Cover

Prolog

So lange Garrett denken konnte, faszinierten ihn Indianer. Zu jedem Fasching ging er mit Federschmuck und zu Hause stapelten sich entsprechende Bücher, Hefte, Bilder und Figuren. Sein größter Held war Winnetou. Die drei Filme schaute er sich x-mal an und weinte jedes Mal, wenn der Häuptling der Apachen im letzten Teil starb.

Später kamen andere Interessen hinzu, wie die für Ägypten, Rom und die Inka-Kultur. Überhaupt war sein Wissensdurst groß, nur für eines nicht: Die Kirche. Seine Eltern, beide Zeugen Jehovas, schleppten ihn zu jedem Gottesdienst und versuchten, ihm die Bibel nahezubringen. Bis zu seinem 15. Lebensjahr spielte er mit, doch dann begann die Pubertät und sein Widerspruchgeist erwachte. Er revoltierte nicht generell, sträubte sich nur, weiterhin bei dem scheinheiligen Brimborium mitzumachen. Das führte zu heftigem Streit, doch schlussendlich nahmen seine Eltern hin, dass er zu einem passiven Kirchenmitglied wurde.

Als er rausfand, auf Männer zu stehen, behielt er das wohlweislich für sich. Seine Eltern hätten ihn sonst höchstwahrscheinlich rausgeworfen. Die Lage war wegen seiner Verweigerung eh schon sehr angespannt. Er lernte wie verrückt, um nur gute Noten mit nach Hause zu bringen, damit es keinen weiteren Stein des Anstoßes gab. Ganz verdrängen ließ sich seine Neigung jedoch nicht, weshalb er Anschluss an Gleichgesinnte suchte. Unter dem Vorwand, zu einer Lerngruppe zu gehen, fing er an, das Magnus-Hirschfeld-Zentrum zu besuchen. Dort lernte er drei Jungs kennen, mit denen er gut klarkam: Cord, Lionel und Marcel.

Fortan trafen sie sich regelmäßig bei Letzterem, der in der elterlichen Garage eine Werkstatt eingerichtet hatte. Die Nachmittage oder Abende bei Marcel waren Garretts Lichtblicke in der Dürre seines sonstigen Lebens. Obwohl er mit den drei Jungs wenig gemeinsam hatte, ausgenommen seiner sexuellen Neigung, kam er gut mit ihnen klar. Gerade weil sie so verschieden waren, boten sich ihm stets neue Denkanreize. Oft lachten die anderen ihn aus, wenn er mit irgendeinem philosophischen Thema anfing, ließen sich aber meist darauf ein. Vielleicht gab sogar er den Ausschlag, dass seine bastelwütigen Kumpel auf die Idee kamen, eine Zeitmaschine zu bauen.

Natürlich funktionierte das nicht. Nach einigen Fehlversuchen verloren sie das Interesse an dem Projekt, zumal anderes in den Vordergrund drängte. Lionel und Cord machten erste sexuelle Erfahrungen. Das war fortan Gesprächsthema Nummer eins. Unweigerlich fühlte sich Garrett zurückgesetzt, aber zum Glück nicht als Einziger. Marcel ging es ja genauso. Letztendlich versuchten sie – die beiden Mauerblümchen – es miteinander. Es war keine schlechte Erfahrung, doch auch nicht weltbewegend. Sie beschlossen, es bei dem einen Mal zu lassen.

Seine Eltern hatten versprochen, sofern er sein Abitur mit Bestnoten absolvierte, ein Jahr Work-and-travel in Australien zu finanzieren. Das hielt ihn bei der Stange. Andernfalls hätte er wohl das Handtuch geworfen, weil die seelische Belastung seines unterkühlten Zuhauses ihn zusehends zermürbte. Je näher der Zeitpunkt rückte, desto mehr geriet alles andere als Schule in den Hintergrund. Als es endlich soweit war, fiel eine tonnenschwere Last von seinen Schultern.

Zusammen mit zwei weiteren Hamburgern, Denise und Konrad, flog er Anfang Juli nach Sydney. Dort trennten sich ihre Wege. Garrett reiste weiter nach South West Rocks, einem Kaff an der Küste, wo er in einer Hotelanlage als Mädchen für alles angeheuert hatte. Ihm war es sicherer erschienen, bereits von Deutschland aus einen Job zu suchen, als erst bei seiner Ankunft damit anzufangen.

Seine Eltern hatten ihm, neben den Kosten für Flug, Visa, Auslandskrankenversicherung und Mitgliedschaft in einer Backpacker-Hostel-Organisation, insgesamt rund 2.000 Euro, etwas Startkapital überwiesen. Vielleicht wollten sie mit dem Geld wiedergutmachen, ihn in den letzten Jahren wie einen Aussätzigen behandelt zu haben. Leider ließ sich mit monetären Mitteln seine verletzte Seele nicht heilen. Er war ihnen zwar dankbar, aber auch mindestens genauso froh, sie lange nicht sehen zu müssen.

Unter Australiens sengender Sonne blühte er auf. Seine Anzahl sexueller Kontakte erhöhte sich schon in den ersten vier Monaten von einem (mit Marcel) auf fünf. Bedauerlicherweise – oder gottseidank, schließlich wollte er nicht down under bleiben – ging ihm keiner der Männer unter die Haut.

