Cover

Prolog

Im März 1992 wurde Marcel Kostein geboren und wuchs in einem Außenbezirk Hamburgs auf. Bereits im zarten Kindesalter zeigte sich, wo sein Interessenschwerpunkt lag. Anstatt mit Bauklötzern und Co zu spielen bevorzugte er Dinge, die er auseinandernehmen konnte. Egal was es war, er musste unbedingt das Innenleben erforschen. Auf diese Weise fanden drei Puppen seiner Schwester ein tragisches Ende, ehe seine Eltern einsahen, sein Bedürfnis mit entsprechendem Material zu befriedigen.

Sobald er alt genug war, um mit feinen Werkzeugen zu hantieren, fokussierte er sich auf technische Dinge. Alte Toaster, Radios, Rasierapparate, Wecker, Lampen - alle zerlegte er in Einzelteile und versuchte, sie wieder zusammenzubauen. Seine Eltern, die auf eine erfolgreiche berufliche Laufbahn als Chirurg gehofft hatten, waren über diesen Wandel wenig begeistert. Sie gaben die Hoffnung aber noch nicht gänzlich auf und versorgten ihn mit stetem Nachschub.

Mit zunehmendem Alter reizte Marcel das vorhandene Material nicht mehr. Er machte sich heimlich am Wagen seines Vaters zu schaffen, was zu großem Krach führte. Seine Eltern beschlossen, ihm die kaum benutzte - das Auto stand immer im Carport - Doppelgarage als Werkstatt einzurichten. Im Gegenzug musste er geloben, ihren Wagen nie wieder anzurühren.

Ein ständiger Strom defekter Elektrogeräte setzte ein. Mikrowellen, Fernseher, Telefone, Computer und so weiter stapelten sich bald in seiner Wirkungsstätte. Die gesamte Nachbarschaft versorgte ihn mit Elektronikschrott. Manche Apparate konnte er sogar reparieren, was zu Einnahmen führte, die er in Werkzeuge investierte.

In der Schule galt Marcel als Sonderling. Seine guten Noten schreckten die Mitschüler genauso ab wie sein profundes Wissen. Das fand er heraus, als er auf dem Klo hockte und sich zwei Klassenkameraden vor der Zelle über ihn unterhielten.

„Wenn du mich fragst, hat Marcel voll einen an der Klatsche“, meinte der eine, vermutlich Hendrik, woraufhin der andere, den er nicht identifizieren konnte, antwortete: „Das haben Streber doch immer. Der hält sich echt für was Besseres, der Arsch.“

Beiden gab er recht. Marcel wusste, dass er anders tickte und sah tatsächlich ein bisschen auf seine kindischen Mitschüler herab. Die hatten nämlich nichts anderes als Fußball und Ego-Shooter im Kopf.

Wenig später gesellte sich zu seinem Technik-Wahn etwas Neues: Feuchte Träume über Männer. Marcel begann, neben dem Werkzeug Zeitschriften mit schönen Männerkörpern zu horten. Da er pragmatisch eingestellt war, suchte er im Internet nach einer Gruppe Gleichgesinnter und ging zu einem Jugendtreffen im Magnus-Hirschfeld-Zentrum. Beim ersten Mal war es doof, weil er sich nicht traute jemanden anzusprechen. Erst beim dritten Besuch knüpfte er Kontakte und von da ab ging’s ganz leicht.

In Cord, Garrett und Lionel fand er klasse Kumpel. Sie fingen an, regelmäßig in seiner Garage abzuhängen. Cord war ein waschechter Nerd, Garrett ein Philosoph und Lionel genauso technikverrückt wie Marcel. Bei den letzten beiden wussten die Eltern Bescheid. Cord und Garrett hingegen hielten ihre Neigung lieber geheim, weil sie zu Hause Restriktionen befürchteten.

Die Idee, eine Zeitmaschine zu bauen, kam natürlich von Garrett. Eines Abends sinnierte er: „Wenn ich in die Vergangenheit reisen könnte, würde ich mich nach Amerika um 1500 beamen. Damals waren die Indianer noch ein freies Volk.“

„Na, super! Und was willst du denn da? Den ganzen Tag Büffel jagen und abends deine Squaw besteigen?“, höhnte Lionel.

„Bei den Indianern waren Schwule anerkannt. Ich würde der Mann eines starken Kriegers werden.“ Garrett seufzte. „Meinetwegen auch die Frau, Hauptsache, der Typ ist heiß wie die Hölle.“

Lionel verdrehte bloß die Augen, aber Marcel war angefixt. Auf seinem Notebook sah er sich dutzende Male Zurück in die Zukunft an, um herauszufinden, wie man diesen Flux-Kompensator baute. Ihm war wohl bewusst, dass es sich um einen Film handelte, aber vielleicht funktionierte sowas inzwischen ja sogar in der Wirklichkeit. Immerhin waren seit dem Dreh einige Jahre ins Land gegangen.

Gemeinsam mit Cord tüftelte er an der Konstruktion, die er mit Lionel umsetzte. Das Chassis (ohne Reifen) samt Karosserie eines ausgemusterten Traktors (Marcels Vater transportierte das Teil für sie in die Garage) diente als Untergestell. Herzstück stellte ein alter Computer dar, den sie mit zehn Mikrowellen verbanden. Die Geräte waren intakt und nur aufgrund ihrer geringen Leistung ausgemustert worden. Zehn mal 300 Watt befand Marcel für ausreichend, um einen Energieschub zu erzeugen, der eine Person durchs Zeit-Raum-Kontinuum beförderte.

Garrett mutmaßte, dass einem der Schub eher das Gehirn grillte. So ganz abwegig erschien Marcel dieser Verdacht nicht. Für den ersten Versuch nahmen sie daher eine Vogelscheuche, die sie aus Stroh und alten Klamotten gefertigt hatten. Dank des Feuerlöschers, von Marcels Vater in der Garage installiert, konnten sie das Schlimmste verhindern. Vom Strohmann blieb allerdings nur ein verkohltes Häufchen übrig.

Garrett bekreuzigte sich. „Friede seiner Asche.“

„Du willst ihn aber nicht auch noch begraben?“, fragte Cord spöttisch.

Dafür zeigte Garrett ihm den Stinkefinger.

Leider war ihr kleines Feuerwerk nicht unbemerkt geblieben. Marcels Vater drohte ihnen an den Strom abzustellen, wenn sie noch einmal versuchten, die Garage niederzubrennen. Diskussionen waren zwecklos. Das wusste Marcel aus Erfahrung. Er versprach also, zukünftig nur noch harmlose Experimente zu machen.

Das Interesse der anderen an der Maschine erlosch sowieso in den folgenden Wochen. Sowohl Cord als auch Lionel verloren ihre Unschuld, was für reichlich Gesprächsstoff sorgte. Sie schmiedeten Pläne, um Garrett und Marcel ebenfalls in die Geheimnisse des Sexlebens einzuführen. Letztendlich versuchten die beiden es miteinander, was zwar die nötige Erfahrung, zugleich aber auch die Erkenntnis brachte, dass sie nicht als Paar taugten.

