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Urologen sind definitiv keine Herzspezialisten

Daniel, Urologe aus Hamburg, hat eine Stelle in einer Praxis auf Mallorca angenommen. Erstmal ist diese befristet auf ein Jahr, mit Option auf Verlängerung. Er musste raus aus der Kälte und mal etwas anderes sehen, nachdem seine On-Off-Beziehung mit George vorüber war. Außerdem wollte er Bryan, seinen aktuellen Lover, loswerden. Der ging ihm nämlich gehörig auf den Keks. Insofern war der Umzug eine Win-Win-Entscheidung.

~ * ~

 

1.

„Unsere Devise lautet zwar, fang niemals etwas mit einem Patienten an.“ Dr. Angelina Mendoza, Daniels Kollegin, seufzte inbrünstig und rührte in ihrem Espresso. „Aber was soll ich denn nur machen? Hugo hat den dicksten Schwanz, den ich je gesehen habe.“

Daniel feixte. „Als ob es auf die Größe ankommt.“

„Außerdem hat er traumhafte Plüschaugen.“

„Wie fast alle Spanier.“

„Er hat mich schon wieder zum Essen eingeladen.“ Angelina führte ihre Tasse an die Lippen, trank einen Schluck und leckte sich den Schaum von der Oberlippe. „Und ich hab wieder abgelehnt.“

„Dafür verdienst du eine Medaille“, erwiderte Daniel trocken. „Was geht’s überhaupt Hugos Darm?“ Seit Wochen war dieser Patient Thema bei ihrem Mittagessen, daher kannte er dessen Beschwerden in- und auswendig.

„Wesentlich besser, seit er keinen Zucker mehr isst.“

„Wenn sich doch alle Probleme so einfach lösen ließen.“ Er leerte seine Tasse, schaute auf die Uhr und winkte den Kellner herbei. „Wir müssen los.“

Auf dem Weg zurück in die Praxis schwieg Angelina. Vielleicht dachte sie an Hugos Riesendödel. Selten hatte Daniel eine Frau getroffen, die derart auf Schwänze fixiert war. Als Urologin ein Vorteil, schließlich musste sie jeden Tag etliche davon angucken; als Frau hingegen sollte sie doch eigentlich auf andere Dinge Wert legen. Wie hatte Berit, die Praxis-Kollegin von seinem Ex George, immer so schön gesagt? „Achte vor allem auf innere Werte, wie Immobilien, Sparguthaben und andere Geldanlagen.“ Das war natürlich Quatsch. Angelina verdiente selbst genug und Berit übrigens auch.

Apropos Berit: Manchmal vermisste er seine alten Kontakte. Einige hatten ihren Besuch angedroht, aber bisher war es dabei geblieben. Was er nicht vermisste: Hamburgs Wetter. Es gab zwar Leute, denen der ewige Sonnenschein auf den Sack ging, doch er gehörte nicht dazu. Eventuell kam das ja noch, was er jedoch anzweifelte. Er war schon immer ein Sonnenfanatiker gewesen. Einer der Streitpunkte mit George.

In der Praxis angekommen ging er in sein Sprechzimmer und holte sich die Daten der nächsten Patienten auf den Bildschirm. Anfangs hatte er überwiegend Touristen behandelt, entweder wegen einer akuten Erkrankung oder solche, die den Urlaub nutzten, um zur Vorsorge zu gehen. Inzwischen hielt sich das Verhältnis Ortsansässiger zu Urlaubern die Waage. Viele Patienten seines in Ruhestand befindlichen Vorgängers, die zu den Kollegen gewechselt hatten, waren zu ihm zurückgekehrt.

Auf eine Frau mit Blut im Urin, einen Mann mit Inkontinenzproblem und einen Teenager mit Phimose, folgte Dr. Alonso Wille, Zahnarzt, zur Krebsvorsorge. Der Mann, eigentlich Angelinas Patient, hatte um einen Termin bei ihm gebeten.

