Cover

Männerherzen auf Reisen

Eine Anthologie der Homo Schmuddel Nudeln


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Sämtliche Personen, Orte und Begebenheiten sind frei erfunden, Ähnlichkeiten rein zufällig. Der Inhalt dieses Buches sagt nichts über die sexuelle Orientierung des Covermodels aus. Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck oder eine andere Verwertung, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung der Autoren. E-Books sind nicht übertragbar und dürfen nicht weiterveräußert werden. Bitte respektieren Sie die Arbeit der Autoren und erwerben eine legale Kopie. Danke!


Fotos von shutterstock, depositphotos, Coverdesign: Lars Rogmann

Korrekturen: Aschure, Bernd Frielingsdorf, Sissi Kaiserlos

Rechte an den Texten: Die Autoren

Kontakt für die Nudeln: sissi-kaiserlos@gmx.de


Frühling in Paris - Sissi Kaipurgay

Paris 1950: Charles erinnert sich oft an seinen Liebhaber, der damals, als die Alliierten anrückten, mit dem deutschen Heer abziehen musste. Noch sind die Nachwirkungen des Krieges überall spürbar, auch wenn der Pariser Frühling vieles überdeckt.

~ * ~

Charles saß in seinem Lieblings-Café mit Blick auf den Eiffelturm. Wie jeden Morgen trank er Café au lait, dazu rauchte er eine Gauloises und studierte die Tageszeitung. Er arbeitete bei der Konkurrenz, weshalb er jeden Artikel kritisch betrachtete. Besonders interessierten ihn die Meldungen aus Deutschland. Dort ging der Aufbau mit raschen Schritten voran, trotz der Bemühungen der Alliierten, die Wirtschaft zu demontieren.

Er faltete das Blatt zusammen, legte es auf den Tisch und winkte den Kellner herbei. Nachdem er gezahlt hatte, schlenderte er die Straße entlang, wobei er eine weitere Zigarette qualmte.

Obwohl sechs Jahre vergangen waren, erinnerten ihn Gauloises immer noch an Karl. Stets hatten sie sich danach eine geteilt, in dem schmalen Bett, in einem winzigen Hotel in der Rue Chapon - das existierte inzwischen nicht mehr. Heimliche gestohlene Stunden. Eine kleine Blase Glück, inmitten dem harten Alltag in der annektierten Stadt.

Karl gehörte zu den Besetzern und musste 1944, als die Alliierten anrückten, fliehen. Seitdem hatte Charles nie wieder etwas von ihm gehört. Obwohl der Verdacht nahelag, dass Karl nicht mehr lebte, konnte er die Liebe seines Lebens nicht vergessen. Das war Karl für ihn gewesen, vom ersten Blick an, als sie sich im Frühjahr 1942 in der Nähe des Eiffelturms begegneten.

Verärgert über den romantischen Gedankenausflug trat Charles seine Kippe aus und ging schneller. Was nützte es jemandem hinterher zu trauern, der ihm nie die gleichen Gefühle entgegengebracht hatte? Für Karl war er nur ein Blitzableiter gewesen. Ein erbärmlicher Franzose, der für ein paar Extra-Lebensmittel und Zigaretten seinen Arsch hinhielt.

Einige Minuten später betrat er die Redaktion der Zeitung, für die er arbeitete. Geschäftiges Treiben sorgte dafür, dass Karls Geist erstmal wieder in der Versenkung verschwand.


Als hätte er es mit den Erinnerungen heraufbeschworen, fand er abends einen Brief mit deutschem Absender in seinem Postkasten. Allerdings stammte das Schreiben nicht von Karl, sondern von einer Gertrud Milz. Charles starrte den Umschlag an, unschlüssig, ob er sich freuen oder Angst haben sollte. Enthielt er die Nachricht über Karls Tod?

„Bonsoir“, grüßte ihn die Nachbarin aus dem 3. Stock und stellte sich neben ihn vor die Briefkästen, um ihren zu leeren.

„Bonsoir, ça va?“

„Ça va bien.“

Er nickte ihr zu und erklomm die Treppe in den 1. Stock. Wie immer führte sein erster Weg ins Schlafzimmer, um sein Oberhemd gegen einen leichten Pulli auszutauschen. Charles besaß nur vier Hemden, die er entsprechend schonte. Als nächstes setzte er Teewasser auf und öffnete die Balkontür, vor der sich lediglich ein halbhohes Gitter befand. Man sah auf die gegenüberliegende Hausfront und - wenn man sich rauslehnte - ein Stück Himmel.

Sein Abendessen bestand aus einer Scheibe Brot mit Butter und Käse. Er könnte sich zwar leisten, in einem der vielen Lokale zu essen, sparte aber eisern. Worauf genau, das wusste er nicht. Diese Lebensweise war ihm in all den Jahren, in denen es kaum etwas gab, in Fleisch und Blut übergegangen. Seine Mutter - Gott hab sie selig - hatte auch jeden Centime umgedreht.

Erst zwei Stunden später traute er sich, den Umschlag zu öffnen. Darin steckte ein Briefbogen mit zierlicher Handschrift. Charles setzte sich in seinen Lieblingssessel und begann zu lesen.

Lieber Charles Bourgogne, Sie fragen sich bestimmt, warum ich Ihnen schreibe. Zur Erklärung: Ich bin die Schwester von Karl Schröder. Mein Bruder weiß nichts von diesem Brief und darf es auch nie erfahren, weil er mich sonst umbringen würde. Ich habe lange überlegt, ob ich es trotzdem wagen soll, aber Karls Zustand hat mich schließlich dazu bewogen.

Charles ließ den Bogen sinken. Was bedeutete das? War Karl unheilbar krank? Er stand auf, schenkte sich einen Fingerbreit Flüssigkeit aus seiner streng gehüteten Cognac-Flasche ein und nahm wieder Platz. Bevor er weiterlas, leerte er das Glas in wenigen kleinen Schlucken.

Auf dem Rückzug von Paris hat Karl einen Unterschenkel verloren. Glück im Unglück: Dadurch ist er nicht in Gefangenschaft geraten. Der Stumpf verheilte gut und inzwischen trägt er eine Prothese. Was mir jedoch Sorge bereitet, ist sein psychischer Zustand. Er verbittert von Tag zu Tag mehr und behauptet, er wäre nur noch ein halber Mann. Hilfe lehnt er ab und bewegt sich kaum noch aus seinem Zimmer.

Vor einiger Zeit hat er mir, als er einen über den Durst getrunken hatte, von Ihnen erzählt. Er schilderte ihre Freundschaft in leuchtenden Farben und hat das erste Mal seit Ewigkeiten gelacht. Ich habe eine kurze Abwesenheit meines Bruders genutzt, um in seinen Sachen nach Anhaltspunkten für Ihren Verbleib zu suchen und ein Foto mit Ihrer Anschrift gefunden.

Sie ahnen, dass ich jetzt mit einer Bitte an Sie herantrete und werden recht behalten. Ich bitte Sie inständig, sofern es Ihnen möglich ist, meinen Bruder zu besuchen, damit er wieder Lebensmut fasst. So manches Mal habe ich den Eindruck, dass er kurz davor steht, sich vor einen Zug zu werfen. Bitte, helfen Sie mir. Sollten Sie Geld für die Reise benötigen, geben Sie mir bitte Bescheid. Ich kann Ihnen welches schicken.

Ihre ergebene

Gertrud Milz, geborene Schröder

Karl hatte ihn nicht vergessen! Lächelnd lehnte sich Charles zurück und erlaubte seinem Gedächtnis, ein paar Bilder abzuspulen. Karl, die Haare von ihrem Liebesspiel zerstrubbelt, ein keckes Grinsen auf den Lippen. Karl mit Bartschatten, wie er sich auf ihm verausgabte. Hinterher der Blick in den Spiegel. Wunde Lippen, rotes Kinn, aber ein glückliches Lächeln im Gesicht und leuchtende Augen.