Nach dem Abitur, das erst Garrett und Marcel, im Sommer darauf Cord und Lionel bestanden, löste sich ihre Clique allmählich auf. Garret ging für ein Jahr nach Australien, Cord zum Studieren nach Heidelberg und Lionel fand einen festen Freund.

Wieder war Marcel allein. Er schrieb sich an der Uni Hamburg für Maschinenbau ein und erstand günstig ein altes Motorrad, an dem er Stunde um Stunde in der Garage herumschraubte.

1.

 Dankbar für die Fernbedienung, mit der er das Garagentor vor kurzem ausgestattet hatte, ließ Marcel es hochfahren und fuhr die schwere Maschine ins Trockene. Bis auf die Unterhose war er durchnässt. Vor ungefähr einer halben Stunde hatte es angefangen, wie aus Kübeln zu gießen und regnete immer noch junge Hunde.

Er nahm seine total beschlagene Brille ab, legte sie auf die Werkbank, schloss das Tor und schaltete den Heizstrahler ein. Obwohl es August war, klapperte er mit den Zähnen. Nachdem er seine nassen Sachen aus- und einen Blaumann angezogen hatte, kümmerte er sich um seine Lady. Sorgfältig trocknete er sie mit einem alten Handtuch ab, wobei ihm auffiel, dass er die Chromfelgen mal wieder gründlich putzen musste.

Während er mit einer Zahnbürste den Speichen zu Leibe rückte, dachte er über sein langweiliges Leben nach. Gleich im Anschluss ans Studium hatte er bei Airbus angefangen zu arbeiten. Inzwischen nannte er den Laden, genau wie die Kollegen, VEB Flugzeugwerke. In einer Behörde dürfte es lebhafter zugehen, als in diesem Riesenkonzern.

Hinter ihm lag eine erfolgreich gescheiterte Beziehung, weshalb er erstmal wieder zu Hause eingezogen war. Die Sache mit Lutz hatte im Grunde von Anfang an keine Zukunft gehabt. Nach drei Jahren waren sie in Freundschaft auseinandergegangen, was ja schon für sich sprach. Zwischen ihnen hatte es an Leidenschaft - ach, an allem gemangelt.

Nun war er also wieder allein. Ab und zu traf er zwar seine ehemaligen Garagen-Kumpel, doch so wie damals würde es niemals wieder werden. Lionel und Garrett waren eifrige Szenegänger und Cord hatte sich tief ins Programmieren von Spielen vergraben.

Seufzend warf er einen Blick auf das Bettlaken, unter dem die Überreste ihrer Zeitmaschine standen. Noch mehr als damals reizte es ihn, mit dem Teil in eine andere Dimension zu reisen. Mittlerweile war ihm jedoch klar, dass dieser Wunsch für immer ein Traum bleiben würde. Vielleicht wäre es möglich die Zeit zu überlisten, wenn man mit einer Raumfähre gegen den Uhrzeigersinn in irrer Geschwindigkeit um die Welt kreiste. Tja. Nur gab es so was leider nicht.

Vom Putzen war ihm warm geworden. Er stellte den Heizstrahler aus und öffnete das Tor einen Spalt. Der Blaumann auf seiner nackten Haut fühlte sich ziemlich sexy an. Er zog den Reißverschluss runter und holte seinen Halbsteifen heraus. Mit vor ihm her schwingender Erektion begab er sich zur Werkbank, wischte seine Brille am Ärmel trocken und setzte sie sich auf die Nase. Gerade wühlte er in einer Schublade nach einer Wichsvorlage, als jemand das Tor ganz öffnete.

„Deine Mutter möchte wissen, ob du mit uns zu Mittag isst“, erklang die Stimme seines Vaters.

„Klar, gern. Ich komm gleich“, gab er über die Schulter zurück.

Sein Vater kam herein und beäugte das Motorrad. „Wie läuft die alte Dame?“

Möglichst unauffällig stopfte Marcel seinen Schwanz zurück in den Blaumann und zog den Reißverschluss hoch, bevor er sich umdrehte. „Erste Sahne. Willst du mal fahren?“

„Wenn ich das tue, bringt deine Mutter mich um.“

Seine Mutter sah es schon ungern, dass Marcel mit ‚diesem gefährlichen Ding‘ herumdüste. Wahrscheinlich würde sie wirklich ausflippen, wenn sich sein Vater auf die ‚Höllenmaschine‘ schwang. „Dann lass uns reingehen.“

Er hob sein Bündel nasse Klamotten auf und folgte seinem Vater ins Haus, wo er ins Obergeschoss flitzte, damit seine Mutter ihn nicht sah. Den dreckigen Blaumann durfte er nämlich nur in der Garage tragen. In frischer Kleidung kam er wenig später die Treppe wieder runter. Im selben Moment läutete es. Er öffnete die Tür, um seine Schwester Emily reinzulassen.

„Hi Brüderchen“, begrüßte sie ihn. „Wie geht’s?“

„Muss ja. Und selbst?“

Sie zuckte mit den Achseln. „Das übliche.“

„Emily?“, rief ihre Mutter aus der Küche. „Magst du kommen und mir helfen?“

Im Hause Kostein zelebrierte man die traditionelle Rollenteilung. Dessen ungeachtet war seine Mutter ein toleranter Mensch und liebte ihn, trotz seinem Hang zu Männern; außerdem hatte er auf ihr Betreiben hin die Garage als Werkstatt erhalten. Gut, letzteres war eher ihrem Selbsterhaltungstrieb geschuldet, da sie befürchtete, er könnte das ganze Haus abfackeln. Dennoch rechnete er seine Mutter hoch an, ihn in seiner Selbstfindungsphase nicht beschnitten zu haben.

Beim Essen plätscherte die Unterhaltung vor sich hin, bis Emily erzählte: „Neulich hab ich Garrett beim Einkaufen getroffen. Er wollte die Tage mal bei dir …“ Sie sah Marcel an. „… vorbeischauen. War er schon hier?“

Er schüttelte den Kopf. „Bisher nicht.“

„Ich soll dich jedenfalls schön grüßen und euch auch.“ Letzteres war an ihre Eltern gerichtet.

„Was macht er denn so?“, erkundigte sich seine Mutter.

„Momentan ist er Referendar an einer Stadtteilschule. Hab vergessen an welcher. Außerdem ist er frisch von seinem Freund getrennt.“

Marcels Mutter seufzte. „Ach ja. Bei den Männern hält es wohl nie lange.“

„Mama, bitte! Es trennen sich genauso viele hetero wie schwule Paare“, brauste er auf.

„Genau“, sprang Emily für ihn in die Bresche. „Guck doch in die Zeitung. Promi-Hetero-Paare trennen sich auch ständig.“

Zu Beginn der Garagen-Clique hatte Emily oft bei ihnen abgehangen, weil sie total in Garrett verknallt war. Selbst die Tatsache, dem falschen Geschlecht anzugehören, konnte sie nicht davon abhalten. Schließlich hatten sie ein Schild ‚Kein Weibsvolk zugelassen‘ an ans Tor gehängt. Zähneknirschend war Emily danach weggeblieben.