Als Dr. Wille ins Sprechzimmer kam, staunte Daniel nicht schlecht. Der Typ erinnerte ein bisschen an George Clooney, mit den grauen Schläfen, markantem Kinn und Schokoaugen. Zweifelsohne der attraktivste Patient seiner beruflichen Laufbahn. Kleine Fältchen in den Augenwinkeln und ein hübsches Lächeln rundeten den Eindruck ab.

„Setzen Sie sich“, bat Daniel, die Hände auf dem Schreibtisch gefaltet. „Haben Sie irgendwelche Beschwerden oder handelt es sich um einen Routinecheck?“

Wille nahm Platz und schlug ein Bein übers andere. „Keine Beschwerden.“

In den Unterlagen stand, dass der Patient aufgrund von Erkrankungen in der Familie seit Jahren zur Vorsorge kam. Die Frage war daher eigentlich überflüssig, zumal Wille sehr entspannt wirkte. Allerdings hatte Daniel schon Patienten gehabt, die ihn, trotz eines fremden Gegenstands im Darm, breit anlächelten. Okay, doofes Beispiel, aber ihm fiel spontan kein anderes ein.

„Waren Sie zum Leberfleck-Screening?“, erkundigte er sich.

„Ähm … nein. In meiner Familie gab es nie Hautkrebs.“

Daniel lehnte sich zurück, bereit, einen Vortrag über die Gefahren von zu viel Sonneneinstrahlung zu halten, doch Wille hob beide Hände, bevor er anfangen konnte.

„Zugegeben, das ist kein Argument.“ Wille setzte einen astreinen Welpenblick auf. „Können Sie das nicht durchführen?“

„Rein zufällig hab ich eine Spezialausbildung. Dann machen Sie sich mal frei.“ Er wies auf einen Paravent und wandte sich dem Monitor zu.

Während er tippte, hörte er hinter dem Sichtschutz Kleidung rascheln. Ganz unprofessionell freute er sich darauf, den Patienten in ganzer Pracht zu Gesicht zu bekommen. Nachdem er den Eintrag beendet hatte, nahm er ein paar Latexhandschuhe und streifte sie über. In dem Moment, in dem er nach einer Lupe griff, kam Wille im Adamskostüm hinter dem Paravent hervor.

„Bitte stellen Sie sich da hin“, forderte Daniel, wobei er auf die Untersuchungsliege zeigte.

Gehorsam begab sich Wille davor in Stellung, beide Hände an die Seiten gelegt, wie ein Soldat. Daniel verkniff sich ein Schmunzeln. Als Arzt waren solche Regungen unangemessen.

Derweil er Willes Vorderseite - im wahrsten Sinne des Wortes - unter die Lupe nahm, begann er zu plaudern. „Sie sind also Zahnarzt?“

„Mit Leib und Seele. Es gibt nichts schöneres, als ein gesundes Gebiss.“

Wille erzählte, wie es zu dieser Berufswahl kam. Daniel lauschte nur mit halbem Ohr, das er völlig auf den anbetungswürdigen Körper konzentriert war. Die Brust war behaart, Unterarme und Schenkel von dunklem Flaum überzogen. Willes Haut wies einen goldenen Ton auf. Der helle Streifen in der Leibesmitte zeugte von Badekleidung beim Sonnen und betonte das männliche, geschätzte achtzehn Zentimeter lange Attribut. Dahinter hing ein imposantes Paar Glocken. Willes Füße waren dem Rest ebenbürtig: Ausnehmend hübsch geformt, mit gepflegten Nägeln.

„Bitte umdrehen“, verkündete Daniel, als er sich wieder aufrichtete.

Wille wandte sich zur Liege. Der Rücken wies mehr als die Vorderseite Leberflecken auf. Daniel beäugte die großen genauer und arbeitete sich langsam nach unten. Beim Anblick der straffen Arschbacken stöhnte er innerlich auf. Allmählich merkte er, dass er schon eine ganze Weile zölibatär lebte.

