Fenster. Den Knopf mit einer Kaffeetasse ließ er aus. Zum einen war sein Becher noch voll, zum anderen vermutete er, dass dann Sam oder die andere Vorzimmerdame erscheinen würde.

Es gab die Auswahl zwischen einem Gastzugang und einem Andreas. Vielleicht Flavians letzter Assistent? In der Schublade befand sich auch das Gäste-Passwort: Gruetzburg. Wie einfallsreich.

Vier Icons erschienen auf dem Bildschirm. Als erstes klickte er den mit dem Firmenlogo an und verfolgte eine Präsentation, in der die Produktpalette vorgestellt wurde. Als zweites ging er ins Internet. Die Suchanfrage für Grützburg war voreingestellt. Da litt jemand nicht unter mangelndem Selbstbewusstsein, überlegte Cord ironisch, rief sich aber gleich zur Ordnung. Dies hier war ein Arbeitsplatz. Natürlich drehte sich da alles um das Unternehmen.

Er tippte Auto kaufen ins Suchfeld. Modelle in verschiedenen Preiskategorien erschienen auf dem Monitor. Die Währung lautete N€, vermutlich neuer Euro. Ein Schuhkarton, wie er ihn auf der Straßen dutzendfach gesehen hatte, kostete durchschnittlich 20.000 N€. Er klickte ein Modell an, um sich die technischen Daten anzuschauen. Verbrauch auf 100 Kilometer: 0,5 Liter, aber wovon stand da nicht. Benzin? Rapsöl?

Weitere Recherchen ergaben: Autos fuhren mit verschiedenen Treibstoffen. Überwiegend Benzin, manche mit Ölsorten. Viele Fahrzeuge besaßen Hybridantrieb. Ein Arbeiter verdiente zwischen 10.000 und 200.000 N€ pro Jahr. Nebenher gab es Grundeinkommen für jeden Bürger. Gar nicht mal so übel, diese Neuerungen. Hatte man damit das Problem der Obdachlosigkeit gelöst? Eine diesbezügliche Suchanfrage ergab nichts.

Cord polierte gerade sein Wissen bezüglich Griechenlands auf, als die Tür aufsprang und Flavian hereinspähte. „Kommst du klar?“

„Danke, ja. Wenn ich mehr Kaffee möchte, drücke ich dann einfach den Knopf oder kann ich mir den selbst holen?“

„Ganz wie du magst. Die Pantry befindet sich neben den Toiletten. Ich bin mal eine Weile unterwegs.“ Die Tür klappte wieder zu.

Griechenland war abgeschottet worden und finanzierte sich durch Beiträge der EU, die für die Versorgung von Flüchtlingen gezahlt wurden. Bilder von riesigen Zeltlagern verursachten ein unangenehmes Grummeln in Cords Bauch. Diese Menschen beutete man also aus, indem man sie für geringe Löhne arbeiten ließ. Ein Wermutstropfen auf seine bisher positive Meinung über das Jahrhundert.

Südamerika hatte man zum Biotop, auch die Lunge der Welt, erklärt. Die Bevölkerung war in den Norden umgesiedelt worden. Afrikas Wüsten hatten sich ausgebreitet. Nahezu der ganze Kontinent litt unter extremer Dürre. Japan sowie andere Inselstaaten waren teilweise überflutet. Man kämpfte mit Sandaufspülungen dagegen an. Neugierig tippte Cord Sylt ins Suchfenster. Die Insel war fast komplett ausradiert, genau wie die anderen Nord- und Ostfriesischen.

Er wandte sich der Politik zu. Christliche Regierungen wechselten sich mit sozialen ab. Derzeit waren mal wieder die Schwarzen dran. Cord atmete auf. Insgeheim hatte er befürchtet, dass die Rechte das Ruder übernahm. Die radikalen Tendenzen in 2020 und den Jahren davor waren beängstigend.

Und was war im privaten Bereich los? Er suchte nach den Kontaktportalen, die er aus seiner Zeit kannte. Grindr und Co. waren so gut wie ausgestorben. Dafür gab es Anzeigen für einschlägige Etablissements, die als PlayCenter bezeichnet wurden. Dort boten Androiden beiderlei Geschlechts ihre Dienste an. Als Währung wurde dort LD angegeben. Beispielsweise konnte man im PlayCenter Steglitz zwei Stunden die Gesellschaft eines Androiden für nur 4 LD genießen. Im PC - Abkürzung für PlayCenter - Tempelhof hingegen kostete es 5 LD. Dafür warb man mit besonders heißen Adroiden-Modellen.

Die Suchmaschine hatte eine Lösung parat: LD = Liebesdollar = Währung für sexuelle Dienstleistungen. Jeder erwachsene Bürger erhielt pro Monat 50 LD, die nur in PCs eingelöst werden konnten. Zusätzliche LDs verschrieb ein Arzt (bei akutem sexuellem Notstand) oder man erwarb sie für den Gegenwert von 50 N€ pro Stück.

Warum war Robotersex so teuer? Besaßen Androiden besondere Fertigkeiten? Oder war die Herstellung solcher Roboter derart kostspielig? Welche Auswirkung hatte der Einsatz von künstlichen Liebesdienern aufs Rotlichtgewerbe?