„Das ist doch was ganz anderes. Prominente meist aus ganz anderen Gründen als der großen Liebe zusammen“, widersprach Marcels Mutter. „Da geht es um Publicity und so.“

„Ach? War es bei uns nicht genauso?“, schaltete sich sein Vater schmunzelnd ein, woraufhin das Thema vom Tisch war.

 

In der Mitte der folgenden Woche tauchte Garrett auf. Marcel schraubte gerade am Motorrad, als sein Kumpel in die Garage schlenderte.

„Hi Alter.“ Garrett klopfte ihm auf die Schulter und lehnte sich mit dem Hintern gegen die Werkbank. „Wie ist es so?“

Marcel zuckte die Achseln. „Wie immer. Alles doof.“

„Was macht eigentlich unsere Zeitmaschine? Hast du daran mal wieder gebastelt?“

Wie kam Garrett denn nach all den Jahren darauf? „Nö.“

„Ich lese gerade mit meinen Schülern George Orwell, daher die Frage.“ Garrett spähte zu dem Bettlaken, unter dem sich die Maschine befand. „Vielleicht kriegen wir es ja doch noch hin.“

„Du spinnst. Gerade du solltest wissen, dass sowas unmöglich ist.“

„Wieso ich?“

„Weil du Lehrer … na ja, fast Lehrer bist, also ein rationaler Typ.“

Garrett zeigte ihm einen Vogel. „Was hat das mit Visionen zu tun?“

„Auch wieder wahr“, brummelte Marcel, ging zu dem verhüllten Teil und zog das Laken vorsichtig, um nicht allzu viel Staub aufzuwirbeln, herunter.

Ordentlich wie er nun mal war, hatte er damals alle Brandspuren beseitigt. Die Maschine sah fast genauso aus, wie vor dem schiefgelaufenen Experiment.

Garrett bezog neben ihm Aufstellung. „Wir könnten es noch mal mit weniger Watt probieren.“

„Ich glaube der Fehler liegt nicht an der Energie, sondern ganz woanders.“

 

Drei Wochenenden tüftelten Garrett und er an der Maschine und führten einen leider ergebnislosen Testlauf durch. Dass der Dummy - ein Paar alte Gummistiefel - diesmal nicht in Flammen aufging, obwohl sie das Gerät erneut mit etlichen Watt speisten, wertete Marcel als erheblichen Fortschritt.

Sie begossen den Misserfolg mit einigen Fläschchen Bier. Anschließend stützten sie sich gegenseitig, um die Garage zu verlassen und in Marcels Zimmer zu gelangen. Wahrscheinlich machten sie Lärm wie zwei Elefantenbabys, doch sie kamen unbehelligt ans Ziel. Garrett richtete sich mit Kissen und Decken auf dem Boden ein, Marcel krabbelte ins schmale Bett.

Mitten in der Nacht schreckte er hoch. Im Traum war ihm die Lösung für ihr Problem begegnet. Im Grunde war es doch ganz einfach! Er knipste die Leseleuchte an, stieg über Garrett hinweg, kramte Papier und Schreiber hervor, verzog sich wieder aufs Bett und notierte seinen Einfall. Danach löschte er das Licht und blinzelte eine Weile in die Dunkelheit, bis ihn der Schlaf übermannte.

Am nächsten Morgen wunderte er sich, wieso neben ihm ein Schreibblock lag. Schlaftrunken betrachtete er sein Gekritzel und war, als er es entziffert hatte, mit einem Schlag hellwach.

„Hey Garrett! Wach auf!“ Er rüttelte seinen Kumpel an der Schulter. „Ich glaub, ich hab es.“

„Hm?“

„Ich glaub, ich hab das fehlende Glied gefunden!“

„Was’n?“, murmelte Garrett, wälzte sich herum und guckte stirnrunzelnd zu ihm hoch. „War deins weg?“

„Idiot! Ich hab irgendwann heute Nacht die zündende Idee gehabt. Sieh nur!“ Er hielt Garrett den Block vor die Nase.

„Das kann doch kein Schwein lesen.“

Marcel stieß ein genervtes Schnauben aus. „Okay-okay.“ Er las das Geschriebene vor, wobei Garrett die Stirn noch mehr krauste.

„Ich versteh kein Wort.

„Zugegeben, das ist Technik-Latein. Cord wird es aber bestimmt schnallen.“

Er behielt recht. Als er Cord am folgenden Samstag seine Idee erläuterte, sah er förmlich die Glühbirne über dem Kopf seines Kumpels aufleuchten. „Mann, Alter! Das ist genial!“

„Im Prinzip ist es total einfach“, wiegelte Marcel bescheiden ab. „Wollen wir loslegen?“

Anstelle einer Antwort packte Cord ein Notebook aus, stellte es auf die Werkbank und verband es mit dem Bordcomputer der Maschine. Dabei handelte es sich um eine Spezialanfertigung, eine Kreuzung aus Uhrwerk und künstlicher Intelligenz in einem wasserfesten Gehäuse. Energie lieferten drei komprimierte Mikrowellen-Innenleben, die im rückwärtigen Teil der Karosserie untergebracht waren. Den Bordcomputer hatte Marcel mit Garretts Hilfe einer Generalüberholung unterworfen, die Energieeinheit völlig neu konzipiert.

„Windows ist Scheiße“, brummelte Cord, während er auf die Tastatur einhackte. „Vielleicht reise ich zu Bill Gates Eltern und hindere sie daran, den Jungen zu zeugen.“

Ein hübsches Gedankenspiel, das Garrett, als jener mit Lionel im Schlepptau einige Zeit später aufkreuzte, unbewusst weiterführte. „Überlegt doch mal, welche Möglichkeiten sich eröffnen würden. Man könnte nach Braunau reisen und die Geburt eines Riesenarschlochs verhindern.“

„Braunau?“, echote Lionel verständnislos.

Oh Mann!“, rief Marcel, zugleich mit den beiden anderen. „Sag nicht, du kennst Hitlers Geburtsort nicht.“

Lionel besaß den Anstand, rot anzulaufen. „Ich war gestern feiern und bin noch gar nicht ganz wach.“

Es fühlte sich, als wären nicht Jahre, sondern bloß Wochen vergangen, seit sie das letzte Mal vollzählig in der Garage versammelt waren. Marcel merkte, dass er blöde grinste vor Freude, endlich wieder im Kreis seiner Kumpel zu sein.

„Der Tod dieses Typen hätte den 2. Weltkrieg nicht unbedingt verhindert. Schließlich gab es noch genug andere Arschlöcher, ohne die der Führer seine Macht nicht hätte durchsetzen können“, meinte Cord und an Marcel gewandt: „Kannst du Kaffee für uns besorgen?“

Es dauerte ein wenig, bis er mit einem Tablett in die Garage zurückkehrte. Inzwischen standen seine Kumpel um das Notebook herum und diskutierten. Er stellte seine Fracht auf die Werkbank, woraufhin er in den Mittelpunkt des Interesses rückte. Seine Mutter hatte selbstgebackene Kekse spendiert, denen seine Freunde eifrig zusprachen und dazu Kaffee schlürften.