„Ich muss mir noch Ihre Kopfhaut angucken“, erklärte er, nachdem mit den Beinen fertig war. „Bitte setzen Sie sich.“

Wille, der ihn um einige Zentimeter überragte, hockte sich auf die Liege und beugte das Haupt. Die schwarzen Locken fühlten sich erstaunlich weich an. Merkwürdig, was man als untervögelter Mann alles erotisch fand. Rasch brachte Daniel die Untersuchung zu einem Ende, damit er nicht der Versuchung erlag, die seidigen Strähnen zu streicheln.

„Kein Befund.“ Er legte die Lupe weg. „Legen Sie sich bitte hin.“

Es folgte das Abtasten von Schwanz und Hoden. Dass Wille dabei eine Erektion bekam, wertete er nicht als Kompliment. Nahezu jeder Mann wurde steif, wenn man an ihm rumfummelte. Als letztes kontrollierte er die Prostata, wobei Wille die Lippen aufeinanderpresste und Augen zukniff, angesichts der zuckenden Latte aus Genuss. War da noch jemand lange nicht flachgelegt worden?

„So, das war’s auch schon.“ Er zog die Handschuhe aus, warf sie in den Mülleimer und ging zum Schreibtisch. „Bei Ihnen ist alles in bester Ordnung.“

Wille begab sich hinter den Paravent. Einen Moment saß Daniel da, noch gefangen von den Eindrücken geballter Männlichkeit, bevor er anfing, die Ergebnisse in den Computer einzugeben.

Als Wille, wieder vollständig bekleidet, auf dem Stuhl vor seinem Schreibtisch Platz nahm, war er gerade fertig geworden. Das lag an seiner mangelnden Konzentration, nicht an der Schnelligkeit des Patienten.

„Ich würde sagen, wir sehen uns in einem Jahr wieder.“ Daniel stand auf und umrundete den Tisch, um Wille die Hand zu schütteln, doch der blieb sitzen. Normalerweise verstanden Leute den Wink mit dem Zaunpfahl.

Wille sah zu ihm hoch. „Darf ich Sie bei nächster Gelegenheit auf einen Kaffee einladen?“

Ah, daher wehte der Wind. „Tut mir leid, aber ich treffe Patienten nie privat.“

Wille stand auf, fischte dabei eine Visitenkarte aus der Brusttasche des Hemdes und hielt sie ihm hin. „Falls Sie es sich anders überlegen.“

Daniel steckte das Kärtchen in seine Kitteltasche. „Ich werde darüber nachdenken.“

Nachdem sie sich die Hand geschüttelt hatten, verließ Wille den Raum. Langsam kehrte Daniel zu seinem Sessel zurück. Dr. Alonso Wille stellte eine große Versuchung dar, doch der gedachte er nicht nachzugeben. Es brachte nur Ärger ein, Beruf und privat zu vermischen. Vielleicht hatte ihm sogar Angelina Wille auf den Hals gehetzt, um seine Standfestigkeit zu testen. Manchmal saß seiner Kollegin der Schalk im Nacken. Soweit kannte er Angelina inzwischen schon.

 

Gegen sieben verließ er die Praxis. Die letzte Stunde hatte er mit seinem Kollegen Dr. Walter Campazona, 57, dreimal geschieden und nun überzeugter Single, verplaudert. Walter war inzwischen auf junge Urlauberinnen spezialisiert, bevorzugt aus Skandinavien oder Holland. Die wären am freizügigsten, behauptete er. Diese Klientel jagte er stets am Ballermann, wo es - laut seiner Einschätzung - am meisten Frischfleisch dieser Sorte gab. Einmal und nie wieder hatte Daniel seinen Kollegen bei solcher Tour begleitet. Ansonsten verstand er sich prima mit Walter, dessen tolerante Ansichten ihm sehr gefielen.

