Cover

Käufliche Liebe Vol. 24

Reuben Kauz - Mission Ornella


Sämtliche Personen, Orte und Begebenheiten sind frei erfunden, Ähnlichkeiten rein zufällig. Der Inhalt dieses Buches sagt nichts über die sexuelle Orientierung des Covermodels aus. Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck oder eine andere Verwertung, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung der Autorin. E-Books sind nicht übertragbar und dürfen nicht weiterveräußert werden. Bitte respektieren Sie die Arbeit der Autorin und erwerben eine legale Kopie. Danke!

Text: Sissi Kaiserlos

Fotos von shutterstock, depositphotos – Design Lars Rogmann

Korrektur: Aschure. Danke!

Kontakt: http://www.bookrix.de/-sissisuchtkaiser/


Mission Ornella

Ornella Junes, bürgerlich Olaf Jessen, ist auf Amrum aufgewachsen. Als sich ihr Jugendfreund Gunnar nicht mehr meldet, bittet sie Kommissar Reuben Kauz, der ihr noch einen Gefallen schuldet, um Hilfe. Sie macht sich Sorgen, dass Gunnar etwas zugestoßen sein könnte. Es handelt sich um eine Angelegenheit, die ein Vorgehen mit Samthandschuhen erfordert. Im Grunde sind in ihren Augen nämlich alle Insulaner verdächtig, inklusive Gunnars Familie. Das schränkt den Täterkreis auf lediglich 2.500 Leute ein, daher sollte es für Reuben kein Problem darstellen, Gunnars Verschwinden aufzuklären.

Überraschend findet Olaf mehr, als er erwartet hat.


~ * ~

Prolog

Olaf Jessen erblickte 1984 das Licht der Welt. Ungefähr in der Mitte zwischen Föhr und Amrum hielt es ihn nicht länger im Mutterleib: Auf einem Seenotrettungskreuzer wurde er mithilfe der Mannschaft entbunden. Man brachte seine Mutter und ihn ins Krankenhaus nach Wyk, wo die Ärzte den Seeleuten gute Arbeit attestierten.

Später behauptete er, durch den starken Seegang bei seiner Geburt für ein Leben in ständigem Wandel vorprogrammiert worden zu sein. Eine hübsche Umschreibung für seine Vorliebe, in Frauenklamotten herumzulaufen.

1991 wurde Olaf, zusammen mit fünf weiteren Kindern, eingeschult; unter ihnen Gunnar, der sich im Laufe des ersten Schuljahres zu seinem besten Freund entwickelte. Allerdings war das erstmal auf die Vormittage begrenzt. Gunnar wohnte in Norddorf, Olaf in Nebel, also zu weit voneinander entfernt, um sich zu Fuß zu besuchen. Mit dem Fahrrad oder Bus durften sie noch nicht allein unterwegs sein und dafür, ihre Sprösslinge zu kutschieren, fanden ihre Eltern keine Zeit. Olafs betrieben eine Pension, zusätzlich arbeitete sein Vater als Hausmeister. Warum auch Gunnars Eltern, die Ferienwohnungen vermieteten, verhindert waren, entzog sich seiner Kenntnis. Auch in späteren Jahren kam er nicht dahinter.

Sobald ihnen erlaubt war, allein mit Fahrrädern unterwegs zu sein, hockten sie auch nachmittags aufeinander. An den Wochenenden übernachteten sie abwechselnd bei Gunnar oder Olaf. Bei letzterem war das nur im Winter möglich, da er im Sommer sein Zimmer für Feriengäste räumen musste. In dieser Jahreszeit schlief er im Heizungskeller. Der Platz, durch einen Vorhang vom Ofen abgetrennt, reichte gerade für sein schmales Bett und einen Nachtschrank.

Sie hätten kaum unterschiedlicher sein können: Gunnar war zurückhaltend und handwerklich begabt, Olaf extrovertiert und mit zwei linken Händen ausgestattet. Vielleicht harmonierten sie gerade deswegen so gut. Stets tauchten sie im Doppelpack auf, so dass man ihnen den Namen siamesische Zwillinge verlieh.