Nach dem Hotel folgte ein Job auf einer Plantage, weitaus besser bezahlt, doch wesentlich anstrengender. Bei der ausschließlich körperlichen Arbeit merkte Garrett, dass ihm psychischer Anspruch allmählich fehlte. Die perfekte Voraussetzung, um nach seiner Rückkehr ein Studium aufzunehmen.

Im Juni, fast auf den Tag genau 12 Monate nach seinem Abflug, traf er wieder in Hamburg-Fuhlsbüttel ein. Seine Eltern empfingen ihn unerwartet herzlich. Vielleicht hatten sie die Trennung ebenfalls gebraucht.

Garrett schrieb sich an der Uni für Geschichte und Deutsch auf Lehramt ein und trat einen Job als Pizzabote an. Vier Wochen später zog er in ein WG-Zimmer und begann zwei Monate danach sein Studium.

Arbeit und Lernen war sehr zeitaufwendig, so dass er nebenher kaum dazu kam, seine persönlichen Interessen zu pflegen. Seine Mitbewohner feierten häufig, wodurch er genug soziale Kontakte hatte und seine alten nicht vermisste. Bei einer dieser Feiern lernte er Jannik kennen. Daraus wurde eine Art Zweckgemeinschaft. Sie waren beide allein und hungrig nach Zuneigung, also taten sie sich zusammen.

Nachdem er seinen Master of Education in der Tasche hatte, zog er in eine winzige Wohnung in Norderstedt, in die Nähe seiner Referendariatsstelle. Die Gegend rief Erinnerungen wach, denn nur wenige Straßen weiter wohnten Marcels Eltern. Seine Beziehung zu Jannik überlebte die Ortsveränderung nicht. Das war ganz gut so, denn auf Dauer wollte er sich mit etwas Halbgarem nicht zufrieden geben.

1.

 

Vier Monate später traf Garrett zufällig Marcels Schwester im Supermarkt. Emily freute sich riesig und fragte ihm ein Loch in den Bauch. Bereitwillig gab er Auskunft, auch über seinen Beziehungsstatus und erkundigte sich nach Marcel.

„Mein Bruder wohnt wieder zu Hause“, berichtete sie. „Sein Ex hat ihn rausgeworfen. Schau doch mal bei ihm rein. Ich glaub, er fühlt sich ein bisschen einsam.“

„Das mach ich. Gruß an deine Eltern.“ Er schenkte ihr zum Abschied ein Lächeln, schob seinen Einkaufswagen weiter und überlegte, ob er tatsächlich mal bei Marcel vorbeigucken sollte. Warum eigentlich nicht? Seit seinem Umzug hing er ständig allein herum. Ein paarmal hatte er seine ehemalige WG besucht, doch das gab ihm nichts mehr. Die Hälfte der Bewohner hatte gewechselt und die ewigen Feten gingen ihm sowieso auf den Senkel.

In der Mitte der folgenden Woche setzte er seinen Plan in die Tat um. Als er das Kosteinsche Grundstück betrat und Marcel in der Garage entdeckte fühlte es sich an, als wären bloß ein paar Tage statt vieler Jahre vergangen. Garrett gesellte sich zu seinem Kumpel, der gerade an einem Motorrad schraubte.

„Hi Alter.“ Er klopfte Marcel auf die Schulter, begab sich zur Werkbank und lehnte sich dagegen. „Wie ist es so?“

Marcel wischte sich die Hände mit einem Lappen ab und zuckte die Achseln. „Wie immer. Alles doof.“

Garretts Blick fiel auf ihr damaliges Experiment, das von einem Bettlaken verhüllt war. „Was macht eigentlich unsere Zeitmaschine? Hast du daran mal wieder gebastelt?“

„Nö.“

Bereits vor einigen Tagen hatte er daran gedacht, als er mit seinen Schülern anfing, George Orwell zu lesen. „Vielleicht kriegen wir es ja doch noch hin.“

„Du spinnst. Gerade du solltest wissen, dass sowas unmöglich ist.“

„Wieso gerade ich?“

„Weil du Lehrer … na ja, fast Lehrer bist, also ein rationaler Typ.“

Er zeigte Marcel einen Vogel. „Was hat das mit Visionen zu tun?“

„Auch wieder wahr.“ Vorsichtig entfernte Marcel das Laken und legte es neben der Maschine auf den Boden.

Die Karosserie sah aus wie neu. Anscheinend hatte Marcel sie vor dem Verhüllen gründlich geputzt. Nichts erinnerte mehr an ihr letztes, etwas schiefgelaufenes Experiment.

„Wir könnten es mal mit weniger Watt probieren“, schlug Garrett vor, obwohl er davon keine Ahnung hatte.

„Ich glaube der Fehler liegt nicht an der Energie, sondern ganz woanders“, entgegnete Marcel nachdenklich.

Sie verabredeten sich fürs Wochenende, um an der Maschine zu basteln. Leichten Herzens, weil seine Furcht, dass die Zeit zwischen Marcel und ihn vielleicht einen Keil getrieben hatte, unbegründet gewesen war, begab sich Garrett auf den Heimweg.


Marcel schien von der Idee neu angefixt zu sein. An den drei folgenden Wochenenden trafen sie sich in der Garage, wobei Garrett einiges über Technik lernte. Früher hatte er das den anderen überlassen und nur zugeschaut, doch nun musste er mit anfassen.

Schließlich wagten sie einen Versuch und - oh Wunder! - die Gummistiefel, die sie in die Maschine gestellt hatten, überlebten unversehrt. Marcel redete von einem Fortschritt, da sie die Energiezufuhr erheblich erhöht hatten. Es gab also einen Grund zum Feiern.