Der vierte im Bunde war Dr. Nathan Eckes, 45, verheiratet, drei Kinder. Nathans Interessen lagen entsprechend auf völlig anderen Gebieten. Bei ihm drehte sich alles um den Nachwuchs und die Gattin. Da Nathan damit weder bei Angelina, Walter oder ihm auf ein offenes Ohr stieß, hielt sich ihr privater Kontakt in Grenzen.

Dann gab es noch fünf Sprechstundenhilfen: Agnes, Melina, Maria, Carmen und Aglaia, allesamt junge Frauen. Sobald eine von ihnen schwanger wurde und dadurch ausschied, stellte Walter das nächste Mädel ein. So blieb der Altersdurchschnitt stets erhalten.

In seinem Appartement duschte Daniel und setzte sich, lediglich mit Shorts bekleidet, auf den Balkon. Die Wohnung lag inmitten von Palmas Altstadt, fünf Gehminuten vom Strand entfernt. Sie gehörte Angelina, die eigentlich an Urlauber vermietete und war demgemäß ausgestattet: Mit pflegeleichten Möbeln und folkloristischem Dekor. Daniel nannte es schlicht primitiv, aber das war bestimmt Ansichtssache. Er mochte nun mal keine Bilder mit Landschaftsmotiven und das Kruzifix, das überm Bett hing, hatte er gleich in den Nachtschrank verbannt.

Solange er nicht wusste, ob sein Engagement von Dauer war, wollte er in der kargen Unterkunft bleiben. Sollte er sich für einen Daueraufenthalt entscheiden, plante er eine Finca in den Bergen zu erwerben. Dafür müsste er seine Wohnung in Hamburg, die derzeit untervermietet war, verkaufen. Das Gleiche galt für seinen Praxisanteil, den er benötigte, um einen Miteigentumsanteil an der hiesigen Praxis zu bezahlen. Derzeit war er bloß Angestellter und erhielt ein Festgehalt.

Was die Umgebung und das Wetter betraf, hatte Daniel keinerlei Bedenken für immer zu bleiben, doch seine sozialen Kontakte bereiteten ihm Sorgen. Bislang beschränkten sich diese auf Angelina, mit der er ab und zu privat etwas unternahm. In die örtliche schwule Szene hatte er zwar reingeschnuppert, aber in den Clubs zählte er zu den Grufties und könnte maximal auf einen Mitleidsfick hoffen. Zudem - Asche auf sein Haupt - waren eine Spanischkenntnisse mehr als dürftig, was Unterhaltungen erschwerte. Mit seinen Patienten und Kollegen redete er deutsch oder englisch, daher hatte er einen Sprachkurs bisher für unnötig befunden. Auf Dauer würde er aber wohl nicht drum herum kommen, um mit Einheimischen zu kommunizieren. Schließlich machte es keinen Sinn, mit irgendwelchen Touristen, die nach einigen Wochen wieder abreisten, Freundschaften zu schließen.

Daniel beobachtete das bunte Treiben auf der Straße und überlegte, ob er Essen gehen oder selbst etwas zaubern sollte. Er entschied sich für die zweite Variante. Allein im Lokal zu sitzen war doof, außerdem hatte er bereits mittags mit Angelina etwas Warmes gegessen.

Kurz darauf stand vor ihm ein Teller mit Oliven, ein paar Scheiben Weißbrot, Schafskäse und Peperoni. Dazu trank er ein Gläschen Rotwein. Seine Füße hatte er auf den gegenüber stehenden Stuhl gelegt. So ließ es sich aushalten. Fehlte nur ein bisschen angenehme Gesellschaft. Wie aufs Kommando vibrierte sein Smartphone. Allerdings stand auf dem Display Bryans Name, den er nicht unbedingt zu den erwünschten Personen zählte. Da ihm im Moment sein Alleinsein mächtig auf den Zeiger ging, nahm er das Gespräch dennoch an.

„Hi. Wie geht’s?“

„Gut soweit. Und selbst?“, antwortete Bryan.