Er gönnte sich einen weiteren Cognac und las den Brief noch zweimal, ehe er sich ins Bett begab. Sein Entschluss stand fest: Er würde nach Hamburg reisen, um Karl zu besuchen und das so bald wie möglich.


Hamburg im Juli 1950

Es hatte etwas länger gedauert, bis er zwei Wochen freibekommen konnte. Als der Schaffner verkündete, dass sie in Kürze den Hamburger Hauptbahnhof erreichen würden, hielt ihn nichts mehr auf seinem Platz. Er trug seinen Koffer aus dem Abteil und bewegte sich in Richtung Ausgang. Karls Schwester wollte ihn abholen. Sie hatte ihm ein Foto geschickt, damit sie einander nicht verpassen konnten.

Wenig später hielt der Zug. Er hätte Gertrud vermutlich auch ohne das Bild erkannt. Sie sah aus wie die weibliche Version von Karl: Blonde Haare, blaue Augen, feingeschnittene Gesichtszüge und ein hübscher, proportional etwas zu breit geratener Mund.

„Sie müssen Charles Bourgogne sein“, begrüßte sie ihn, als er vor ihr stehenblieb.

„Das bin ich. Können wir bitte auf die Förmlichkeiten verzichten?“

„Gern.“ Sie reichte ihm die Hand und drückte kräftig zu. „Ich bin Gertrud.“

„Freut mich. Es tut mir leid, dass es erst jetzt geklappt hat.“

Gertrud winkte ab. „Ich bin froh, dass Sie … Entschuldigung, dass du überhaupt gekommen bist.“

Sie hakte sich bei ihm ein und führte ihn aus dem Gebäude zu einer Straßenbahnhaltestelle. Erst als sie in der Bahn saßen, ergriff sie erneut das Wort: „Karl weiß noch nichts von deinem Besuch. Ich wollte ihm keine Hoffnungen machen.“

„Aber dein Gatte weiß Bescheid?“

„Natürlich. Ich darf dich in seinem Namen willkommen heißen. Momentan ist er auf Geschäftsreise.“ Sie seufzte. „Wie eigentlich ständig.“

„Ich kann dir gar nicht sagen, wie dankbar ich bin, dass du mir geschrieben hast.“

Gertrud lächelte ihm zu. „Im Nachhinein kann ich nicht verstehen, so lange gezögert zu haben. Darf ich fragen, woher deine guten Deutschkenntnisse stammen?“

„Selbstverständlich. Meine Großmutter stammt aus Hannover. Sie hat mich streng unterrichtet.“

„Mit Erfolg.“ Gertrud schaute aus dem Fenster. „Wir müssen gleich aussteigen.“

Es machte Charles betroffen, wie viele Häuser noch in Schutt und Asche lagen. Was in fünf Jahren zerstört worden war, konnte man offenbar in der gleichen Zeit nicht wiederaufbauen. Verdammter Krieg! Paris hatte glücklicherweise wenig abbekommen. Er mochte sich gar nicht ausdenken, wie seine Heimatstadt ausgesehen hätte, wäre Hitlers Befehl, sie dem Erdboden gleichzumachen, befolgt worden. Möge der Mistkerl für immer im Feuer der Verdammnis schmoren!

Er folgte Gertrud aus der Bahn. Wieder hakte sie sich bei ihm unter, als sie die Fahrbahn überquerten und in eine Seitenstraße einbogen. Hochherrschaftliche Häuser mit schmucken Fassaden. Vor einem dieser Gebäude hielt Gertrud, wühlte in ihrer Handtasche und zog einen klimpernden Schlüsselbund hervor.

Während sie aufschloss, erklärte sie: „Dieses Haus gehört seit Generationen Erwins Familie. Die oberen Einheiten sind vermietet. Im Erdgeschoss befindet sich Erwins Firma und unsere Wohnung.“

Ihre hohen Absätze klapperten über die Bodenfliesen des Treppenhauses. Staunend musterte Charles die stuckverzierte Decke und die bis auf Augenhöhe mit wunderschönen Fliesen bedeckten Wände. Wieder benutzte Gertrud die Schlüssel an einer Tür im hinteren Bereich und bat ihn mit einer einladenden Handbewegung einzutreten.

Ein breiter Flur erstreckte sich vor Charles. Bislang war es ihm wie ein Traum vorgekommen, dass er Karl wiedersehen würde. Nun, wo der Moment unmittelbar bevorstand, erfasste ihn kribbelnde Erwartung.

„Ich zeige dir dein Zimmer.“ Gertrud ging an ihm vorbei und legte ihren Mantel an der Garderobe ab. „Danach bereite ich Karl auf die Überraschung vor.“

Kurz darauf befand er sich allein in einem Zimmer, das mit Bett, Schrank, Stuhl und Tisch ausgestattet war. Durch das hohe Fenster drang kaum Licht herein, weil große Bäume die Sonne abschirmten. Er legte seinen Koffer auf den Tisch und schaute sich genauer um. Eine schmale Tür führte in eine winzige Kammer mit Toilette und Waschbecken. Ganz schön luxuriös. Der Kleiderschrank beherbergte eine Batterie Bügel und ein paar Duftkissen.

Nachdem er ausgepackt und sich ein bisschen frisch gemacht hatte, stellte er sich vors Fenster und sah hinaus. Ein Mann in grauem Anzug eilte vorbei. Gegenüber schob eine Frau einen Kinderwagen, an der Hand einen kleinen Jungen. Die Passanten wirkten gehetzt und traurig, ganz anders als in Paris. Ihnen fehlte die Leichtigkeit, die seiner Heimat innewohnte. Kein Wunder, dass Karl in dieser Umgebung schwermütig wurde.

Ein Klopfen an der Tür veranlasste ihn sich umzudrehen. Bevor er etwas erwidern konnte, sprang sie auf. Karl, mit Krücken unter den Armen, erschien im Türrahmen und starrte ihn mit großen Augen an.

„Charlie!“, stieß Karl hervor. „Du bist es wirklich.“

Gertrud, die hinter ihm stand, schenkte Charles ein Lächeln und verschwand aus seinem Blickfeld. Karls linkes Hosenbein hing ab Knie leer herab. Darauf achtete Charles jedoch kaum, sondern nur auf das Gesicht, von dem er gedacht hatte, es nie wiederzusehen.

Karl trat in den Raum und schob die Tür mit dem Ellbogen ins Schloss. „Ich wollte Gerti erst erschlagen, aber nun, wo ich dich sehe … Geht’s dir gut?“

„Ich kann nicht klagen.“ Abgesehen davon, dass sein Herz drohte, ihm aus dem Brustkorb zu springen.

„Entschuldige, dass ich dich auf Krücken begrüße.“ Mit einem unglücklichen Lächeln guckte Karl kurz an sich herab. „Ich wollte gerade mein Holzbein anlegen, als Gerti mit der frohen Kunde kam.“

„Setz dich“, erinnerte sich Charles an seine Höflichkeit, rückte den Stuhl zurecht und nahm - in Ermangelung weiterer Sitzgelegenheiten - auf der Bettkante Platz.

Es sah ziemlich geschickt aus, wie Karl mit den Krücken hantierte. Das ließ vermuten, dass die Prothese nicht oft zum Einsatz kam oder häufig verschmäht wurde.

„Wie ist das mit deinem Bein passiert?“, fragte Charles.

„Ein Granatsplitter.“ Karl setzte sich auf den Stuhl und legte die Krücken auf den Boden. „Nur eine Fleischwunde, aber sie hat sich, bevor ich ins Lazarett kam, entzündet. Ich kann froh sein, dass es nur den Unterschenkel getroffen hat. Die Schlachter wollten mir nämlich gleich das ganze Bein abhacken, aber dagegen hab ich mich gewehrt.“

Schweigen entstand. Es gab so vieles, das Charles fragen oder sagen wollte, doch nichts davon kam über seine Lippen. Obwohl Karl noch fast genauso aussah wie damals, wirkte er fremd. Ein harter Zug lag um den Mund, der sonst so gern gelacht hatte und die einst leuchtenden Augen blickten stumpf.