Von ihrem Alkoholkonsum offenbar inspiriert hatte Marcel in der Nacht eine Eingebung, die sie am kommenden Wochenende mit Cord umsetzten. Ein Probelauf mit einer lebendigen Maus brachte zwar ein beeindruckendes Ergebnis, was die visuellen Effekte betraf, doch ansonsten passierte nichts. Glücklicherweise überstand auch das Mäuschen den Test ohne Blessuren.

Am darauffolgenden Freitagabend erreichte Garrett ein Anruf: Marcel hatte die Maschine zum Laufen gebracht. Sein Kumpel klang so euphorisch, dass er Lionel und Cord über den Stand der Dinge informierte. Schließlich handelte es sich um einen historischen Moment. Sie verabredeten sich für acht Uhr bei Marcel.

Garrett staunte nicht schlecht, als sich die Maschine bei einem Versuchslauf in Luft auflöste. Insgeheim hatte er schon ein wenig an Marcels Worten gezweifelt. Noch mehr staunte er, als die Karosserie nach genau 15 Minuten wieder auftauchte und die Maus lebendig darinnen saß. Andererseits: Vielleicht hatte sie seelische Schäden davongetragen. Erkennen konnte er das bei einer Musterung des Tierchens allerdings nicht.

Ein weiterer Versuch zeigte das gleiche Ergebnis. Das stimmte Garrett einerseits enthusiastisch, andererseits nachdenklich. Mit der funktionierenden Maschine eröffneten sich ungeahnte Möglichkeiten. Bisher war alles nur ein Gedankenspiel gewesen, doch nun ...

Er schloss sich Lionel an, der in einen Club gehen wollte. Auch mit dem hatte er nahtlos an ihre alte Freundschaft anknüpfen können. Mit Cord war der Umgang schon immer ein wenig schwieriger gewesen. Der Typ lebte in seiner eigenen Welt, wie unter einer Käseglocke.

Zu der Verabredung mit Marcel am nächsten Morgen kreuzte er allein auf. Lionel hatte gesoffen und lag noch im Koma und Cord war in eine Spieleentwicklung vertieft. Marcel wirkte ein bisschen enttäuscht, fing sich aber schnell wieder. Sie begossen den Erfolg mit einem Bier.

Garrett hatte schlecht geschlafen. Träume von Steinzeitmenschen, die ihn an einem Spieß überm Feuer rösteten und von Indianern, die ihn an den Marterpfahl banden, waren schuld daran. Vielleicht sollte er die Finger von der Maschine lassen. Er war mit seinem aktuellen Leben ganz zufrieden, zumal auf Schwule in der Vergangenheit sowieso nur Böses wartete. Lionel hatte sich ähnlich geäußert, allerdings unter Alkoholeinfluss. Das Großmaul würde solche Bedenken nüchtern in den Wind schlagen.

Letztendlich ließ er sich doch von Marcel zu einem Ausflug überreden und es war - obwohl er sich vor Angst fast in die Hose machte - überaus faszinierend. Er kam sich vor, wie in einer dieser Ostalgie-Shows. Wenn er es nicht besser wüsste hätte er angenommen, dass Marcel das Ganze bloß für ihn inszeniert hatte.

Nach ihrer Rückkehr sprudelte er über vor Ideen, wo man noch hinreisen könnte - wohlgemerkt: Marcel und er. Allein traute er sich nämlich nicht in die Vergangenheit. Eine SMS von Lionel beendete seinen - zugegebenermaßen - Monolog. Marcel hörte nämlich lediglich zu, machte „Hm, hm“ oder verdrehte die Augen. Lionel fragte, ob Garrett erneut mit in den Club kam. Am Vorabend hatte er dort einen vielversprechenden Typen gesichtet, daher sagte er zu und brach wenige Minuten später auf.

Vergeblich hielt Garrett Ausschau nach dem Mann, bis er um eins die Flinte ins Korn warf und den Heimweg antrat. Das Erlebnis, nach 1969 gereist zu sein, ließ ihn eh nicht mehr los und überschattete alles andere. Sollte er es wagen und Winnetou einen Besuch abstatten? Diese Gelegenheit ergab sich nie wieder.

Zu Hause angekommen sann er weiter über einen Ausflug nach. Im Grunde konnte ihm doch gar nichts passieren, so lange er in der Nähe der Zeitmaschine blieb. Wenn er den Bordcomputer gleich so programmierte, dass er nur reinspringen und auf Start drücken brauchte, war er, falls Gefahr drohte, in Null-komma-nix wieder weg.

Einmal an diesem Punkt seiner Überlegungen angekommen, spann er den Faden weiter. Wie sollte er sich mit den Indianern verständigen? Wie ihr Vertrauen gewinnen? Für ersteres wusste er keine Lösung, doch für letzteres fiel ihm ein, dass es an der Tankstelle allerlei Spielzeug gab. Er war sicher, neulich dort Packungen mit Plastikschmuck für kleine Prinzessinnen gesehen zu haben. Da er kein bisschen müde war, machte er sich gleich auf den Weg.

Mit reichlich Beute kehrte er nach einer halben Stunde zurück. Die Diademe warf er weg und den Rest in einen Leinenbeutel. Anschließend ging er ins Bett. Das letzte, woran er vorm Einschlafen dachte, war Winnetou.