„Es könnte schlechter sein. Ich genieße den mallorquinischen Sommer.“

„Du hast es gut. Hier regnet es mal wieder.“ Bryan seufzte. „Ich wünschte, wir hätten wieder so einen Jahrhundertsommer wie letztes Jahr.“

Großartig. Nun redete er schon mit seinem Ex-Lover übers Wetter, wie ein Tattergreis. „Tja. Man kann nicht alles haben.“

„Demnächst hab ich Urlaub und überlegt, ob ich mal kurz zu dir rüber jette.“

Was sollte das denn? Sie hatten sich vor seiner Abreise offiziell getrennt. „Ähm … ich bin wohntechnisch gar nicht auf Besuch eingestellt.“

„Das meinte ich natürlich nur im übertragenen Sinne. Ich wollte ein Pauschalangebot buchen.“

„Ach so. Okay. Nette Idee. Sag mal Bescheid, wenn du einen festen Termin hast.“ Er freute sich tatsächlich darauf, ein bekanntes Gesicht zu sehen, auch wenn es Bryans war.

„Das mach ich. Dann noch einen schönen Abend“, verabschiedete sich Bryan.

„Dir auch.“ Daniel beendete die Verbindung und legte das Gerät zurück auf den Tisch. Nachdenklich steckte er sich eine Olive in den Mund. War er zu freundlich zu Bryan gewesen? Ach, Quatsch. Schließlich hatte er deutlich gesagt, keinen Übernachtungsbesuch zu wünschen.

Was ihm das Gespräch noch deutlich gemacht hatte: Er brauchte dringend ein bisschen Ablenkung. Seine Gedanken wanderten zu Dr. Alonso Wille, dessen Visitenkarte sich in seiner Jackentasche befand. Eigentlich hatte er sie wegwerfen wollen, doch aus einem Impuls heraus eingesteckt. Was sprach überhaupt dagegen, mit dem Mann ein bisschen rumzumachen? So lange von vornherein klare Linie herrschte, konnte doch nichts schiefgehen.

Daniel beschloss, eine Nacht darüber zu schlafen. Sollte er am nächsten Tag immer noch dieser Meinung sein, würde er Alonso anrufen.

… und Physiotherapeuten sind auch nicht besser

Bryan ist Daniel, der eine Auszeit auf Malle nimmt, gefolgt. Leider verläuft ihr Wiedersehen ganz anders als erhofft. Das - und eine ohnehin negative Grundstimmung - sind schuld, dass Bryan etwas den Boden unter den Füßen verliert.

~ * ~

 

1.

Bryan hatte sich das alles ganz anders vorgestellt. Anstatt von Daniel mit offenen Armen empfangen zu werden … Okay, das war dämliches Wunschdenken gewesen. Schließlich hatte Daniel ganz offiziell das Ende ihrer Beziehung erklärt, bevor er nach Malle umgezogen war.

Sein Arbeitsplatz hingegen war okay, die Unterbringung jedoch grenzwertig. Das winzige Appartement lag direkt an einer vielbefahrenen Straße, ohne Balkon und in Richtung Norden. Dadurch war es ziemlich kühl, zumindest nachts ein großer Vorteil.

Bei dem Betrieb, mit dem er einen Vertrag über sechs Monate abgeschlossen hatte, handelte es sich um eine Kurklinik. Die Patienten: Überwiegend vermögende Spanier oder ebensolche Ausländer. Eine nicht immer einfache Klientel, da die Ansprüche recht hoch waren, doch Bryan konnte mit ihnen umgehen. Schließlich hatte er einige Jahre Erfahrung auf dem Buckel, unter anderem in ähnlichen Einrichtungen. Manchmal erhielt er sogar Trinkgelder oder schlüpfrige Angebote. Letztere lehnte er grundsätzlich ab, selbst wenn sie von einem attraktiven Mann kamen, da er seinen Job behalten wollte. Intime Kontakte zu Patienten waren generell untersagt.