„Erzähl doch mal. Wie ist es dir ergangen?“, bat Karl schließlich.

„Soweit ganz gut. In der Anfangszeit hab ich mich mit Schwarzmarktgeschäften über Wasser gehalten. Inzwischen arbeite ich in der Redaktion einer Tageszeitung.“

„Dann hat sich dein Traum ja erfüllt“, stellte Karl fest.

Charles hatte oft darüber gesprochen, dass er Journalist werden wollte. Während des Krieges war ein Studium nur unter erschwerten Bedingungen möglich, zum Ende hin gar nicht mehr; ganz zu schweigen von Praktika, die nur NS-treuen Franzosen möglich waren. Er zählte zwar weder zu den Aufständischen noch zu einer Zielgruppe des Holocaust, besaß aber in den Augen der Verantwortlichen nicht genug deutsches Nationalbewusstsein. Dafür, ihn als Dolmetscher zu benutzen, hatte es dennoch gereicht. Auf diesem Weg hatte er auch Karl kennengelernt.

„Na ja. Ich bin nur ein kleiner Redakteur“, gab er sich bescheiden. „Und was machst du so?“

Karl senkte den Blick. „Nichts. Ich tauge nicht mal für die einfachsten Tätigkeiten. Erwin hat mir Arbeit hinterm Schreibtisch verschafft, aber ich kann einfach nicht stillsitzen.“

Es musste für den agilen Mann die schlimmste Strafe darstellen, zur körperlichen Untätigkeit verdammt zu sein. Charles erinnerte sich, dass Karl stets zu Impulsivität geneigt hatte. Einmal war er sogar in die Seine gesprungen, weil er unbedingt schwimmen wollte. Wohlgemerkt: In Uniform. Zum Glück hatte sich Karl dabei keine Krankheit eingefangen. Es wurde nämlich davor gewarnt, in der Seine zu baden.

„Lass dir Zeit. Vielleicht gewöhnst du dich …“ „Nein!“, fuhr Karl ihm dazwischen. „Ich werde mich nie daran gewöhnen, ein Krüppel zu sein.“

In der folgenden angespannten Stille ertönte ein Klopfen. Gertrud schaute herein und bat sie, zum Abendessen zu kommen.

Am Tisch bestritt sie fast allein die Unterhaltung. Karl antwortete einsilbig und Charles traute sich kaum ein Wort zu sagen, um keinen neuen Ansturm von Unmut hervorzurufen. Noch vorm Dessert entschuldigte sich Karl mit Kopfschmerzen. Gertrud wünschte ihrem Bruder eine Gute Nacht, aber Charles war zu konsterniert, um dem Beispiel zu folgen. Er dachte ernsthaft darüber nach, am nächsten Tag abzureisen.

Anscheinend sah Gertrud ihm das an. „Nimm dir seine raubeinige Art nicht so zu Herzen. Er muss erstmal ein bisschen auftauen.“

„Ich habe eher den Eindruck, dass er professionelle Hilfe bräuchte.“

Sie seufzte. „Das sehe ich genauso, aber er will nicht.“

Schweigend löffelten sie den Pudding, der, genau wie das ganze Mahl, vorzüglich schmeckte. „Die Frage kommt ein bisschen spät, aber hast du das selbst gezaubert?“

„Iwo! Das war Ilona, unsere Köchin. Erwin möchte nicht, dass ich am Herd stehe.“

„Ein feiner Zug von deinem Gatten“, fand Charles.

„Mir wäre es lieber selbst zu kochen und dafür mehr von Erwin zu haben.“ Sie stieß abermals einen Seufzer aus. „Das Leben ist aber leider kein Wunschkonzert.“

„Worin besteht sein Geschäft eigentlich?“

„Irgendwas mit Krediten. So genau kenne ich mich damit nicht aus.“

Vielleicht waren die Geschäfte etwas halbseiden. Insofern tat Erwin gut daran, Gertrud im Ungewissen zu lassen. Charles tupfte sich den Mund mit seiner Serviette ab, leerte sein Glas - übrigens ein vortrefflicher Weißwein - und erhob sich. „Ich würde mich auch gern zurückziehen.“

„Bitte, gib Karl eine Chance. Morgen ist seine Laune bestimmt besser.“ Flehend sah sie zu ihm auf.

„Dein Wort in Gottes Ohr. Ich wünsche dir eine Gute Nacht.“ Mit diesen Worten verließ er den Raum.



Karl

Karl war hin und her gerissen. Einerseits freute er sich unbändig über Charles unerwarteten Besuch, andererseits schämte er sich zutiefst; nicht nur wegen seinem fehlenden Unterschenkel, sondern auch, weil er untätig herumsaß. Wenn er doch wenigstens irgendwo helfen könnte, wo zwei geschickte Hände gebraucht wurden.

Nachdem ihm das Holzbein - wie er seine Prothese verächtlich nannte - angepasst worden war, hatte er seine Arbeitskraft an allen möglichen Stellen angeboten und überall bedauernde Absagen bekommen. Angeblich wurde jede Hand benötigt, doch offenbar nicht solche, die an einem Krüppel hing. Zugegeben: Für die Arbeit im Hafen, wo er vorm Krieg tätig war, taugte er nicht mehr. Mit schwerer Last auf der Schulter Leitern rauf und runter klettern, das funktionierte mit dem Holzbein nicht. Fürs Maurerhandwerk galt das Gleiche und da er nichts gelernt hatte, kamen viele Berufssparten eh nicht infrage.

Inzwischen mied er das Arbeitsamt, auf dem man ihn stets vertröstete, dass bessere Jahre kommen würden. Er wäre ja nicht der einzige mit einer Behinderung. Ohne die Fürsorge seine Schwester hätte er sich schon lange vor einen Zug geworfen.

Er legte das Buch, das er sowieso nur zur Tarnung aufgeschlagen hatte, falls seine Schwester noch reinschaute, beiseite. Es war inzwischen halb zehn. Um diese Zeit ging sie meist schlafen.

Lag Charles auch schon im Bett? Dieser Gedanke rief Erinnerungen wach, an ihre gemeinsame Zeit in Paris. Im Rückblick wusste er nicht mehr, wie es genau passiert war. Sie hatten sich angesehen und kurz darauf zusammen die Laken zerwühlt. War die Initiative von Charles oder ihm ausgegangen? Wahrscheinlich von ihm, weil er das Hotel ausgesucht hatte. Eine üble Absteige, in der so mancher deutsche Soldat seinen Gelüsten nachging.

Wenn Gertrud wüsste, dass ihr Bruder ein Homosexueller war … vermutlich würde sie ihn trotzdem beherbergen. Seine Schwester war einfach zu gut für diese Welt. Sein Schwager verhielt sich ihm gegenüber nur ihr zuliebe ruhig. Erwin ließ es zwar mit keinem Wort verlauten, aber in seinen Augen war Karl Abschaum.

Seufzend reckte er seine Arme über den Kopf, schnappte sich seine Krücken und humpelte zum Fenster. Es war noch hell, doch in der Wohnung herrschte ständig Zwielicht. Das trug zu seinem depressiven Zustand bei. Er sollte Gertruds Rat folgen und öfter mal rausgehen. Vielleicht konnte er Charles überreden, mit ihm an die Elbe zu fahren. Ohne Begleitung fühlte er sich unwohl und Gertrud hatte nicht genug Zeit, um sich ständig um ihn zu kümmern. Neben dem Haushalt beaufsichtigte sie auch noch Erwins Angestellte.

Plötzlich erfasste ihn Unruhe. Hatte er Charles mit seinem Verhalten vergrault? Er wäre zu Tode betrübt, wenn sein ehemaliger Liebhaber morgen abreisen würde. Kurzentschlossen schnallte er sich seine Prothese an und wanderte ein paar Schritte auf und ab, um sich an das Ding zu gewöhnen. Eigentlich passte es ganz gut. Allerdings merkte er nach einer Weile Tragezeit erheblichen Druck auf den Stumpf. Aus diesem Grund trug er sie stets nur etwa vier Stunden am Stück, weil er Angst hatte, dass sich sein Bein entzündete.