Im Morgengrauen wachte Garrett wieder auf und blinzelte einen Moment ins Dämmerlicht, dann fiel ihm alles wieder ein: Seine geplante Reise, der Plastikschmuck. Voller Elan stand er auf, setzte die Kaffeemaschine in Betrieb und stellte sich unter die Dusche.

Mit seinem Frühstück setzte er sich vors Notebook, um ein paar Sachen zu recherchieren, wie beispielsweise die Sprache der Indianer, speziell der Sioux. Lakota war ein Dialekt, den viele Stämme verstanden, also prägte er sich ein paar Worte ein.

‚Hau kola‘ bedeutete ‚hallo Freund‘, ‘techihila‘ ich liebe dich und ‚hau‘ ich bin bereit, ich höre. Na ja, weit kam er mit dem Wortschatz wohl nicht. ‚huka‘ - ich fürchte mich nicht, sollte er sich auf jeden Fall merken. Bekanntlich mochten Indianer keine Schwächlinge.

Als besten Ausgangsort für seine Exkursion wählte er die Umgebung von Wounded Knee, weil er dort Sioux zu finden hoffte. Eine Landkarte, wo sich früher welche Stämme aufgehalten haben, existierte ja leider nicht. Er notierte die Koordinaten von Pine Ridge, dem größten Ort und entschied, dass 1570 ein gutes Jahr für seine Ankunft darstellte. Zu dem Zeitpunkt war Amerika schon entdeckt worden, womit die Möglichkeit bestand, dass der eine oder andere Eingeborene Englisch verstand.

Nachdem er den letzten Krümel Toast verspeist hatte, trieb ihn seine innere Unruhe zu Marcel. Das Garagentor war geschlossen, also läutete er an der Haustür. Marcels Mutter öffnete und winkte ihn mit einem Lächeln herein. „Wir sind am Frühstücken. Komm gern dazu.“

Schon damals hatte er Marcel um derart tolerante Eltern beneidet. Mit seinen pflegte er nur noch den allernötigsten Kontakt, was auf ein bis zweimal pro Jahr hinauslief. Da seine Eltern weder Geburtstage noch die üblichen Feste feierten, blieben ihm Zwangsbesuche erspart.

In der Küche saß, neben Marcel und dessen Vater, ein heißer Typ. Vollbart, lange Haare, im Nacken zusammengebunden, ein schmales Gesicht, hübsche Augen. Wer war das denn?

„Morgen zusammen“, grüßte er in die Runde und ließ sich auf dem letzten freien Stuhl nieder. „Gefrühstückt hab ich schon, aber zu einem Kaffee sag ich nicht nein.“

„Hi, ich bin Garrett“, stellte er sich selbst vor, da niemand Anstalten dazu unternahm.

„Das ist Aurelian“, antwortete Marcel an dessen Stelle. „Du warst gestern gerade weg, da tauchte er plötzlich auf.“

Wow! Wuchsen solche Typen aus dem Boden? „Aha. Und woher kennt ihr euch?“

„Das ist eine lange Geschichte. Die erzähle ich dir gleich in der Garage.“ Marcel hielt Aurelians Hand, die in den Brotkorb griff, fest. „Stopp! Du verdirbst dir sonst den Magen.“

„Lass doch den armen Jungen“, schimpfte Marcels Mutter. „Er hat ganz hohle Wangen.“

„Er ist solches Essen aber nicht gewohnt“, widersprach Marcel und wandte sich an Aurelian. „Nicht wahr?“

Was ging denn hier ab? Noch nie hatte Garrett seinen Kumpel in der Rolle des Aufpassers erlebt.

„Marcel hat recht“, lenkte Aurelian ein.

„Wieso? Was isst man denn da zum Frühstück, wo du herkommst?“, hakte Garrett nach.

„Getreidebrei oder Suppe.“

Er zog eine angewiderte Grimasse. „Igitt!“

„In Vietnam isst man morgens auch Suppe“, mischte sich Marcels Vater ein.

Wenig später, sie hatten über Essgewohnheiten der verschiedenen Völker geplaudert, stand Marcel auf. „Dann lasst uns mal in die Garage umziehen. Oder ...“, wandte er sich an die Dame des Hauses. „... sollen wir dir erst beim Abräumen helfen?“

Sie winkte ab. „Geht nur. Ich mach das schon.“

Sobald sie in der Garage angekommen waren, erkundigte sich Garrett neugierig: „Nun erzähl mal, wo du diesen Sexgott aufgetrieben hast.“

„Sex-gott?“, wiederholte Aurelian mit verwirrter Miene.

Wie niedlich. Der Typ schien total unbedarft zu sein.

„Du wirst es mir kaum glauben, aber ich war eine Woche im Mittelalter. Aurelian wollte mit nach 2019 und voilà, da sind wir wieder.“ Marcel setzte sich auf dem Notsitz der Zeitmaschine. „Allerdings hab ich keine Ahnung, wie ich Aurelian hier offiziell anmelden soll.“

Vor Überraschung starrte Garrett den Typen aus der dunklen Zeit mit offenem Mund an. Der runzelte die Stirn noch mehr und hakte nach: „Anmelden?“

„Du brauchst einen Personalausweis, sonst existierst du praktisch nicht“, erklärte Marcel.

„Komische Sitte“, meinte Aurelian leise.