In den ersten Wochen lernte Bryan schnell, dass da zu arbeiten, wo andere Urlaub machten, Scheiße war. Während er schuftete, lagen die Leute in der Sonne und lernte er jemand kennen, reiste dieser womöglich schon am nächsten Tag wieder ab. Wie auch beim Sterben, betraf das meist liebe Menschen. Solche, auf die man gut verzichten konnte, blieben häufig länger.

Ein Lichtblick waren seine Kollegen Michael und Helene, beide ebenfalls aus Deutschland und Mitte zwanzig. Mit den zweien verstand er sich gut und verbrachte mit ihnen so manchen Abend. Beide waren trinkfest, was ihn dazu animierte, auch tiefer als gewöhnlich ins Glas zu schauen. Letztendlich war er aber selbst schuld an dem, was ihm nach fast zwei Monaten Aufenthalt passierte. Bei der Sache waren Michael und Helene nämlich nicht mit von der Partie.

Er begann den Abend, wie meistens, mit einem Sundowner am Strand und beobachtete dabei einen Junggesellenabschied. Die Jungs waren total gesellig, daher schloss er sich ihnen an.

Sie zogen von Kneipe zu Kneipe, wo der angehende Bräutigam Kusskandidatinnen rekrutieren musste. Da der Mann in einem extravaganten Pimmelkostüm steckte, war das keine leichte Aufgabe. Das Teil war über und über mit erigierten Plastikdödeln bestückt. Ein purpurnes Latexmützchen bildete die Eichel und am Kinn hingen recht naturgetreue Hoden. Bryan hatte in seinem Leben selten etwas Abgefahreneres gesehen.

Ein Getränk folgte auf das andere. Irgendwann hörte er auf zu zählen und seine Erinnerung endete ungefähr zum gleichen Zeitpunkt.

Am nächsten Tag wachte er mit mörderischen Kopfschmerzen im Bett einer Unbekannten auf. Aufgrund seines vollständigen Bekleidungszustandes hielt er Sex für ausgeschlossen, sonst wäre es ihm - obwohl das kaum möglich war - noch schlechter gegangen. So leise wie möglich schlich er aus dem Appartement.

Auf dem Heimweg, den er nur unter Aufbietung sämtlicher Kraftreserven aufrecht zustande brachte, schwante ihm, dass etwas nicht stimmte. Die Leute starrten ihn an, schüttelten den Kopf oder schossen von ihm Fotos.

In seiner Wohnung steuerte er direkt das Bad an, sah in den Spiegel und erschrak, angesichts des mega-scheußlichen Tattoos. Wie - zum Henker! - war das denn dahingekommen? Oder handelte es sich nur um wasserfesten Stift? Es ließ ihm keine Ruhe, also holte er eine Flasche Olivenöl, tränkte ein Stück Klopapier damit und rieb an dem Pimmel herum. Fehlanzeige. Die Farbe befand sich tatsächlich unter der Haut.

Er torkelte ins Wohn-Schlafzimmer, ließ sich aufs Bett fallen und stierte an die Decke. Mal abgesehen von der Frage, wie das hatte geschehen können: Wie bekam man den Scheiß wieder weg?

Zwei Aspirin und eine ausgiebige Dusche später fühlte er sich fit genug, um im Internet danach zu recherchieren. Die Ergebnisse waren niederschmetternd. Je nachdem, wie viele Sitzungen es für die Entfernung brauchte, kostete die Prozedur zwischen 500 und 7.500 Euro. So viel Geld besaß er nicht. Für den Flug hatte er sein Sparkonto geplündert, auf dem sich sowieso kaum etwas befand. Knete rann ihm durch die Finger wie … ihm fiel kein passender Vergleich ein.

Aufstöhnend sank er im Sessel zurück und guckte ins Leere. Was sollte er denn jetzt bloß tun? Mit dem Eumel auf der Stirn konnte er unmöglich arbeiten gehen.

Gegen vier klopfte er bei Helene, die direkt unter ihm wohnte. Sie öffnete und begann zu kichern, wurde jedoch angesichts seiner verzweifelten Miene sofort wieder ernst.

