Eric lässt sich von seinem Kumpel Alex überreden, im RÜWE-Markt ein bisschen herumzugucken, was sich so beim Partner-Shopping tut. Sein Kumpel gabelt ein Sahneschnittchen auf, er geht leer aus. Am Ende entwickeln sich die Dinge aber anders als gedacht.
~ * ~
1.
Schnellen Schrittes, den Kragen schützend gegen den scharfen Wind hochgeschlagen, eilte Eric durch die Lange Reihe. Um eins war er mit Alexander - kurz Alex genannt - im Hauptbahnhof bei McDoof verabredet.
Sie kannten sich seit der Berufsschule. Damals hatten sie beide eine Ausbildung zum Steuerfachangestellten absolviert. Inzwischen war Eric in der freien Wirtschaft, bei einem Wohnungsbauunternehmen, beschäftigt. Alex hatte zwar auch gewechselt, jedoch nur zu einem anderen Steuerberater. Der Hauptbahnhof befand sich fast in der Mitte zwischen ihren Arbeitsplätzen und war daher ihr bevorzugter Treffpunkt in der Mittagspause.
Normalerweise aßen sie beim Italiener oder in der Salatbar, doch diesmal wollte Alex unbedingt ungesundes Zeug spachteln. Ungefähr einmal pro Monat hatte sein Kumpel solche Anwandlung. Eric hasste den Kram, war aber kein Typ, der gern widersprach. Immer schön den einfachsten Weg nehmen, lästerte Alex oft. Der hatte leicht reden. Alex war mit Selbstbewusstsein für drei Personen ausgestattet, Eric nur mit welchem für einen halben Menschen. Als halbe Portion vielleicht sein Schicksal, dennoch fand er es unfair.
Wie immer lungerte eine Menschentraube vor dem nördlichen Eingang herum. Eine Mischung aus orientierungslosen Touristen, Junkies und Halbstarken. Etwas abseits lag ein Mann und schlief seinen Rausch aus. Im April keine gute Idee. Ach, eigentlich nie. Der Boden war hart und viel zu kalt, um es gemütlich zu haben. Vielleicht pennte der Typ auch gar nicht, sondern war verletzt oder tot. Es wäre Erics Pflicht, danach zu schauen, aber er war bei solcher Gelegenheit schon mal angegriffen worden. Der angeblich Verletzte hatte sich als aggressiver Volltrunkener entpuppt, der ihn für einen Dieb hielt. Da ließ er doch lieber die Finger von solchen Gestalten. Früher oder später würden sich die allgegenwärtigen Bullen darum kümmern.
Auch im Bahnhof herrschte dichtes Gedränge. Leute mit Trolleys im Schlepptau liefen Slalom um herumstehende Gruppen von Schülern, Männern mit Migrationshintergrund und anderem Publikum. Im ersten Stock hingegen war es angenehm ruhig. Eric betrat das Schnellrestaurant und guckte sich nach Alex um. Natürlich war sein Kumpel noch nicht da. Generell hatte Alex das akademische Viertel für sich gepachtet. Warum Eric trotzdem immer pünktlich auftauchte? Tja, die Hoffnung starb nun mal zuletzt.
Er setzte sich an einen einigermaßen sauberen Tisch, von dem er den Eingang im Blick hatte. An dem neben seinem hockten vier Teenager vor vollgemüllten Tabletts und kicherten herum, selbstverständlich alle mit Smartphone ausgestattet. Ein ideales Mittel, um wortlos zu kommunizieren, denn sie zeigten sich gegenseitig irgendwelche Bildchen, anstatt miteinander zu reden. Na ja. Vielleicht handelte es sich um Taubstumme.
Erstaunlich früh - schon nach fünf Minuten - trudelte Alex ein. Mit Argusaugen erspähte sein Kumpel ihn sofort und schlenderte herbei.
„Hi. Was soll ich dir mitbringen?“, erkundigte sich Alex.
„Einen Cheeseburger und einen Sechser Chicken-Nuggets mit süßsaurer Sauce.“
Alex salutierte und marschierte zum Tresen. Mit den gestählten eins neunzig, im maßgeschneiderten Anzug verpackt, stahlblauen Augen und blonden Haaren war er ein echter Hingucker. Neben ihm kam sich Eric unscheinbar vor, mit seinen knappen eins siebzig in salopper Kleidung, den braunen Haaren und Augen. Wie immer erregte sein Kumpel Aufmerksamkeit. Die Mädels am Nachbartisch sahen Alex hinterher und tuschelten miteinander. Also doch keine Taubstummen.
