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Christkind Shani - Kapitel 1

Frank, Angestellter im Jugendamt, bekommt vier Wochen vor Weihnachten ein Kind, ein Mischlingsmädchen namens Shani, zur Vermittlung an eine Pflegestelle übergeben. Im ersten Moment mangels anderer Möglichkeiten, im zweiten aus Liebe zu dem Mädchen, nimmt er es auf. Shani spricht nicht. Vielleicht hat der Tod ihrer Mutter sie verstummen lassen. Einer Eingebung folgend bitte Frank sein ehemaliges Verhältnis Eddy, ebenfalls ein Mischling, um Hilfe. Eine gute Idee oder gräbt er sich selbst damit eine Grube?

~ * ~

 

1.

Das Wetter war total gruselig. Mal regnete, mal schneite es, bei Temperaturen um den Gefrierpunkt. Den ganzen Tag hatte sich die Sonne nicht einmal blicken lassen. Da konnte man echt Depressionen bekommen.

Seufzend wandte Frank den Blick vom Fenster zurück auf seinen Schreibtisch. Dort lag das Beschwerdeschreiben eines Vaters, der Kontakt zu seinem leiblichen Kind forderte. Aus gutem Grund war das bisher untersagt worden. Der Mann hatte nämlich ein Alkoholproblem. Ein paarmal war der Typ persönlich erschienen, mit einer Fahne, von der man als zart konstituierter Mensch bestimmt besoffen werden könnte.

Sein Telefon läutete. Er nahm den Hörer ab und meldete sich: „Wille, Jugendamt Nord.“

„Schernewski, Polizeikommissariat 17. Wir haben soeben ein Kind in Gewahrsam genommen und brauchen eine Aufnahmestelle.“

Frank fragte nach Alter, Namen und näheren Umständen. Die Mutter des Kindes, eine weiße Deutsche, war mutmaßlich vom Vater, einem Afrikaner, erstochen worden. Verwandte konnten noch nicht ermittelt werden. Somit musste er nach einem Notfallpflegeplatz suchen.

„Ich komme in einer halben Stunde vorbei“, versprach er, legte auf und zog seine Computertastatur heran.

In der Datenbank gab es aktuell drei freie Pflegeplätze, die aber alle lediglich Kinder ab sieben Jahren aufnahmen. Shani war zweieinhalb. Somit bliebe nur der KJND, - Kinder- und Jugendnotdienst - der einige Plätze bereitstellte. Ein Anruf ergab, dass dort bereits Überbelegung herrschte. Weitere Telefonate mit den Notfall-Pflegeeltern, um diese zu überreden, Shani wenigstens für ein paar Nächte unterzubringen, blieben erfolglos. Na, super! Und nun?

Er nahm seine Aktentasche, holte einen Kindersitz aus dem Lager und begab sich in die Tiefgarage. Auf der Fahrt zum Revier überlegte er, ob er besser beim KJND oder einer der Familien mit Shani aufkreuzen sollte. Erfahrungsgemäß wurde man nie abgewiesen, wenn man mit einem kleinen Kind vor der Tür stand.

Auch Frank war in der Datenbank als Notfallpflegeplatz aufgeführt, allerdings nur für Jugendliche. Der Umgang mit Kleinkindern lag ihm nicht sonderlich. Die Großen waren zwar ebenfalls kompliziert, verstanden aber zumindest seine Ansagen. Ob sie sich daran hielten, stand allerdings auf einem ganz anderen Blatt.

Bisher hatte er dreimal sein halbes Zimmer für solche Fälle zur Verfügung gestellt. Zweimal war es wunderbar gelaufen, einmal einiges an Wertvollem aus seiner Wohnung, zusammen mit dem Teenager, verschwunden. Er würde es trotzdem jederzeit wieder tun. Eine gute Erfahrung wog alle schlechten auf.

Auf dem Polizeikommissariat 17 fragte er nach Schernewski. Ein Beamter führte ihn durch einen Flur und öffnete eine Tür, hinter der lautes Weinen zu vernehmen war. In dem Raum saß ein Polizist mit einem milchkaffeebraunen Engelchen auf dem Schoß. Es war Liebe auf den ersten Blick. Also, nicht für den Beamten, obwohl der recht attraktiv aussah. Es war Shani, die Franks Herz im Sturm eroberte. Ihre riesengroßen, nassen, braunen Augen, mit denen sie ihn ansah, bohrten sich direkt in sein Herz.

„Ein Glück, dass Sie da sind“, meinte der Mann, stand auf und reichte ihm das Mädchen. „Sie lässt sich durch nichts beruhigen.“

Frank wäre ebenfalls untröstlich, wenn seine Mutter sterben würde, daher brachte er viel Verständnis dafür auf. Er nahm vorm Schreibtisch Platz und streichelte Shanis schmalen Rücken, während sich Schernewski dahinter begab. Rasch erledigten sie die notwendigen Formalitäten. Einige Minuten später verließ er mit Shani auf dem Arm und einer Tasche, in der sich ein paar ihrer Habseligkeiten befanden, das Revier.

Er installierte den Kindersitz, den er in den Kofferraum geworfen hatte, auf der Rückbank. Shani, die unterdessen auf dem Beifahrersitz kauerte, beobachtete ihn mit riesengroßen Augen. Sie hatte das Weinen eingestellt, wohl, weil sie sein Tun so spannend fand. Als er sie in den Sitz bugsierte, begannen ihre Tränen jedoch wieder zu fließen. Er kramte ein Kuscheltier, einen Hasen mit nur einem Ohr, aus der Tasche und redete beruhigend auf sie ein. Ob der Hase oder seine Stimme half, entzog sich seiner Kenntnis. Jedenfalls hörte sie auf zu schluchzen und erdrückte das Plüschtier in ihren Ärmchen.

Auf dem Heimweg telefonierte er via Freisprechanlage mit einer Kollegin, erklärte ihr die Situation und bat sie, die notwendigen Papiere vorzubereiten. Den Rest würde er am nächsten Tag erledigen. Erstmal musste er das Engelchen versorgen und irgendwie die Nacht überstehen. Er war überzeugt, dass unruhige Stunden vor ihm lagen.

Nachdem er seinen Golf-Kombi in der Tiefgarage geparkt hatte, holte er Shani aus ihrem Sitz und stellte sie auf den Boden. Breitbeinig stand sie einen Moment da, weiterhin den Einohr-Hasen an sich gepresst, dann wetzte sie unvermittelt los. Das sah mit den O-Beinen zum Piepen aus. Frank griff nach den beiden Taschen, die neben dem Kindersitz lagen, lief hinterher und hob sie hoch.

Während er sie zum Ausgang trug, erzählte er: „Ich bin übrigens Frank. Mit mir kommt man gut aus, wenn man mich nicht gerade beklaut. Also Finger weg von meinen Wertsachen.“

Shani runzelte die Stirn. Er zog die schwere Feuerschutztür auf und stieg die Treppe ins Erdgeschoss hoch.

„Du darfst mich Franki nennen, wenn du magst. Wie heißt du?“

Keine Reaktion. Hoffentlich war Shani durch den Schock nicht komplett verstummt. Davon hatte Frank mal gehört. Er schloss seine Wohnungstür auf, setzte Shani im Flur ab und inspizierte den Inhalt ihrer Tasche. Ein paar Ersatzklamotten, Cremes, Puder, Feuchttücher, Windeln. Apropos: Letztere dürfte ziemlich voll sein. Eben, als er Shani getragen hatte, war sein Arm unter ihrem Hintern ziemlich warm geworden und es roch auch etwas streng.

Mit gutem Zureden schaffte er es, sie aus ihrer Winterjacke und den Stiefeln zu schälen. Anschließend führte er sie ins Bad und erneuerte ihre Windel. Kein leichtes Unterfangen, da sie die ganze Zeit den Hasen umklammerte. So schaffte er es nur, sie notdürftig zu säubern.

„Hast du Hunger?“, erkundigte er sich, woraufhin Shani den Kopf schüttelte. „Ich guck trotzdem mal, was ich zu essen da hab.“

Sie trottete hinter ihm her in den Flur, wo er sich seiner Schuhe entledigte und in ihrer Tasche wühlte, bis er ein Paar Rutschesocken fand. In der Küche hob er Shani auf einen Stuhl und streifte die Socken über ihre Füße. Als nächstes sah er in den Kühlschrank. Nacheinander holte er Milch, Joghurt und einen Schokoladenpudding mit Sahne heraus. Im Obstkorb lagen zwei Bananen und ein Apfel, die er zu den Sachen legte.