„Wenn man der Hydra einen Kopf abschlägt, wachsen etliche nach“, sinnierte Garrett. „Es ergibt also keinen Sinn durch die Geschichte zu rasen, um die Geburt von späteren Machthabern zu verhindern. Vielleicht würde die Welt gar nicht mehr existieren, weil anstelle des 2. Weltkriegs ein globaler Atomschlag der Supermächte passiert, wenn man zu viel herumpfuscht.“

„Du meinst, das Böse setzt sich immer durch?“, nahm Cord den Faden auf und schnappte sich ein weiteres Plätzchen.

„Es ist nun mal mächtiger als das Gute, weil es keine Hemmungen kennt“, mischte sich Lionel ein.

„Hört auf mit diesen tiefsinnigem Kram“, bat Marcel. „Wie sieht’s aus? Testen wir unser Maschinchen?“

„Ich setz mich aber nicht da rein“, meinte Cord. „Haben wir ein Versuchskaninchen?“

„Vorausschauend wie ich nun mal bin …“ Grinsend sah Marcel von einem zum anderen. „… hab ich dem Nachbarn eine Futtermaus abgequatscht.“

„Futtermaus?“, hakte Cord nach.

„Gregor hat eine Schlange, für die er regelmäßig Lebendfutter besorgt. Die Mäuse, die sich gegens Verspeisen wehren, bringt er in den Zoo zurück. Letzte Woche hatte er wieder so einen Fall. Ich hab ihm die Maus für einen Euro abgekauft.“

„Welche Maus wehrt sich denn bitteschön nicht dagegen, gefressen zu werden?“, wollte Garrett wissen.

Marcel zuckte die Achseln. „Es gibt vielleicht lethargische Kandidaten, die ihr Gefressen werden als eine Art unausweichlichen Akt betrachten.“

„Nicht lange sabbeln. Hol das Ding“, forderte Cord. „Hauptsache, du lässt sie nicht frei laufen.“

„Oh! Ist die süß!“, lautete Garretts Kommentar, als er mit dem Mäuschen zurückkam. Das Tier war wirklich possierlich, mit dem schneeweißen Fell und roten Kulleraugen. Es saß in einer Pappschachtel, mit zwei Fenstern aus durchsichtiger Folie. „Die hältst du aber nicht seit Tagen da drinnen, oder?“

„Natürlich nicht“, erwiderte er entrüstet. „Ich hab sie in Emilys Hamsterkäfig untergebracht.“ Er stellte die Schachtel auf den Sitz.

„Ich will nicht schuld sein, wenn sie gegrillt wird“, meinte Lionel. „Können wir es nicht mit was anderem probieren?“

„Und wie sollen wir dann rausfinden, ob man die Reise lebend übersteht?“, erkundigte sich Cord.

Lionel zuckte die Achseln. „Das können wir ja im nächsten Schritt tun.“

„Leute! Normalerweise wäre die Maus schon halb verdaut im Schlangenkörper, also spart euch die moralischen Bedenken.“ Marcel beugte sich in die Karosserie, tippte auf der Konsole herum, betätigte einen Schalter und richtete sich wieder auf. „So. Wir schicken Mr. Maus jetzt fünf Minuten in die Vergangenheit.“

Alle vier traten von der Maschine zurück, die zu summen begann. Je lauter das Geräusch wurde, desto mehr wackelte die Bleche. Schließlich, als der Pegel einen unangenehmen Level erreichte, blitzte es gewaltig. Marcel kniff die Augen zu und öffnete sie erst wieder, als Stille eintrat. Dort, wo eigentlich Luft sein sollte, stand die Zeitmaschine. Enttäuscht stöhnte er auf.

„Wäre ja auch zu schön gewesen“, maulte Garrett.

2. Aurelian

Als jüngster von drei Brüdern war Prinz Aurelian das Nesthäkchen und wurde vom Personal der Burg verhätschelt. Sein liebster Platz war in der Küche, wo es stets gut roch und so manche Leckerei abfiel. Auch im Pferdestall, bei seinen Lieblingen, hielt er sich gern auf, genau wie auf den Burgzinnen, um in die Ferne zu gucken. Man nannte ihn Prinz Träumer, weil er oft geistesabwesend durch die Gegend lief.

Mit sieben Jahren fand seine unbeschwerte Kindheit ein jähes Ende. Sein Vater, Herzog Reginald von Sachsen, schickte ihn, wie bereits seine Brüder davor, an einen Hof, an dem er als Page dienen sollte. Es handelte sich um die Burg von Sir Eldred von Freiburg, einem Ritter von untadeligem Ruf. Einerseits war Aurelius stolz, zu solch feinem Herrn geschickt zu werden, andererseits wäre er lieber in der Nähe eines seiner Brüder gewesen. Das gab er natürlich nicht offen zu. Schwäche war seinem Vater verhasst.

Seine Mutter weinte beim Abschied. Es fiel Aurelian schwer, seine Tränen zurückzuhalten. Nur der strenge Blick seines Vaters bewahrte ihn davor, sich vor dem ganzen Gesinde zum Narren zu machen.

Schon bald war jedoch der Schmerz vergessen, da drei vertraute Männer ihn begleiteten und er endlich die Welt jenseits der Burgmauern von nahem sah. Zweimal nächtigten sie im Wald und erreichten am Mittag des dritten Tages ihr Ziel. Seine Begleiter übergaben ihn Sir Eldred, der ihn kurz musterte und an einen Diener weiterreichte.

Aurelian wurde in einen Raum gebracht, in dem Strohsäcke auf dem Boden lagen. Ein schmales Fenster ließ etwas Licht herein. „Hier schlafen die Pagen“, erklärte der Diener. „Lass deine Sachen hier und folge mir in die Küche.“

Er gehorchte. In der Küche herrschte rege Betriebsamkeit. Eh er sich’s versah, drückte jemand ihm eine schwere Schüssel in die Hand. „Folge einfach den anderen“, sagte die Frau und schubste ihn unsanft in die entsprechende Richtung.

Im Laufe des Tages lernte er Samuel, Kasim und Adelbar kennen, ebenfalls Pagen und in seinem Alter. Sie wurden zu einer eingeschworenen Gemeinschaft. Wenn einer von ihnen Heimweh hatte, trösteten die anderen ihn und wenn jemand Prügel bekam desgleichen. Im ersten Jahr gab es oft Schläge, weil ihnen regelmäßig etwas runterfiel oder sie eine Arbeit nicht wunschgemäß verrichteten.

Im zweiten wurde es besser, da sie inzwischen geschickter waren und wussten, worauf sie achten mussten. Außerdem erhielten sie neben ihrem Dienst Unterricht in verschiedenen Disziplinen. Sie lernten, Armbrust, Schwert, Lanze und Schild zu benutzen, höfische Sitten, Singen und das Spielen der Lyra. Aurelian hatte schon immer gern musiziert, daher fiel es ihm leicht. Samuel hingegen besaß gar kein Talent und quälte sich fürchterlich.