„Sag nicht, das Ding ist echt.“

„Hast du eine Idee, wie ich das schnell wegbekomme?“, gab er zurück.

Helene winkte ihn ins Bad und griff nach einer Dose Haarspray sowie Wattepads. Weder das, noch ihre anderen Versuche fruchteten. Einzige Wirkung war, dass seine Haut wie verrückt juckte und seine Stirn die Farbe reifer Tomaten annahm. Unterdessen horchte sie ihn nach den Umständen aus, unter denen er zu dem Schwanz gekommen war. Er erzählte ihr von dem Junggesellabschied. Mehr wusste er ja nicht mehr.

„Tja. Du bist leider keinem Künstler in die Hände gefallen“, meinte Helene trocken. „Ich würde mir von dem Typen nichts stechen lassen. Sorry, aber das sieht wie die Kritzelei eines Erstklässlers aus.“

Dem stimmte Bryan uneingeschränkt zu.

„Sagtest du nicht, du kennst einen Urologen? Vielleicht kann der was machen. Immerhin handelt es sich um ein Geschlechtsteil“, fuhr Helene fort.

Sehr witzig! Auf der anderen Seite: Eventuell war Daniel bereit, ihm ein Darlehen zu gewähren. Das würde Bryan aber nur im äußersten Notfall … wobei, war der nicht gerade eingetreten? „Was soll ich denn bloß tun?“, jammerte er.

„Das, was alle Frauen jeden Morgen machen: Sich schminken.“ Helene griff nach einem Tiegel und begann, dessen Inhalt auf seine Stirn zu schmieren. „Im Prinzip ist es das Gleiche, wie einen Wagen neu zu lackieren: Erst die Grundierung, danach die Farbe und zum Schluss die Fixierung.“

Bei dem Vergleich musste Bryan kurz grinsen. „Am besten kaufe ich mir eine Perücke mit langem Pony.“

„Auch eine gute Idee“, stimmte Helen zu, schraubte den Tiegel zu und schnappte sich einen anderen. „Aber ziemlich warm.“

„Ich trinke nie wieder.“ Dazu sagte Helen nichts. Als er hochschaute, entdeckte er eine skeptische Miene. „Das kann ich mir gar nicht mehr leisten. Ich muss für die Behandlung sparen.“

Während Helene weiter an ihm herumwerkelte, mutmaßte sie munter drauflos, wie er zu der Verunzierung gekommen war: „Vielleicht bist du ausgerutscht und auf jemanden, der gerade eine Tätowier-Nadel in der Hand hielt, gefallen. Vor Schreck hat der Typ gleich losgelegt. Ach nein. Das klingt doch sehr unrealistisch.“

Sie hielt inne, um ihr Kunstwerk zu begutachten. „Sieht doch schon fast normal aus.“ Als sie mit dem Schminken fortfuhr, spann sie weiter: „Es wird eher so gelaufen sein: Du hast den falschen Typen angebaggert, einen Tätowierer. Daraufhin hat der dich abgefüllt und dir zur Strafe den Pimmel auf die Stirn graviert.“

Vermutlich lag Helene mit dieser These nahe an der Wahrheit. Es gab bestimmt einen Zusammenhang zwischen dem Junggesellenabschied und dem Tattoo. Dass er vorhin, als er seine Klamotten in die Waschmaschine stecken wollte, in der Tasche seiner Jeans fünfzig Euro gefunden hatte, sprach auch dafür. Niemals hätte er, nach solchem Abend, noch Geld übrig gehabt.

Helene legte die Puderdose weg. „Sodalei. Fast wie neu.“

Er stand auf, begutachtete sich im Spiegel und runzelte die Stirn. Erkennen konnte er das nicht, unter der dicken Schicht Makeup. Vorläufig sollte das gehen, doch auf Dauer … „Danke. Machst du das ab jetzt jeden Morgen mit mir?“

Entschieden schüttelte sie den Kopf. „Niemals! Dann müsste ich ja eine Stunde eher aufstehen.“

„Schade. Schreib mir doch bitte auf, was ich besorgen muss.“

 

In der folgenden Woche lernte Bryan, mit dem Kram umzugehen. Außerdem kämmte er sich stets die Haare ins Gesicht, damit seine Maskerade noch weniger auffiel.