Garrett schloss den Mund, nur um ihn gleich wieder zu öffnen. „Gibt’s da noch mehr von der Sorte?“

„Ehrlich gesagt würde ich an deiner Stelle nicht dorthin reisen. Wäre ich nicht über Aurelian gestolpert, hätte das Ganze übel enden können. Da gibt es noch wilde Tiere im Wald und was die nicht erledigen, tun irgendwelche herumstreunenden Halunken.“

„Das war nur ein Scherz“, wiegelte Garrett ab. „Wenn, dann reise ich zu den Indianern.“

„Das ist ein Urvolk, das in Amerika lebte, bevor die Europäer dort eingefallen sind“, erzählte Marcel, den Blick auf Aurelian gerichtet. „Das geschah ungefähr ... weißt du das noch?“, wandte er sich an Garrett.

„Um 1600. Kolumbus hat den Kontinent zwar schon 1492 entdeckt, aber bis zur Besiedelung dauerte es fast 100 Jahre.“

„Was geschah mit dem Urvolk?“, fragte Aurelian.

„Sie wurden vertrieben und leben heute in kleinen Reservaten“, erwiderte Garrett. „Man hat ihnen alles genommen: Ihren Stolz, ihr Land und ihre Lebensgrundlage.“

„Nun werde mal nicht pathetisch“, spottete Marcel. „Hast du eine Idee, wie ich für Aurelian Papiere beschaffen kann?“

Garrett ließ sich auf einem Farbeimer nieder. „Ich hab keine Kontakte im Rotlichtmilieu, kann dir da also nicht helfen.“

„Na ja, mir wird schon was einfallen. Zumindest darf Aurelian erstmal hierbleiben. Meine Mutter wird ihn unter ihre Fittiche nehmen.“

„Er kann auch bei mir unterkriechen“, bot er mit Hintergedanken an. Vielleicht konnte er Aurelian überzeugen, die bessere Wahl zu sein.

„Kommt nicht infrage!“, lehnte Marcel rigoros ab.

„War ja nur ein Angebot.“

„Ich verstehe vieles nicht“, meldete sich Aurelian zu Wort.

Bevor jemand antworten konnte, tauchte Lionel auf. Beide Hände in den Hosentaschen kam er in die Garage und stellte sich neben Marcel. „Hi Leute. Was geht ab?“

„Marcel hat einen Mittelaltermenschen von seiner Reise mitgebracht. Wir überlegen gerade, wo wir illegal Papiere für ihn herbekommen“, fasste Garrett zusammen.

Lionels Blick huschte zu Aurelian. „Du stammst aus der dunklen Zeit?“

„Bei uns ist es nicht immer dunkel“, entgegnete Aurelian mit erhobenem Kinn. „Nur in der Nacht.“

Lionels Augen weiteten sich erstaunt. „Ich fass es nicht! In den Klamotten siehst du wie jemand von hier aus.“

„Die hab ich ihm geliehen. Er kann ja schlecht in seinem Zeug hier rumlaufen. Die Leute würden denken, dass irgendwo ein Mittelaltermarkt stattfindet.“ Marcel trat zu Aurelian und legte einen Arm um dessen Schultern. „Und damit das klar ist: Aurelian gehört zu mir.“

Als ob es daran irgendeinen Zweifel gäbe. „Ja, ja. Das hab ich schon begriffen“, maulte Garrett.

„Ich jetzt auch.“ Lionel klopfte auf die Karosserie. „Also funktioniert das Schätzchen einwandfrei?“

„Sieht so aus. Sonst wären wir wohl kaum hier“, entgegnete Marcel.

„Ich möchte als nächster reisen“, kündigte Garrett an. „Oder spricht was dagegen?“

„Nö. Von meiner Seite nicht“, meinte Marcel und Lionel schloss sich im an: „Sehe ich genauso. Hauptsache, du parkst das Schätzchen möglichst bald wieder hier.“

„Klasse. Dann geh ich mal und hol ein paar Sachen.“ Als Garrett die Garage verließ, rannte er fast in Cord rein. Mit einem gemurmelten: „Hi. Bis gleich“, setzte er seinen Weg fort.

 

2.

 

In Rekordzeit erreichte er seine Wohnung, holte eine Tasche aus dem Kleiderschrank und warf Wechselklamotten hinein. Im Bad packte er seinen Kulturbeutel, den er, zusammen mit einem Handtuch, zum Rest legte. Zum Schluss kramte er noch allerlei Nützliches hervor, wie Taschenlampe, Streichhölzer, Bindfaden, Aspirin, Kohletabletten und Reisenähzeug. Den Beutel mit dem Plastikschmuck stopfte er als letztes in die Reisetasche und schnappte sich seinen Schlafsack.

Im Laufschritt eilte er zurück zu Marcels Elternhaus. Ein Gedanke ließ ihn abrupt stehenblieben. Sollte er die Nachbarin bitten, seine Blumen zu gießen und den Briefkasten zu leeren? Ach, Quatsch! Er würde ja nur wenige Minuten oder gar nicht weg sein. Als er weitereilte überlegte er, ob man auch eher zurückkehren konnte, als man aufgebrochen war. Das dürfte doch ein Paradoxon darstellen, weil die Zeitmaschine dann doppelt vorhanden wäre. Oder?

In der Garage traf er auf Cord, Lionel und Aurelian. Letzterer hatte einen Helm in der einen Hand und eine Lederjacke unter den anderen Arm geklemmt.

„Seid ihr immer noch sicher, dass ich als nächstes darf?“, erkundigte er sich vorsichtshalber.