Nachdem er auf den Flur gespäht hatte, ob die Luft rein war, schlich er zum Gästezimmer. Er klopfte und schlüpfte in den Raum. Charles, der am Fenster saß, sah ihm überrascht entgegen. „Na sowas! Was verschafft mir die Ehre deines Besuchs?“

„Entschuldige, dass ich vorhin so garstig zu dir war.“

Charles lächelte schief. „Das kann ich dir nicht verdenken. Ich platze einfach hier rein und versuche, dir dumme Ratschläge zu geben.“

Das war so typisch für Charles, ihm den Wind aus den Segeln zu nehmen. „Also bist du mir nicht böse?“

„Ehrlich gesagt hab ich überlegt, ob ich morgen wieder wegfahre.“

„Bitte nicht!“ Karl bewegte sich weiter in den Raum, bis ihn nur noch ein Schritt von Charles trennte. „Bitte, bleib noch. Ich verspreche auch, mich besser zu benehmen.“

„Na, wenn das so ist.“ Charles stand auf. „Möchtest du sitzen oder bist du nur auf der Durchreise?“

„Ich möchte … ziehst du bitte die Gardinen zu?“

Zwar runzelte Charles die Stirn, gehorchte aber.

„Magst du bitte herkommen?“

„Was wird das hier?“, erkundigte sich Charles, beide Hände in die Seiten gestemmt.

Karl überwand die Distanz zwischen ihnen. Die dunkelbraunen Augen hatten ihn von Anfang an fasziniert. Momentan guckten sie jedoch abweisend. „Ich hab oft an dich gedacht, wie’s dir geht und ob wir uns je wiedersehen.“

Ein Funken Wärme schlich sich in Charles‘ Blick. „Warum hast du nie geschrieben?“

Er zuckte die Achseln. „Ich konnte es einfach nicht.“

Langsam, ganz langsam neigte sich Charles zu ihm, zugleich beugte er sich vor. Das war schon damals so gewesen. Charles zog ihn an wie ein Magnet. Ihre Lippen trafen aufeinander. Eine ewig vermisste Berührung. Ihm entrang sich ein peinliches Wimmern, das von Charles‘ nächstem Kuss gedämpft wurde.

Wie lange sie so standen und sich küssten wusste er nicht, als ein Geräusch ihn zurückzucken ließ. Irgendwo in der Wohnung klappte eine Tür. Karl lauschte, doch es geschah nichts weiter.

Seufzend strich er sich durchs Haar und guckte Charles etwas verlegen an. „Es tut mir leid. Mir scheint, als ob die Repressalien gegen unsereiner seit Kriegsende noch schlimmer geworden sind.“

Charles strich ihm mit den Fingerknöcheln über die Wange. „Ihr seid schon ein merkwürdiges Volk. Selbst ohne Führer jederzeit bereit, euch gegenseitig zu denunzieren.“

„Ich fühle mich mehr als Franzose. Deshalb war ich auch so gern in Paris, n’est-ce pas.“

Ein Grinsen bog Charles Mundwinkel hoch. „Dein Französisch ist weiterhin miserabel.“

„Dafür beherrsche ich andere Dinge in dieser Sprache“, entgegnete Karl und spielte damit auf seine oralen Fertigkeiten an.

„Ich erinnere mich schwach“, gab Charles leise zurück. „Ich würde dich ja um eine Demonstration bitten, aber wir sind in der Wohnung deiner Schwester.“

Mit einem Seufzer wich Karl ein Stück zurück. „Stimmt. Es wäre eine doppelte Sünde. Fahren wir morgen zusammen an die Elbe?“

„Gern.“

„Ich freu mich drauf.“ Er begab sich zur Tür. „Schlaf gut. Bis morgen.“

„Du auch“, erwiderte Charles.



Die nächsten beiden Wochen wären der Himmel auf Erden, wenn die Furcht vor Entdeckung ihn nicht ständig verfolgt hätte. In der Öffentlichkeit vermied er es sogar, Charles länger anzusehen oder zu berühren. Im Schutz der Wohnung tauschten sie so oft wie möglich Küsse, doch selbst dort lauerte die Angst. In der zweiten Woche verschlimmerte sich das noch, weil Erwin für ein paar Tage anwesend war.

So war Charles‘ Abschied Erleichterung und Schmerz in einem. Er brachte seinen ehemaligen Liebhaber, der inzwischen zu einem guten Freund avanciert war, zum Bahnhof. Stumm standen sie sich vorm Zug gegenüber. Schließlich tätschelte Charles seine Schulter, sagte: „Wir sehen uns wieder“, und stieg in den Waggon.

Es zerriss ihm das Herz, die Bahn mit seinem Liebsten davonfahren zu sehen. Niedergeschlagen kehrte er nach Hause zurück.

Ein reger Briefwechsel begann. Aus Sorge, dass jemand die Post vor Grenzübertritt las, hielt sich Karl bedeckt. Er beschränkte sich auf Schilderungen des allgemeinen Lebens und Anspielungen, die Charles bestimmt verstand. Die Antworten fielen genauso nüchtern aus, aber auch er vermochte zwischen den Zeilen zu lesen. Das Band zwischen ihnen wurde enger und enger.

In fast jedem Schreiben bat Charles, dass er nach Paris kam. Entweder für einen Besuch oder für länger. Darüber hatten sie auch während Charles‘ Aufenthalt in Hamburg gesprochen. Innerlich wuchs in Karl immer stärker der Entschluss, den Sprung zu wagen. Er hatte in seiner Heimat eh nichts mehr verloren.

Karl ging mehr raus und bemühte sich um eine neue Prothese, die er länger ohne Beschwerden tragen konnte. Die Aussicht, vielleicht eine Zukunft mit Charles zu haben, versetzte ihn in Euphorie. Gertrud war sehr glücklich über seine Entwicklung und unterstützte ihn nach Möglichkeit. Über seine Pläne ließ er sie lieber in Unkenntnis. Ihm war klar, dass sie ihn vermissen würde. Sofern sie sich verabschieden mussten, sollte es kurz und schmerzlos vonstattengehen.

In manchen Momenten schlug seine Begeisterung in Verzweiflung um. Die Trennung von Charles machte ihm genauso zu schaffen wie die Panik, in Paris nicht Fuß fassen zu können und Charles ein Klotz am Bein zu sein.

Im September erhielt er seine neue Prothese. Sie war leichter als die alte und problemloser anzuschnallen. Mit ihr musste er erstmal eine ganze Weile üben, bevor er sie beherrschte. Darüber wurde es Oktober. Weitere vier Wochen gingen ins Land, in denen er mit sich haderte, wie er es Gertrud beibringen sollte. Sie pflegte zwar Kontakt zu den Nachbarn und Erwins Angestellten, aber nur oberflächlich. Ihr Vater war in Russland gefallen, ihre Mutter bei einem Bombenangriff umgekommen. Somit war er ihr einziger Vertrauter.

Anfang November fasste er sich schließlich ein Herz. Beim Abendessen - wenn sie keine Gäste hatten, gab es lediglich Brot mit Käse und Aufschnitt - sprach er das Thema an. „Ich überlege nach Paris zu ziehen.“

Im ersten Augenblick leuchteten ihre Augen auf, im nächsten bewölkte Kummer ihre Stirn. „Aber nicht so bald, nicht wahr? Du wirst Weihnachten doch noch hier verbringen.“

Ihre Kinderlosigkeit und Erwins ständige Abwesenheit belasteten sie sehr. An den Festtagen, obwohl ihr Gatte an solchen stets durch Anwesenheit glänzte, neigte sie dazu, besonders niedergeschlagen zu sein, also versprach er: „Ich werde erst im Neuen Jahr abreisen.“

Charles‘ Briefe zeugten von wachsender Ungeduld. Bislang hatte sich Karl nur vage zu irgendwelchen Zukunftsplänen geäußert. Nach dem Gespräch mit seiner Schwester schrieb er Charles, dass er zwischen Weihnachten und Silvester seine Koffer packen und nach Paris kommen würde.