Egal, ob beim Kite-Surfen, Schwimmen oder Fahrradfahren: Immer war Olaf der ungeschicktere von beiden und kam oft mit aufgeschürften Knien und kaputten Klamotten heim. Seine Eltern behandelten ihn mit liebevoller Nachsicht, während Gunnars schon bei kleinen Dingen einen Riesenaufstand veranstalteten. Ein Riss in der Jeans zog eine Woche Stubenarrest nach sich, eine Acht im Vorderrad des Mountainbikes einen ganzen Monat. Entsprechend achtete Gunnar immer sehr auf seine Sachen. Meist war es Olafs Schuld, wenn trotzdem etwas passierte.

Je älter sie wurden, desto mehr konzentrierten sich ihre Treffen auf Olafs Elternhaus. Egal, ob zum Mittag- oder Abendessen, Gunnar war stets willkommen. Olafs Vater baute sogar den Spitzboden aus, damit sie auch im Sommer zusammen übernachten konnten. Dort war es zwar manchmal brütend heiß, aber allemal heimeliger, als in Gunnars unterkühltem Zuhause.

Mit ungefähr fünfzehn entdeckte Olaf, dass er auf Jungs stand. Bei knapp 2.500 Einwohnern, wovon zwei Drittel allein aus Altersgründen ausschieden, tendierten seine Chancen sich auszuprobieren leider gen Null. Gunnar hatte es besser getroffen. Immerhin waren von den in Frage kommenden Insulanern rund 50 Prozent weiblichen Geschlechts.

Olaf tat so, als wäre er ebenfalls an Mädchen interessiert, doch wohl nicht überzeugend genug oder Gunnar besaß einfach zu feine Antennen. Eines Abends, sie lagen im Dunkeln nebeneinander im Bett, flüsterte Gunnar: „Sag mal … stehst du nicht auf Mädels?“

Wie vom Donner gerührt starrte Olaf an die Decke, unsicher, was er antworten sollte. Sagte er die Wahrheit, war ihre Freundschaft vielleicht Geschichte, log er, passierte vielleicht das Gleiche. „Ähm … also … ich weiß es nicht genau.“

„Kriegst du einen hoch, wenn du an Mösen denkst?“, präzisierte Gunnar.

„Nein.“

„Und wenn du an Schwänze denkst?“

„Schon eher.“

„Ich finde beides ziemlich geil“, gestand Gunnar.

Das nannte sich dann wohl bisexuell. Im Aufklärungsunterricht in der Schule war das Thema zwar kurz angeschnitten, aber auch genauso schnell wieder fallengelassen worden. Ihre Lehrerin Frau Kunert - Gunnar bezeichnete sie stets als vertrocknete Primel - hatte mehr Wert darauf gelegt, ihnen sämtliche Verhütungsmethoden nahezubringen. Ins Internet durfte Olaf nur manchmal, wenn sein Vater ihn an den Computer ließ. Er traute sich dann aber nicht, irgendwelche prekären Seiten aufzurufen. Das hätte sein Vater bestimmt gemerkt.

„Jedenfalls in Gedanken“, fügte Gunnar hinzu. „Vielleicht ist es nicht mehr so geil, wenn es wirklich passiert.“

„Möchtest du …“ Olaf leckte sich über die plötzlich trockenen Lippen. „Möchtest du es mal ausprobieren?“

„Ich glaub nicht.“

Seine Hoffnungen zerplatzten, dabei hatte er gerade angefangen, sich auf seinen ersten realen Sex zu freuen. Es wäre so schön, wenn mal eine andere Hand als seine … tja, es sollte nicht sein. „Aber zusammen wichsen ist okay?“

„Klar“, erwiderte Gunnar.

Olaf hörte, wie die Decke zurückgeschlagen wurde. Stoff raschelte, dann vernahm er schabende Geräusche. Er strampelte ebenfalls seine Bettdecke weg, schob sich die Pants von den Hüften und begann, seinen Schwanz zu reiben.



Ungefähr ein Jahr später machte Olaf seine ersten Erfahrungen mit einem Touristen. Wilfried, Anfang fünfzig, führte ihn in die Liebe ein. Olaf war bewusst, dass sich der Typ strafbar machte - schließlich war er noch nicht mal sechzehn - und hielt entsprechend die Klappe, sogar gegenüber Gunnar. Das fiel ihm unsäglich schwer, aber er hatte es Wilfried fest versprochen.