Shani beäugte die Auswahl und zeigte mit dem Fingerchen auf eine Banane und den Pudding.

„Schokopudding mit Banane?“, versicherte sich Frank.

Sie nickte ernst. Unter ihrem wachsamen Blick schnitt er die Banane in Stücke, kippte den Pudding darüber und stellte die Schüssel mit einem Löffel vor ihr ab.

„Kannst du selbst essen?“

Anstelle einer Antwort schnappte sie sich den Löffel und begann, das Bananen-Pudding-Gemisch zu verschlingen. Einiges kleckerte daneben und ihr Gesicht sah anschließend aus, als hätte sie es in der Schüssel gebadet, doch das meiste war in ihrem Mund gelandet.

„Toll!“, lobte Frank, der gegenüber Platz genommen und zugesehen hatte. Kein Lächeln, nur ein Blick aus schokobraunen, traurigen Augen. Es zerriss ihm das Herz. „Magst du baden?“

Kopfschütteln.

„Duschen?“, riet er weiter.

Vehementes Kopfschütteln.

„Ist da jemand wasserscheu?“

Große Augen. Okay, das war wohl etwas unverständlich ausgedrückt. Wie gesagt: Mit größeren Kindern kam er besser klar. Seufzend erhob er sich, machte im Bad einen Waschlappen nass, kehrte zu Shani zurück und wischte ihr Gesicht sauber. Mit zugekniffenen Augen ließ sie es über sich ergehen. Anschließend warf er den Lappen in die Spüle, hob sie hoch und trug sie ins Wohnzimmer, wo er sich mit ihr auf der Couch niederließ und die Glotze anstellte. Innerhalb weniger Minuten döste Shani in seinen Armen ein. Wohl ein Beweis, wie langweilig das Fernsehprogramm war.

Als es Frank zu unbequem wurde, legte er sie aufs Polster und hüllte sie in eine Wolldecke. Morgen musste er unbedingt das Reisekinderbett aus dem Amt holen. Im Gästezimmer stand ein schmales Einzelbett, aus dem sie rausfallen könnte, außerdem nahm er an, dass sie erstmal in menschlicher Nähe besser schlief.

Kurz bevor er es Zeit für ihn war, ins Bett zu gehen, wurde Shani unruhig. Sie befreite sich aus der Decke und versuchte, von der Couch zu rutschen. Frank half ihr auf den Boden, woraufhin sie los stakste. Er folgte ihr in den Flur, wo sie stehenblieb, umherschaute und schließlich das Bad ansteuerte. Aha. Vielleicht musste sie mal.

Richtig geraten: Sie stoppte vor der Kloschüssel und begann, an ihrer Hose zu zerren. Er half ihr, sie runterzuschieben und setzte sie auf die Klobrille. Einen Kinderklositz bevorrateten sie nicht im Amt. Den musste er besorgen, sofern Shani länger bei ihm blieb.

‚Frank! Was machst du dir vor? Du willst sie doch gar nicht wieder hergeben‘, spottete eine Stimme in seinem Kopf. Sie hatte recht. Allerdings galt es abzuwarten, ob die Polizei einen nahen Verwandten ausfindig machte, der Shani aufnehmen wollte. Dieser hätte in jedem Fall Vorrang. Der Gedanke verursachte Frank Unbehagen.

Shani pupste einen stinkenden Kloß ins Klo. Danach war sie bereit, sich etwas gründlicher von ihm waschen zu lassen. Er steckte sie, mit frischer Windel ausgerüstet, in den einzigen Schlafanzug aus ihrer Tasche und gab ihr den Einohr-Hasen.

Brav saß sie auf dem Badteppich und schaute mit großen Augen zu, wie er sich die Zähne putzte, Wasser ins Gesicht spritzte und eine Nachtpflegecreme auftrug. In seinem Alter, mit Mitte dreißig, musste so etwas sein. Schließlich wollte er mit vierzig nicht aussehen wie ein verschrumpelter Apfel.

„So. Nun ist Onkel Frank hübsch für die Nacht“, erzählte er Shani, hob sie hoch und trug sie ins Schlafzimmer.

Während er seine Klamotten gegen einen Pyjama tauschte, guckte sich Shani um, wobei sie am Hasenfell rumzupfte. Das Tier sah aus, als ob es öfter solchen Attacken ausgesetzt war. An einigen Stellen fehlte das Fell. Frank besaß auch ein Kuscheltier aus seiner Kindheit, einen einäugigen, total abgeliebten Teddy. Diesen kramte er aus dem Kleiderschrank und zeigte ihn Shani.

„Das ist Moses. Hat dein Hase auch einen Namen?“

Stumm starrte sie zwischen ihm und dem Teddy hin und her.

„Oder heißt er einfach Hase?“

Keine Antwort.

„Ups! Eigentlich müsstest du auch Zähne putzen“, fiel ihm ein. „Ganz, ganz ausnahmsweise fällt das heute aus.“

Sie ließ sich auf den Rücken fallen und guckte an die Decke. Innerlich seufzte Frank. Es war ganz schön frustrierend, die ganze Unterhaltung allein zu bestreiten. Hoffentlich sagte sie morgen mal ein paar Worte.

Er löschte überall das Licht, stellte seinen Wecker, kroch ins Bett und kuschelte sich mit Shani unter zwei Decken. „Schlaf schön.“

Gehorsam schloss sie die Augen. Nachdem er die Nachttischleuchte ausgeknipst und sich an die Dunkelheit gewöhnt hatte, erkannte er, dass sie die Lider wieder hochgeklappt hatte. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis sie zufielen und er regelmäßige Atemzüge vernahm. Erst dann konnte er sich entspannen und sank in Morpheus‘ Arme.

 

Am nächsten Morgen wurde er vorm Weckerläuten wach. Neben ihm schlief Shani und sah noch mehr wie ein Engelchen aus. Sie hatte den Hasen losgelassen, der nun in der Besucherritze lag. Ihre kleinen Zöpfe, die mit bunten Haargummis versehen waren, standen wild in alle Richtungen ab. Musste man die zwischendurch lösen und kämmen oder blieb das so? Frank hatte keine Ahnung, wie man solche krausen Haare pflegte. Vielleicht konnte ihm eine Kollegin mit ähnlicher Naturkrause, die aus Ghana stammte, helfen.

Leise stand er auf, ging kurz ins Bad und zog sich an. Nachdem er den Wecker ausgestellt hatte, setzte er in der Küche den Kaffeeautomaten in Betrieb. Draußen war es noch dunkel, aber es schien zumindest ein regenfreier Tag zu werden. Keine Wolke am Himmel.

Er kehrte ins Schlafzimmer zurück und kippte den restlichen Inhalt von Shanis Tasche - Windeln und ähnliches hatte er ins Bad gelegt - aufs Bett. Zwei Strumpfhosen, Sweat- und T-Shirts. Eine magere Ausbeute. Sie brauchte unbedingt eine saubere Hose. Die vom Vortag war mit Banane-Schokopudding bekleckert. Außerdem erachtete er einen dickeren Pulli als notwendig.

Mit einem Becher Kaffee setzte er sich auf die Bettkante. Shani schlief weiterhin tief und fest. Neben einer Hose benötigte er eine Kinderkarre, weitere Windeln, einen zweiten Schlafanzug und ein bisschen Spielzeug. Wo sollte er das alles auf die Schnell herbekommen? Er trank einen Schluck und dachte scharf nach. Im zweiten Stock wohnte eine Frau mit drei Sprösslingen, ungefähr 5, 7 und 9 Jahre alt. Vielleicht hatte die ein paar Sachen über.

Frank ließ seine Wohnungstür offenstehen, stieg die Treppe hoch und läutete bei Cordula Besenbinder. Sie öffnete sofort, als ob sie direkt hinter der Tür gestanden hatte.

„Hi Frank. Was kann ich für dich tun?“ Ihre Tochter, die jüngste der Orgelpfeifen, hing an ihrem Rockzipfel und grinste zahnlückenhaft zu ihm hoch.