Auf diese Weise gingen insgesamt sieben Jahre ins Land. Mit vierzehn Lenzen beförderte man sie zu Knappen. Bei einer Feier erhielt jeder von ihnen ein eigenes Kurzschwert. Fortan waren sie je einem Ritter zugeteilt. So lange sich ihr jeweiliger Herr in der Burg aufhielt, änderte sich jedoch nichts an ihrem täglichen Ablauf. Aurelian war enttäuscht, zugleich erleichtert, weil er so bei seinen Freunden bleiben konnte. Man wies ihnen andere Schlafplätze zu, da ihre Kammer für Pagen-Neuzugänge benötigt wurde. Mit fünf älteren Knappen teilten sie sich einen größeren Raum.

Im darauffolgenden Sommer fand ein Turnier statt. Es reisten etliche Gäste an, auch Ritter aus den umliegenden Ländereien. Zu Aurelians großer Freude befand sich sein ältester Bruder Erifan unter der Gefolgschaft. Tagsüber fanden sie leider keine Gelegenheit, ungestört ein paar Worte zu wechseln. Erst nachts, als alle Bewohner schlafen gegangen waren, trafen sie sich in einer dunklen Ecke des Innenhofes.

„Mein kleiner Bruder“, flüsterte Erifan und umarmte ihn fest. „Geht es dir gut?“

„Ich vermisse dich“, gestand er ebenso leise.

„Wir werden uns ja bald wiedersehen“, tröstete ihn sein Bruder, holte ein Döschen hervor und drückte es ihm in die Hand. „Bewahre das hier gut auf. Wenn es in den Kampf geht, wirst du es brauchen.“

„Was ist das? Ein Wundheilmittel?“

„Das trifft es fast. Du reibst damit …“ Den Rest wisperte Erifan ihm ins Ohr. Aurelians Augen wurden riesengroß. Er konnte das Gehörte nicht fassen.

„Du lügst mich an.“

Erifan lächelte traurig. „Es ist leider die Wahrheit. Finde dich lieber damit ab, sonst ziehst du den Zorn deines Herrn auf dich.“

„Was kann mir schon passieren? Mehr als schlagen …“ „Psst“, machte sein Bruder und zog ihn tiefer in die Dunkelheit. Ein Mann torkelte vorbei. Nachdem die Schritte verklungen waren, ergriff Erifan das Wort: „Man würde dich wegen Ungehorsams öffentlich auspeitschen.“

Kleinlaut betrachtete Aurelian das Gefäß, schraubte den Deckel ab und roch am Inhalt. „Talg?“, riet er.

„Richtig.“

„Aber das ist Sodomie!“, begehrte er erneut auf.

„Alles, was dem Sieg dient, ist erlaubt.“

Dem gab es nichts hinzuzufügen. Er verstaute das Döschen in seinem Wams, verabschiedete sich von seinem Bruder und schlich in die Schlafkammer.

Aurelian teilte das Wissen mit seinen Freuden, die es - genauso wie er - nicht glauben konnten, sich aber trotzdem entsprechend ausrüsteten. Samuel stürzte sich nach dem ersten Feldzug von der Burgmauer; die anderen nahmen die Gegebenheiten zähneknirschend in Kauf.

In den Jahren bis zum Ritterschlag war Aurelian seinem Bruder mehr als einmal dankbar für die offenen Worte. Ohne Erifans Zuspruch hätte er die Peitsche zu spüren bekommen. An den teils derben Sprüchen der älteren Knappen erkannte er, dass kaum einer von der Angelegenheit verschont blieb. Aurelian nahm sich vor, gegenüber seinen zukünftigen Untergebenen ein fairer Herr zu sein.

Endlich war der ersehnte Tag da. In einer feierlichen Zeremonie wurden ihm Schwert und Schwertgürtel überreicht. Sein Vater, der angereist war, um ihn nach Hause zu holen, sah voller Stolz zu. Das machte all die Qualen der langen Jahre aber nicht wett. Aurelian hatte neben seiner Unschuld auch etwas anderes verloren. Er sah in Rittern keine edlen Kämpfen mehr, sondern rücksichtslose Despoten. Sein Idealismus hatte empfindlich gelitten.

Seine Mutter begrüßte ihn unter Tränen. Sie hatte ihm oft geschrieben, so dass sie sich nicht gänzlich fremd geworden waren. Dennoch kam sich Aurelian anfangs verloren vor und vermisste Kasim und Adelbar. Erst als seine Brüder Gandolan und Erifan von einer Nachbarschaftsfehde zurückkamen, fühlte er sich wieder ein bisschen heimisch.

Alltag kehrte ein. Täglich übte sich Aurelian im Schwertkampf. Mit seinen Brüdern ging er oft auf die Jagd und saß abends nach dem Essen im Kreise der Recken, um zu trinken und ihre Geschichten anzuhören. Unwillkürlich fragte er sich bei dem einen oder anderen, ob jener auch seinem Knappen befahl sich zu bücken, um Druck abzulassen.

Es war jedoch nicht nur das, worüber er nachdachte, sondern auch, wozu all die Kämpfe geführt wurden. Sicher, man musste sein Land verteidigen, doch in den meisten Fällen ging es doch eher darum, welches hinzuzugewinnen. Was sollte diese Gier? Sie hatten genug zu essen und zu trinken.

Wenn er versuchte, mit seinen Brüdern darüber zu sprechen, winkten die bloß ab. Beide pflegten dann stets zu sagen: „Mach dir um so etwas keine Gedanken, Kleiner.“

Seine Versuche, mit Erifan über die Sache zu reden, schlugen genauso fehl. Sein Bruder bat ihn sogar, nie wieder ein Wort darüber zu verlieren. Manchmal hatte Aurelian das Gefühl, an all seinen Fragen zu ersticken. Zunehmend empfand er sich als Fremdkörper, in der nur auf Saufen, Fressen, Kämpfen und Beischlaf ausgerichteten männlichen Burgbesatzung.

Mit dem Frühling kam etwas Neues hinzu, das ihm Kopfzerbrechen bereitete: Sein Vater kündigte an, dass es für seine Söhne an der Zeit war zu heiraten und Nachkommen in die Welt zu setzen. Den Anfang würde Erifan als Ältester machen und im Sommer die Tochter eines benachbarten Fürsten ehelichen. Im Herbst folgte Gandolan, für den die junge Witwe eines im Kampf gefallenen Ritters, ein Freund ihres Vaters, vorgesehen war. Das Schlusslicht bildete Aurelian, der Gwendolyn, die Tochter des Grafen von Falkenstein, im darauffolgenden Frühjahr vor den Altar führen sollte.

Es war durchaus üblich, dass sich die Brautleute erst am Tag der Hochzeit kennenlernten. Reginald von Sachsen organisierte jedoch ein Fest, damit sie ihre Bräute schon vorher zu Gesicht bekamen. Aurelians Vater besaß durchaus positive Seiten.

Gwendolyn war ein liebreizendes, wenn auch etwas einfältiges Mädchen mit wunderschönem, goldenem Haar. Sie besaß nur einen Fehler: Das falsche Geschlecht. So sehr sich Aurelian auch bemühte, konnte er für sie außer lauer Zuneigung nichts empfinden. Die grobe Inbesitznahme durch seinen einstigen Herrn war ihm zwar zuwider gewesen, dennoch hatte er festgestellt, körperlich von Männern angezogen zu werden.