Noch schwieriger wurde es, als Gunnar ihm einige Monate später aufgeregt von dem ersten Mal mit einem Mädchen berichtete. Fast wäre er damit rausgeplatzt, auch schon mal … doch er hielt dicht.

Bei Gunnar blieb es für lange Zeit bei dem einen Mal, oder er behielt die weiteren für sich, während Olaf in der nächsten Saison drei Eroberungen machte. Sex wurde zwischen ihnen nie wieder zum Gesprächsthema, abgesehen vom gemeinsamen Wichsen, aber dabei redete man ja nicht. Hauptsächlich zockten sie Playstation oder hockten vor der Glotze, wenn sie nicht gerade draußen etwas unternahmen. Gunnar, dessen Eltern ein kleines Segelboot besaßen, entwickelte sich mehr und mehr zum passionierten Segler und selbst Olaf fand Gefallen daran, solange er, untätig im Heck sitzend, vor sich hin träumen durfte.

Das letzte Schuljahr wurde für ihn zur Qual. Es war, als ob sein Verstand in einer Flut von Hormonen ersoff. Lediglich Gunnars stetiger Hilfe verdankte er es, seinen Abschluss hinzubekommen. Kaum hatte er sein Zeugnis in der Tasche, verließ er fluchtartig die Insel und kam bei seiner letzten Ferienbekanntschaft in Hamburg unter.

Zu dem Zeitpunkt war er noch nicht volljährig, doch seine Eltern ließen ihn ziehen und unterstützten ihn sogar. Sie überwiesen monatlich Geld, besorgten ihm ein WG-Zimmer sowie einen Ausbildungsplatz im Betrieb eines Stammgastes. Maler und Lackierer war jedoch gar nicht sein Ding. Er schmiss die Lehre schon nach einigen Wochen und jobbte stattdessen in einem Club auf der Reeperbahn. Anfangs durfte er nur Kisten schleppen oder andere niedere Tätigkeiten verrichten. Nach einigen Monaten, und nachdem er 18 geworden war, wurde er zum Barkeeper befördert.

Es handelte sich um ein Etablissement, in dem regelmäßig Live-Auftritte stattfanden. Auf diesem Weg lernte er den Transvestit Dolly – bürgerlich Daniel Wegner - kennen. Von ihr lernte er, wie man sich schminkte und geschickt in Frauenklamotten kleidete. Erstmals in seinem Leben fühlte er sich vollständig. Die Kunstfigur Ornella Junes war geboren.

Seine Eltern, die ihn kurz darauf besuchten, reagierten mit großer Toleranz auf sein doppeltes Outing, schwul zu sein und auf Frauenkleidung zu stehen. Sie baten aber, dass er dieses Ich in Hamburg ließ, wenn er zu ihnen nach Amrum kam. Dort war man gegenüber Paradiesvögeln nicht sonderlich aufgeschlossen.

Außerdem brachten sie ihm einen Brief von Gunnar mit, den er erst öffnete, als sie wieder abgereist waren. Ihm klopfte das Herz bis zum Hals, während er das Kuvert aufriss und einen Briefbogen herauszog. Zum einen war er ohne Abschied gegangen, zum anderen hatte er sich seitdem nicht bei Gunnar gemeldet.

Mit schlechtem Gewissen las er, dass sein Freund ihn schrecklich vermisste. Er hingegen hatte in all den Monaten kaum an Gunnar gedacht. Es gab so viel Neues zu entdecken, dass er dazu einfach nicht gekommen war. Gunnar hatte inzwischen beim Amt für Küstenschutz angefangen zu arbeiten. Den ganzen Tag auf See, bei Wind und Wetter. Das war genau Gunnars Ding. Zum Schluss bat sein Freund, doch bitte mit ihm Kontakt aufzunehmen, damit man sich nicht aus den Augen verlor. Mit einem Mal fehlte ihm Gunnar so sehr, dass es richtiggehend schmerzte.

Es folgte ein sehr langes und teures Telefonat per Handy. Sie beschlossen, regelmäßig SMS auszutauschen. (Damals gab es noch keine Flatrates und WhatsApp war auch noch nicht erfunden.)