Im Nu war Alex mit einem vollbeladenen Tablett zurück und ließ sich ihm gegenüber nieder. „Ich lade dich ein.“
„Wenn ich das gewusst hätte …“, grummelte Eric im Spaß. „… hätte ich mir einen Doppelcheeseburger und den Zwölfer Chicken-Nuggets gegönnt.“
Alex feixte. „Tja, dumm gelaufen. Allerdings würdest du dann nicht mehr in dein XXS-Höschen passen.“
„Aus dir spricht blanker Neid.“
Alex lüpfte lediglich spöttisch eine Braue, schüttete die Fritten aufs Tablett und begann, ein Tütchen Ketchup sowie Majo darüber zu entleeren. Das war noch so ein Aspekt, der Eric an dem Laden anwiderte: Der Mangel an Stil. Anstatt die Lebensmittel auf Geschirr auszugeben, bekam man die Kartoffel-Pampe-Stäbchen in einer Tüte. Natürlich war das personell günstiger, aber die Umwelt litt darunter. Ganz zu schweigen von der Sauerei, die Alex auf dem, mit einem Werbeblatt bedeckten, Tablett anrichtete.
Er wickelte seinen Cheeseburger aus und biss hinein. Obwohl das Zeug politisch unkorrekt war musste er zugeben, dem Geschmack ein bisschen verfallen zu sein. Garantiert hatten Lebensmittelchemiker lange daran getüftelt, welche Inhaltsstoffe süchtig machten. Ach, lieber nicht drüber nachdenken.
Sein Gegenüber stopfte sich abwechselnd Pommes in den Mund und biss von einem Burger ab, zugleich redete Alex ununterbrochen. Eric vermutete oft, dass sein Kumpel an Östrogenüberschuss litt. Wie sonst war diese Multitasking-Fähigkeit möglich? Das konnten doch nur Frauen. Jedenfalls erzählte Alex ohne Punkt und Komma von der Arbeit, dem Stress mit Mandanten und dem Chef.
„Ach ja!“, rief Alex plötzlich, wischte sich die Finger an einer Serviette ab und fischte eine zusammengefaltete Zeitungsseite aus der Jackentasche. „Guck mal!“
Während sich sein Kumpel wieder übers Essen hermachte, faltete Eric die Seite auseinander und überflog die Artikel. „Rentnerin überfallen“, las er. „Meinst du das?“
„Quatsch!“ Alex deutete auf eine Anzeige. „Das da. Sternzeichen-Shopping.“
„Neu ab April: Fisch sucht Fahrrad bei RÜWE. Jeden Samstag findet ab 21.00 Uhr Sternzeichen-Shopping im RÜWE-Markt in St. Georg statt. Einfach einen roten Anhänger mit Ihrem Tierkreiszeichen am Einkaufswagen oder -korb befestigen und schon geht’s los. Ob er sie oder ihn sucht, sie ihn oder sie, jeder findet hier den passenden Deckel, genau wie in der Vielfalt unseres Sortiments. Alle, die mitmachen, erwartet gratis ein Glas Sekt an der Käsetheke. Die Marktleitung wünscht viel Spaß und Erfolg.“ Kopfschüttelnd legte Eric das Blatt beiseite, um sich einen Chicken-Nugget zu nehmen. „Was für ein Unsinn.“
„Wiescho?“, wollte Alex mit vollem Mund wissen.
„Beim Einkaufen denkt doch niemand an Partnersuche.“
„Jetscht schon.“
„Und was soll das mit den Sternzeichen? Die sind doch eh Humbug.“ Sie waren das beste Beispiel dafür. Er, Sternzeichen Löwe, das Mauerblümchen und Alex, Sternzeichen Fische, der Platzhirsch.