„Hast du ein paar alte Klamotten übrig? Ich hab eine Halbwaise aufgenommen, zweieinhalb Jahre alt.“

„Du bist echt zu gut für diese Welt“, meinte Cordula, strich dem Mädchen über den Kopf und bat: „Warte kurz.“

Nervös horchte Frank, ob Shani vielleicht weinte, hörte aber keinen Mucks. Ungeduldig wippte er auf den Fersen und zählte die Minuten, bis Cordula zurückkam. Sie überreichte ihm eine prall gefüllte Tüte. „Das kannst du alles behalten. Es ist zu abgetragen, um es zu verkaufen.“

„Eine Kinderkarre hast du nicht zufällig auch im Angebot?“, erkundigte er sich hoffnungsvoll.

„Hab ich, aber die ist total gammelig.“

„Mir egal.“

Wieder verschwand Cordula in den Tiefen der Wohnung, gefolgt von ihrer Tochter. Gleich darauf übergab sie ihm ein wirklich schäbiges zusammengeklapptes Modell. „Schmeiß die weg, wenn du sie nicht mehr brauchst.“

„Super! Vielen Dank!“ Er schenkte ihr ein Lächeln, bevor er die Sachen hinunter ins Erdgeschoss schleppte. Nun brauchte er nur noch Windeln besorgen.

2.

Gegen halb neun stellte er seinen Wagen in der Tiefgarage des Jugendamts ab. Shani hatte das Brötchen, das er bei einem Stopp in einer Bäckerei gekauft hatte, über den halben Rücksitz verteilt. Es schienen jedoch einige Brocken in ihrem Mund gelandet zu sein, womit die Aktion nicht völlig sinnlos war. Auch im Fell ihres Einohr-Hasen hingen etliche Brocken. Seinen Versuch, ihr das Tier zu entwenden und zu entkrümeln, vereitelte sie mit einem Tränenausbruch.

So kam es, dass er mit einer verheulten Shani durch die Gänge des Amtes schob. Seine Kolleginnen bekamen bei ihrem Anblick große Augen und vielleicht sogar einen Eisprung. Er war mächtig stolz auf Shani, obwohl es dazu keinen Grund gab.

In seinem Büro stellte er die Karre neben dem Schreibtisch ab, hängte seine Jacke über die Stuhllehne und beugte sich runter. „Möchtest du ein bisschen schlafen oder rumlaufen?“

Verständnislos guckte Shani ihn an. Seufzend hob er sie aus der Karre, setzte sich auf seinen Stuhl und platzierte Shani auf seinem Schoß. Nachdem er sie aus ihrer Winterjacke geschält hatte, zog er seine Tastatur heran. Als erstes füllte er das von seiner Kollegin vorbereitete Formular fertig aus. Somit war Shani offiziell bei ihm untergebracht.

„Wir sind jetzt eine Wohngemeinschaft“, teilte er ihr mit.

Sie nahm das schweigend zur Kenntnis.

Als nächstes checkte er seine E-Mails. Schernewski vom Polizeikommissariat 17 bat um Rückruf. Er griff zum Hörer, wählte die Nummer und ließ sich mit dem Beamten verbinden.

„Morgen, Herr Wille“, drang Schernewskis Stimme an sein Ohr. „Ich habe keine guten Nachrichten. Wir haben noch immer keinen Angehörigen der kleinen Shani ausfindig gemacht.“

„Das ist schade“, log Frank.

„Ja, das ist es. Haben Sie die Süße gut untergebracht?“

Anscheinend hatte Shani ein weiteres Herz erobert. „Sie bleibt erstmal bei mir. Bitte notieren Sie meine Handy-Nummer, falls sich übers Wochenende was ergibt.“

Nachdem er sie Schernewski diktiert hatte, verabschiedeten sie sich. Frank legte den Hörer zurück auf die Gabel und guckte runter auf Shani. „Was meinst du? Hältst du es noch ein bisschen bei mir aus?“

Sie schielte hoch und kaute am Ohr ihres Hasen.

„Schön. Ich freu mich auch, dass du noch bleibst.“ Er strich ihr übers Haar. „Ach ja. Ich muss Laurette fragen, was ich damit tun soll.“

Als er aufstand, fing Shani an zu zappeln. Er stellte sie auf den Boden, nahm ihre Hand und führte sie ins angrenzende Büro. Bei ihrem Eintreten schaute Laurette auf und lächelte breit. „Wow! Was für ein süßes Schätzchen.“

„Das ist Shani“, stellte Frank vor. „Shani? Das ist Laurette. Sie wird mir erklären, was ich mit deinen Haaren anstellen muss.“

Shani starrte Laurette mit offenem Mund und riesengroßen Augen an. Das blieb die ganze Zeit so, während seine Kollegin ihm Nachhilfe in Haarpflege erteilte. Als er sich anschickte, mit Shani das Büro zu verlassen, stemmte sie sich dagegen. Tränen begannen zu fließen.

„Och, was ist denn los?“ Laurette kam hinterm Schreibtisch hervor und ging vor Shani in die Hocke. „Nicht weinen, mein Schatz. Frank ist der liebste und beste Mensch im ganzen Amt. Er wird sich gut um dich kümmern.“

Die tröstenden Worte nützten nichts. Er nahm die heulende Shani auf den Arm und trug sie zurück in sein Büro. Zärtlich kraulte er ihr den Rücken und wiegte sie auf seinem Schoß, bis das Schluchzen verebbte.

Arbeiten mit Shani im Arm war ziemlich schwierig, außerdem brauchte die kleine Maus ungeteilte Zuwendung und dringend etwas zu essen. Frank beantragte also Urlaub - er hatte eh noch zwei Wochen für dieses Jahr zu nehmen - und übertrug seiner Kollegin Ingrid, die in dem Büro auf der anderen Gangseite saß, einige dringende Aufgabe. Auch sie guckte Shani, die er auf seine Hüfte gesetzt hatte, verzückt an.

„Was für ein Wonneproppen. Die ist ja zum Klauen süß“, meinte Ingrid, bereits Mutter von vier Kindern.

„Deshalb bringe ich sie lieber in Sicherheit“, scherzte Frank. „Wir sehen uns dann in zwei Wochen wieder.“

„Schönen Urlaub“, rief sie ihm hinterher.

Ohne Schwierigkeiten ließ sich Shani in ihre Jacke helfen und in die Karre setzen. Auf dem Weg zur Tiefgarage erntete sie wieder etliche Blicke. Vielleicht war diese übertriebene Aufmerksamkeit ihrer späteren Karriere als Supermodel förderlich, überlegte Frank in einem Anflug von Zynismus. Natürlich hatte er nicht vor, zur Eiskunstlaufmutti zu mutieren. Shani sollte den Beruf ergreifen, der sie erfüllte.

Er steuerte seinen Lieblingssupermarkt an, der unter anderem eine große Auswahl von Non-Food-Artikeln anbot. Shani platzierte er in den dafür vorgesehenen Sitz des Einkaufswagens und begann, die Regalreihen abzufahren. In der Brotabteilung hielt er ihr eine Packung nach der anderen vor die Nase, bis sie mit dem Finger auf eine wies. Ausgerechnet auf ein Paket Hörnchen mit Schokofüllung fiel ihre Wahl. Selbst schuld. Warum zeigte er ihr auch den ungesunden Kram? Für seinen eigenen Bedarf legte Frank ein Körnerbrot in den Wagen.

Während er den Wagen weiterschob, dachte er an Laurettes Tipps. Shanis Zöpfe durfte er ganz normal waschen, wie andere Haare auch. Wenn sie nicht mehr gut aussahen gab es die Möglichkeit, professionelle Hilfe zum Entflechten aufzusuchen. Etwas, das er auf jeden Fall tun würde. Die war Frisur echt praktisch - kein lästiges Kämmen, was bei den krausen Haaren garantiert böse ziepte - und sah auch noch niedlich aus. Laut Laurette dauerte es nur eine halbe Ewigkeit, um sie zu flechten. Ob er das Shani ein weiteres Mal zumutete, konnte er noch nicht entscheiden.

Als er an der Kasse ankam, hielt die Kleine einen Viererpack Schokopudding - zusammen mit dem Hasen - im Arm. Sie war eindeutig verrückt nach dem Zeug. Hatte sie sowas vorher gar nicht bekommen? Über ihre bisherigen Lebensumstände wusste Frank ja leider wenig. Aus den Unterlagen ging lediglich hervor, dass Shanis Mutter allein gelebt hatte und Charlie Wie-auch-immer, - den Nachnamen hatte er vergessen - der mutmaßliche Mörder, als ihr Vater galt.

Es kostete ein wenig Überredungskunst, Shani den Pudding zum Scannen zu entwenden. Hinterher gab er ihr das Viererpack gleich zurück. Hauptsache, sie wollte das Zeug nicht mit ins Bett nehmen. Apropos: Das hatte er komplett vergessen. Ach, egal. Sie hatten es zu zweit sehr gut in seinem Riesenbett ausgehalten, also würde das auch erstmal reichen.

Zurück in seiner Wohnung, stellte er die Einkäufe in die Küche, um sie später auszupacken. Nur eine Tüte nahm er mit ins Wohnzimmer. Dort breitete er eine Wolldecke auf dem Boden aus, auf die er ein Bilderbuch und Mosaik Steckspiel, beides hatte er im Supermarkt gefunden, legte. Anschließend befreite er Shani aus Jacke und Stiefeln. Als sie die Spielwiese entdeckte, gab sie freiwillig den Pudding her und ließ sich auf der Decke nieder.

Ein Weilchen beobachtete er sie, bevor er sich wieder in die Küche begab und die restlichen Taschen ausräumte. Mit einem Becher verdünntem Fruchtsaft und einem rasch zubereiteten Instant-Kaffee, gesellte er sich zu Shani. Sie war total auf das Bilderbuch konzentriert, die kleine Stirn in Falten gezogen. Seite um Seite blätterte sie um und fing, wenn sie hinten ankam, von vorne an. Zwischendurch trank sie einige Schlucke, als Frank ihr den Becher hinhielt.

„Ich koch uns was Feines“, verriet er ihr. „Möhren, Kartoffeln und Würstchen. Magst du Würstchen?“

Shani nickte ohne aufzuschauen.

Eine halbe Stunde später war das Essen fertig. Frank legte ein dickes Kissen auf einen der Stühle, bevor er Shani rief. Sie erschien nach der dritten Aufforderung, in einer Hand das Buch, in der anderen den Hasen. Sowas hatte er auch bei seinen anderen Pflegekindern erlebt, allerdings mit einem Smartphone.

Er hievte sie auf den Stuhl, nahm ihr das Buch weg, klappte es zu und legte es neben ihren Teller. „Nach dem Essen lese ich dir vor“, versprach er, woraufhin sich ihre zum Weinen verzogene Miene wieder glättete.

Sie aß die halbe Portion Kartoffeln und Möhren, schnappte sich das Würstchen - vorsichtshalber hatte er ihres kalt gelassen - und vertilgte es mit wenigen Bissen. Auf seine Frage hin, ob sie noch eines mochte, schüttelte sie den Kopf.

„Pudding?“, bot er an.

Eifriges Nicken.

Noch während sie den Schokopudding löffelte, fielen ihr immer wieder die Augen zu. Als Frank sie anschließend vom Stuhl hob, pennte sie sofort auf seinem Arm ein. Er legte sie auf die Couch, deckte sie zu und wartete ein bisschen, bis er sicher war, dass sie tief und fest schlief, ehe er sich wieder in die Küche begab.

Beim Aufräumen überlegte er, ob Shanis Reaktion auf Laurette wegen der Hautfarbe derart positiv ausgefallen war. Es musste wohl so sein, da im Umkehrschluss keine der weißen Kolleginnen solchen Gefühlsaufruhr erzeugt hatte. Was nützte ihm diese Erkenntnis?

In seine Überlegungen hinein vibrierte sein Handy. Er trocknete sich die Hände ab, fischte es aus der Gesäßtasche und nahm das Gespräch an: „Wille.“

„Schernewski vom Polizeikommissariat 17. Leider habe ich schlechte Nachrichten. Inzwischen haben wir die Mutter des Opfers ausfindig gemacht. Sie möchte ihre Enkeltochter nicht aufnehmen.“

Frank ließ sich auf einem Stuhl nieder. „Darf ich Details erfahren?“

„Ich muss es ja eh protokollieren und Ihnen schicken. Die Dame ist zum zweiten Mal verheiratet und anscheinend etwas …“ Schernewski hustete. „… ausländerfeindlich eingestellt. Sie hat den Kontakt zu ihrer Tochter abgebrochen, nachdem die sich mit einem - ich zitiere - braunen Affen eingelassen hat. Das Kind von diesem Mann will sie daher auch nicht sehen.“

„Unglaublich, was es für Menschen gibt“, murmelte er, nur für seine Ohren bestimmt und fragte in normaler Lautstärke: „Wie sieht es mit den Verwandten des Vaters aus?“

„Allesamt im Ausland.“

Ihm fiel ein Stein vom Herzen. „Das ist bedauerlich.“

„Wie man’s nimmt“, erwiderte Schernewski trocken. „Am Montag haben Sie meinen Bericht in Ihrem Postfach. Alles Gute für Sie und Shani.“

„Danke. Wünsche ich Ihnen auch.“ Frank tippte aufs rote Symbol und atmete tief durch. Nun gab es bloß noch die Möglichkeit, dass der Vater freigesprochen wurde und sein Kind haben wollte. Das würde aber dauern. Erfahrungsgemäß nahm man Pflegefamilien ein Kind nach gewisser Zeit nicht mehr weg.

Er steckte das Smartphone zurück in seine Hosentasche, räumte die restlichen Sachen in die Schränke und ging ins Wohnzimmer. Shani schlief weiterhin. Da man Versprechen nicht brechen durfte, hatte er das Bilderbuch mitgebracht. Er legte es auf den Couchtisch und nahm den Faden seiner Überlegungen wieder auf.

Außer Laurette kannte er nur einen Menschen mit Milchkaffee-Teint: Eddy. Mit ihm hatte Frank sechs Monate gevögelt. Als er ihr Verhältnis versuchte zu intensivieren, war Eddy geflohen. Mittlerweile war das zwei Jahre her und tat nicht mehr weh. Es sprach also nichts dagegen, Kontakt zu Eddy aufzunehmen, um zu prüfen, ob Shani erneut auf die Hautfarbe ansprang und vielleicht anfing zu reden.

Glücklicherweise hatte er Eddys Nummer noch gespeichert. Damals war er so verletzt gewesen, dass er sie eigentlich löschen wollte. Warum er letztendlich davon abgekommen war, wusste er nicht mehr. Es spielte eh keine Rolle.

Er zog sich ins Schlafzimmer zurück, setzte sich aufs Bett und scrollte durchs Adressbuch, bis zum Eintrag Eddy. Nachdem er aufs grüne Symbol gedrückt hatte, hielt er das Gerät an sein Ohr.

„Hi, schön, dass du anrufst. Ich bin leider gerade beschäftigt, also hinterlass mir eine Nachricht“, vernahm er Eddys Stimme.

„Hallo, hier ist Frank. Vielleicht erinnerst du dich noch: Dein Aufriss aus dem Goldenen Hirsch. Ruf mich doch bitte mal zurück. Es ist relativ dringend. Tschüss.“ Frank legte auf und sah ins Leere. Hatte er Shani etwa nur als Vorwand benutzt, um Eddy anzurufen? Sein Herz schlug normalschnell, auch sonst keinerlei Anzeichen der einstigen Emotionen. Wunderbar. Also war er wirklich drüber weg.

 

Gegen drei, er guckte gerade mit Shani das Bilderbuch an und las ihr die kurzen Texte vor, vibrierte es in seiner Hosentasche. Er zog das Gerät hervor, sah Eddys Name auf dem Display und hob es an sein Ohr. „Schön, dass du zurückrufst.“

„Ich dachte, ich traue meinen Ohren nicht. Mensch, Frank! Wie geht’s dir?“, erwiderte Eddy.

„Soweit gut. Hättest du Zeit vorbeizuschauen?“

„Ähm … jetzt gleich?“

„Wenn’s dir nichts ausmacht. Für dich koche ich sogar Kaffee.“ Eddys Suchtstoff Nummer eins.

„Okay. Wohnst du noch immer am Wellingsbütteler Bahnhof?“

„Richtig.“

„Dann bin ich in ungefähr einer halben Stunde da.“

 

Christkind Tuyen - Kapitel 1

Linus und Stefan wollen schon lange ein Kind adoptieren. Anfang November ist es endlich soweit: Sie fliegen nach Vietnam und holen den kleinen Tuyen ab. Linus ist überglücklich. Leider trübt schon bald ein unschönes Ereignis seine Freude. Man kann eben nicht alles haben.

~ * ~

 

1.