Einen weiteren Beweis hatte ein Vorkommnis geliefert, das ebenfalls während seiner Knappenjahre geschehen war. Eine Magd hatte ihm damals schöne Augen gemacht, ein hübsches Ding mit üppigem Vorbau. Er war ihr in einem unbeobachteten Moment in eine Kammer gefolgt, wo er zu seiner Beschämung feststellen musste, dass sich seine Männlichkeit nicht regte. Kein Rubbeln und Entblößen nackter Frauenhaut half. Empört hatte das Mädchen ihren Busen wieder eingepackt und ihn stehenlassen, oder auch hängenlassen, je nach Betrachtungsweise.

Durch ständige Prüfung seiner Reaktion auf beide Geschlechter war Aurelian inzwischen davon überzeugt, ein Sodomit zu sein. Wäre es da nicht die bessere Lösung, als Ritter durch die Lande zu ziehen und seine Dienste feilzubieten? Vielleicht fand er einen Knappen, der ihm zugeneigt und bereit war, solches Leben mit ihm zu teilen. Auf der anderen Seite hasste er die sinnlose Abschlachterei. Wie dem auch sei: Es würde in jedem Fall zu einem Bruch mit seinem Vater führen, womit er sich gar nicht anfreunden konnte.

Nachdem die Gäste wieder abgereist waren, verkroch er sich in seine Kemenate. Wie bei seinen Brüdern war sein Privatbereich mit einem Kamin ausgestattet, ein Luxus, der sonst Frauen vorbehalten war. Blicklos sah er in die glimmende Asche und grübelte, wie er seinem Schicksal entrinnen konnte. Gwendolyn schien von ihm begeistert und hatte ihn sogar gedrängt sie zu kompromittieren, um die Heirat zu beschleunigen. Wenn sie rausfand, dass er dazu gar nicht in der Lage war … ein Desaster! Sie würde das bestimmt nicht klaglos hinnehmen, zumal sie in den höchsten Tönen von ihren zukünftigen Kindern geschwärmt hatte. Die Idee, seine Brüder zu bitten Gwendolyn zu schwängern, verwarf er gleich wieder. Er wollte sich nicht mehrfach versündigen, indem er zu Ehebruch und Vergewaltigung aufrief.

Anlässlich des Besuchs hatte sein Vater für ihn eine Rüstung sowie ein Schild mit dem Wappen der Sachsenburg schmieden lassen. Letzteres befand sich in seinem Zimmer, der Rest in der Waffenkammer der Burg. Nachdenklich betrachtete er das blanke Material. Wahrscheinlich würde sein Vater ihm die Sachen abnehmen, wenn er sich lossagte. Ohne Ritterrüstung und Schild war er ein wertloser Kämpfer und seine Mittel reichten nicht, um etwas Eigenes anfertigen zu lassen. Wie er es auch drehte und wendete: Ihm blieb eigentlich keine Wahl. Entweder wandte er sowohl der Familie als auch seinem Status den Rücken oder er fügte sich in die Ehe.

Ein Klopfen an der Tür riss ihn aus seinen trüben Überlegungen. „Ja?“

Erifan schaute herein. „Ich geh jagen. Kommst du mit?“

„Gern.“ Er sprang auf, griff nach seinem Umhang und folgte Erifan die Treppe hinunter zum Stall.

 

3.

 Im Laufe der Woche modifizierte Marcel die Maschine ein wenig und startete am Freitagabend einen Testlauf. Das Wunder geschah: Die Apparatur löste sich vor seinen Augen in Luft auf. Fassungslos starrte er auf die Stelle, an der sie gestanden hatte.

„Ich glaub’s nicht“, murmelte er, zückte sein Smartphone und sah abwechselnd aufs Display und den leeren Platz.

Exakt drei Minuten später tauchte die Zeitmaschine wieder auf. Eine Kontrolle ergab, dass die Maus quicklebendig in der Schachtel saß. Ob ihr Hirn Schaden genommen hatte, konnte er ja leider nicht testen. Äußerlich wirkte sie jedenfalls unversehrt und knabberte ihre Belohnung, einen Keks, im gleichen Tempo wie zuvor.

Marcel war so perplex über das Gelingen des Experiments, dass er nicht wusste, ob er Angst oder Euphorie empfinden sollte. Er hatte ein Tor in eine andere Welt erschaffen! Wie man bereits aus dem Film Zurück in die Zukunft wusste, konnte damit allerlei Schindluder getrieben werden. Wenn der Apparat in falsche Hände geriet, wären die Folgen katastrophal.

Er brachte die Maus zurück in ihren Käfig und setzte sich aufs Bett. Mit dem erfolgreichen Test war ja noch lange nicht geklärt, wie weit man jemanden in der Zeit vor oder zurück schicken konnte. Vielleicht reichte die Energie nur für ein paar Minuten. Andere Frage: Wenn es wirklich gelang, einige hundert Jahre mit der Maschine zurückzureisen, woher nahm man den Strom, um wieder nach Hause zu kommen? Genügte dafür die Autobatterie, welche die Mikrowellen speiste?

Marcel schnappte sich einen Block und notierte, was ihm noch alles einfiel. Anschließend rief er Garrett an und gönnte sich auf den Erfolg ein erfrischendes Pils.

Offenbar hatte sein Kumpel eine Telefonkette initiiert. Um acht stand die versammelte Mannschaft vor der Tür. Cord und Lionel hatten je ein Sixpack dabei, mit dem sie in der Garage einen Umtrunk veranstalteten.

„Nun erzähl mal“, drängte Lionel. „Wie war’s?“

„Frag die Maus. Ich hab die Maschine nur verschwinden und wieder auftauchen sehen.“

„Eigentlich müsste man doch schneller altern, wenn man die Zeit doppelt durchlebt“, sinnierte Garrett. „Nehmen wir mal an, du reist zehn Jahre zurück. Dann wärest du, wenn du wieder hier ankommst, auch zehn Jahre älter als jetzt, also 37.“

„Aber nur, wenn ich in normaler Geschwindigkeit an diesen Punkt zurückkehre“, entgegnete Marcel.

„Stimmt. Man hüpft ja gewissermaßen über die Zeit hinweg.“ Garrett trank einen Schluck Bier, die Stirn weiterhin gerunzelt. „Machen wir einen weiteren Versuch?“

„Gleich. Ich muss erst mit Cord was wegen der Energieversorgung klären.“ Marcel wandte sich an Lionel und Cord, die die Maschine mit niedlicher Ehrfurcht anglotzten und erläuterte seine Befürchtungen. Sie beschlossen, beim nächsten Test den Energieverbrauch zu messen, um damit Hochrechnungen anzustellen. Sowas war Cords Spezialgebiet.

Er holte die Maus, setzte sie in die Zeitmaschine und programmierte den Bordcomputer. Diesmal sollte es eine Viertelstunde in die Vergangenheit gehen. Nachdem er aus Go gedrückt hatte, nahm er Abstand. Auch seine Kumpel wichen zurück. Wie beim letzten Mal vibrierte und dröhnte die Maschine, bevor sie verpuffte.