Alex schluckte den Bissen runter und tippte mit der Fingerspitze auf die Anzeige, so dass dort ein Fettfleck entstand. „Das ist doch voll lustig. Lass uns einfach mal hingehen.“
„Nur über meine Leiche.“
„Ach, komm, Ericlein“, flötete Alex. „Wir gucken uns das mal an, natürlich inkognito.“
„Wie meinst du das?“
„Lass uns Samstag bei Luigi eine Pizza spachteln und den anschließenden Kaffee trinken wir, anstatt bei dem Halsabschneider, in dem Café vorn im RÜWE-Markt.“
Stirnrunzelnd las Eric erneut die Annonce. Ach, warum eigentlich nicht? Besser, als daheim auf der Couch zu hocken, war das allemal. „Na gut. Aber ich steh da nicht stundenlang herum.“
„Der Markt schließt um elf. Danach können wir noch ins Revival gucken.“
„Mal sehen“, murmelte Eric. Irgendwie würde er das vermeiden. Er hasste Clubs.
Wenig später verließen sie gemeinsam das Lokal. Am Fuß der Treppe trennten sich ihre Wege, nachdem sie sich für sieben am folgenden Samstag verabredet hatten.
Während Eric zurück zu seiner Arbeitsstelle ging, dachte er über die Shopping-Partnersuche nach. In Zeiten von Internet & Co. war so etwas doch total überholt. Außerdem: Zwischen Käsetheke und Tiefkühlkost fand man doch bestimmt nur Ausschussware, nämlich Typen wie ihn. Langweiler, die keinerlei Flirtfähigkeiten besaßen, keine aufregenden Hobbys oder große Freundeskreise pflegten. Neben Alex traf er nur gelegentlich ein paar alte Schulfreunde, was aber auch immer mehr im Sand verlief. Heiner war inzwischen verheiratet und wurde demnächst Vater und bei Ludger läuteten bald die Hochzeitsglocken. Mit Mitte dreißig trennte sich eben die Spreu vom Weizen. Zehn Jahre weiter sah es schon wieder anders aus, wenn die ersten Geschiedenen auf den Markt zurückkehrten. Vielleicht bekam er ja dann ein Gebrauchtmodell ab. Auf ein neues Exemplar machte er sich gar keine Hoffnungen mehr.
Seine Beziehungen konnte er an einer Hand abzählen. Da war Malte, zwei Monate, Karl, ein halbes Jahr und zu guter Letzt Jordan, fast zwei Jahre. Alle drei hatten ihn wegen eines anderen verlassen. Ob das stimmte, oder nur als Vorwand diente, entzog sich seiner Kenntnis. Fakt blieb, dass sie weg waren und er arg mit Minderwertigkeitskomplexen kämpfte. Ein Wort, das Alex wohl nur aus dem Duden kannte.
An seinem Schreibtisch grübelte er weiter. Die Menge an Arbeit war überschaubar, daher musste er sie gut einteilen, um stets beschäftigt auszusehen. Dorothea, eine Kollegin, die auf einen Plausch hereinkam, lenkte ihn ab. Danach erledigte er noch die wichtigsten Dinge, bevor er Feierabend machte.
Auf dem Heimweg schaute er in besagtem Supermarkt vorbei. Im Eingangsbereich hingen Plakate, die auf das Sternzeichen-Shopping hinwiesen. Während er durch die Regalreihen ging, guckte er sich aufmerksamer als sonst um. Da, der bärtige Typ mit dem Einkaufskorb, der vor der Wursttheke stand. Würde der auch am Samstag hier rumlungern? Oder die Frau, die das Angebot an Konservendosen inspizierte?
Als er wieder vors Gebäude trat, empfing ihn Bindfadenregen. Der April machte seinem Ruf alle Ehre. Mal strahlte die Sonne vom Himmel, mal ging ein Hagelschauer nieder. Im Galopp machte er sich zum Bahnhof auf. Wegen der mangelnden Parkmöglichkeiten und horrenden Parkhauspreise, nutzte er die öffentlichen Verkehrsmittel. Etwas, das er an diesem Tag besonders bereute, zumal die Bahn vor Leuten überquoll.
Daheim angekommen, warf er eine Pizza in den Backofen und zog eine trockene Hose an. Seine Jeans war bis zu den Knien durchnässt. Die ebenfalls betroffene Jacke hängte er in die Duschkabine.
Beim Essen guckte er in die Glotze. Anschließend setzte er sich vors Notebook, checkte seine E-Mails, alles nur Spam, und spielte danach online Schach mit einem virtuellen Gegner, bis es Zeit war schlafen zu gehen.