Die Wochen zogen sich in die Länge. Das erste Mal seit Jahren sehnte er Weihnachten herbei. Ab Mitte Dezember war Erwin durchgehend zu Hause, was Getrud ein Lächeln auf die Lippen zauberte, ihm hingegen Magenschmerzen verursachte. Ob sein Schwager schon vor Charles‘ Besuch derart homophob eingestellt gewesen war, entzog sich seiner Kenntnis. Vielleicht hatte er nicht darauf geachtet. Seine Sexualität war davor ja praktisch nicht existent, daher konnte es an ihm vorbeigegangen sein.

Bei jeder sich bietenden Gelegenheit gab Erwin diskriminierende Äußerungen von sich, die sowohl Juden als auch Homosexuelle betrafen. An einem Tag war es besonders schlimm. Man hatte den Arzt, zu dem die ganze Familie Milz/Schröder ging, wenn einer von ihnen unter Grippesymptomen litt, wegen Verstoßes gegen den Paragraphen 175 verhaftet. Angeblich hätte der Mann einen Patienten unsittlich berührt. Erwin ließ sich lang und breit darüber aus, dass er schon seit Jahren solchen Verdacht hegte. Schließlich hätte der Arzt ihn immer ganz komisch angeguckt und nur allzu gern gefordert, dass er sich obenrum freimachte.

Karl platzte fast der Kragen. Die Blasiertheit, mit der Erwin dem braven Mann sexuelle Begierde unterstellte, war unerträglich. Seine Antennen hatten bei dem Arzt nie reagiert, obwohl er sich mehrfach in dessen Gegenwart ausziehen musste. Das Ganze erinnerte an die Hexenverfolgungen, bei denen jeder vernünftige Einwand zu Ungunsten der Frauen ausgelegt wurde.

Als Weihnachten endlich vorbei war, atmete er auf. Getrud und Erwin begleiteten ihn zum Bahnhof. Sein Schwager half ihm, seine drei Gepäckstücke in den Waggon zu schleppen und verabschiedete sich mit förmlichem Handschlag. Seine Schwester war in Tränen aufgelöst und wollte ihn gar nicht loslassen. Er stand am Zugfenster und winkte, bis er die beiden nicht mehr sehen konnte.



Charles

Seit Karl angekündigt hatte, noch vor Jahresende nach Paris zu kommen, fieberte Charles diesem Tag entgegen. Der Zufall wollte es, dass Anfang Dezember die Erdgeschosswohnung in seinem Haus frei wurde. Sie war größer und besaß eine Terrasse, auf der man bequem mit vier Leuten sitzen konnte. Der Vermieter stimmte einem Tausch zu. Innerhalb von zwei Tagen räumte Charles sein gesamtes Habe in die neue Wohnung.

Am 27. Dezember stand er am Gare de l’Est und wartete auf die Ankunft des Zugs aus Hamburg. Laut Plan sollte dieser um neun Uhr eintreffen. Mittlerweile war es Viertelnach.

In den vergangenen Monaten hatte er sich zunehmend Sorgen gemacht. Insiderberichten zufolge, schien man in Deutschland einen neuen Sündenbock gefunden zu haben. Da Juden nicht mehr offiziell verfolgt werden durften, kühlte man sein Mütchen an angeblich Homosexuellen. Dank des Paragraphen 175 war den Leuten eine Handhabe gegeben, gegen jeden Verdächtigen beliebig vorzugehen. In den Hirnen der Deutschen war es immer noch stockfinster, trotz Hitlers Ableben. Kein Wunder: Dieser Tyrann wäre ja wohl sonst niemals an die Macht gekommen.

Endlich, um zwanzig nach neun, sah er den Zug herannahen. Karl reiste, laut dem letzten Brief, mit großem Gepäck, weshalb er sich das Lastenfahrrad eines Nachbarn geliehen hatte. Normalerweise wurden damit Wäschepakte von A nach B befördert.

Als die Waggons an Charles vorbeirollten, entdeckte er Karl an einem der Fenster. Er winkte und schob das Fahrrad neben dem Zug her, bis dieser hielt. Karl stieg als einer der ersten aus, einen Koffer in der Hand. Sein Herz klopfte vor Wiedersehensfreude schmerzhaft gegen die Rippen. Sechs Jahre Sehnsucht erfüllten sich. Insgeheim hatte er immer darauf gehofft, dass Karl zu ihm zurückkehren würde.

Karl stellte den Koffer vor ihm ab und machte Anstalten, wieder in den Waggon zu steigen. „Warte!“, hielt Charles ihn auf. „Pass du auf das Fahrrad auf. Ich hole den Rest. Welches Abteil?“

„Das erste. Ein brauner Koffer auf der Ablage und eine schwarze Tasche unterm Sitz“, erwiderte Karl.

Charles begab sich in den Zug und reichte Karl erst die Reisetasche, dann den Koffer durchs Fenster. Nachdem er den Waggon verlassen hatte, begrüßte er Karl mit einer Umarmung und einem bise, also einem Luftkuss, bei dem sich ihre Wangen berührten. „Schön, dass du endlich da bist.“

„Ich freu mich auch, obwohl es mir um Gertrud leid tut.“

Das klang ja so, als ob Karl für immer bleiben würde. Charles ließ es unkommentiert und machte sich daran, das Fahrrad zu beladen.

Während er das Vehikel schob, ging Karl neben ihm her. Es war rund eine halbe Stunde Fußmarsch bis zu seiner Wohnung, doch die verging im Nu. Endlich brauchten sie kein Blatt mehr vor den Mund nehmen. Zum einen verstand kaum jemand deutsch, zum anderen interessierten sich die Passanten nicht für zwei miteinander plaudernde Männer.

Stolz präsentierte er seine neue Wohnung. Karls Gepäck stellten sie in das leere Zimmer, außerdem gab es einen großzügigen Wohnraum und ein geräumiges Schlafzimmer. Karl schaute sich nur kurz alles an, drängte ihn gegen die nächstbeste Wand und küsste ihn richtig. Charles zerfloss unter der Berührung. Das hatte er so sehr vermisst. Gierig nahm er Karls Duft und Geschmack auf, während sich seine Hände auf Eroberungsfeldzug begaben.

Nach einer Weile trennten sie sich schweratmend voneinander. Charles spürte, dass seine Mundwinkel weit oben hingen und bei seinem Gegenüber sah’s ähnlich aus.

„Hast du Hunger? Ich hab extra ein bisschen Brie und Baguette besorgt.“ Beides hatte Karl damals gern gegessen.

„Gertrud hat mir ganz viele Stullen eingepackt, aber die hab ich größtenteils verschmäht“, gestand Karl. „Ich war zu aufgeregt.“

„Dann hol die restlichen raus. Wir essen einfach von jedem etwas“, schlug er vor.

Kurz darauf saßen sie am Tisch. Karl im Sessel, er auf dem einzigen Stuhl. Sie brauchten dringend ein paar zusätzliche Möbel, doch das war erstmal zweitrangig. Zu dem feudalen Mahl tranken sie Rotwein und prosteten einander Mal um Mal zu. Allmählich kam bei Charles an, dass es wirklich geschah. Karl war hier! Die ganzen einsamen Jahre schmolzen zu einer geringeren Zeitspanne. Zwischen ihnen war alles noch genauso wie damals, nur mit dem Unterschied, dass sie inzwischen reifer waren. Charles hatte die Mitte der dreißig erreicht, Karl drei Jahre weniger auf dem Buckel.

„Ich hab mir morgen freigenommen“, verkündete er zwischen zwei Schlucken Wein.