Olaf begann, als Ornella Junes durch die Clubs zu tingeln. So manches Mal buhte man sie aus, was bittere Tränen nach sich zog, doch aufgeben kam in ihrem Vokabular nicht vor. Bewusstseinserweiternde Substanzen kreuzten ihren Weg und hätten fast zu einem Absturz geführt, doch Dolly half ihr zurück auf den rechten Pfad.

Nach vielen harten Jahren, in denen Ornella in winzigen Clubs wie dem Gloria, einem Etablissement auf der Reeperbahn, aufgetreten war, stellte sich endlich Erfolg ein. Sie wurde für größere Events gebucht, zudem bot ihr ein Tiefkühlwarenhersteller einen Werbevertrag an. Millionen verdiente sie damit nicht, konnte aber ihren Nebenjob als Barkeeper kündigen.

Olaf und Gunnar kommunizierten mittlerweile per WhatsApp. Ihre Treffen beschränkten sich auf vier bis fünf Wochenenden pro Jahr, an denen Gunnar entweder nach Hamburg oder Olaf nach Amrum reiste. Es fiel ihm schwer, seine Ornella-Identität abzulegen, daher ließ er sich so selten auf der Insel blicken. Zudem wurde er überwiegend an den Wochenenden gebucht.

Bei Gunnar gab es andere Gründe. Einige Zeit war es die familiäre Situation: Gunnar hatte eine ehemalige Schulkameradin geheiratet, die ihn sehr beanspruchte, von der er sich allerdings nach fünf Jahren wieder scheiden ließ. Davor und danach kam immer etwas dazwischen, wie Arbeit oder Urlaubspläne. Er wohnte weiterhin in einer der Ferienwohnungen im elterlichen Haus. Auf Olafs Frage, wieso er keine andere anmietete, lautete stets die Antwort: „Wozu? Ich bin die meiste Zeit auf dem Wasser. Außerdem weißt du selbst, dass es kaum bezahlbaren Wohnraum auf Amrum gibt.“

Trotz ihrer raren Treffen blieben sie Freude, die sich alles erzählen konnten. Jedenfalls dachte das Olaf.



1.

„Leg endlich dein Scheißhandy weg“, brummelte Armin.

Seufzend gehorchte Olaf, zog die Bettdecke höher und starrte ins Dunkel. Auf die Nachricht, die er vor einer Woche Gunnar geschickt hatte, war noch immer keine Antwort eingetroffen. Normalerweise kam spätestens am nächsten Tag eine. Bestimmt war Gunnar unterwegs und konnte deshalb … Unsinn! Heutzutage hatte man überall Empfang, ausgenommen vielleicht an den Polkappen. Dort trieb sich Gunnar aber garantiert nicht herum.

„Komm her, mein Schatz“, murmelte Armin schläfrig, schlang einen Arm um seinen Körper und zog ihn in eine bärige Umarmung. „Schlaf schön.“

„Du auch.“

Kurz darauf hörte er gleichmäßige Atemzüge.

Seit einigen Monaten führten Olaf und Armin eine lockere Beziehung. Kennengelernt hatten sie sich im Zuge von Ermittlungsarbeiten in Armins Kneipe, der Regenbogen-Ritze. Damals hatte Olaf einem alten Bekannten, Reuben Kauz von der Kripo, dabei geholfen, einen Mörder zu fassen. Er war bei der Verhaftung verletzt worden, woraufhin Armin, den er vergeblich angehimmelt hatte, zur Glucke mutierte.

Mittlerweile war die erste Verliebtheit Ernüchterung gewichen. Anscheinend hatte Olaf seine Sehnsucht nach Zuneigung auf Armin projiziert. Der war wirklich ein feiner Kerl, aber eben nicht Mr. Right, das spürte er genau.

Erneut streckte er den Arm aus, tastete nach seinem Smartphone und guckte aufs Display. Weiterhin nichts. War Gunnar etwas passiert? Olaf nahm sich vor, am nächsten Tag seine Eltern anzurufen. Mindestens einmal pro Woche aß Gunnar bei den beiden zu Mittag oder zu Abend, demnach mussten sie etwas über seinen Verbleib wissen.

Ein Maunzen ließ ihn aufhorchen. Fridolin, sein Kater, fand es gar nicht gut, aus dem Schlafzimmer ausgesperrt zu werden. Wenn Armin bei ihm übernachtete, war der Raum nämlich katzenfreie Zone. Normalerweise ging Fridolin überall ein und aus und pflegte in der Nacht, Olafs Bett Stippvisiten abzustatten. Nach einem letzten beleidigten: „Miau!“, kehrte wieder Ruhe ein. Olaf wälzte sich noch lange hin und her, bis er einschlafen konnte.



Am nächsten Morgen riss ihn schrilles Läuten aus einem Alptraum. Blinzelnd tastete er nach dem Wecker, um das nervende Geräusch abzustellen und fegte dabei das Gerät vom Nachtschrank. Es klingelte auf dem Boden weiter. Scheiß robuste Technik! Mit einem abgrundtiefen Ächzen, als würde die Last der ganzen Welt auf seinen Schultern liegen, kroch er unter der Decke hervor und hob das Ding auf. Endlich herrschte wieder Stille, aber nur kurz. Fridolin, von dem Geklingel angelockt, verlangte lautstark nach Futter.

„Verdammtes Mistviech!“, schimpfte Olaf, angelte seine Shorts vom Boden und versuchte, im Gehen hineinzusteigen. Eine dumme Idee, die ihn fast auf die Fresse schickte. Im letzten Moment fand er sein Gleichgewicht wieder.

Nachdem er Fridolin zufriedengestellt hatte, konsultierte er sein Erinnerungsvermögen, um rauszufinden, wozu er so früh aufstehen musste. Ach ja. Um zehn wollten ihn die Fuzzis aus der Marketingabteilung von Birkfrost sehen. Es ging um den Werbespot für ein neues Tiefkühlgericht.

„Hasi? Kochst du Kaffee?“, ertönte Armins schlafheisere Stimme.

„Aber gerne doch“, flötete Olaf und begann, den Kaffeeautomaten in Betrieb zu setzen. Seine Gedanken wanderten dabei wieder zu Gunnar. Er hatte geträumt, dass sein Freund von einem Seeungeheuer in die Tiefe gezogen wurde. Das Ding besaß zehn Arme, Reißzähne und riesige gelbe Augen. Es hatte ausgesehen, wie ein Kraken-Dinosaurier-Mutant. Vielleicht sollte er in der nächsten Zeit keine Horrorfilme angucken.

Warum hatte sich Gunnar immer noch nicht gemeldet? Olafs letzte Nachricht lautete: „Ich komme ins Fernsehen! Bei der nächsten Comedy-Show mit Dieter Schnur hab ich einen Auftritt. Was sagst du dazu? LG, Olaf.“

Darauf erwartete er zumindest ein Daumenhoch oder irgendeinen Emoji. Seine Zeilen waren gelesen worden, wie die blauen Häkchen verrieten. Seitdem war Gunnar nicht mehr online gewesen. Hatte sein Freund das Gerät irgendwo verloren? Vielleicht war es ins Wasser gefallen. Das wäre eine Erklärung, auch dafür, dass er ständig auf der Mailbox landete.

Armin kam in die Küche, gab ihm einen Kuss auf die Schulter und schlurfte weiter ins Bad. Olaf stellte die Kaffeemaschine an und ging ins Schlafzimmer, um sein Smartphone zu holen. Mit dem Gerät ließ er sich am Küchentisch nieder und wählte die Nummer seiner Eltern. Seine Mutter nahm nach dem dritten Tuten ab. „Hallo Schatz. So früh schon auf?“

„Ich hab einen Termin. Sag mal, hast du Gunnar in letzter Zeit gesehen?“

„Das ist eine Weile her. Wieso?“

„Hat er was von Urlaub oder so gesagt?“

„Nein. Oder, warte, doch. Das ist aber länger her, etwa drei Wochen. Da hat er gemeint, dass er bald nach Italien fährt.“

Gunnar fuhr immer in denselben Ort, um zu angeln und zu segeln. „Hast du die Telefonnummer von seinem Urlaubs-Vermieter?“

„Muss ich mal gucken. Ich ruf dich nachher wieder an.“

„Danke, Mama.“

„Bitte, mein Schatz. Passt du gut auf dich auf?“

„Natürlich!“

„Wie konnte ich nur fragen?“ Sie seufzte. „Bis nachher.“

„Ciao“ murmelte Olaf, tippte aufs rote Symbol und starrte nachdenklich ins Leere. Irgendetwas sagte ihm, dass Gunnar nicht in Italien war. Hoffentlich trog ihn sein Gefühl.