Am folgenden Tag, Freitag, erwog er mehrfach, Alex eine Absage zu erteilen. Wie dämlich sah das denn aus, wenn sie vorne im Supermarkt herumlungerten, als wären sie Spanner? So, wie er seinen spleenigen Freund kannte, trug der entweder eine Sonnenbrille oder eine Zeitung mit Gucklöchern vor der Nase. Na ja, vielleicht überreagierte er bloß. Was war schon dabei, in Ruhe bei RÜWE einen Kaffee zu trinken? Das taten bestimmt viele, die später im Umkreis des Marktes auf die Piste gehen wollten. Was Alex betraf: Wenn der sich daneben benahm, konnte er immer noch verschwinden.
Samstags erschien er also pünktlich bei Luigi. Wie gewohnt tauchte sein Freund eine Viertelstunde später auf und bestritt den größten Teil ihrer Unterhaltung. Alex‘ Chef plante ein zweites Büro zu eröffnen und suchte dafür einen Leiter. Sein Freund rechnete sich, trotz fehlender Qualifikationen, große Chancen aus. Ehrlich gesagt grauste Eric bei der Vorstellung, da Alex auch keine Führungsqualitäten besaß. Also, zumindest nach seiner Meinung. Na ja, wer fragte ihn schon danach?
Im Anschluss ans Essen begaben sie sich über die Straße, in den RÜWE-Markt und bezogen an einem der Stehtische vor dem Café Stellung. Entgegen seiner Befürchtungen, verzichtete Alex auf jegliche Maskerade. Sein Freund war sogar ein bisschen underdressed, in simplen Jeans mit zerknittertem blauem Hemd und alter Lederjacke. Oder war das die Tarnung? Normalerweise brezelte sich Alex zum Weggehen richtig auf.
Da Eric weder an einem Samstag, noch um diese Zeit im Markt gewesen war, konnte er nicht feststellen, ob mehr Betrieb als sonst herrschte. Ein älteres Paar kam herein, kurz darauf ein Alte mit Rollator. Also, wenn letztere noch auf eine Romanze hoffte, sollte sie sich beeilen. Sie sah nicht mehr taufrisch aus. Zwei Mädels, geschätzte fünfzehn und aufgestylt, gingen vorbei. Alle Neuankömmlinge ließen die Einkaufswagen links liegen. Die Körbe befanden sich außerhalb Erics Blickfeld, so dass er nicht wusste, ob sich einer der Leute einen schnappte.
Verstohlen schaute er sich um. An zwei weiteren Tischen standen weitere Zaungäste. Ein Paar, ins Gespräch vertieft und ein Mann mittleren Alters mit Vollbart und Brille. Als sich ihre Blicke kreuzten, senkte der Typ die Wimpern. Anscheinend eine einsame Seele, nahm Eric an und bezwang sein Mitleid, damit er dem Mann nicht zulächelte. Schließlich suchte er keine zu Grufties.
Alex hielt ausnahmsweise mal den Mund. Das gab ihm Gelegenheit, seinen Gedanken nachzuhängen. Wie war es bloß passiert, dass er mit Mitte dreißig hier herumstand und Leute angaffte, anstatt mit einem Partner einen gemütlichen Abend zu verbringen? Dabei hatte anfangs alles ganz nach einem normalen Leben ausgesehen. Okay, mit dem Unterschied, dass er auf Männer stand, doch ansonsten …
Er stammte aus einer liebevollen Ehe, bekam in der Schule stets durchschnittliche Noten und hatte einen passablen Abschluss gemacht. Nach einem freiwilligen sozialen Jahr war er als Auszubildender bei einem Steuerberater, ein Bekannter seiner Eltern, eingestellt worden. Er erwies sich sogar als recht talentiert in dem Beruf. Zugleich machte er seine ersten sexuellen Erfahrungen, die er als durchaus normal bezeichnen würde. Nichts Weltbewegendes, aber auch nichts Schreckliches. Mit fünfundzwanzig der erste richtige Freund, Malte, und der erste Liebeskummer. Danach hatte er von Gefühlen die Schnauze voll. Das mit Karl war also eher eine Vernunftssache, die aber auch nach hinten losging und das mit Jordan … Ach, Scheiße, wegen dem hatte er richtig gelitten, mehr als wegen Malte. Inzwischen war das fünf Jahre her.