Eine Viertelstunde später war er einigermaßen im Bilde. Anscheinend war die Kriminalitätsrate in Bezug auf sexuelle Delikte erheblich gesunken. Das behaupteten jedenfalls die Statistiken. Prostitution gab es zwar noch, doch auf anderem Niveau. Der Straßenstrich war zum Erliegen gekommen, aber Dominas oder andere spezielle Dienstleistungen standen weiterhin hoch im Kurs. Offenbar konnten Androiden zwar die Beine breitmachen, taugten jedoch nicht als Peitschenschwinger.

Wie hoch die Produktionskosten für einen künstlichen Liebesdiener waren, hatte er allerdings nicht rausgefunden. Vielleicht fragte er Flavian bei passender Gelegenheit danach.

Er widmete sich wieder den Produkten des Hauses Grützburg. Die Demo eines Spieles bewirkte bei ihm Bewunderung. Die Charaktere wirkten total echt. Es hatte ihn schon immer gestört, dass die Gesichter wie eingefrorene Masken aussahen und einander sehr ähnelten. Ansonsten war vieles gleichgeblieben. Es mussten Abgründe überwunden, Rätsel gelöst und Monster besiegt werden. Ein weiteres Spiel, das er testete, besaß typischen Aufbaucharakter. Es galt, eine eigene Welt mit Gebäuden und so weiter zu gestalten. Auch hier waren die Darstellungen ausgereifter als von 200 Jahren.

„Kommst du mit zum Essen?“, holte ihn Flavians Stimme aus seiner Versunkenheit.

„Leider bin ich total pleite.“

Flavian winkte ab. „Ich lade dich ein. Danach erhältst du einen Vorschuss.“

Sehr großzügig, für Nichtstun auch noch Geld vorab zu bekommen. Na ja, Flavian konnte es sich leisten.

Mit dem Lift fuhren sie ins Erdgeschoss. Hinter dem langen Tresen im Foyer saßen, genau wie bei ihrer Ankunft, drei Frauen, die eifrig auf Tastaturen einhackten. Keine von ihnen blickte auf, als sie auf den Ausgang zusteuerten. Handelte es sich um Androiden? Oder waren sie wirklich so beschäftigt?

Draußen wandte sich Flavian nach links. „Und? Wie gefällt es dir?“

„Ausgezeichnet. Darf ich nachher eine Vollversion spielen?“

„Natürlich. In deinem Appartement findest du das nötige Equipment und eine Auswahl an Spielen.“ Flavian hielt vor einem Laden, über dem ein Schild mit der Aufschrift Health-Food prangte.

Wie der Name schon verkündete, gab es auf der Speisekarte ausschließlich gesundes Zeug, wie Gemüse, Obst und Fleisch aus Bio-Haltung. Cord wählte ein Kohlrabi-Gericht, Flavian den Rote-Beete-Auflauf.

„Wo kommst du eigentlich her?“, erkundigte sich Flavian.

„Aus Hamburg.“ Das war ja nicht mal gelogen.

Der Kellner brachte ihre Getränke, was ihm einen kurze Bedenkzeit einbrachte. Sobald der Mann wieder verschwunden war, fragte Flavian weiter: „Und was hat dich hierher verschlagen?“

„Ich musste einfach mal raus. Beziehungsstress.“ Er zwinkerte seinem Gegenüber zu.

„Ah! Verstehe.“ Flavian grinste. „Ich weiß schon, weshalb ich von sowas die Finger lasse.“

„Na ja. Es hat auch Vorteile“, behauptete Cord. „Immerhin hat man regelmäßig Sex.“

„Ts! Da nutze ich lieber meine LDs.“

Zum Glück wusste er Bescheid, sonst hätte er jetzt dumm aus der Wäsche geguckt. „Das ist doch was ganz anderes.“

Flavian zuckte mit den Achseln und zückte ein Smartphone. „Jedem das seine.“

Ein Weilchen herrschte Schweigen, während sich Cords Gegenüber mit dem Gerät beschäftigte. Das Modell war größer und flacher als die Handys, die er kannte.

Flavian steckte das Smartphone wieder zurück in die Hosentasche. „Habe gerade meinen Liebling für heute Abend reserviert. Kommst du mit ins PC?“

Erneut war er froh, seine Kenntnisse aufgefrischt zu haben. „Leider hab ich keine LDs dabei. Meine Freundin hat sie mir weggenommen.“

„Siehst du!“, trumpfte Flavian auf. „Genau deswegen lass ich die Finger davon. Kein Problem. Ich gebe dir welche von meinen.“

Garantiert würde Flavian denken, mit seiner Potenz stimmte irgendetwas nicht, wenn er die Einladung ablehnte. Das würde - total dämlich, aber leider eine Tatsache - seinen Stolz verletzen. Außerdem war Cord neugierig auf die Sex-Androiden. „Das ist aber nett von dir. Das sag ich doch nicht nein.“

Ein Bediensteter, der das Essen servierte, beendete erstmal ihre Unterhaltung. Angesichts der lecker aussehenden Rote Beete bereute Cord seine Wahl. Sein Kohlrabi schmeckte irgendwie anders, als er es gewohnt war. Künstlich? Das traf es wohl am ehesten. Überhaupt kam ihm dieses Zeitalter wie ein abgespecktes 2020 vor, als hätte man alle ärgerlichen, aber auch interessanten Kanten abgeschliffen.


Impressum

Texte: Sissi Kaiserlso
Bildmaterialien: shutterstock depositphotos
Tag der Veröffentlichung: 07.03.2020

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /