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1. Gewissensbisse 1

In der Sonne waren es gefühlte 40 Grad, im Schatten des Sonnenschirms auch nicht viel weniger. Ab und zu, wenn ein großer Pott vorbeifuhr, erreichten die Wellen fast Andres Füße und die Luft geriet ein bisschen in Bewegung. In der übrigen Zeit lastete Schwüle auf dem Elbstrand.

Trotz der glühenden Hitze war die Strandperle recht gut besucht. Die meisten bevorzugten die Plätze drinnen, denn dort sorgte ein Deckenventilator für etwas Erfrischung. Draußen waren zwar fast alle Stühle belegt, aber die sonst in Scharen im Sand hockenden Gäste fehlten. Andre fand das angenehm. Es schaffte ein wenig Privatsphäre, die es sonst in dieser Location nicht gab.

Wie jedes Jahr verbrachte er eine Woche Sommerurlaub zu Hause und hatte diesmal echt Glück mit dem Wetter. Es war des guten schon fast zu viel. Wegen eines Kollegen, der kurzfristig seine Pläne geändert hatte, war Andres ursprünglich für August eingetragener Urlaub in die Hamburger Sommerferien gefallen. Die Freibäder quollen über vor Familien mit Schulkindern. Allerdings war’s ihm eh zu heiß, um dort herumzulungern. Dann doch lieber an der Elbe, wo wenigstens gelegentlich ein Lufthauch etwas Kühlung brachte.

Genüsslich grub er seine Zehen in den Sand und blinzelte rüber, zu seinem Kumpel Sascha, der neben ihm in einem Liegestuhl saß. „Meinst du, man könnte ein Fußbad wagen?“

„Vergiss es. Die Elbe besteht aus Chemie, Schlick und Abwässern.“ Sascha war ein notorischer Schwarzseher, aber in geringen Dosen konnte Andre das gut vertragen.

„Dann müsste der Typ da gleich tot umfallen.“ Er wies mit dem Kinn auf einen Blonden, der bis zu den Knien im Wasser stand und ihnen den Rücken zuwandte.

„Der wird mit grünen Pickeln an den Beinen wieder rauskommen“, prophezeite Sascha und steckte die Nase wieder in das Magazin, das er schon die ganze Zeit las.

Das mit den Pickeln glaubte Andre kein Stück, trotzdem behielt er Blondie im Auge. Der Typ hatte die Jeans hochgekrempelt und hielt ein Paar Flipflops in der Hand. Er wollte den Blick schon abwenden, als sich der Blonde umdrehte und zum Strand watete. Die Beine waren okay, genau wie das Gesicht, soweit Andre das erkennen konnte. Der Blonde trug nämlich eine dunkle Sonnenbrille, die einen Großteil verdeckte.

Der Typ steuerte auf ein Schattenplätzchen zu. Bevor der Blonde den freien Stuhl erreichte, ließ sich jedoch ein anderer Gast darauf nieder. Blondie blieb stehen, drehte sich im Kreis und ließ den Blick über das Areal wandern. Entweder suchte er jemanden oder einen anderen Platz.

Eigentlich war Andre eher zurückhaltend, doch der Typ interessierte ihn zum einen, zum anderen hatte er Mitleid. Es war doof, so allein unter all den Paaren und Grüppchen. Er hob also eine Hand und winkte, woraufhin der Blonde nach kurzem Zögern in seine Richtung stapfte.

„Du kannst meinen Stuhl haben“, bot Andre an, als der Typ nahe genug war. „Ich wollte eh gerade meine Füße abkühlen.“

Erneut ließ Sascha die Zeitschrift sinken und zwinkerte dem Mann zu. „Nimm sein Angebot ruhig an. Er kommt sowieso nicht lebend aus der Kloake zurück.“

Der Blonde zuckte die Achseln. „Mir hat’s nicht geschadet.“

„Vielleicht setzt bei dir die Wirkung erst später ein“, entgegnete Sascha trocken.

Andre schüttelte bloß den Kopf, stand auf und wies einladend auf seinen Stuhl. „Bitte sehr.“

Nachdem sich der Blonde hingesetzt hatte, strebte Andre aufs Wasser zu. Eigentlich sah es ganz okay aus. Mit einer Zehe prüfte er die Temperatur. Sein durchgekochtes Fleisch meldete: Eisigkalt! Im ersten Moment war es tatsächlich so kühl wie im Gefrierfach, doch im zweiten erträglich. Genau wie der Blonde ging er bis zu den Knien hinein und betrachtete das gegenüberliegende Ufer. Dort befand sich der Containerterminal mit Kränen, die an eine reglose stählerne Giraffenherde erinnerten. Eine poetische Umschreibung für den eigentlich ziemlich hässlichen Anblick. Nur nachts sah es besser aus, wenn man bloß die vielen Lichter sah.

Ein Weilchen blieb er so stehen und genoss die Abkühlung, ehe er zurück watete. Anscheinend rüstete sich Sascha zum Aufbruch. Während er näherkam, packte sein Kumpel nämlich die Zeitschrift ein und stand auf.

„Ich muss los. Bin noch verabredete“, behauptete Sascha.

Eine Lüge, denn eigentlich wollten sie später zusammen Essen gehen. „Mach’s gut. Wir telefonieren“, erwiderte Andre.

Sascha nickte dem Blonden zu und stapfte davon.

Andauernd lag ihm sein Kumpel damit in den Ohren, doch endlich mal wieder einen Typen abzuschleppen. Anscheinend hatte Sascha gerade Blondie dazu auserkoren, seinen sexuellen Notstand zu beenden und war deshalb gegangen. Normalerweise wäre Andre über solche Kuppelei sauer, doch bei Blondie machte er eine Ausnahme. Der Typ war echt Zucker.

Er ließ sich auf Saschas Ex-Liegestuhl nieder. „Ich bin Andre“, stellte er sich vor.

„Colin“, erwiderte der Blonde, hob dabei die Brille an und schenkte ihm ein Lächeln.

Eines, das ihm ein Kribbeln im Bauch bescherte. Hinzukamen himmelblaue Augen - Andre stand total auf diese Farbe - und ein rasches Abchecken, was ihm verriet, es mit einem Gleichgesinnten zu tun zu haben. Die Überreste eines Veilchens, eine gelbliche Schwellung, taten dem Ganzen keinen Abbruch.

Colin schob die Sonnenbrille wieder runter. „Und? Merkst du schon was?“

Aber hallo! Und wie er was merkte! Allerdings war Colins Frage wohl nicht auf seinen interessierten Schwanz gemünzt, sondern eher auf das angeblich giftige Elbwasser. „Sascha spinnt manchmal ein bisschen.“

„Hab ich mir schon gedacht“, meinte Colin. „Seid ihr ein Paar?“

„Vor langer Zeit haben wir das versucht, aber beschlossen, dass wir als Freunde besser funktionieren.“ Andre guckte rüber zum Tresen, an dem gerade wenig Andrang herrschte. „Ich hol mir was zu trinken. Soll ich dir was mitbringen?“

„Ein Alsterwasser, bitte.“ Colin machte Anstalten, etwas aus der Gesäßtasche zu pfriemeln.

„Lass mal. Das geht auf mich. Du kannst ja die nächste Runde bezahlen“, wehrte er ab.

Nach wenigen Minuten kam er mit den Getränken zurück, reichte Colin ein Glas und setzte sich mit seinem - er hatte sich ebenfalls Alsterwasser geholt - wieder hin. Durstig trank er einen großen Schluck. Bei der Hitze stieg selbst solch harmloses Mischgetränk einem schnell zu Kopf, weshalb er normalerweise ganz auf Alkohol verzichtete. Momentan konnte er jedoch, um Colin anzubaggern, einen Schwips gut gebrauchen. Nüchtern war er im Flirten nämlich eine Niete.

„Wohnst du in der Nähe?“, erkundigte er sich.

Colin nickte. „Ungefähr eine Viertelstunde zu Fuß.“

„Dann bist du ja bestimmt oft hier.“ Was für ein blöder Anmachspruch. Um seinen Verstand zu inspirieren, leerte Andre sein Glas zur Hälfte.

„Geht so. Meist ist es mir hier zu voll.“ Colin prostete ihm zu. „Danke für das Alsterwasser und den Sitzplatz. Ich hoffe, ich hab deinen Kumpel nicht verscheucht.“

„Sascha wollte eh gehen“, flunkerte Andre.

Schweigen entstand. Trotz des Alkohols wollte ihm nichts Gescheites einfallen, um das Gespräch fortzuführen. Aus dem Augenwinkel musterte er Colin, die langen Beine, schlanken Finger und den anziehenden Mund. Mit der blassen Haut war ein Sonnenbrand eigentlich vorprogrammiert. Andre hatte da mehr Glück. Er war eh ein dunkler Typ und wurde in der Sonne schnell braun. Bei Colin hingegen zeigte sich erste Röte auf der Nase und den Füßen.

„Musst du dich nicht eincremen?“, fragte Andre.

„Das nützt nichts. Ich bekomme so oder so einen Sonnenbrand.“ Colin setzte das inzwischen ebenfalls halbleere Glas an die Lippen.

Es lag Andre auf der Zunge, nach der Herkunft des Veilchens zu fragen, doch das wäre zu aufdringlich. Seine Mutter war mal gegen ein Regal gerannt und durfte sich anschließend wegen dem blauen Auge alles Mögliche anhören. Von Spott bis hin zu Anteilnahme war alles dabei. Letztendlich hatte sie auf der Arbeit eine Rundmail verfasst, in der sie erklärte, dass das Veilchen nicht von einem gewalttätigen Ehemann stammte, um dem Flurfunk ein Ende zu bereiten.

„Allerdings sollte ich bald ganz aus der Sonne“, redete Colin weiter. „Ich will mir ja keinen Hautkrebs zuziehen.“

Wäre Sascha noch da, hätte der jetzt wild gestikuliert, um Andre auf seinen Einsatz aufmerksam zu machen. Im Gegensatz zu ihm war sein Kumpel ein passionierter Flirter und schleppte fast jede Woche einen Typen ab.

„Ich muss auch raus aus der Hitze. Hättest du Lust, mit mir woanders hin zu ziehen?“, erwiderte Andre ohne eine Ahnung, wohin man gehen könnte. In den schönen Sommerlocations, die er kannte, war es nicht kühler oder schattiger als in der Strandperle.

„Gern. Von mir aus können wir zu mir gehen. Ich hab einen großen Balkon und reichlich Getränkevorräte im Kühlschrank.“

Wow! Das klappte ja wie verrückt. „Klasse. Wollen wir aufbrechen?“

Colin nickte, trank den Rest Alsterwasser und stand auf. Andre folgte dem Beispiel. Gemeinsam brachte sie die leeren Gläser zurück und gingen die Gasse bis zur Elbchaussee hinauf, die sie überquerten und einem schmalen Fußweg zwischen den Häusern einschlugen. Stumm schlappte Colin neben ihm her, beide Hände in den Hosentaschen vergraben. Da Andre nichts Gescheites einfiel, hielt er auch den Mund.

Wenige Minuten später erreichten sie ein Mehrfamilienhaus. Colin schloss die Tür auf und stieg voran die Treppe hinauf. Dadurch hatte Andre den süßen Hintern direkt vor der Nase, was ihn einmal ins Stolpern brachte. Zum Glück fing er sich, bevor er auf die Nase fliegen konnte.

Colins Wohnung befand sich im zweiten Stock. Im breiten Flur standen etliche Paar Schuhe und an der Garderobe hingen genauso viele Jacken.

„Hast du Mitbewohner?“, erkundigte sich Andre, dem die verschiedenen Größen - einige Paare ähnelten Kindersärgen - auffielen.

„Allein könnte ich mir die Wohnung nicht leisten. Was möchtest du trinken?“, entgegnete Colin und verschwand durch eine Tür zu seiner linken.

„Mineralwasser bitte.“ Vom Alkohol hatte er erstmal genug. Sein Kopf schwirrte, was allerdings auch an Colin liegen konnte. Neugierig spähte er durch die halboffenstehende Tür in einen Raum zu seiner rechten Hand. Darin stand ein Doppelbett. Links befand sich das Bad, wie er durch einen Türspalt erkannte.

Mit zwei Gläsern und einer Flasche kehrte Colin, nun ohne Sonnenbrille, in den Flur zurück. „Lass uns auf den Balkon gehen.“ Erneut ging er voraus.

Sie kamen an einer geschlossenen Tür vorbei, durchquerten ein geräumiges Wohnzimmer und traten auf einen großen Balkon, der im Schatten lag. Die Blumenkästen waren teils mit Koniferen, teils mit Geranien bepflanzt. Man blickte in eine gepflegte Gartenanlage, die in einem Tannenwäldchen mündete. Sehr idyllisch.

Colin setzte sich auf einen der vier Stühle und schenkte Wasser ein. Andre wählte den Platz neben Colin.

Er schnappte sich eines der Gläser, stillte seinen Durst und meinte: „Schönes Plätzchen. Mein Balkon ist viel kleiner und liegt dazu noch über einer Hauptverkehrsstraße.“

„Wo wohnst du denn?“

„In Altona, fast in der Mitte.“

Colin zog eine Grimasse. „Nette Ecke, aber mir ist es da zu wuselig und laut.“

„Och, mir gefällt’s eigentlich.“ Erneut trank Andre einen Schluck Wasser. „Gehst du gern ins Kino?“

„Kommt drauf an. Wenn was Lustiges läuft, bin ich dabei.“

„Was hast du denn zuletzt gesehen?“

„MIB international. Der Film kommt aber nicht an seine Vorgänger ran.“ Colin seufzte. „Man sollte manche Suppe nicht dreimal aufwärmen.“

„Ich fand den eigentlich ganz gut“, widersprach Andre.

Es entspann sich eine Unterhaltung über Filme, die sie gesehen hatten oder noch sehen wollten. Mithilfe Colins Smartphones checkten sie die anstehenden Premieren und diskutierten, welche man nicht verpassen durfte. Colin kam aus sich raus, lachte oft und seine blauen Augen funkelten dabei. Das war gefährlich für Andres Herz, aber warum sollte er es nicht verschenken? Colin schien doch auch Interesse zu haben.

In seiner Euphorie schlug er vor, einen Selfie von den beiden Kinofans zu schießen. Colin beugte sich rüber, so dass sie zusammen aufs Foto passten und sagte: „Cheeese-cake!“

Auf dem Bild grinsten sie beide blöde in die Linse.

„Schickst du es mir?“, bat Andre, holte sein Gerät hervor und diktierte seine Nummer. Gleich darauf besaß er sowohl das Foto, als auch Colins Handynummer. Lächelnd steckte er sein Smartphone wieder ein.

Wie es genau passierte, wusste er hinterher nicht mehr: Mit einem Mal lagen Colins Lippen auf seinem Mund. Der anfangs unschuldige Kuss steigerte sich bald zu einem Zungenduell. In Andres Jeans wurde es eng und die Armlehne des Stuhls drückte sich unangenehm in seine Rippen. Eine Hand wanderte über sein Bein bis zum Schritt. Als sie sich über die Ausbuchtung legte, stöhnte er an Colins Lippen.

Ich fass es nicht!“, brüllte plötzlich jemand in seinem Rücken, woraufhin Colin zurückzuckte und über seine Schulter starrte.

Im nächsten Moment wurde Andre am Arm hochgerissen und sah sich erschrocken einem Muskelprotz mit wutverzerrter Miene gegenüber.

Sieh zu, dass du Land gewinnst“, zischte der Typ ihn an.

„Moment! Lass Andre in Ruhe!“, schaltete sich Colin ein.

„Wir unterhalten uns gleich“, entgegnete der Kerl und wandte sich wieder Andre zu. „Und du verpisst dich jetzt! Ich will dich nie wieder in der Nähe von meinem Freund sehen!“

„Eine offene Partnerschaft gilt für beide Seiten“, meldete sich Colin erneut zu Wort.

„Ich sagte, das klären wir gleich“, gab der Typ zurück, zerrte Andre zur Balkontür, quer durchs Wohnzimmer und Flur, riss die Tür auf und schubste ihn ins Treppenhaus.

Rumms!, knallte die Wohnungstür vor seiner Nase ins Schloss. Fassungslos stand Andre da und rieb sich den schmerzenden Arm. Was war das denn bitteschön gewesen? ‚Colin hat dich vorgeführt‘, höhnte eine Stimme in seinem Kopf.

Langsam, wie betäubt, ging er die Stufen runter, trat durch die Haustür nach draußen und schlug den Weg in Richtung Strandperle ein. Mit jedem Schritt wurde ihm klarer, tatsächlich von Colin verarscht worden zu sein. Offenbar handelte es sich bei dem Muskelmann um Colins Freund und Mitbewohner. Von wegen Wohngemeinschaft! Na gut, das war seine Interpretation von Colins vager Antwort, trotzdem …

An der Elbchaussee wandte er sich nach links. Auf dem Hinweg hatten Sascha und er den Bus genommen. Momentan war ihm nach Bewegung zumute, daher beschloss er, zurück zu Fuß zu gehen.

In der halben Stunde, die er bis nach Hause brauchte, war seine Verwirrung in Zorn umgeschlagen. Colin hatte ihn eiskalt benutzt, um den Typen eifersüchtig zu machen, davon war er überzeugt. Alles deutete darauf hin.

Als er in seiner Wohnung ankam, musste er erstmal pissen. Danach holte er ein Bier aus dem Kühlschrank, das er gleich im Stehen lenzte. Mit dem nächsten begab er sich ins Wohnzimmer und lief ruhelos auf und ab, wobei er ab und zu einen Schluck aus der Flasche nahm. Er fühlte sich benutzt und elend, zugleich brannte er vor Hass auf Colin.

Beim dritten Bier hatte er die zündende Idee, wie er sich rächen konnte. Er schloss sein Notebook es an den Drucker an und lud den Colin-Andre-Selfie vom Smartphone auf den PC.

1. Gewissensbisse 2

 Akuma guckte auf seinen Monitor, ohne einen Buchstaben wahrzunehmen. Gedanklich war er bei Sascha. Den Mann, von Beruf Augenoptiker und Hörgeräteakustiker, hatte er gestern in der Strandperle kennengelernt. Faszinierend fand er Saschas negative Einstellung, wobei es sich eher um ein Kokettieren damit handelte. Er schätzte, das war eine Masche, um jemanden damit aufzureißen. In seinem Fall biss Sascha allerdings auf Granit. Okay, er stand schon auf Männer, war aber vergeben und gehörte zur treuen Fraktion.

Seit vier Jahren führte er eine Fernbeziehung mit Somchai. Sie hatten sich in einem Flugzeug auf dem Weg nach Bangkok - er als Passagier, Somchai als Steward - getroffen. Zwischen ihnen waren gleich Funken geflogen. Im Anschluss an den Flug hatte Somchai ein paar Tage frei, die sie zusammen verbrachten. Als Somchai wieder arbeiten musste, war Akuma zu seiner Verwandtschaft weitergefahren, die im Speckgürtel Bangkoks lebte.

So oft, wie er es sich leisten konnte, also mindestens alle zwei Jahre, flog er in die Heimat seiner Mutter; mal mit seinen Eltern, mal allein. In Thailand lebten seine Oma, drei Tanten, zwei Onkel und entsprechend viele Cousins und Cousinen. Bei ihnen fühlte er sich wohl, obschon er seine Neigung lieber geheim hielt. Man war in dem Dorf recht aufgeschlossen, wegen der Nähe zur Touristenmetropole, doch in manchen Bereichen herrschte noch Mittelalter. So war Homosexualität in den Augen seiner Verwandten völlig okay, so lange es keinen aus den eigenen Reihen betraf.

Zweimal hatte er Somchai bisher in Bangkok besucht und das mit Urlaub bei seiner Verwandtschaft verbunden. Eine Woche zu zweit, zwei Wochen bei der Familie. Somchai bekam nur sieben Tage Jahresurlaub, bei einer Sechs-Tage-Woche. Es gab zwar 13 Feiertage pro Jahr, doch das wertete diese Zahl nicht auf.

Wann immer Somchais Dienstplan das zuließ, trafen sie sich in Frankfurt. Akuma besaß eine Bahncard, so dass diese Ausflüge sein Budget nicht überstrapazierten. Das Hotel bezahlte stets die Fluggesellschaft. Auf diese Weise sahen sie sich fast jeden Monat für wenige Stunden.

Für die Zukunft war geplant, dass Somchai zu einer deutschen Fluggesellschaft wechselte. Er sprach fließend deutsch und englisch, womit gut Voraussetzungen vorhanden waren. Allerdings wollte er zu keiner Billiglinie, sondern möglichst bei einer renommierten Gesellschaft unterkommen. In einer Woche stand ein Vorstellungsgespräch bei Lufthansa an. Somchai setzte alle Hoffnungen auf diesen Termin und Akuma wäre auch froh, wenn sie endlich eine normale Beziehung führen könnten.

Sein Telefon klingelte. Die Nummer seiner Eltern stand auf dem Display. Er hob den Hörer an sein Ohr. „Hi Mama.“

„Hallo Schatz. Kommst du zum Abendessen?“

„Gern. Was gibt es denn?“

„Massaman Gaeng. Das magst du doch so gern.“

Das stimmte, wobei er Sauerbraten mit Backobst und Klößen den Vorrang geben würde. In ihm steckte eben ein halber Deutscher. „Lecker. Ich komm dann nach der Arbeit direkt zu euch.“

„Dann bis nachher, mein Schatz.“ Seine Mutter legte auf.

Akuma warf den Hörer zurück auf die Gabel. Seine Gedanken wanderten erneut zu Sascha. Sie hatten viel Spaß gehabt, während sie in der Elbe herumgewatet waren. Ihm gefiel Saschas trockener Humor. Selten hatte er so viel gelacht wie gestern.

Seufzend wandte er sich wieder dem Monitor zu. Seine Arbeit erledigte sich leider nicht von allein. In dem Großhandel für Elektroartikel war er seit seiner Ausbildung tätig, insofern kannte er jeden Vorgang aus dem Effeff. Manchmal dachte er über einen Wechsel nach, aber die Kollegen waren in Ordnung, die Bezahlung okay. Warum also in die Ferne schweifen? Immer wieder hörte er, dass in anderen Betrieben auch nur mit Wasser gekocht wurde.

 

Um halb sechs betrat er den Bäckerladen in Barmbek, den seine Eltern seit Urzeiten führten. Sein Vater, Peter Berens, stand hinterm Tresen und bediente gerade eine ältere Dame. Akuma hielt sich im Hintergrund, bis die Kundin den Laden verlassen hatte.

„Na, mein Junge. Treibt dich der Hunger her?“, begrüßte ihn sein Vater.

„Eher Mamas Lockruf.“ Er begab sich hinter die Theke und küsste seinen Vater auf die Wange. „Wie laufen die Geschäfte?“

„Ach, diese Billig-Ketten machen einem das Leben echt schwer.“

„Qualität wird sich durchsetzen“, entgegnete Akuma überzeugt.

Seine Eltern verkauften teils Selbstgebackenes, teils hochwertige Halbfertigprodukte. Früher hatten sie alles selbst gefertigt. Mit den Jahren war es ihnen aber zunehmend schwergefallen, ab drei Uhr morgens in der Backstube und bis sechs hinter der Ladentheke zu stehen. Inzwischen mussten sich die frühen Kunden entweder mit Ware vom Vortag oder frischen Fertigbrötchen begnügen. Ab neun gab es die leckeren, selbstgebackenen Brötchen und ab mittags Kuchen.

Sein Vater seufzte. „Dein Wort in Gottes Ohr. Geh ruhig schon nach oben. Ich komm nach, sobald ich abgeschlossen habe.“

Praktischerweise lag die elterliche Wohnung direkt überm Laden. Das machte es überhaupt erst möglich, dass seine Eltern dieses Arbeitspensum durchhielten.

Akuma verließ das Geschäft durch die Hintertür, die ins Treppenhaus führte. Wie immer roch es nach Bohnerwachs und ein bisschen nach Kohl. Wahrscheinlich hatte die alte Frau Gerber, die seit seiner Kindheit im zweiten Stock wohnte, mal wieder Weißkohl für drei Tage gekocht.

Er stieg die Stufen in den ersten Stock hoch und läutete, obwohl er einen Schlüssel besaß. Auch seine beiden Schwestern hatten einen, den sie nur im Notfall benutzten. Höflichkeit war ihnen mit der Muttermilch eingetrichtert worden; außerdem würde Akuma auch nicht wollen, dass sich seine Eltern selbst in seine Wohnung einließen.

Seine Mutter öffnete die Tür, eilte wieder davon und rief: „Dao und Fahsai kommen auch. Deckst du schon mal den Tisch?“

Er folgte ihr in die Küche, küsste sie auf die Wange und schnappte sich das bereitstehende Geschirr. Im Wohnzimmer war der Esstisch schon leergeräumt - normalerweise stapelte sich dort Papier - und mit einer bunten Tischdecke versehen. Nachdem er Teller und Besteck verteilt hatte, gesellte er sich zu seiner Mutter. Es duftete köstlich nach Zimt und Kardamom.

„Hast du auch Servietten hingelegt?“, erkundigte sie sich.

„Das mache ich gleich. Kann ich sonst noch irgendwas helfen?“

„Momentan nicht. Erzähl mal: Wie war dein Wochenende?“ Sie warf ihm einen kurzen Blick zu, bevor sie sich wieder dem Herd zuwandte.

„Samstag und Sonntag war ich an der Elbe.“

„Allein?“

„Samstag waren Dirk und Alf mit, Sonntag hatten sie keine Lust.“ Die beiden waren ehemalige Klassenkameraden und gehörten zu dem harten Kern, der sich regelmäßig traf. Der Rest war inzwischen verheiratet, weggezogen oder sonst wo abgeblieben.

„Ach? Was treiben die beiden denn so?“

Nach Schulschluss hatte Akuma oft Freunde mit nach Hause gebracht, daher kannte seine Mutter die meisten. „Dirk studiert immer noch und Alf trägt sich mit dem Gedanken auszuwandern.“

„Auswandern?“ Seine Mutter regelte die Temperatur der Herdplatten herunter und drehte sich zu ihm um. „Wohin denn?“

Sie war nur wenige Zentimeter kleiner als er, mit ihren eins fünfundsechzig. Er ähnelte ihr am meisten, während seine Schwestern nach seinem Vater kamen. „Er schwankt zwischen Neuseeland und Australien.“

Seine Mutter runzelte die Stirn. „Nehmen die denn da jeden auf?“

„Keine Ahnung. Immerhin hat er einen Abschluss in Betriebswirtschaft. Vielleicht brauchen die da unten ja solche Leute.“

„Soweit ich mich erinnere, war Alf in Englisch keine Leuchte.“

Das Erinnerungsvermögen seiner Mutter war gigantisch, vor allem wenn es negative Dinge betraf. Grinsend zuckte Akuma die Achseln. „Dafür hat er umso mehr Selbstbewusstsein.“

„Ist ja auch was wert“, meinte sie mit einem Zwinkern, tätschelte seine Wange und scheuchte ihn ins Wohnzimmer, wo sie ihm Servietten in die Hand drückte.

Er war gerade dabei, sie zu Dreiecken zu falten und unters Besteck zu legen, als die Türglocke anschlug. Gleich darauf ertönten die Stimmen seiner Schwestern im Flur. Dao betrat als erste das Wohnzimmer, küsste ihn auf die Wange und nahm ihm die Servietten weg. Fahsai kam als nächstes herein, Gläser in beiden Händen. Ab dem Moment gab es keine ruhige Minute mehr. Seine Schwestern schwatzten ununterbrochen und wenn sie doch mal eine Pause einlegten, redete seine Mutter.

Um halb neun traf Akuma in seiner Wohnung ein. Er lebte ebenfalls in Barmbek, allerdings fast am anderen Ende des Stadtteils. Den halbstündigen Weg hatte er zu Fuß zurückgelegt, als Ausgleich zu dem vielen Essen.

Bis es Zeit war schlafenzugehen, ließ er sich von der Glotze berieseln. Das brauchte er nach all dem Wirbel, den seine Familie veranstaltet hatte. Manchmal fragte er sich, wie er das als Kind und Jugendlicher bloß ständig aushalten konnte. Entgegen seinen Schwestern, die sich einen Raum teilen mussten, hatte er zwar ein Einzelzimmer als Rückzugsort gehabt, aber das nur theoretisch. Eine der beiden hatte sich so gut wie immer bei ihm aufgehalten.

 

In den folgenden Tagen dachte er immer mal wieder an Sascha. Am Donnerstag fuhr er nach Feierabend in die Innenstadt, um nach einer neuen Cargo-Shorts Ausschau zu halten. Ganz zufällig kam er, als er durch die Fußgängerzone bummelte, an dem Geschäft vorbei, in dem Sascha arbeitete. Obwohl er weder Bedarf an einer Brille noch einem Hörgerät hatte, guckte er ins Schaufenster. Im Laden stand Sascha, ins Gespräch mit einem Kunden vertieft. Da wollte er natürlich nicht stören und ging weiter.

Leider gab es in den Shops, die er ansteuerte, keine Hose, die ihm gefiel. Auf dem Rückweg passierte er erneut den Optiker-Hörgeräte-Laden und spähte durchs Schaufenster. Diesmal stand ein Mann mittleren Alters, vermutlich Saschas Chef, am Tresen und beäugte etwas mit einer Lupe. Leicht enttäuscht setzte Akuma seinen Weg fort.

Freitagabend telefonierte er herum, ob jemand mit ihm am Samstag in die Strandperle kommen würde. Das Wetter war unvermindert sehr sommerlich, also ideal, um am Elbstrand abzuhängen. Bedauerlicherweise hatte keiner Zeit oder Lust.

Am nächsten Tag machte er sich gegen halb eins allein auf den Weg nach Övelgönne. Mit Bus und Bahn war es eine halbe Weltreise. Über eine Stunde benötigte er bis zur Zielhaltestelle und von dort waren es nochmal zehn Minuten zu Fuß.

In der Strandperle herrschte reger Betrieb. Als er sich durch die Tische zum Tresen schlängelte, umgab ihn der Geruch von Frittier-Fett und eingelegtem Fisch. Mit einer Flasche Bionade und einem Hotdog begab er sich auf die Suche nach einem schönen Plätzchen. Unweit des Wassersaums ließ er sich auf seiner mitgebrachten Strandmatte nieder. Schatten wäre ihm zwar lieber, aber diese Plätze waren allesamt belegt.

Während er seinen Hotdog verspeiste, sah er sich nach bekannten Gesichtern um. Leider Fehlanzeige. An seiner Frustration merkte er, wie sehr er auf Saschas Anwesenheit gehofft hatte. Vorher war ihm das gar nicht bewusst gewesen. Na gut, ehrlich gesagt hatte er es schon gewusst, jedoch energisch verdrängt. Schließlich stand er für einen Flirt nicht zur Verfügung.

Er machte es sich bäuchlings mit seinem Buch gemütlich. Ab und zu ließ er seinen Blick über die Anwesenden schweifen und trank einen Schluck Limo. Als er die Flasche geleert hatte, musste er dringend aufs Klo. Damit sein Platz erhalten blieb, ließ er Strandmatte und Buch liegen und nahm nur seinen Rucksack mit auf die Toilette. Diese befand sich auf halber Höhe der Treppe, die hinauf zur Straße führte. Noch war die Örtlichkeit relativ sauber, doch aus Erfahrung wusste er, dass sich das im Laufe des Tages ändern würde. Mit steigendem Alkoholkonsum verkamen viele Typen zu saumäßigen Stehpinklern, die alles trafen, nur nicht das Urinal.

Als er die Toiletten verließ, sah er eine vertraute Gestalt die Stufen runtergehen. Sein Herzschlag erhöhte das Tempo, seine Füße ebenfalls. Im Nu hatte er Sascha erreicht und tippte ihm auf die Schulter. „Hi. Auch wieder hier?“

Sascha fuhr herum, erkannte ihn und begann zu lächeln. „Na, was für eine Überraschung.“

„Heute allein hier?“

„Nö. Ich hab mein Riesen-Ego dabei.“

„Dann solltest du von dir in der dritten Person reden“, schlug Akuma vor.

„Gute Idee.“ Sascha zwinkerte ihm zu. „Ich hol mir mal schnell was zu trinken. Soll ich dir was mitbringen?“

„Ich komm mit. Muss eh noch Leergut abgeben.“ Bei diesen Worten holte er die leere Bionade-Flasche aus seinem Rucksack.

Impressum

Texte: Sissi Kaiserlos
Bildmaterialien: shutterstock depositphotos
Cover: Lars Rogmann
Lektorat: Aschure - dankeschön!
Tag der Veröffentlichung: 02.09.2019

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