„Die Jagdsaison ist eröffnet“, flüsterte Alex ihm plötzlich zu und machte Anstalten loszugehen.
„Warte! Ich will mit!“, stoppte er seinen Freund. Gedanklich total abwesend, hatte er nicht auf Neuankömmlinge geachtet und erkundigte sich neugierig: „Wie sieht er denn aus?“
„Wir können nicht zu zweit da reingehen. Man würde uns für ein Paar halten.“
„Dann folge ich dir unauffällig.“
„Ts. Willst du dich etwa unsichtbar machen?“, meinte Alex kopfschüttelnd, wies mit dem Kinn auf ihre leeren Becher und fügte hinzu: „Bringst du die weg?“
Folgsam trug er ihre Kaffeebecher zur Geschirr-Rückgabe, was Alex nutzte, um sich aus dem Staub zu machen. Eric fluchte leise, hastete zu den Einkaufskörben, schnappte sich einen und begann, systematisch die Regalreihen zu durchkämmen. Am Ende der Brotabteilung wurde er fündig: Alex stand vor der Käsetheke und nahm gerade ein Glas Sekt in Empfang. Rot prangte am Korb das Sternzeichen Jungfrau. Was für ein Etikettenschwindel!
Eric schaute sich nach dem Opfer um. Handelte es sich um den großen, schlanken Braunhaarigen an der Wursttheke? An dessen Korb hingen gleich mehrere Sternzeichen: Zwillinge, Krebs und Wassermann. Sehr schlau. Da konnte sich jeder das Passende raussuchen.
Alex versucht ein zweites Mal sein Glück beim Sternzeichen-Shopping. Fortuna ist ihm hold: Er trifft Kai, der ihm auf Anhieb gefällt. Leider ist das einseitig. Dessen Ex-Mann Abel hingegen ist sehr interessiert.
~ * ~
1.
Abel fragte sich manchmal, ob seine Freundschaft mit Kai einer neuen Beziehung hinderlich war. Zum einen hielten sie viele für ein Paar, zum anderen wirkte er neben seinem Ex farblos. Kai arbeitete bei einem Herrenausstatter und sah auch so aus: Stets wie aus dem Ei gepellt. Selbst wenn er ebenfalls Designerklamotten tragen würde, käme er nicht dagegen an. Er besaß weder Kais Luxuskörper, noch ein vergleichbar hübsches Gesicht. Außerdem wollte er auch gar nicht mit Äußerlichkeiten prahlen, sondern um seiner selbst willen geliebt werden.
Wann immer er das Kai gegenüber äußerte, lachte der ihn nur aus. Klar, sie waren nicht umsonst geschieden. Als Ehepaar hatten sie einfach nicht funktioniert, weder im Bett noch im Alltag. Warum sie dennoch zum Standesamt gegangen waren? Im Nachhinein wertete Abel das als Trotzreaktion. Alle in ihrem Umfeld hatten davon abgeraten. Was lag also näher, als denen das Gegenteil zu beweisen? Tja … dumm gelaufen. Zur Scheidung hatte es hab-ich-es-euch-nicht-gesagt-Sprüche gehagelt.
Inzwischen war - nach zwei Jahren - Gras über die Sache gewachsen. Abel hatte sich einen kleinen Bauch zugelegt, er aß nun mal gern und hasste Sport, sowie einen Bart. Statt Kontaktlinsen trug er wieder Brille, wie in seiner Schulzeit. Die Scheißdinger hatte er nie vertragen und bloß aus Eitelkeit benutzt.
Kai sah noch immer so aus, wie am Tag ihres Kennenlernens: Schlank und rank und faltenlos. Dabei liebte Kai ebenfalls gutes Essen. An den Wochenenden kochten sie regelmäßig gemeinsam und unternahmen auch sonst viel zusammen. Witziger Weise verstanden sie sich - seit Sex passé war - ziemlich gut. Im Spaß hatten sie mal, nach Genuss mehrerer Gläser Rotwein, beschlossen: Sollten sie immer noch solo sein, wenn ihre Manneskraft nachließ, wollten sie wieder heiraten.