„Klar. Du bist ja eh gleich zurück“, erwiderte Lionel mit einer abwertenden Handbewegung.

„Habt ihr mal darüber nachgedacht was passiert, wenn man sich selbst in der Vergangenheit begegnet?“, fragte Garrett weiter.

„Dann macht es Puff! und die Erde explodiert.“ Lionel feixte.

„Die Frage war schon ernst gemeint“, grummelt Garrett, vergaß seine Verstimmung aber gleich wieder und holte den Beutel Perlenketten hervor. „Guckt mal. Damit werde ich die Eingeborenen besänftigen.“

„Wäre Feuerwasser nicht die bessere Alternative?“, spottete Cord.

In diesem Moment betrat Marcel die Garage, ein Paar Stiefel in der Hand.

„Indianer lieben Glitzer. Die wissen ja nicht, dass das Zeug aus Plastik ist.“ Garrett packte den Beutel zurück in seine Tasche. „Damals war ja noch kein Kunststoff erfunden.“

„Ich finde den Schmuck sehr hübsch“, meinte Aurelian.

Lionel gluckste. „Warum wundert mich das nicht?“

Klappe!“, fuhr Marcel dazwischen. „Wer sich über Aurelian lustig macht, hat bei mir verschissen.“

Garrett, der auch hatte grinsen müssen, machte eine ernste Miene. Schließlich wollte er e sich mit Marcel nicht verderben.

„Wir drehen eine Runde. In ungefähr einer Stunde sind wir zurück.“ Marcel schob Aurelian in Richtung Motorrad.

Während die beiden ihre Montur anlegten, verstaute Garrett sein Gepäck in der Maschine und startete den Bordcomputer. Mithilfe seiner Notizen gab er die Koordinaten ein und wählte als Ankunftszeit 15:00 Uhr. Marcels Daten waren noch gespeichert, so dass er diese für seine Rückkehr nur kopieren brauchte.

Unterdessen hatte Marcel das Motorrad aus der Garage geschoben. Nachdem Aurelian aufgestiegen war, hob er grüßend die Hand und fuhr los. Mit einem Mal überfiel Garrett ein mulmiges Gefühl. In seinem Magen begann es zu brodeln. Plötzlich musste er dringend pissen. Typisch! Das passierte stets, wenn er aufgeregt war.

„Bin gleich wieder da“, stieß er hervor und hastete davon.

Auf sein Läuten hin öffnete niemand. Anscheinend waren Marcels Eltern ausgeflogen. Er pinkelte daher hinter der Garage in die Büsche, wie sie es schon damals ab und zu getan hatten, wenn die Not zu groß wurde. In Gedanken entschuldigte er sich bei Marcels Eltern, als er seinen Hosenstall schloss und zu den anderen zurückkehrte.

Als er in die Maschine gestiegen war, beugte sich Lionel zu ihm und küsste seine Schläfe. „Pass auf dich auf, Alter.“

Gerührt lächelte er Lionel zu. „Bis später.“

„Hals und Beinbruch“, wünschte Cord, wofür auch dieser ein Lächeln bekam.

Garrett atmete tief durch, drückte auf den Startknopf und presste sich impulsiv tiefer in den Sitz, als das Vibrieren begann. Die Umgebung verschwamm, dann wurde es mit einem Schlag stockfinster. Er kniff die Augen zu. Es war schwer, diese Schwärze zu ertragen. Fühlte sich so sterben an? War das Gerede über das Licht am Ende des Tunnels nur leeres Geschwätz?

Kurz darauf drang Helligkeit durch seine geschlossenen Lider. Er blinzelte und entdeckte direkt vor seiner Nase einen Baumstamm. Das führte sofort zu der Überlegung, ob man starb, wenn man direkt in einem Baum landete. Er schüttelte diesen Gedanken ab, stieg aus und drehte eine Runde um die Maschine, wobei er sich nach allen Seiten umguckte. Es handelte sich offenbar um ein kleines Wäldchen, denn rundherum war es gleißend hell.

Garrett beschloss, eine kurze Erkundungstour zu unternehmen, bevor er mit seinem ganzen Gepäck loszog. Er holte den Perlenbeutel sowie die Tarndecke hervor, welche er über die Maschine breitete. Einer Eingebung folgend setzte er sich nach rechts in Bewegung.

Nach einem Weilchen vernahm er Kinderstimmen. Einige Schritte weiter sah er die kleinen Racker. Drei Zwerge rannten umher und spielten vermutlich Fangen. Zwei Mädchen, den Zöpfen zufolge, und ein Junge. An der Kleidung konnte er das nicht erkennen. Alle drei trugen lange Hosen und Oberteile im gleichen Stil.

Um auf sich aufmerksam zu machen, rief er: „Hau kola!“

Sofort standen die Kinder still und starrten in seine Richtung. Als er sich ihnen näherte, drängten sie sich zusammen und sahen ihm entgegen. Ihre Gesichter trugen Schmutzspuren. Geschätzt waren sie etwa sechs oder sieben Jahre alt, plus-minus zwei.

„Hau kola“, wiederholte Garrett, ging in die Hocke und zeigte den Inhalt seines Beutels.