Oh! Mein! Gott!“, flüsterte Garrett in die entstandene Stille hinein.

Lionel setzte sich auf einen Farbeimer, ohne die leere Stelle aus den Augen zu lassen. Cord, pragmatisch veranlagt, wanderte mehrmals über die Fläche, auf der die Zeitmaschine gestanden hatte und schwang dabei die Arme hin und her, um schließlich zu verkünden: „Sie ist wirklich weg.“

„Dachtest du, sie ist bloß unsichtbar?“, spottete Marcel.

Cord zuckte die Achseln. „Sicher ist sicher.“

Die folgenden fünfzehn Minuten verbrachten sie in angespanntem Schweigen, nur durchbrochen von dem einen oder andern Plopp!, wenn sich jemand Pils-Nachschub nahm und den Bügelverschluss öffnete. Als sich die Viertelstunde ihrem Ende näherte, begann Garrett rückwärts zu zählen: „Zehn-neun-acht-sieben-sechs-fünf-vier-drei …“

Ein Zischen verschluckte die zwei-eins. Leicht dampfend tauchte die Maschine wieder auf. Die Karossiere war von Tropfen überzogen, als ob sie durch eine Nebelwand geflogen wäre.

Nach einem Moment andächtiger Ruhe näherte sich Marcel dem Gerät, spähte in den Karton mit der Maus und atmete auf. „Sie lebt noch“, verkündete er.

Lionel machte sich an der Batterie zu schaffen, baute sie aus und trug sie zur Werkbank, wo Cord übernahm. Garrett schnappte sich unterdessen die Maus und beäugte sie aus der Nähe. „Sie sieht ein wenig benommen aus.“

„Woran erkennst du das?“, wollte Marcel wissen und betrachtete das Tierchen ebenfalls aus der Nähe.

„Sie blinzelt“, behauptete Garrett.

„Vielleicht flirtet sie mit dir.“

„Ha, ha“, brummelte Garrett, drückte ihm die Maus in die Hand und gesellte sich zu den beiden anderen.

„Marcel?“, rief Cord über die Schulter. „Guck dir das mal an.“

Er bezog hinter seinem Kumpel Aufstellung.

„Die Batterie zeigt keinerlei Spannungsverlust. Ich kann mir das nur so erklären, dass sie sich durch die Reibung im Raum-Zeit-Kontinuum selbst wieder aufgeladen hat“, berichtete Cord. „Sie ist bis zum Anschlag voll.“

„Somit hat sich das Problem erledigt. Wie lange dauert es, bis sie sich von selbst entlädt?“

„Kommt auf die Temperatur an“, erwiderte Cord. „Vier Wochen sollte sie auf jeden Fall halten, außer du willst in die Antarktis. Dort dürfte es schneller gehen.“

„Wunderbar. Wie sieht es mit einer Art Zündverriegelung aus, damit niemand die Maschine klauen kann?“

„Pah! Dazu gibt’s Passwörter“, antwortete Lionel an Cords Stelle. „Ich bin für Timebomb.“

Letztendlich einigten sie sich auf Mausefalle. Cord übernahm die Einrichtung des Passworts, während Lionel die Energieversorgung wieder montierte. Anschließend machten sie einen weiteren Testlauf, diesmal eine halbe Stunde. Unversehrt kehrte die Maus mit der Maschine zurück und die Autobatterie zeigte erneut keine Ermüdungserscheinungen.

Lionel und Garrett brachen danach auf, um ein paar Leute im Sky, einem Szene-Club, zu treffen. Cord verabschiedete sich ebenfalls, weil noch Heimarbeit anlag. Der Ausdruck Workaholic war bei dem Burschen total untertrieben. Wenigstens die Maus blieb noch, aber sie hatte ja auch keine andere Wahl. Marcel goss ein bisschen Bier in den Deckel einer Sprühdose und stellte ihn in den Karton.

„Prost! Auf die vielgereiste Maus.“ Er leerte seine Flasche, legte sie zu dem anderen Leergut in einen Eimer und betrachtete die Maschine. „Ich glaub, für heute reicht’s mir auch“, erzählte er der Maus, was diese schweigend zur Kenntnis nahm.

 

Am nächsten Tag wachte er früher auf als sonst an einem Samstag. Graues Licht drang durch die Gardinen. Flink zog er sich an, schlich durchs Haus und in die Garage. Bevor er eingeschlafen war hatte er entschieden, einen Selbstversuch zu wagen. Was konnte schon passieren? Die Maus hatte den Ausflug lebend überstanden, also würde er auch keinen Schaden nehmen.

Mulmig war ihm dennoch zumute, als er sich in die Maschine setzte und das Passwort in die Konsole eintippte. Bevor er weitermachte, atmete er mehrmals durch und betete im Geiste in Vaterunser. Normalerweise war er nicht gläubig, aber in diesem Moment hielt er es für klüger, jedwede Unterstützung zu beantragen.

Seine Finger zitterten, als er seine Reisedaten eingab. Ehe er auf den Start-Button drückte, holte er erneut tief Luft. Die Maschine begann zu vibrieren. Hätte er sein Testament machen sollen? Wer kümmerte sich um die Maus, wenn er nicht zurückkam? Seine Eltern wussten nichts von dem Tierchen, weil seine Mutter Nager verabscheute. Emilys mittlerweile verstorbener Hamster war zwar auch einer gewesen, zählte aber in ihren Augen nicht dazu.

Plötzlich stürzte er in Schwärze. In seinen Ohren dröhnte es und es schien, als würde er gleichzeitig fallen und abheben. Sicherheitshalber, falls ihm irgendwelche Geister begegneten, die er mit seiner Aktion erzürnt hatte, schloss er die Augen. Na ja, er konnte eh nichts sehen. Eine gefühlte Ewigkeit später wurde es heller. Er blinzelte und entdeckte die nackte Glühbirne, die über der Werkbank leuchtete.

Vorsichtig, seine Beine waren vor Angst ziemlich weich geworden und seine Brille beschlagen, stieg er aus und öffnete das Garagentor. Dunkler Nachthimmel. Also hatte er sich tatsächlich in die Vergangenheit gebeamt. Marcel zückte sein Smartphone und kontrollierte die Uhrzeit. Es war fünf, also rund eine Stunde früher als vor wenigen Minuten. Seine Mundwinkel flogen hoch. Es funktionierte! Nun fragte sich aber noch, ob auch ein Ortswechsel klappte. Man konnte in den Bordcomputer Koordinaten des Ziels eingeben. Sollte er das auch ausprobieren?

Erneut begab er sich in die Maschine, ermittelte die Lage des nächstgelegenen Parks, tippte die entsprechenden Zahlen und Ankunftszeit in die Tastatur und drückte auf Start. Diesmal war er gewappnet und empfand die Reise als weniger aufwühlend. Seine Augen kniff er dennoch zu, weil das Schwarz - ein sehr-sehr dunkles Schwarz - nur schwer zu ertragen war.