Am Samstagabend kochten sie wieder mal bei Kai, diesmal einen vegetarischen Eintopf und entschieden spontan, dass es am nächsten Tag - als Kontrastprogramm - Rouladen geben sollte. Da Kai mitten in St. Georg wohnte, handelte es sich beim Einkauf um einen kurzen Spaziergang. Hätten sie diese Entscheidung in Abels Haus getroffen, wäre einen Autofahrt zum nächsten Supermarkt fällig gewesen. Aus diesem Grund planten sie dann stets weiter im Voraus oder tranken zum Essen keinen Alkohol.
Gegen halb zehn brachen sie also auf. Als sie den RÜWE-Markt erreichten, fielen Abel die Plakate bezüglich eines Sternzeichen-Partnersuche-Shoppings ins Auge. Kurzerhand entschloss er sich, bei der Sache mitzumachen. Kai nannte ihn zwar einen Spinner, befestigte aber ebenfalls einen roten Sternzeichen-Anhänger am Einkaufskorb.
Sie standen gerade am Fleischtresen und warteten darauf, dass der Schlachter ihnen sechs schöne Rouladen zuschnitt, da sprach ein attraktiver Blonder sie an. Um Abel war es sofort geschehen: Verliebt auf den ersten Blick.
Im Laufe ihres Geplänkels gesellte sich Eric, ein Kumpel von Alex (so hieß der Blonde) zu ihnen. Sie verabredeten sich in der Kneipe, die gegenüber dem Markt lag, in einer halben Stunde zu treffen und setzten ihren Einkauf fort.
„Na, der gefällt dir wohl“, meinte Kai, während sie durch die nächste Regalreihe gingen.
„Merkt man das?“
„Du siehst aus wie vom Blitz getroffen.“
Abel hätte gern in einen Spiegel geguckt, da er keine Vorstellung besaß, wie das ausschaute. „Stehen mir die Haare zu Berge?“
„Das nicht, aber da ist so ein Funkeln in deinen Augen.“ Kai knuffte ihn in die Seite. „Das sieht man aber nur, wenn man dich kennt.“
Er atmete auf, schließlich wollte er sich nicht öffentlich zum Narren machen. „Was essen wir zu den Rouladen?“, wechselte er das Thema.
„Vielleicht ist dieser Alex nur eine Art PR-Gag.“
„Wie meinst du das?“
„Na …“ Kai nahm ein Glas Rotkohl aus dem Regal, legte es in seinen Korb und ging weiter. „Vielleicht hat die Marktleitung ihn darauf angesetzt Singles anzusprechen, damit die zukünftig immer hier einkaufen, nur um ihn wiederzusehen.“
„Falls das stimmt, werden wir das ja in Kürze rausfinden“, erwiderte Abel, dem diese Vorstellung verständlicherweise gar nicht gefiel.
Sie brachten ihre Einkäufe in Kais Wohnung, bevor sie zum Treffpunkt gingen. Alex und dessen Kumpel warteten bereits. Soweit zu Kais Verschwörungstheorie. Leider stellte sich schnell heraus, an wem der angebliche Lockvogel interessiert war, nämlich an Kai. Keine Premiere, doch hatte Abel das bisher kaum gestört. Diesmal jedoch … er wollte Alex, wie noch nie einen Mann zuvor.
Kurz nach halb zwei verabschiedete sich Eric. Zu dem Zeitpunkt befanden sie sich im Dorf, einem Gewölbe, in dem es verschiedene Discotheken und Bars gab. In einer der letzteren saßen sie an einem Ecktisch, Alex zwischen ihnen. Die Unterhaltung plätscherte munter dahin. Alex war witzig und intelligent, was Abel noch mehr für ihn einnahm.
„Hättest du Lust, dich morgen, beziehungsweise nachher von uns bekochen zu lassen?“, erkundigte er sich und sah um Zustimmung heischend zu Kai hinüber, woraufhin der die Achseln zuckte und nickte.
„Klar, sehr gern.“ Alex schenkte ihm ein Lächeln. „Seit meine Mutter verwitwet ist, ist sie ständig auf Achse und hat keine Zeit mehr, ihren einzigen Sohn zu bekochen.“
„Och, du Armer“, meldete sich Kai zu Wort. „Meine kocht wenigstens ab und zu, aber immer in Verbindung mit Bekehrungsversuchen. Sie ist zu den Katholiken übergelaufen, als mein Vater gestorben ist.“
„Wie macht sie das? Mit Weihwasser und Kruzifix-Salat zum Essen?“, wollte Alex wissen.
Kai gluckste. „Nein, das nicht. Sie redet bloß auf mich ein.“
„Das kann einem die schönste Mahlzeit versauen“, fand Alex. „Gehen wir rüber, in die Achtziger-Disco? Ich hätte Bock ein bisschen zu tanzen.“
„Sorry, aber das ist gar nicht mein Ding“, wehrte Kai ab.
„Also, ich hätte schon Lust“, erwiderte Abel.
„Ach, dann verschieben wir das auf ein anderes Mal. Ich bin sowieso nicht mehr richtig fit.“ Alex gähnte demonstrativ. „Ich gebe noch eine Runde Kurze aus, bevor wir aufbrechen.“
Etwas verschnupft wegen der Abfuhr hielt Abel, bis sie das Lokal verließen, den Mund. Nachdem sie für den folgenden Tag eine Zeit ausgemacht und ihre Handynummern ausgetauscht hatten, ging Alex in Richtung Hauptbahnhof davon. Sie schlugen den entgegengesetzten Weg ein.
Kai legte einen Arm um seine Schultern und tröstete ihn: „Kopf hoch. Du kriegst deinen Alex schon noch.“
„Sehr witzig. Wie willst du das denn anstellen? Ihm einen Liebestrank untermischen?“
„Ach, uns fällt schon was ein.“
Er bewunderte so viel Optimismus, den er bedauerlicherweise nicht aufbrachte.
Als er wenig später auf Kais Schlafcouch lag - bei Geld und das Bett zu teilen, hörte die Freundschaft auf, darin waren sie sich einig - dachte er ernsthaft über eine Typveränderung nach. Ein bisschen abnehmen konnte nicht schaden, genau wie eine Rasur und Kontaktlinsen … vielleicht hatte er einfach die falschen benutzt. Über diese Gedanken schlief er ein.
Am nächsten Morgen weckte Kai ihn mit einem Kaffee. Ein seltener Service. Sonst war er derjenige, der welchen kochte. Das bewies, dass Kai ernsthaftes Mitleid mit ihm hatte. Er nahm den Becher entgegen und sog genüsslich den aromatischen Duft ein.
„Ich hab nachgedacht“, verkündete Kai. „Liebe geht bekanntlich durch den Magen. Wir erzählen Alex einfach, dass du allein gekocht hast und - zack! - verliert er sein Herz an dich.“
„An dir ist echt ein Genie verlorengegangen“, spöttelte Abel.
Kai grinste stolz. „Nicht wahr?“
„Das war ironisch gemeint.“
„Ach so“, murmelte Kai, deutlich eingeschnappt, und stolzierte hocherhobenen Hauptes aus dem Raum.
Früher hätte ihn das genervt, doch inzwischen prallten Kais Launen an ihm ab. Ganz in Ruhe trank er seinen Kaffee, kletterte von der Couch und brachte den leeren Becher in die Küche. Danach ging er aufs Klo und beäugte im Anschluss seinen Vollbart im Spiegel. So richtig konnte er sich mit dem Verlust seiner Gesichtsbehaarung nicht anfreunden. Darüber musste er erst noch ein paarmal schlafen.
Beim Frühstück herrschte wieder eitel Sonnenschein. So war Kai: Dessen Stimmung konnte innerhalb von Minuten komplett umschlagen. Eben typisch Widder. Für einen sensiblen Krebs wie Abel eine echte Herausforderung. Er war gespannt auf den Typen, der es schaffte Kai zu zähmen, falls es solchen Menschen denn überhaupt gab.
Zum Duschen und Klamottenwechsel fuhr er nach Hause. Obwohl er sich häufig bei Kai aufhielt, lagerte er dort keine Kleidung oder anderes privates Zeug. Das hätte bloß zu Streit geführt, weil sich ihr Ordnungssinn erheblich unterschied. Außerdem waren sie eben nur Freunde, keine Ehepartner mehr.