Über zwei Jahre Warte- und Vorbereitungszeit lagen hinter ihnen. Etliche bürokratische Hürden hatten sie gemeistert und einiges an Geld investiert. Nun war es endlich soweit: Linus saß mit Stefan im Flugzeug, auf dem Weg nach Vietnam. Nach der Landung in Hanoi würden sie ihr Baby in Empfang nehmen. Man hatte ihnen Bilder des Kleinen geschickt. Tuyen, auf Deutsch Engel, hieß der Zwerg, war sechs Monate alt und von der bereits 9fachen Mutter zur Adoption freigegeben worden.

Linus hatte einen Vorbereitungskurs für Säuglingspflege besucht und vieles gelesen, was es an Artikeln zu diesem Thema gab. Er fühlte sich fürs kommende gewappnet. Elternzeit war beantragt und das Nötigste für den kleinen Engel beschafft. Aus Aberglauben hatte er auf größere Investitionen bisher verzichtet. Dafür war ja, wenn sie mit Tuyen zurückkehrten, immer noch genug Zeit.

Vor Anspannung war er kaum in der Lage zu lesen. Stefan hingegen schmökerte seelenruhig in einem dicken Buch und schlief zwischendurch. Überhaupt war seinem langjährigen Partner wenig Euphorie über das bevorstehende Ereignis anzumerken. Dabei hatten sie es sich beide so sehr gewünscht und dafür alle möglichen Mühen in Kauf genommen. Wahrscheinlich verhielt sich Stefan bloß zurückhaltend, weil ja noch viel schiefgehen konnte. Schließlich hatten sie vor rund sechs Monaten schon mal kurz davor gestanden, ein Kind zu adoptieren. Einen Tag vor ihrer Abreise war die Adoptionseinwilligung von der Mutter revidiert worden. Verständlich. Wenn Linus erstmal Tuyen in den Armen hielt, würde er das süße Reiskorn auch nicht wieder hergeben.

Die Idee, dass es ein vietnamesisches Kind sein sollte, war ihnen in ihrem ersten gemeinsamen Urlaub gekommen; einer Rundreise durch Thailand, Kambodscha und Vietnam. Angesichts der süßen Kleinen hatten sie beschlossen, unbedingt so eines haben zu wollen. Die Chancen, in Deutschland ein Neugeborenes zu adoptieren, tendierten eh gen Null. Selbst für hetero Paare war das schon schwierig, für schwule unmöglich.

Linus checkte die Uhrzeit. Noch fünf Stunden und vier Minuten. Er spähte durchs Bullauge. Unendliches Blau. Zum x-ten Mal holte er Tuyens Fotos aus seiner Tasche und betrachtete es. Der Engel war das schönste Kind der Welt. Zwei Zähnchen prangten in dem zu einem hinreißenden Lächeln verzogenen Mund. Süße Mandelaugen unter einem schwarzen Schopf guckten in die Kameralinse. Seufzend steckte er das Foto zurück und griff nach seinem Buch.

Pünktlich um halb neun morgens setzte das Flugzeug zur Landung an. Allmählich merkte Linus den fehlenden Schlaf. Dadurch und durch die Anspannung, war er total matschig im Schädel. Ein Glück, dass er Stefan dabei hatte, der einen kühlen Kopf bewahren und sie sicher ins Hotel bringen würde. Dort sollte die Übergabe stattfinden. Das klang ein bisschen wie ein Drogendeal, aber man hatte ihnen zugesichert, dass alles mit rechten Dingen zuging.

Stefan tätschelte seine Hand. „Mach jetzt nicht schlapp.“

„Ich geb mir Mühe.“

Ein Ruck lief durch den Rumpf: Das Fahrwerk hatte auf die Landebahn aufgesetzt. Durchs Fenster sah Linus flirrende Luft, die den Ausblick verzerrte. Weit entfernt stehende Gebäude und Palmen wirkten dadurch unscharf. Das Flugzeug verringerte die Geschwindigkeit und beschrieb einen großen Bogen. Die Terminals gerieten in Sichtweite.

Sowohl das Verlassen der Maschine, das Warten in der Gepäckausgabe, als auch die Taxifahrt erlebte Linus wie im Traum. Erst als der Wagen vorm Hotel hielt riss der Schleier. Mit einem Schlag hellwach musterte er die Umgebung, während Stefan den Chauffeur bezahlte und sich ihr Gepäck aus dem Kofferraum reichen ließ. Rushhour in Hanoi. Eine Kakophonie aus Hupen und knatternden Zweirädern inmitten wild umherrennender Menschen. Das hatte ihm schon beim letzten Besuch missfallen. Ein Glück, dass ihr Aufenthalt diesmal sehr kurz war.

In der Lobby übernahm Stefan erneut die Formalitäten. Was würde er bloß ohne seinen Schatz tun? Im Lift gab er Stefan einen zärtlichen Kuss. Besorgt betrachteten ihn braune Augen, die er so sehr liebte.

„Wir bestellen uns gleich ein Frühstück aufs Zimmer“, entschied Stefan. „Du siehst aus, als wenn du gleich aus den Latschen kippst.“

„Vorher brauch ich eine Dusche.“

Lächelnd strich Stefan mit den Fingerknöcheln über seine Wange. „Dafür dürfte noch knapp Zeit sein.“

 

Um elf läutete das Telefon. Die Rezeptionistin erkundigte sich, ob sie ihre Besucher aufs Zimmer schicken dürfte. Stefan, der rangegangen war, erwiderte: „Yes, please.“

Linus hatte die Wartezeit damit verbracht, eine Furche in den Teppich zu laufen und sich alle möglichen Szenarien vorzustellen. Nun, wo es endlich soweit war, erstarrte er zu Stein und glotzte die Tür an. Nach langen Minuten klopfte es. Stefan ging hin und öffnete. Ein Mann und eine Frau mit einem Kind im Tragetuch sahen ihnen entgegen.

„Mister Linus Walker and Mister Stefan Kühler?“, erkundigte sich der Typ mit starkem Akzent.

„Yes. Please come in“, antwortete David und machte eine einladende Geste.

Die beiden traten ein. Linus schob den Stuhl vom Schreibtisch in die Raummitte, damit sich die Frau setzen konnte. Sie dankte ihm mit einem Nicken und nahm Platz. An ihrer Brust lag der schlafende Tuyen. Verzückt betrachtete Linus den kleinen Schnuckel. Der schwarze Schopf war zerzaust, die Wange gegen das T-Shirt der Frau gepresst.

Stefan regelte mit dem Mann das Formelle. Innerhalb von Sekunden war das Geschäft abgewickelt. Die Frau öffnete das Tragetuch und übergab es mitsamt Kind an Linus. Als die beiden das Zimmer verließen, murmelte er abwesend einen Abschiedsgruß, vollkommen auf Tuyen fixiert. Dem hatte der Wechsel nicht anhaben können. Selig schlummerte der kleine Engel weiter.

„Wow! Das ging ja fix“, meinte Stefan, stellte sich neben ihn und beäugte Tuyen. „Der hat ja die Ruhe weg.“

„Hoffentlich haben die ihm keine Drogen gegeben.“

„Woran du gleich wieder denkst.“ Grinsend strich Stefan ihm übers Haar. „Nun setz dich endlich mal hin.“

Gehorsam nahm Linus auf der Bettkante Platz. Da die Sache reibungslos über die Bühne gegangen war, ließ seine Anspannung allmählich nach. Richtig aufatmen würde er aber erst, wenn sie im Flugzeug saßen.

„Kann ich euch allein lassen? Ich würde gern ein bisschen shoppen gehen?“, fragte Stefan.

„Klar.“ Er küsste den Engel auf die Stirn. „Tuyen und ich, wir machen es uns gemütlich.“

„Okay. Dann bis später.“

„Mhm“, entgegnete er, völlig in Tuyens Anblick versunken.

Nachhaltiges Weinen weckte ihn irgendwann. Verwirrt hob er den Kopf und stellte fest, dass er neben Tuyen eingepennt war. Der kleine Engel, die Wagen tränenüberströmt, zappelte wie wild und drohte, bald über die Kante zu fallen.

„Na, was haben wir denn?“, brummelte Linus schlafheiser, zog Tuyen heran und roch den vermutlichen Grund für die Missstimmung. „Mein lieber Herr Gesangsverein. Du scheißt ja wie ein Großer.“

Während er den Goldspatz mit einer frischen Windel versorgte, brabbelte er sinnloses Zeug, damit sich Tuyen an den Klang seiner Stimme gewöhnte. Der Engel guckte ihn neugierig an. Schließlich wurden jedoch die eigenen Füße interessanter. Tuyen grabschte danach und freute sich unbändig, wenn er einen erwischte. Linus verliebte sich gleich nochmal in den Kleinen.