Die Augen der Mädchen leuchteten auf. Zögernd kamen die beiden heran, gefolgt von dem Jungen. Als er eine der Ketten aus dem Stoffbeutel nahm und ihnen hinhielt, grabschte das größere Mädel danach. Er konnte gar nicht so schnell eine weitere Perlenkette hervorholen, wie sich ihm eine zweite Hand hinstreckte. Der Junge schnaubte verächtlich und nuschelte etwas, das sich wie ‚silly girls‘ anhörte.

Bestimmt hatte er sich geirrt. Wenn, dann sprachen höchsten ein paar Erwachsene bereits Englisch. Wortlos bot er den Mädchen weiteren Schmuck an, den sie sich schnappten, herumwirbelten und davon wetzten. Vermutlich weil sie Angst hatten, dass er ihnen das Zeug wieder abnahm. Der Junge maß ihn mit einem verächtlichen Blick, bevor er den Mädels hinterher rannte.

Die erste Kontaktaufnahme war doch ganz gut verlaufen. Garrett folgte den Kindern. Sobald er den Wald verlassen hatte wurde ihm klar, dass irgendetwas nicht stimmte. In einiger Entfernung parkte ein Pick-up neben einem niedrigen Gebäude. Weitere Hausdächer sah er hinter Büschen. Das hier war niemals 1470, außer die Geschichtsbücher stimmten hinten und vorne nicht.

Langsam ging er den Sandweg, der in einer asphaltierten Straße mündete, weiter geradeaus. Links und rechts davon standen Häuser, zumeist aus Holz und von großen Grundstücken umgeben. In einem dieser Gärten entdeckte er die Kinder, die vor der Veranda hockten und ihre Schätze begutachteten. Die Fahrzeuge, die vor den Gebäuden parkten, erinnerten ihn an den Ausflug mit Marcel ins Jahr 1969. Hatte er sich etwa in der Jahreszahl vertan und aus Versehen ...? Nein, niemals!

Gerade hatte er entschieden, umzudrehen und nachzugucken, als bunte Zelte in sein Sichtfeld gerieten. Von Neugier getrieben marschierte er darauf zu. Es handelte sich um eine Ansammlung von ungefähr zehn Tipis, die Halbkreisförmig aufgestellt waren. In der Mitte befand sich ein Lagerfeuer, an dem einige Männer saßen. Der dunklen Hautfarbe und vereinzeltem Federschmuck nach, waren es Indianer oder Leute, die sich als solche verkleidet hatten.

Einer der Typen fixierte ihn, woraufhin sich die anderen, die ihm den Rücken zuwandten, umdrehten. Plötzlich sah er sich zehn Paar Augen ausgesetzt.

„Das Powwow war gestern“, ergriff einer der Männer auf Englisch das Wort. „Du kommst zu spät.“

„Ähm ... welches Jahr haben wir?“, brachte er stockend hervor.

Augenbrauen wanderten hoch. Einer der Typen gluckste. „Willst du damit sagen, du hast dich nicht nur im Tag, sondern auch im Jahr geirrt?“, erkundigte sich ein anderer.

„Ich fürchte, ich hab mein Gedächtnis verloren“, improvisierte Garrett.

Ein Mann mit langen schwarzen Haaren, geschmückt mit einer einzelnen, wunderschönen Feder, erhob sich und baute sich vor ihm auf. „Soll ich dich zum Sheriff bringen?“

„Nein! Nein danke. Ich ... ich komm schon klar“, erwiderte er, wobei er langsam zurückwich. Mit dem Gesetzeshüter in Konflikt zu geraten, hatte ihm noch gefehlt. Am besten schwang er sich in die Maschine und düste wieder nach Hause.

Unversehens trat er gegen ein Hindernis, ruderte mit den Armen und fiel rücklings ins Gras. Sein Hinterkopf prallte gegen etwas Hartes und das Licht ging aus.


Als sich die Schwärze wieder lichtete, war Garretts Blick verschwommen. Es dauerte einige Momente, bis er klarer sehen konnte. Er lag auf einem Bett in einem kleinen Zimmer. Weiße Holzwände, an denen zwei Aquarelle hingen. Von irgendwoher drang Kinderlachen an sein Ohr.

Behutsam richtete er sich auf und schaute sich genauer um. Durch das Fenster links vom Bett sah er Gras und Büsche. Die Einrichtung bestand aus einem Kleiderschrank, Stuhl, Tisch mit Spiegel und einem Nachtschränkchen. Auf dem Holzfußboden lag ein bunter Teppich, auf dem seine Schuhe neben der Stofftasche und einem Eimer standen. Offenbar hatte ihn jemand in ein Hotel oder privates Gästezimmer gebracht. Die Zelle des Sherriffs war bestimmt anders eingerichtet.

Um zu prüfen, ob sein Sturz etwas beschädigt hatte, rief er sich seinen Namen sowie einige andere Eckdaten ins Gedächtnis. Es wäre ja auch der reine Hohn gewesen, wenn sich seine Lüge durch den Unfall in Realität verwandelt hätte.

Seufzend ließ er sich wieder aufs Kissen sinken. Sein Kopf tat weh, wenn er sich anstrengte. Vermutlich eine leichte Gehirnerschütterung.

Plötzlich wurde die Zimmertür einen Spalt geöffnet. Zwei Mädchen spähten in den Raum. Als sie sahen, dass er wach war, kamen sie herein und stellten sich links und rechts vom Bett auf.