Wie angekündigt, ließ er die Finger vom Alkohol und verbrachte den Feierabend meist in seinem Appartement. Neben dem äußerlichen Makel hatte das Geschehen noch bewirkt, dass er Kontakt zu Fremden scheute. Vielleicht hätte er vorher ein gesundes Misstrauen an den Tag legen sollen, statt danach. Tja. Hinterher war man bekanntlich immer schlauer.

Am folgenden Wochenende erlitt er einen weiteren Schock. Michael platzte Samstagmittag mit der Mallorca-Zeitung bei ihm rein. „Hey, Alter! Guck dir das an!“

Mit spitzen Fingern nahm er das Blatt entgegen und erschrak, als er sein Konterfei inklusive Stirn-Tattoo entdeckte. „Ach du Scheiße!“

„Halb so wild“, lenkte Michael ein. „Ich hab dich nur anhand des Schniedel-Tattoos erkannt.“

Beim zweiten Hinsehen gab er Michael recht. Die Beleuchtung war ungünstig oder günstig, je nach Standpunkt. Seine Augen sowie sein Teint wirkten wesentlich dunkler. Er überflog den Artikel und schüttelte über seine eigene Dummheit den Kopf. Zwar hatte er sich schon gedacht, selbst für den Scheiß verantwortlich zu sein, doch es schwarz auf weiß zu lesen, war noch mal ein anderes Kaliber. „Hoffentlich merkt niemand aus der Chefetage, dass das meine Visage ist.“

„Die lesen das bestimmt nicht“, beruhigte ihn Michael und ließ sich in den einzigen Sessel plumpsen. „Das ist unter deren Niveau.“

Bryan nahm auf dem Bett Platz, die Zeitung weiterhin in der Hand. „Hoffentlich. Ich will gar nicht wissen, was ich mir sonst anhören muss.“

„Du solltest den Tätowierer verklagen. Der hat schließlich gesehen, dass du völlig hinüber bist.“

„Vergiss es. Wenn der bei jedem Kunden erstmal einen Drogentest macht, geht der Laden den Bach runter.“

„War ja nur eine Idee.“ Seufzend schlug Michael ein Bein übers andere. „Hast du zufällig ein Bier für mich?“

„Sorry. Ich kann dir nur Wasser oder Cola anbieten.“

„Okay, dann nehme ich Cola.“

Bryan holte die Flasche aus dem Kühlschrank, schenkte zwei Gläser voll, reichte eines Michael und ließ sich mit dem anderen wieder auf der Bettkante nieder. „Was machst du heute noch?“

„Das übliche: Am Strand rumliegen und später durch die Clubs ziehen.“

Bryan, ein Sonnenanbeter sondergleichen, hätte niemals gedacht, sich nach einem Regentag zu sehnen. Nun war es soweit. „Und Helene?“

„Die wollte mitkommen. Hey, setz dir eine Sonnenbrille auf und komm auch mit.“

„Nö. Keine Lust. Ich werde mal wieder einen ruhigen machen.“

Michael zuckte die Achseln, leerte das Glas in einem Zug und stellte das Glas auf den Couchtisch. „Dann will ich mal wieder.“

Er brachte Michael zur Tür und kehrte anschließend zum Bett zurück. Vor Langeweile hatte er angefangen zu lesen. Wenn Daniel das wüsste … der hatte ihn immer damit aufgezogen, ein heimlicher Analphabet zu sein.

 

Impressum

Texte: Sissi Kaiserlos
Bildmaterialien: depositphotos - shutterstock
Cover: Lars Rogmann
Lektorat: Aschure - dankeschön
Tag der Veröffentlichung: 25.03.2019

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