Als nächstes packte er die Babynahrung aus, die er mitgebracht hatte. Er rührte ein Milchersatzprodukt mit Wasser an und erwärmte es in dem ebenfalls im Gepäck befindlichen Babykostwärmer. Sobald er sich mit der Nuckelflasche aufs Bett setzte, streckte Tuyen beide Hände danach aus. Sehr praktisch. Linus musste sich nur wieder daneben legen und aufpassen, dass die Flasche dem Süßen nicht entglitt.

Nachdem sie restlos leer war stieß Tuyen einen Rülpser aus, zusammen mit einem kleinen Schwall säuerlich riechender Flüssigkeit. Verliebt lächelte Linus den Kleinen an. „Na, hat’s geschmeckt?“

Tuyen gluckste.

„Das werte ich mal als ein Ja.“ Er rappelte sich hoch und kramte Spielzeug hervor: Einen Klapperring aus Holz, ökologisch hergestellt, einen Stapelturm mit bunten Ringen, ein Knabber- und ein Kuschelbuch.

Gegen fünf kehrte Stefan zurück. Inzwischen schlief Tuyen wieder. Sie hatten ausführlich mit den Sachen gespielt. Beide Bücher waren besabbert und angenagt, die Pyramidenringe überall verstreut worden. Mit dem Klapperring hatte sich Tuyen am besten amüsiert und Höllenlärm veranstaltet.

Abendessen bestellten sie sich wieder aufs Zimmer. Während sie sich mit fernsehen die Zeit vertrieben, trank Tuyen ein weiteres Fläschchen leer. Um zehn brachen sie in Richtung Flughafen auf, Linus mit dem Engel im Tragetuch.

Für den Rückflug hatte er einen Platz in der ersten Reihe mit einem Bassinet gebucht. Wegen Tuyen durften sie, zusammen mit weiteren Passagieren mit Kleinkindern, als erstes einsteigen. Der Transfer vom Tragetuch in das Reisebettchen verlief ohne Probleme. Tuyen blinzelte nur kurz, um gleich wieder einzuschlafen. Die lange Wachphase forderte von Linus ihren Tribut: Sobald sie Flughöhe erreicht hatten, pennte er ebenfalls ein.

Tuyens Weinen weckte ihn mitten in der Nacht. Schlaftrunken torkelte er, mit dem Engel auf dem Arm und der Windeltasche über der Schulter, zur Toilette. Tuyen in dem engen Raum zu versorgen war ein Drahtseilakt. Er bekam es aber hin, ohne ein Malheur zu verursachen. Ganz zufrieden war Tuyen jedoch nicht, weshalb er - zurück auf seinem Platz - ein Fläschchen zubereitete und eine der Stewardessen bat, es zu erwärmen.

Die Frau hatte Herzchen in den Augen, während sie anschließend zusah, wie Tuyen trank. Sein Goldschatz war aber auch süß! Noch bevor das Fläschchen leer war, fielen Tuyen die Augen wieder zu. Vorsichtig verfrachtete er den Spatz ins Bassinet, während die Stewardess mit der Nuckelflasche verschwand, um sie zu reinigen. Leise bedankte er sich als sie ihm die Flasche zurückgab, woraufhin sie ihm ein strahlendes Lächeln schenkte.

„Sie machen das wirklich toll. Und so ein liebes Kind.“

Seine Brust schwoll an vor Stolz. „Ja, er ist wirklich ein Haupttreffer.“

Nach einem letzten Blick auf Tuyen ging sie weiter. Linus sah rüber zu Stefan, der weiterhin schlief. Selbst Tuyens Weinen hatte seinen Mann nicht gestört. Das versprach problemlose Nächte, da Stefan ja arbeiten gehen musste. Mit einem zufriedenen Seufzer kuschelte sich Linus tiefer in den Sitz und sank bald erneut in Schlaf.

Ungefähr zwei Stunden der Landung waren eine weitere Windel und ein Fläschchen fällig. Um kurz nach neun dockte das Flugzeug in Hamburg-Fuhlsbüttel am Terminal an. Es dauerte fast eine Stunde, bis sie mit ihrem Gepäck das Gebäude verlassen konnten. Tuyen schien zufrieden damit zu sein, die Umgebung zu beobachten. Friedlich hing der Kleine an Linus‘ Brust und lutschte an zwei Fingern.

Ein Taxi brachte sie nach Hause. Stefan kümmerte sich ums Bezahlen und ihr Gepäck. Linus ging voraus, um erneut Tuyens Grundbedürfnisse zu stillen. Ihm war bewusst, dass ihnen noch einiges an Behördengängen bevorstand, dennoch fühlte er sich leicht und froh. Die größte Hürde war genommen. Dagegen empfand er den Rest als Kleinigkeit.

Während sich Tuyen im Laufgitter mit den Spielsachen beschäftigte, packte er seinen Koffer aus. Stefans war bereits leer. Viel hatten sie für den einen Tag ohne Übernachtung ja nicht benötigt. In seinem befand sich hauptsächlich Zubehör für Tuyen und Wechselklamotten.

Gerade war er fertiggeworden und dabei, den Koffer auf den Schrank zu wuchten, als Stefan hereinkam, die Tür anlehnte und sich aufs Bett setzte. Die ernste Miene verhieß nichts Gutes, der Satz: „Wir müssen reden“, ebenfalls nicht.

Er ließ sich neben Stefan nieder. „Was gibt’s denn?“

„Ich hab einen anderen.“

Geschockt starrte Linus ins Leere. Sowas gab es doch nur in irgendwelchen Soaps. Bestimmt hatte er sich verhört. „Bitte?“

Stefan seufzte. „Ich hab mich in einen Kollegen verliebt. Es ist nun mal passiert und lässt sich nicht mehr ändern.“

„Aber … aber was ist mit uns? Mit Tuyen?“, begehrte Linus auf.

„Ich weiß, der Zeitpunkt ist denkbar ungünstig, aber das hab ich mir nicht ausgesucht. Immerhin hab ich gewartet, bis du dein Baby bekommen hast.“

Allmählich sickerten die Worte in seinen Verstand. Es war also Realität: Stefan wollte ihn verlassen und das anscheinend schon länger. Seine Hände wurden eisig kalt und sein Herz schien auch zu gefrieren. „Wann planst du auszuziehen?“

„Sobald ich entbehrlich bin.“

„Dann pack deine Sachen“, entgegnete Linus und wunderte sich, wie gefasst er klang, wo doch in seinem Inneren Schmerz wütete.

„Hör mal, es tut mir echt leid …“ „Spar dir das!“, unterbrach er Stefan, sprang auf und ging zur Tür. „Ich wäre dir sehr dankbar, wenn du möglichst schnell verschwindest.“

Im Wohnzimmer hockte er sich vors Laufgitter. Tuyen kaute, auf dem Rücken liegend, am Kuschelbuch. Der Anblick war ein bisschen Balsam für seine geschundene Seele. Für Tuyen musste er stark bleiben, anstatt in Tränen auszubrechen.

„Wir beiden schaffen das auch allein“, flüsterte er, streckte die Hand aus und streichelte Tuyens Wange. Der Kleine giggelte, ließ das Buch los und griff nach seinen Fingern.

Wie hatte Stefans außereheliches - na gut, verheiratet waren sie nicht, nur eine eingetragene Partnerschaft - Verhältnis an ihm vorbeigehen können? Linus versuchte, sich an irgendwelche Anzeichen zu erinnern. Momentan herrschte in seinem Kopf jedoch gähnende Leere, bis auf Stefan verlässt mich.

Nach einer Weile vernahm er Schritte im Flur und sah über seine Schulter. Stefan, einen Trolley im Schlepptau und eine Reisetasche in der anderen Hand, stand im Türrahmen.

„Ich hole den Rest später ab“, verkündete Stefan. „In ungefähr einer Woche. Okay?“

„Ruf vorher an“, gab Linus zurück und wandte sich wieder Tuyen zu.

Die Wohnungstür fiel ins Schloss. Entgegen seinem Willen drängten nun doch Tränen hoch. Während er sie laufen ließ, verminderte sich der Druck in seinem Inneren etwas. Schließlich, als Tuyen vehement mit dem Klapperring Lärm erzeugte, schaffte er es sogar zu lächeln.