Karls Lächeln wurde noch breiter. „Dann können wir ja die ganze Nacht feiern.“

„Genau das hatte ich vor.“ Genüsslich ließ er den Blick von Karls hübschem Gesicht runterwandern, über die breite Brust im blaukarierten Hemd. Darunter beulte sich der Schritte ein wenig aus. Bei ihm war ebenfalls ein bisschen Enge in der Hose entstanden.

Wie auf eine geheime Absprache hin beeilten sie sich, ihr Mahl zu beenden. Anschließend räumte Charles auf, während Karl ins Bad verschwand. In dieser Wohnung gab es sogar eine große Badewanne, in der davor nicht mal eine Dusche. Er brachte den Wein ins Schlafzimmer, außerdem ein Fläschchen Öl, das er vorsorglich gekauft hatte. Als er begann sich auszuziehen, tauchte Karl im Türrahmen auf.

Plötzlich war die Luft elektrisch aufgeladen. Auf dem Weg zu ihm streifte sich Karl das Hemd von den Schultern. Als nächstes fiel die Hose. Danach musste sich Karl setzen, um die Prothese abzulegen und wirkte mit einem Mal völlig verunsichert. Flink entledigte sich Charles seiner restlichen Kleidung, um in die Hocke zu gehen und beim Abschnallen zu helfen. Er platzierte das Kunstbein neben dem Nachtschrank auf dem Boden. Auch dafür musste ein Stuhl her, damit Karl es vom Bett aus erreichen konnte.

„Magst du mich überhaupt so?“, flüsterte Karl, den Blick ängstlich auf ihn gerichtet.

„Was interessiert mich dein Bein? Dein Kopf ist noch dran und auch sonst alles Wichtige.“

„Aber wir können nicht mehr alles machen.“

„Ohne dich könnte ich gar nichts machen.“ Er richtete sich auf, küsste Karl zart auf die Lippen und zog ihm das Unterhemd über den Kopf. Nachdem er sich auch um Socken und Unterhose gekümmert hatte, drängte er Karl auf den Rücken.

Haut an Haut zu liegen, fühlte sich paradiesisch an. Das hatten sie früher oft gemacht: Sich aneinander gerieben, bis die Lust übersprudelte. Es musste nicht immer zwingend der anale Akt sein. Sie hatten ja Zeit, hoffentlich ein ganzes Leben lang.

Nach und nach ließ Karl Anspannung nach, stattdessen nahm die Erregung zu. Das spürte Charles deutlich an der Leidenschaft, mit der seine Küsse erwidert wurden und dem sehr harten Stück Fleisch an seiner Mitte. Ebenfalls stellte sich ein wenig Vertrautheit ein. Karl wusste noch, wo er sensibel reagierte und reizte ihn gezielt. Er zahlte mit gleicher Münze heim. Auf diese Weise trieben sie einander die Stufen immer höher hinauf. Als Karl seine Erektion umfasste, reichten ein-zwei Striche, um ihn über die Klippe zu stoßen. Trotz seines Höhepunkts bekam er mit, dass sich auch Karl ergoss.

Keuchend lagen sie hinterher da, ihre Finger miteinander verwoben. An Karls hinreißendem Gesichtsausdruck nach dem Orgasmus konnte sich Charles einfach nicht sattsehen. Am liebsten hätte er diesen auf Polaroid gebannt. So musste er sich damit begnügen, sich Karls Miene einzuprägen.

Die nächsten Tage vergingen wie im Rausch. Silvester feierten sie auf ihrer Terrasse, um sich ja nicht zu weit vom Bett zu entfernen. Immerhin hatten sie sechs Jahre aufzuholen.

Den Neujahrsmorgen begingen sie mit ihrem ersten richtigen Akt. Karl lag unten und stöhnte sich die Seele aus dem Leib, während Charles all sein Können aufbot, um das Erlebnis unvergesslich zu machen. Danach tranken sie den restlichen Sekt und duselten wieder ein.



Im Laufe des Januars holte sie der Alltag ein. Karl wurde von Tag zu Tag frustrierter davon, tatenlos zu Hause zu sitzen. Charles hingegen bekam einen besseren Posten und somit auch mehr Geld. Die finanzielle Lücke zwischen ihnen klaffte dadurch stärker auf und führte dazu, dass sie das erste Mal stritten. Anschließend versöhnten sie sich im Bett und schworen einander, sich nie wieder in die Haare zu geraten.

Ihr Schwur hielt gerade mal zwei Wochen. Auch die Versöhnung fand wieder horizontal statt, aber Charles sah ein, dass sie sich so auf Dauer aufrieben. Er beschloss, verstärkt nach einer Arbeit für Karl Ausschau zu halten.

Einige Tage später spielte ihm der Zufall in die Hand. Er hatte sich mittags mit Karl in einem Bistro unweit seines Arbeitsplatzes verabredet. Als sie in dem Lokal saßen und auf ihre Getränke warteten, sprach ihn ein ehemaliger Kollege an: „Bonjour Charlie. Ça va?“

„Ça va bien. Et toi?“

„Bien, merci. Tu peux me présenter à votre compagnon?“

„Das ist Karl“, erwiderte Charles. „Karl, darf ich dir Francois vorstellen? Er hat mal bei der gleichen Zeitung wie ich gearbeitet und ist nun bei der Konkurrenz.“

„Angenehm“, entgegnete Karl, stand auf und reichte Francois die Hand.

„Ah. Sehr deutsch“, kommentierte der grinsend und schlug ein. „Puis-je m'asseoir à vous?“

„Gern. Oder hast du was dagegen?“, wandte sich Charles an Karl. Sein Liebster hatte nichts verstanden, das erkannte er an der ratlosen Miene. „Darf sich Francois zu uns setzen?“

„Natürlich.“

Sie unterhielten sich in einer Mischung aus Französisch und Deutsch. Letzteres beherrschte Francois einigermaßen. Während des Gesprächs kam heraus, das Francois‘ Onkel einen Souvenirladen am gegenüberliegenden Ufer von Notre Dame betrieb und Hilfe brauchte. Ab und zu war Francois bereits eingesprungen, doch auf Dauer ging das nicht. Allerdings suchte sein Onkel jemanden mit Fremdsprachenkenntnissen, bevorzugt Englisch und Deutsch, um mit den Touristen zu verhandeln.

An dieser Stelle kam Karl, der ein paar Brocken Englisch sprach, ins Spiel. Francois schlug vor, dem Laden gleich einen Besuch abzustatten. Da Charles zurück in die Redaktion musste, ließ er die beiden allein ziehen. Allzu große Hoffnungen machte er sich aber nicht. Souvenirs zu verkaufen stand auf Karls Liste der möglichen Arbeitsplätze bestimmt ganz weit unten.

Umso überraschter war er, als ihn sein Liebster abends mit einer Flasche Sekt erwartete.

„Ich hab die Stelle“, jubilierte Karl, kaum dass er ins Wohnzimmer getreten war.

Das feierten sie ausgiebig. Erst mit dem Schaumwein und später mit Körpersäften.



Epilog - 1. Mai 1951

Überall sprossen bunte Blumen, die Bäume trugen zartes Grün und die milde Luft schien einen förmlich zu streicheln. Sie saßen in Charles Lieblings-Café mit Blick auf den Eiffelturm. Sein Liebster qualmte eine Gauloises zum Café au lait. Vor Karl hingegen stand ein Croissant, an dem er zwischen den Schlucken Kaffee knabberte. Das Leben könnte kaum schöner sein.

Seine Arbeitsstelle gefiel ihm gut. Er kam in Kontakt mit vielen Menschen, durfte ab und zu hinterm Tresen sitzen und hatte einen formidablen Ausblick auf Notre Dame. Die Bezahlung war zwar bescheiden, reichte aber, um seinen Anteil zum Lebensunterhalt beizusteuern. Mehr wollte er ja gar nicht.