Als das Vibrieren aufhörte, guckte er sich gespannt um. Hohe Bäume warfen Schatten im Mondlicht. Geradeaus befand sich der See, dessen Oberfläche im fahlen Schein glitzerte. Na also! Auch das funktionierte. Schnell hackte er seine Rückreisedaten in den Bordcomputer und betätigte den Startknopf.

Nachdem er wieder in der Garage angekommen, blieb er in der Maschine sitzen und überlegte sein weiteres Vorgehen. Bevor er sich richtig weit in die Vergangenheit wagte, war ein entsprechender Test vonnöten. Vielleicht belastete eine Reise über 50 Jahre die Batterie mehr als angenommen und machte eine manuelle Aufladung nötig. Gedankliche Notiz: Starterkabel einpacken. In 1969 gab es ja schon Verbrennungsmotoren und Strom, so dass eine Rückkehr gewährleistet war. Zuvor musste er allerdings prüfen, wo man ungefährlich landen konnte. Sein Elternhaus stand erst seit 30 Jahren. Vielleicht hatte an dieser Stelle zuvor ein Teich oder so gelegen.

Bei letzterer Frage kam ihm unerwartet der Nachbar zu Hilfe. Marcel saß mit seinen Eltern am Frühstückstisch, als es an der Tür läutete. Sein Vater ging hin.

„Morgen Gregor. Was kann ich für dich tun?“, hörte er seinen Vater fragen und beeilte sich, in den Flur zu kommen.

„Ist Marcel …?“ Gregor brach bei seinem Auftauchen ab und setzte neu an: „Da bist du ja. Ich hab hier noch mehr Futter, das meine Süße nicht fressen wollte. Möchtest du das auch haben?“

„Danke, aber ich hab noch genug davon“, erwiderte er. „Aber lieb, dass du an mich gedacht hast.“

Sein Vater sah zwischen ihnen hin und her, zuckte die Achseln und ging zurück in die Küche. Marcel bedeutete Gregor mit einem Wink, vor der Tür weiterzureden, trat nach draußen und erkundigte sich mit gedämpfter Stimme: „Weißt du, was vorher hier gestanden hat? Also, bevor die Siedlung gebaut wurde?“

„Hier war alles Acker. Wieso?“

„Nur aus Neugier. Und danke für das Angebot.“

„Ist auch schlauer, nicht zwei davon zu halten. Rums-Bums, hat man eine ganze Horde davon.“ Gregor zwinkerte ihm zu. „Schönes Wochenende.“

Sprach’s, drehte sich um und wanderte den Gartenweg runter. Marcel begab sich ins Haus und schloss die Tür. Garantiert würden seine Eltern wissen wollen, was mit dem Futter gemeint war. Da half nur eine Notlüge.

„Was meinte Gregor mit Futter?“, erkundigte sich seine Mutter, sobald er wieder am Tisch Platz genommen hatte.

„Eine Autobatterie. Er hat sich eine bei Ebay gekauft, die nicht passte und wohl nochmal das falsche Modell erwischt“, flunkerte Marcel.

„Ts-ts. Ebay“, brummelte sein Vater. „Dieser Sparwahnsinn macht die Leute echt verrückt.“

„Gregor muss halt auf jeden Cent achten“, nahm seine Mutter den Nachbarn in Schutz. „Er hat doch nur eine ganz winzige Rente.“

Somit war das vom Tisch. Nun musste Marcel noch die Maus loswerden. Vielleicht konnte er sie Emily aufschwatzen. Seine Schwester war zum Mittagessen angemeldet, also passte das in seinen Zeitplan. Gegen sieben wollten seine Kumpel aufkreuzen, mit denen er die nächste Testphase einzuläuten gedachte; außerdem plante er, sofern alles gut lief, am Sonntag einen längeren Ausflug in die Vergangenheit zu unternehmen.

Emily nahm ihm sowohl seine Lüge als auch die Maus ab. Da sie nichts von dem Experiment wissen durfte behauptete er, ein Kollege hätte ihm das Tier angedreht. Es gelang ihnen, die Maus mitsamt Käfig aus dem Haus zu schmuggeln.

Nachmittags besorgte er eine Kiste Bier sowie Knabberkram und deponierte die Sache in der Garage. Anschließend betrachtete er die Zeitmaschine und grübelte, wieso sie eigentlich die Treckerleiche dafür verwendet hatten. Im Prinzip hätten sie genauso gut eine Badewanne benutzen können. Ach, egal. Es reiste sich schon besser mit diesem fahrzeugähnlichen Teil, das wesentlich weniger Aufmerksamkeit erregte, als wenn man irgendwo in einer Wanne auftauchte. Apropos: Etwas zur Tarnung der Maschine musste her.

Er ging in sein Zimmer und wühlte im Kleiderschrank nach etwas Brauchbarem. Einige T-Shirts und Hosen, die er mal in einem Armee-Shop besorgt hatte, fielen ihm in die Finger. Ausgezeichnet! Er schnitt die Camouflage-Klamotten an den Nähten auf und verband sie lose mit Nadel und Faden. So ergab sich eine einigermaßen brauchbare Tarndecke.

Als er mit dem Stoffbündel im Arm die Treppe runterging, brachen seine Eltern gerade zu einer Einladung bei Freunden auf. „Viel Spaß“, wünschte er.

„Dir auch. Lade deine Leute doch mal zum Kaffeetrinken ein“, entgegnete seine Mutter. „Ich würde mich sehr freuen, sie mal wieder zu sehen.“

Marcel konnte förmlich das Augenrollen seiner Kumpel sehen. Kaffeekränzchen standen bei ihnen ziemlich weit unten im Ranking der möglichen Freizeitvergnügungen. „Mal gucken“, gab er vage zurück und wartete, bis sie fortgefahren waren, ehe er das Tarnmaterial in die Garage brachte.

Zum Abendessen gab’s bei ihm bloß eine Scheibe Brot. Die restlichen Kalorien würde er sich ja in Form von Hopfenkaltschale einverleiben.

Um kurz vor sieben kreuzte Garrett auf und verkündete. „Lion liegt noch in sauer und Cord muss arbeiten.“

Es enttäuschte ihn, dass seine Freunde derart uninteressiert an der Maschine waren, zugleich empfand er Erleichterung. So würde es kein Hickhack darum geben, wer sie als erstes ausprobierte.

Gemeinsam gingen sie in die Garage, wo er stolz seine Tarndecke präsentierte. Garrett pfiff anerkennend. „Wow! Du denkst echt an alles.“

Marcel wuchs ein paar Zentimeter. „Bierchen gefällig?“

Garrett nickte, woraufhin er die Einkäufe aus seinem Wagen holte und auf der Werkbank aufbaute. Bei einem Pils erzählte Marcel von seinem morgendlichen Ausflug.

„Bist du dir sicher, dass du nicht bloß geträumt hast?“, erkundigte sich Garrett mit skeptisch gehobener Augenbraue.

„Absolut. Wir machen gleich zusammen eine Spritztour.“

Impressum

Texte: Sissi Kaiserlos
Bildmaterialien: shutterstock, depositphotos
Cover: Sissi Kaiserlos
Tag der Veröffentlichung: 07.11.2019

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