„Hi. Ich bin Kanti und das ...“ Das etwas größere Mädel wies auf ihr Gegenüber. „... ist Isi.“

„Hallo. Ich bin ...“ Im letzten Moment erinnerte er sich an seine Rolle. „Ich hab meinen Namen vergessen, aber Gary kommt mir richtig vor, also nennt mich so.“

„Du?“ Isi tickte ihm gegen den Arm. „In deiner Tasche ist ganz viel Schmuck. Dürfen wir den haben?“

Ach, daher wehte der Wind: Die lieben Kleinen hatten in seinen Sachen geschnüffelt. „Den schenke ich euch, wenn ihr mir dafür was zu trinken bringt.“

Wie zwei Wirbelwinde stürmten die beiden aus dem Raum. Bei ihrer Rückkehr hatten sie den langhaarigen Mann vom Lagerfeuer im Schlepptau.

„Ich muss mich für meine unartigen Töchter entschuldigen.“ Der Typ bedachte die beiden mit einem strengen Blick. Sie zogen die Köpfe zwar ein, wirkten aber nicht sonderlich schuldbewusst. „Wie geht’s dir?“

„Mein Schädel brummt. Ansonsten ganz gut.“ Er nahm das Glas an, das eines der Mädchen – Kanit - ihm mit beiden Händen überreichte und trank einen großen Schluck.

„Er hat seinen Namen vergessen“, piepste Isi.

„Wir sollen ihn Gary nennen“, fügte Kanti hinzu.

Der Mann strich ihr übers Haar. „Lass mich mal ein bisschen mit Gary allein.“

„Dürfen wir …?“ Mit riesengroßen, bettelnden Augen sah Kanti zwischen ihm und dem Stoffbeutel hin und her.

„Das hab ich euch doch versprochen. Nehmt den Beutel ruhig mit.“

Kanti schnappte sich die Tasche und hastete davon, dichtauf gefolgt von ihrer Schwester. Schmunzelnd sah Garrett den beiden Süßen hinterher. Er mochte Kinder, sonst wäre er wohl kaum Lehrer geworden …. Ähm, dabei, einer zu werden.

Der Vater nahm auf der Bettkante Platz. „Ich bin Wamblee.“

„Angenehm. Ich würde mich ja gern vorstellen, aber …“ Garrett lächelte verlegen. Zum Glück war seine Börse in der Reisetasche, sonst wäre er bereits aufgeflogen. Garantiert hatte Wamblee ihn gefilzt.

„Ich war so frei, in deinen Taschen nach Papieren zu suchen“, bestätigte Wamblee seine Vermutung. „Dein Akzent ist merkwürdig. Vielleicht texanisch?“

Eher australisch. „Keine Ahnung. Ich bin in der Nähe eures Lagerplatzes aufgewacht. Alles davor ist weg.“

„Also weißt du wirklich nicht, welches Datum wir haben?“

Garrett schüttelte den Kopf, ein Fehler. Prompt schoss Schmerz von seinem Nacken unter die Schädeldecke. Gequält schloss er einen Moment die Augen.

„Du solltest ruckartige Bewegungen erst mal vermeiden. Wahrscheinlich hast du eine leichte Gehirnerschütterung.“ Wamblee hob den Eimer vom Boden und stellte ihn auf den Nachtschrank. „Falls dir schlecht wird.“

Garrett besann sich auf seine Manieren. „Vielen Dank für deine Gastfreundschaft.“

„Man kann uns vieles nachsagen, aber nicht, dass wir hilfesuchende Menschen abweisen“, erwiderte Wamblee. „Wir haben den 22. April 1970.“

Also hatte er richtig vermutet. War das sein Tippfehler? Unwahrscheinlich. Die neun und die vier lagen auf der Tastatur zu weit auseinander, um sie zu verwechseln. „Bist du … seid ihr Sioux?“

Wamblee nickte. „Ich bin ein Nachkomme der Oglala Sioux, ein Enkel Red Clouds.“

Sollte ihm das etwas sagen? „Also bist du der Häuptling der Oglala Sioux?“, riet Garrett.

Erneutes Nicken.

„Leben nur Angehörige deines Stammes hier?“

„Nein. Pine Ridges Bevölkerung setzt sich aus vielen Stämmen zusammen. Wir Oglala sind sogar eine Minderheit.“

Wieder setzte Garrett das Glas an seine Lippen und leerte es in zwei Zügen. Allmählich merkte er, dass er seit dem Frühstück nichts gegessen hatte. Wie aufs Kommando knurrte sein Magen.

„Ah! Du hast Hunger. Ein gutes Zeichen“, stellte Wamblee fest. „Ich hol dir etwas zu essen.“

Sein Gastgeber verließ den Raum. Wenig später kam eine Frau herein, die Reinkarnation von Winnetous Schwester Nscho-Tschi. Sie schenkte ihm ein herzliches Lächeln.

„Ich bin Chumani“, teilte sie ihm mit und half, ihn in eine sitzende Position zu bringen. Unterdessen balancierte Kanti ein Tablett in den Raum, das Chumani ihr abnahm und auf seinen Schoß stellte. „Wenn du noch mehr möchtest, ruf nach mir.“

Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit handelte es sich um Wamblees Gattin. Ein Glück, dass er gegen weibliche Reize immun war, sonst wäre er der schwarzhaarigen Schönheit sofort verfallen.

Impressum

Texte: Sissi Kaiserlos
Bildmaterialien: shutterstock, depositphotos
Cover: Sissi Kaiserlos
Lektorat: Aschure, dankeschön!
Tag der Veröffentlichung: 16.12.2019

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