Gertrud erwartete ihr erstes Kind. Aus diesem Grund trat sein Schwager kürzer und ging nur noch selten auf Reisen. Karl hatte vor, den beiden nach der Geburt seines Neffen - Gertrud meinte, es wird ein Junge, warum auch immer - einen Besuch abzustatten. Seine Schwester hatte ihn ihrem letzten Brief überaus glücklich geklungen.

Seine Liebe zu Charles wuchs und gedieh mit jedem Tag. Er hatte den liebsten, attraktivsten und schärfsten Mann als Partner. Insbesondere rechnete er Charles hoch an, die schwere Zeit mit ihm klaglos überstanden zu haben und seinen fehlenden Unterschenkel zu akzeptieren. Sein Liebster hatte sogar mal frech gemeint, es wäre doch sehr praktisch, dass man beim Beischlaf mit ihm nur ein halbes Bein hochdrücken müsste. Es war also alles eine Frage der Betrachtung.

„Gehen wir ein Stück?“, holte Charles ihn aus seinen Gedanken.

„Gern.“

Charles winkte den Kellner herbei, zahlte, stand auf und bot ihm galant einen Arm an. Lächelnd hakte sich Karl ein. Langsam wanderten sie über das Champ de Mars. Etliche Leute bevölkerten die Wege. Keiner guckte sie schief an oder rief ihnen einen dummen Spruch hinterher. Es schien, als ob der Frühling sämtlichen Groll aus den Menschen vertrieben hatte.

An einer Weggabelung bog Charles links ab und zog ihn nach ein paar Schritten hinter ein dichtes Gebüsch, um ihn zu küssen. Glücklich seufzend ließ Karl es geschehen. Nach einigen Küssen bog er seinen Kopf zurück, um Charles in die Augen zu sehen.

„Ich muss dir was sagen.“

Fragend zog Charles die Brauen hoch.

„Ich liebe dich.“

Sein Liebster guckte überrascht, dann schnellten beide Mundwinkel in die Höhe und eine Träne löste sich aus dem Augenwinkel. In den braunen Augen las Karl die Antwort. Irgendwie hatte er es schon damals gespürt.

„Ich dich auch“, erwiderte Charles mit bröckeliger Stimme.

Sein Herz vollführte einen Salto. Die ersehnten Worte zu hören, stellte das Sahnehäubchen auf seinem Glück dar. Erneut fanden sich ihre Lippen für einen Kuss. Diesmal lag darin ein Versprechen, immer füreinander da zu sein; an guten wie an schlechten Tagen.

Karl würde sich immer an diesen Frühlingstag in Paris erinnern, als ihm Charles das schönste Geschenk seines Lebens gegeben hatte. Das war all die Jahre des Wartens wert gewesen.



ENDE



Mile High Club - Raven le Fay


Dennis ist Steward bei einer Fluggesellschaft. Er hat sich in einen Passagier verguckt, der regelmäßig den Linienflug am Donnerstag nimmt. Paul, so der Name des Fluggastes, ist der Mittelpunkt von Dennis‘ Tagträumen. Doch ist Paul überhaupt schwul?