„Was guckst du so grimmig?“, fragte Armin, der - inzwischen fertig angezogen - in der Küche auftauchte.

„Gunnar ist weg.“

„Ach, der wird sich wieder anfinden.“ Armin bediente sich am Kaffee, fügte Milch hinzu und ließ sich ihm gegenüber nieder. „Ich muss gleich los. Heino Gas-Wasser-Scheiße kommt, um das Klo zu reparieren.“

Heino, mit richtigem Nachnamen Erkenschwiek, war der Haus- und Hofklempner der Regenbogen-Ritze. „Der Typ ist Gold wert.“

„Du sagst es, Hase.“ Armin griff über den Tisch und tätschelte seine Hand. „Mach dir mal keine Sorgen. Dein Gunnar ist schon groß.“



Abends wurde Olafs böse Vorahnung leider bestätigt. Gunnar war nicht zum vereinbarten Datum, nämlich vergangenen Sonntag, in der Ferienwohnung eingetroffen, ging nicht ans Telefon und hatte auch sonst nichts von sich hören lassen. Der nächste Schritt wäre, Gunnars Eltern anzurufen, doch davor scheute Olaf zurück. Vermutlich würden sie sowieso gleich wieder auflegen. Sie hielten ihn für einen schlechten Einfluss für Gunnar, seit er nach Hamburg abgehauen war. Aus diesem Grund wussten sie auch nichts von dessen Besuchen.

Nun war guter Rat teuer. Wie sollte er Gunnar aufspüren? Eine Vermisstenmeldung konnte er schlecht aufgeben. Die Bullen würden ihn für verrückt erklären. Apropos Bullen: Reuben Kauz musste ihm helfen! Der schuldete ihm noch etwas. Zum einen wegen seiner Hilfe beim Festnehmen des Transen-Mörders, zum anderen wegen der Kooperation in Bezug auf Reubens Neigung.



2.

Als Reuben Kauz Mittwochmorgen zur Arbeit kam, lag auf seinem Schreibtisch das Bild eines Transvestiten, auf das jemand ‚Kauz kandidiert für den Drag-Senat‘ gekritzelt hatte. Er zerknüllte das Blatt, warf es in den Papierkorb, schaltete seinen Computer an und ging Kaffee holen.

Ein immenser Vorteil seiner Beförderung vom einfachen Kommissar zum Abteilungsleiter: Stets stand eine Kanne frischen Kaffees bereit. Der Nachteil: Er saß nicht mehr mit seinem Kollegen Martin in einem Büro. Sich gegenseitig zu besuchen war nicht das Gleiche, wie den ganzen Tag Freud und Leid zu teilen.

Zurück in seinem Büro checkte er seine E-Mails. Bernd hatte ihm einen Bericht über die Gerichtsverhandlung gegen den Transenmörder geschickt. Der Typ behauptete allen Ernstes, das Springmesser nur als Zahnstocher bei sich geführt zu haben. Ein paar Gäste hätten ihn angegriffen und damit provoziert, das Messer als Waffe zu benutzen. Die Tat leugnete das Arschloch natürlich auch.

Missmutig trank Reuben einen Schluck Kaffee. Er war eindeutig urlaubsreif, wenn ihn solcher Scheiß dermaßen an die Nieren ging. Na ja, es lief im Ganzen suboptimal. Einige Kollegen ritten auf seiner Homosexualität herum und es war wenig los. Anscheinend machten sämtliche Verbrecher Hamburgs Urlaub. Also, nicht dass er sich darüber beklagte. Wenn’s nach ihm ginge, könnte das immer so sein, doch absolute Flaute und in anderen Zeiten Hochkonjunktur fand er Scheiße. Eine Gewerkschaft, die für eine Verteilung der Straftaten gleichmäßig übers Jahr sorgte, wäre für fast alle Beteiligten sinnvoll. Gut gelaunte Bullen pflegten nun mal nachsichtiger mit Kleinkriminellen umzugehen.