„Wir sind ohne ihn besser dran, nicht wahr, mein Schatz?“ Er hob den Engel aus dem Laufgitter und drehte sich ein paarmal, was ein wunderschönes, zweizähniges Grinsen erzeugte. Mit Tuyen auf dem Arm begab er sich ans Fenster. „Willst du dir deine neue Heimat mal angucken? Ich glaube, wir können beide etwas frische Luft vertragen.“

 

2.

Eine Woche war seit Stefans Auszug vergangen. Das Loch in Linus‘ Brustkorb tat immer noch weh, doch der rasende Schmerz der ersten Tage hatte sich in erträglichen Kummer verwandelt. Tuyen trug daran großen Anteil. Der Kleine war sein Sonnenschein, das Pflaster auf seiner Wunde. Zwar hatte Tuyen inzwischen auch eine ungnädige Seite offenbart, Momente, in dem man ihm nichts recht machen konnte. Ansonsten war der Kleine aber ein beständiger Quell der Freude.

Mittlerweile hatte Linus‘ einiges lokalisiert, was auf Stefans anderweitiges Engagement hinwies. Häufige Überstunden, zunehmende sexuelles Desinteresse. In seiner Euphorie für ihr Vorhaben hatte er all das ignoriert. Er musste sich sogar eingestehen, seinen Teil zu Stefans Entscheidung beigetragen zu haben. In den vergangenen beiden Jahren hatten sich all seine Wünsche und Sehnsüchte nur auf das Baby konzentriert. Darüber war Stefan zu kurz gekommen, sowohl im Bett, als auch vielerlei anderer Hinsicht. Egal was sie unternahmen, hatte er stets besonders auf Kinder geachtet. Man konnte mit Fug und Recht behaupten, dass sich sein Wunsch zu einer Besessenheit gewandelt hatte.

Der Antrag auf Tuyens Einbürgerung lief. Pass, Adoptions- und Geburtsurkunde hatte er bei der zuständigen Behörde vorgelegt. Nun hieß es abwarten, welche Steine man ihm in den Weg legen wollte. Es war jedoch nur eine Frage der Zeit. Irgendwann würde man Tuyen offiziell als sein Kind anerkennen.

Für sechs Uhr hatte sich Stefan angekündigt, um die restlichen Sachen abzuholen. Viel war das nicht. Vor rund sechs Jahren hatte Stefan bloß Klamotten, ein paar Bücher, DVDs und ein bisschen Krimskrams mitgebracht. Er gehörte zu den Leuten, die keinen Wert auf viel Habe legten. Das hätte Linus zu denken geben sollen. Tuyen war wahrscheinlich zu viel des Guten und passte nicht in Stefans asketische Lebensplanung. ‚Sei kein Arschloch!‘, schimpfte eine Stimme in seinem Kopf. ‚Ihr hattet eine tolle Zeit, also bleib fair.‘

Um Zeit zu sparen, hatte Linus bereits alles in Plastiktüten in den Flur gestellt. Dennoch hoffte er insgeheim auf eine Versöhnung, was ihm aber erst bewusst wurde, als Stefan mit einem fremden gutaussehenden Mann vor der Tür stand.

„Hi. Das ist Detlef“, stellte sein Ex den Typen vor.

Der arme Kerl. Wenigstens war er kein Frisör, dachte Linus boshaft. „Ich würde ja sagen, schön dich kennenzulernen, wenn die Umstände anders wären.“

Detlef zuckte mit entschuldigender Miene die Achseln. „Das wäre mir auch lieber.“

Innerhalb weniger Minuten transportierten die beiden Stefans Kram nach draußen, in ein am Bordstein stehendes Auto. Als alles verladen war, stieg Detlef in den Wagen und Stefan kam wieder ins Haus. Linus, der das vom Küchenfenster aus beobachtet hatte, ging in den Flur und öffnete erneut die Tür.

Zwei Stufen auf einmal nehmend erreichte Stefan den Treppenabsatz, stopfte beide Hände in die Hosentaschen und setzte einen bittenden Gesichtsausdruck auf. „Ich weiß, lass uns Freunde bleiben klingt doof, aber mir wäre das schon wichtig.“

„Momentan ist das nicht drin. Vielleicht denke ich nächstes Jahr anders darüber.“

„Also darf ich mich im Januar bei dir melden?“

„Tu das. Was ist mit der Auflösung unserer …“ Linus malte Anführungszeichen in die Luft. „…Ehe?“

„Die kann man online beantragen. Ich kümmere mich darum.“

„Okay. Dann … mach’s gut.“

Einen Augenblick schien es, als ob sich Stefan vorbeugen und ihn küssen wollte, doch der Moment ging vorüber. „Du auch“, erwiderte er, drehte sich um und joggte die Stufen wieder runter.

Linus schloss die Tür, atmete tief durch und horchte in sich rein. Die Wunde blutete ein wenig, doch im vertretbaren Rahmen. Stefans Friedensangebot hatte ihn ein wenig ausgesöhnt. Nichts fand er schlimmer, als im Streit auseinanderzugehen.

Krach aus dem Wohnzimmer erinnerte ihn an seine Vaterpflichten. Tuyen klopfte mit einem der Pyramidenringe gegen die Laufgitterstäbe. Das ähnelte dem Verhalten Gefangener in amerikanischen Filmen, nur dass die andere Gegenstände dafür benutzten. Er befreite Tuyen aus dem Kinderknast und küsste ihn auf die weiche Wange. „Abendbrotzeit, nicht wahr?“

Sein Sohn krähte: „Eia!

 

Am nächsten Tag entschied Linus, das Kinderzimmer in Angriff zu nehmen. Mit Tuyen fuhr er vormittags in die Innenstadt, in eine von Hamburgs nobelsten Einkaufsstraßen. Für den Engel sollte es nur das Feinste vom Feinen sein. Den Kombikinderwagen ließ er daheim und nahm lieber das Tragetuch, das er aus Vietnam mitgebracht hatte. Er hatte seinen Schatz gern ganz nah bei sich, außerdem war häufiger Körperkontakt, laut einem entsprechenden Artikel im Internet, für die Entwicklung eines Kindes förderlich.

Im Neuen Wall fand er eine Parklücke direkt vor Prinz und Prinzessin, einem Geschäft für Kindermöbel. Tuyen, der die Fahrt im Kindersitz verpennt hatte, blinzelte ihn schläfrig an, als er die hintere Tür öffnete. „Na, mein Süßer. Jetzt geben wir mal richtig viel Geld zusammen aus.“

Tuyen ließ das unkommentiert und ohne einen Mucks aus dem Sitz ins Tragetuch verfrachten. Wegen der Kälte war der Engel in einen himmelblauen Schneeanzug mit weißer Wollmütze gehüllt. Als Kontrast zu der dunklen Hautfarbe sah das hinreißend aus.

Um sich zu inspirieren guckte Linus, bevor er den Laden betrat, in die Schaufenster. Ihm gefielen alle Möbel ausnahmslos gut. Es würde also eine schwere Entscheidung werden. Schade, dass Tuyen noch keine Meinung dazu abgeben konnte.

Im Geschäft wanderte er durch die Ausstellung, die sechs Musterzimmer, drei für Mädchen und drei für Jungs, beinhaltete. Allerdings war ihm das blau-rosa-Konzept zu stereotyp. Für Tuyen sollte es etwas sein, das seiner exotischen Abstammung Rechnung trug. Also, kein Urwald oder so, aber schon etwas Besonderes.

„Kann ich Ihnen helfen?“, sprach ihn eine junge Frau von der Seite an.

„Tja … ich brauche eine komplette Zimmereinrichtung für diesen kleinen Burschen.“

„Haben Sie bestimmte Vorstellungen oder soll ich Ihnen einfach ein paar Möbel zeigen?“

„Ich hab mir schon alles angeguckt. Generell tendiere ich zu hellem Holz, vielleicht mit ein paar bunten Elementen.“

„Ilona?“, ertönte in diesem Moment eine tiefe Stimme. „Ich übernehme den Kunden.“

Ein großer, blonder Mann in beiger Hose und blauem Hemd geriet in sein Sichtfeld. Dem selbstsicheren Auftreten und Ilonas devot gesenktem Haupt zufolge, der Chef in diesem Laden. Sie zog sich zurück.