Eines Tages schöpft Dennis neue Hoffnung, als der Zufall Paul outet.

~~~***~~~


Menschen flogen gern. Es war ein uralter Traum und wer sich diesen verwirklichen konnte, nutzte die Gelegenheit. Dennis mochte das Leben über den Wolken, doch besaß er nie den Ehrgeiz, selber Pilot zu werden. Das war viel zu viel Verantwortung. Ihm reichte es, Steward an Bord einer Linienmaschine zu sein. Dabei lernte er viel über die menschliche Natur. Er freute sich helfen zu können, wenn ein verängstigter Passagier mit schreckgeweiteten Augen ihm dankbar ein Glas Wasser abnahm, um sich abzulenken. Dennis mochte reiselustige Rentner, die zum ersten Mal flogen und aufgeregt jede Minute an Bord bewusst erleben wollten, genauso wie die Geschäftsreisenden, die routiniert den Beitrag über die Sicherheitsbestimmungen ignorierten und stattdessen ihre Aktennotizen auf dem Laptop studierten.

Was Dennis nicht mochte waren betrunkene oder lärmende Passagiere, die andere störten oder gar die Flugsicherheit gefährdeten. Da war es aus mit seiner Freundlichkeit und seinem Lächeln. Wenn Ermahnung und Beruhigung nichts half, wurde der Störenfried von den übrigen Fluggästen getrennt und bei der Landung dem jeweiligen Sicherheitsbeamten am Boden übergeben. Glücklicherweise kam das nur sehr selten vor.

Es gab jedoch noch etwas, was in letzter Zeit Dennis‘ Unmut weckte: die Diskussion darüber, dass die Passagiere sich schämen sollten, weil sie flogen und damit der Umwelt schadeten. Er hatte nichts gegen die Verbesserung der Umwelt und ja, Flugzeuge besaßen eine schlechte Umweltbilanz. Doch wenn die Medien dem kleinen Bürger einredeten, sie sollten sich schämen, weil sie ein oder zwei Mal im Jahr das Flugzeug nutzten, um an ihr Urlaubsziel zu kommen, so machte es ihn wütend. In seinem Flieger fanden fast 200 Passagiere Platz, was die Umweltverschmutzung pro Fluggast relativierte. Warum nahmen sich die Medien nicht Firmenjets vor, Privathubschrauber, Beamte, die sich täglich zu irgendwelchen Treffen fliegen ließen? In Zeiten von Internet und Tele-Konferenzen sollte die persönliche Anwesenheit wohl kaum noch nötig sein. Und wenn doch, was sprach gegen einen Linienflieger?


Jemand tippte Dennis auf die Schulter. „Du träumst schon wieder“, sagte eine freundliche Frauenstimme. Evelyn war Stewardess am Bord und Dennis‘ Vorgesetzte.

„Entschuldige, mir ist nur die Schlagzeile auf der Titelseite ins Auge gefallen.“ Dennis wies auf die Zeitungen, die er auf einem Klapptisch für die Passagiere drapiert hatte: Umweltaktivistin fährt mit Segelboot nach Amerika!

Evelyn warf einen flüchtigen Blick auf das Bild einer Hightech-Jacht mit einem winkenden Mädchen, bevor sie den Kopf schüttelte. „Keine Sorge, Dennis. Deswegen werden die Flieger nicht am Boden bleiben.“ Sie drehte sich zu ihren Kollegen um. „Ist alles bereit für die Passagiere? Plätze sauber? Gurte zurechtgelegt? Toiletten kontrolliert?“

Zu jeder Frage nickte Dennis und schenkte seiner Vorgesetzten sein schönstes Lächeln. Mit den roten Haaren und dem Ziegenbärtchen sah er wie ein Junge im Spielzeugladen aus. Sein Lächeln war ansteckend und hatte eine erstaunliche Wirkung auf die Fluggäste, die nacheinander an Bord kamen und von ihm begrüßt wurden. Dennis‘ entwaffnende Freundlichkeit nahm ihnen ein wenig von dem Stress, der sich wahrscheinlich durch Warteschlangen bei der Gepäckabgabe, der Sicherheitskontrolle und der Schlange beim Boarding angesammelt hatte. Er freute sich, wenn sein Lächeln ansteckte und die Passagiere mit einem guten Gefühl zu ihren Plätzen gingen.

„Guten Tag. Willkommen an Bord. Kann ich Ihnen helfen?“ Dennis wurde es nicht müde, die Passagiere auf diese Weise anzusprechen.

Langsam ließ der Andrang nach. Die letzten Fluggäste stiegen die Treppe hoch und zwängten sich an anderen Reisenden vorbei, die noch immer ihr Gepäck verstauten. Die Maschine war nicht ganz ausgebucht. Dennis sah die Reihen entlang. Erst nach rechts, wo sich die Economy Class befand, dann nach links. Sein Blick suchte nach einem ganz bestimmten Passagier. Es war Donnerstag. Er flog immer am Donnerstag mit dieser Maschine. Beunruhigt schaute Dennis zur Treppe, dann wieder in beide Richtungen und schließlich auf die Uhr. Ihm blieb jedoch keine Zeit zum Grübeln, denn eine ältere Dame machte sich bemerkbar und er eilte sofort hin, um ihr mit dem Gurt zu helfen.

Inzwischen sprach Evelyn über Bordfunk mit dem Kapitän und schloss kurz darauf die Tür zur Außenwelt.

Für die Crew war es das Signal, die Sicherheitskontrolle zu starten. Routiniert schritt Dennis den Gang entlang, überprüfte die Gepäckfächer und schloss sie, ließ die Tische hochklappen, Gurte anlegen und technische Geräte in den Flugmodus schalten. Bei all der Routine schaffte er es trotzdem, mit der älteren Dame zu flirten und einen jungen Mann zu ermahnen, die Rückenlehne in die Senkrechte zu bringen. Nichts an seinem Tun verriet seine Enttäuschung, dass sich sein Lieblingsgast nicht an Bord befand.

Während Dennis seinen Aufgaben nachkam, entstand im vorderen Bereich Bewegung. Als er sich umdrehte, um nach dem Grund zu schauen, war der Gang jedoch leer. Vielleicht hatte er sich geirrt. Er fuhr fort, die Sitzreihen abzuschreiten.

Kurz danach begrüßte der Kapitän die Passagiere an Bord und entschuldigte sich wegen der Verzögerung.

Das Flugzeug rollte langsam zur Startbahn. Die Crew verteilte sich im Flieger, um die Sicherheitsmaßnahmen vorzustellen. Mit Rettungsweste und Sauerstoffmaske ausgerüstet nahm Dennis seinen Platz im vorderen Teil der Business Class ein. Er musterte die Gäste und lächelte jeden einzelnen von ihnen an. Die Anzahl war überschaubar.

Dann sah er ihn. Völlig unerwartet. Sein heimlicher Schwarm, sein Geschäftsmann, den er in unzähligen Träumen bereits liebkost und gestreichelt hatte, dessen Duft er kannte und dessen kleinen Leberfleck am Hals er beinahe schon verehrte. Unwillkürlich schloss Dennis für einen Moment erleichtert die Augen. Er war da, gehörte wohl zu der verspäteten Gruppe, die im vorderen Bereich den kleinen Tumult verursacht hatte. Jetzt konnte der Flug nur noch schön werden. Dennis versuchte, nicht allzu dümmlich zu grinsen. Er fühlte heiß-kalt den Blick des Mannes auf sich ruhen. Nicht solchen mit gelangweilter Aufmerksamkeit der Vielflieger, oh nein. Das war ein viel intensiverer Blick, einer, der ihn taxierte.

Wie das Häschen vor der Schlange war Dennis wie erstarrt, bis er begriff, was der Blick seines heimlichen Schwarms sagen wollte.

Oh Gott, Dennis hinkte mit der Vorführung der Sicherheitsbestimmungen hinterher. Hastig zog er sich die Sauerstoffmaske über das Gesicht, riss sie dann wieder herunter, verhedderte sich anschließend in den Bändern der Schwimmweste und ließ das Blatt mit den Sicherheitshinweisen zweimal fallen.

Mit tiefroter Gesichtsfarbe, die sich bestimmt furchtbar mit seinen roten Locken biss, ging er noch einmal die Reihen entlang, um die Gurte der Passagiere zu prüfen.

Etwas später konnte sich Dennis erleichtert auf seinem Platz niederlassen. Der Flieger startete.

Evelyn saß neben ihm und wippte gut gelaunt mit dem Fuß. Plötzlich spürte er ihren verschmitzten Blick auf sich.

„Sag mal, rechnest du mit einer Wasserlandung?“, hörte er sie fragen.

„Nein, wieso?“, schreckte Dennis aus seinen Gedanken, in denen er sich gerade mit diversen vernichtenden Namen, wie Trottel, Idiot und ähnlichem, wegen seiner Unaufmerksamkeit bei der Sicherheitsvorführung, betitelte. Sein Gesicht glühte noch immer.

„Warum behältst du dann die Schwimmweste an? Ich persönlich finde dich zwar ganz sexy damit, aber ich fürchte, es wird die Passagiere verunsichern, wenn du ihnen derart bekleidet den Kaffee servierst.“

Ungläubig sah Dennis an sich herab. Er fügte den Namen Dämlack seinen Ehrentiteln hinzu. Peinlich berührt zog er die Weste aus.

Als der Flieger Reisehöhe erreicht hatte, begannen er und seine Kolleginnen mit dem Service. Erstaunlicherweise bekam Dennis das ganz ohne Peinlichkeiten hin. Anschließend wurde es ruhig im Flieger. Die Passagiere richteten sich gemütlich ein, lasen, dösten oder unterhielten sich leise miteinander.

Endlich hatte Dennis Zeit, sich einige Minuten seinen Tagträumen hinzugeben. Unauffällig beobachtete er seinen Geschäftsreisenden, der in die Arbeit mit einem Laptop vertieft war. Er wusste vom Blick auf die Bordkarte, dass der Mann Paul hieß. Der Name passte zu ihm, befand Dennis.

Paul war sicher knapp doppelt so alt wie er. Dennis schätzte ihn auf Ende dreißig, Anfang vierzig. Er hatte dunkles Haar, das an den Schläfen bereits leicht ergraut war. Seine Figur wirkte

durchtrainiert und drahtig. Wahrscheinlich ein Läufer. Marathon? Das war zwar nichts für Dennis, aber er konnte sich vorstellen, wie er an der Ziellinie stand, seinen Schwarm anfeuerte und ihn schließlich in die Arme nahm, nachdem er völlig erschöpft hinter der Ziellinie zusammen gebrochen war. Oh ja, er würde Paul an sich drücken, ihn stützen und die schweißnassen Haare aus der Stirn schieben. Und küssen. Natürlich würde er seinen Paul küssen, immer und immer wieder.

Bei all diesen Tagträumen voller glücklicher Momente, spürte Dennis ein Ziehen in den Lenden. Paul und er würden Sex haben. In der Dusche, wo er seinem Läufer den Schweiß abwusch. Er würde ihn einseifen, langsam und verführerisch und dann tiefer sinken, bis er vor Paul kniete. So ging die ganze Aufmerksamkeit auf den Schwanz über, den er wusch, gleichzeitig massierte und schließlich in den Mund nahm, um ihn zu blasen.

Ein Zischen störte die wunderbare Phantasie. War etwa ein Rohr leckgeschlagen?

„Reiß dich zusammen!“, zischte Evelyn erneut und holte Dennis damit aus seinem Tagtraum zurück. „Und sieh zu, dass du die Beule wieder verschwinden lässt.“

Erschrocken sah Dennis an sich herab und stöhnte unterdrückt. Verdammt.

Zu allem Unglück stand Paul gerade auf, um etwas aus dem Gepäckfach zu holen, wobei ihm eine Aktentasche entgegenkam und zuerst auf den Kopf und dann auf den Boden fiel. Verschiedene Utensilien, Papier und Zeitschriften verteilten sich zwischen den Sitzreihen.

Ungeachtet der kleinen Unpässlichkeit in seiner Hose, eilte Dennis sofort zu Hilfe.

„Warten Sie bitte, ich sammle das ein. Haben Sie sich am Kopf verletzt? Sind Sie in Ordnung?“

„Nein, es ist nichts passiert.“ Paul bückte sich nach der Tasche, die er offenbar vergessen hatte zu schließen, bevor er sie ins Fach legte.

Dennis reichte ihm das herausgefallene Handy, ein Etui mit Stiften und raffte die

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: bei den Autoren
Bildmaterialien: depositphotos, shutterstock
Cover: Lars Rogmann
Lektorat: Aschure, Bernd Frielingsdorf, Sissi Kaiserlos
Tag der Veröffentlichung: 15.11.2019
ISBN: 978-3-7487-2079-9

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Dort, wo dein Herz ist, ist dein zu Hause.

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