Er las die restlichen Mails, größtenteils unwichtiger Kram. Anschließend surfte er aus Langeweile ein bisschen im Internet. Irgendwie landete er auf einer Seite mit Urlaubszielen. Vielleicht wegen den ausbleibenden Straftaten? Jedenfalls war er gerade dabei, sich Mallorca genauer anzusehen, als sein Telefon läutete.

„Kauz“, meldete er sich.

„Hi, hier ist Ornella. Du musst mir helfen.“

„Was ist los? Ist dir eine deiner Perücken abhandengekommen?“

„Wegen solcher Lappalie würde ich dich wohl kaum behelligen“, gab Ornella verschnupft zurück. „Es ist was richtig Schlimmes passiert: Mein Freund ist verschwunden.“

„Armin? Guck mal in der Regenbogen-Ritze nach.“

„Hast du heute einen Clown gefrühstückt? Ich rede von Gunnar.“

„Wer ist Gunnar?“

„Mein bester Freund. Wir sind zusammen aufgewachsen.“

Irgendetwas klingelte da bei Reuben. Als er mit Ornella, auf Anordnung des Polizeipsychologen, einen Nachmittag in einem Hotelzimmer verbringen musste, hatte sie was von Amrum und Gunnar erzählt. Allerdings hatte sie unheimlich viel gelabert. Da konnte das eine oder andere schon in Vergessenheit geraten. „Seit wann wird dein Kumpel denn vermisst?“

„Ungefähr seit einer Woche.“

„Bestimmt vergnügt er sich irgendwo mit einem Typen und will nicht gestört werden.“

„So einer ist Gunnar nicht. Er ist nicht in seinem Feriendomizil angekommen und war das letzte Mal vor einer Woche online.“

„Ja, das klingt wirklich nach einem Notfall“, meinte Reuben zynisch.

„Du schuldest mir noch etwas!“, maulte Ornella.

„Okay-okay. Was genau willst du von mir?“

„Finde bitte raus, was mit Gunnar ist. Ich hab ein ganz mieses Gefühl bei der Sache.“

„Irgendeinen Verdacht?“

Ornella seufzte. „Keine Ahnung. Vielleicht hat ihn die Sippe seiner Ex-Frau gekillt und in den Dünen verscharrt.“

„Also gut. Ich hab zwar wenig Zeit …“ Reuben fischte rasch das Blatt aus dem Papierkorb und zerknüllte es noch mehr, damit es sich beschäftigt anhörte. „… aber wir treffen uns wohl besser gleich, um mehr Details zu besprechen.“

„Du bist ein Schatz. Wann und wo?“

„Kennst du das Lokal gegenüber vom Präsidium? So eine Art Schnellgaststätte.“

„Ähm … ja, ich glaube schon.“

„Dann treffen wir uns in einer halben Stunde da.“

„Ich bin aber noch gar nicht angezogen. Gib mir eine Stunde.“

Innerlich seufzend stimmte Reuben zu und legte auf. Gar nicht angezogen konnte bei Ornella doch nur bedeuten, dass sie noch als Olaf herumlief.

In Anbetracht der neuen Entwicklung wechselte er internettechnisch von Mallorca nach Amrum. Als erstes checkte er natürlich die Kriminalitätsrate. Diese lag weit unter dem Landesdurchschnitt. Als Fluchtfahrzeug war eine Fähre eben denkbar ungeeignet. Eventuelle Nachforschungen würden einen Aufenthalt auf der Insel unausweichlich machen, daher prüfte er die Übernachtungsmöglichkeiten. Es sah aber ganz schön mau mit Unterkünften aus und der Zeltplatz, selbst im Wohnwagen, kam für Reuben keinesfalls infrage. Er benötigte Klo und Dusche in unmittelbarer Nähe.

Die nächste halbe Stunde verbrachte er bei Martin, der mal auf Amrum Urlaub gemacht hatte. Reuben gab privates Interesse an der Insel vor. Schließlich handelte es sich um keine offizielle Untersuchung, sondern die Einlösung einer Schuld gegenüber Ornella, über deren Zustandekommen er lieber Stillschweigen bewahrte. Zu viel Interna konnte manchmal eine Last darstellen.

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Sissi Kaiserlos
Bildmaterialien: depositphotos shutterstock
Cover: Lars Rogmann
Lektorat: Aschure - dankeschön
Tag der Veröffentlichung: 10.07.2019
ISBN: 978-3-7487-0982-4

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