Der Mann reichte ihm die Hand. „David Prösch. Was kann ich für Sie tun?“

Linus schlug ein. „Angenehm. Linus Walker und das hier …“ Er guckte runter, auf Tuyens Köpfchen. „… ist mein Sohn Tuyen, der gern sein Zimmer einrichten möchte.“

„Dann ist er ja mein Ansprechpartner.“ Prösch wandte sich an Tuyen: „Und? Hat dir etwas in der Ausstellung besonders gefallen?“

Sein Sohn guckte den Mann ernst an, schien jedoch nach innen zu horchen. Linus begriff. Solches Gesicht machte sein Sohn, wenn er in die Windel pupste. Im nächsten Moment verzog Tuyen auch schon den Mund und begann zu zappeln.

„Haben Sie hier irgendwo einen Wickeltisch?“, erkundigte er sich und fügte hinzu, damit keine Missverständnisse aufkamen: „Ich muss Tuyen eine neue Windel verpassen.“

„Auf den Toiletten ist dafür leider kein Platz, aber …“ Prösch bedeutete ihm mit einem Wink zu folgen, setzte sich in Bewegung und hielt vor einer Wickelkommode, die hinter einem Pfeiler stand. „… hier gibt es ein wenig Privatsphäre. Alles Nötige finden Sie in den Schubladen.“

Super Service. So brauchte Linus nicht raus zum Auto latschen, in dem die Wickeltasche lag. „Dankeschön.“

Er befreite Tuyen aus dem Tragetuch, legte ihn auf die Kommode, nahm das Notwendige aus dem Möbel und schälte ihn aus dem Anzug. Darunter trug sein Sohn eine Strumpfhose, die Linus ihm ebenfalls auszog. Eine strenge Geruchswolke stieg zu ihm hoch. Kopfschüttelnd lächelte er Tuyen an. „Ausgerechnet hier setzt du so einen Stinkepups ab?“

Als Antwort strampelte sein Sohn und fuchtelte mit den Armen, so dass der Schneeanzug, den er neben Tuyen gelegt hatte, von der Kommode rutschte.

„Temperamentvoller Bursche“, meinte Prösch und hob den Anzug auf.

Hatte der Typ nichts anderes zu tun, als zu spannen? Andererseits war Linus stolz auf das Interesse, das sein Sohn weckte. „Normalerweise ist er lammfromm, aber wenn Papi nicht spurt, wird er ungehalten.“

Wie zum Beweis fing Tuyen an zu weinen. Flink wechselte er die Windel, woraufhin der Tränenstrom wieder versiegte. Während er Tuyen die Strumpfhose überstreifte, verschwand Prösch mit dem vollgeschissenen Exemplar sowie benutzten Tüchern, um gleich wieder aufzutauchen.

Nachdem er seinen Sohn in den Anzug gesteckt hatte, setzte er ihn ins Tragetuch und stopfte die Mütze in seine Jackentasche. „Vielen Dank. Nun sind wir gewappnet, um Möbel auszusuchen.“

Prösch führte ihn durch die Ausstellung und erläuterte zu dem einen oder anderen Stück Vor- und Nachteile. Am Ende war Linus so schlau wie zuvor. Er hatte es sich einfach vorgestellt, eine Kommode, einen Schrank, in dem man Spielzeug und später Kleidung verstauen konnte, sowie ein Gitterbett - zurzeit schlief Tuyen in einem Reisemodell - auszusuchen. Tja, falsch gedacht.

Anscheinend merkte man ihm seine Ratlosigkeit an, denn Prösch schlug vor: „Was halten Sie davon, wenn ich zu Ihnen komme und mir den Raum ansehe? Ich könnte ein paar Kataloge mitbringen.“

„Das wäre klasse. Wann würde es Ihnen denn passen?“

Prösch zuckte die Achseln. „Jederzeit. Wie wäre es mit heute?“

„Sehr gern.“

„Gegen eins?“

„Perfekt. Um die Zeit macht Tuyen Mittagsschlaf.“ Er folgte Prösch zum Verkaufstresen, wo er seine Anschrift und Telefonnummer - für Rückfragen - diktierte. Anschließend verabschiedete er sich und verließ den Laden.

Auf der Rückfahrt hielt er bei einem Supermarkt, um seine Vorräte aufzustocken. Tuyen, der vorn im Einkaufswagen saß, riss sich an der Kasse eine Tüte Weingummis unter den Nagel. Das Zeug war so angebracht, dass Kinder locker drankamen. Der Versuch, Tuyen den Naschkram wegzunehmen, erwies sich als Kampf. Sein Sohn begann zu plärren. Nichtsdestotrotz hängte Linus die Tüte zurück.

Tuyen beruhigte sich schnell wieder. Zu Hause gab’s eine Pulle Milchnahrung und im Anschluss ein paar Löffel Gemüsebrei. Den Rest der Babynahrung aus dem Glas verspeiste Linus als Mittagsimbiss, wobei er feststellte, dass es nicht seinem Geschmack entsprach. Er beschloss, zukünftig selbst Gemüse zu kochen und zu Brei zu verarbeiten. Zeit genug dafür war ja vorhanden.

Um Viertel vor eins legte er Tuyen zum Mittagsschlaf ins Bettchen. Zehn Minuten später läutete es an der Tür. Linus führte David Prösch ins Wohnzimmer und bot Kaffee an.

„Gerne. Bitte mit viel Milch.“

Als er mit einem Tablett zurückkehrte, lag ein Stapel Kataloge auf dem Couchtisch. Prösch stand vorm Fenster und schaute hinaus.

„Im Sommer ist es ganz schön, aber um diese Jahreszeit stimmt einen der Ausblick trübsinnig.“ Er stellte seine Fracht ab, nahm auf der Couch Platz und schnappte sich eine der Broschüren.

„November mag ich auch nicht. Na ja, Dezember, Januar und Februar fallen auch in diese Kategorie.“ Prösch ließ sich neben ihm nieder, griff nach einer der Tassen - für Gäste gab’s das feine Porzellan statt der billigen Becher - und goss eine große Menge Milch in den Kaffee.

„Das hier gefällt mir sehr.“ Linus zeigte auf ein Möbelprogramm aus Buche, mit Griffen aus bunten Bauklötzen.

„Das ist wirklich schön und robust. Die Griffe lassen sich austauschen, damit sich die Möbel den Bedürfnissen der Kinder anpassen.“

Linus nahm sich die andere Tasse, verdünnte seinen Kaffee ebenfalls mit Milch und trank einen Schluck. „Eine gute Idee. Als Pubertierender wird Tuyen vermutlich etwas anderes haben wollen.“

Prösch grinste. „Davon ist auszugehen. Vielleicht Totenköpfe oder Skelette.“

„Gibt’s solche Griffe?“ Er blätterte weiter, fand aber nichts dergleichen.

„In diesem Preissegment gibt es dafür keine Nachfrage.“

„Wollen wir zur Tat schreiten?“

Wortlos holte Prösch Zollstock, Block und Stift aus der Aktentasche, stand auf und wartete, bis er aufgestanden war und vorausging. Tuyens zukünftiges Zimmer befand sich nebenan. Bis vor einigen Monaten hatte darin alles Mögliche gestanden, was nirgendwo anders gebraucht wurde. Das Zeug war mittlerweile entsorgt, verschenkt oder im Keller gelandet.

Während Prösch Maß nahm bekam Linus Gelegenheit, seinem Gast auf den Hintern zu starren. Wohlgeformte Backen in einer gut sitzenden Hose. Er war zwar frisch getrennt, aber nicht tot und wusste daher solchen Anblick wohl zu schätzen.

„Bleiben die Gardinen dran?“, erkundigte sich Prösch über die Schulter.

Linus spürte, wie ihm Hitze in die Wangen stieg. Hoffentlich war seine Musterung unbemerkt geblieben. „Nein, die kommen weg. Ich dachte an ein Rollo.“

Prösch fuhr fort, zu messen und die Ergebnisse auf dem Block zu notieren. Wieso war er nicht auf diese Idee gekommen? Es war ein bisschen peinlich, dass Prösch seine Arbeit machen musste, aber letztendlich kosteten die Möbel auch eine Stange Geld. Dafür konnte man schon etwas verlangen.

Ein Geräusch ließ Linus aufhorchen. „Ich bin gleich wieder da“, informierte er Prösch und eilte ins Schlafzimmer.

 

Impressum

Texte: Sissi Kaiserlos
Bildmaterialien: shutterstock
Cover: Sissi Kaiserlos
Lektorat: Aschure - dankeschön!
Tag der Veröffentlichung: 18.10.2019

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