Gegen vier traf er wieder bei Kai ein. Gemeinsam werkelten sie in der Küche, bis sämtliche Vorbereitungen erledigt waren und die Rouladen in einem Topf schmorten. Anschließend setzte sich Kai vor die Glotze und Abel unternahm einen Spaziergang zur Alster. Normalerweise hätte er sich ebenfalls auf die Couch gehockt, aber er hatte sich vorgenommen, schon mal an seinem Bauch zu arbeiten.
Pünktlich um sechs erschien Alex, eine Flasche Rotwein in der Hand. Kais neuer Plan: Das böser-Cop-guter-Cop-Spielchen. In Ermangelung besserer Ideen hatte Abel halbherzig zugestimmt.
Mit einem: „Danke“, nahm Kai das Gastgeschenk entgegen und beäugte kritisch das Etikett. „Na ja, ganz schön billiger Fusel.“
„Stimmt.“ Alex gluckste. „Ich hatte aber gehofft, es fällt nicht auf.“
„Also, mir wäre es wirklich nicht aufgefallen“, behauptete Abel, obwohl er es auf den ersten Blick erkannt hatte.
Darauf reagierte Alex überhaupt nicht. „Das riecht aber gut hier.“
Kai bemühte sich redlich, den Griesgram raushängen zu lassen, doch ohne Erfolg. Im Gegenteil: Je ekliger sich Kai benahm, desto größer schien Alex‘ Interesse zu werden. Das war wohl der Bad-Boy-Effekt: Wer träumte nicht davon, einen coolen Mistkerl weichzuklopfen?
Abel wurde von Minute zu Minute frustrierter. Als Alex gen Ende des Abendessens angeekelt seinen Bart betrachtete und ironisch fragte: „Bewahrst du dir die Rotkohlreste für ein Mitternachtsmahl auf?“, womit ein paar in seinen Barthaaren hängengebliebene Kohlschnipsel gemeint waren, ging seine Laune endgültig den Bach runter.
Um neun komplimentierte Kai ihren Gast mit den Worten: „Sorry, aber ich muss dich jetzt rauswerfen. Du gehst mir auf den Geist“, aus der Wohnung.
Alex lachte bloß. „Okay, kein Problem. Gehen wir in der Woche mal zusammen was trinken?“
„Weiß noch nicht. Wahrscheinlich eher nicht“, gab Kai zurück, schob Alex zur Tür hinaus und warf sie ins Schloss. „Oh Mann! Der hat das dicke Fell wohl persönlich erfunden.“ Kai stöhnte. „Wie soll man anständig Arschloch spielen, wenn das Opfer derart resistent ist?“
„Tja, der steht eben total auf dich. Da wird man blind und taub“, erwiderte Abel mit einem resignierten Achselzucken.
„Ist das so? Möge eine höhere Macht verhüten, dass ich jemals in diese Lage komme.“ Nach einem flehentlichen Blick gen Himmel begab sich Kai ins Wohnzimmer und begann, das restliche Geschirr einzusammeln.
Abel fühlte sich durch diese Worte noch demoralisierter, bedeuteten sie doch, dass Kai nie so für ihn empfunden hatte. Er verdrängte die unschöne Erkenntnis. „Soll ich dir helfen?“, rief er.
„Nö, brauchst du nicht.“
„Dann fahr ich nach Hause.“ Er schlüpfte in seine Sneakers und Jacke. „Danke für deine - wenn auch unnütze - Hilfe.“
Im Vorbeigehen, beide Hände voll mit leeren Gläsern, zwinkerte Kai ihm zu. „De nada. Mach’s gut und Kopf hoch. Wir kriegen das noch hin.“
Auf dem Heimweg beschloss Abel, die Sache zu vergessen. Man konnte nun mal keine Emotionen erzwingen. Dennoch rasierte er vorm Schlafengehen seinen Bart ab und nahm sich vor, in der folgenden Woche zum Optiker zu gehen, um neue Kontaktlinsen zu besorgen.
Abel arbeitete als Filialleiter einer Sparkasse in Hammerbrook. In dieser Gegend gab es überwiegend Geschäftskunden und neuerdings Studenten, seit gegenüber ein neues Wohnheim entstanden war. Privatleute wohnten sonst so gut wie keine in dem Viertel, das die Alliierten im zweiten Weltkrieg komplett plattgemacht hatten. Danach waren hässliche Fabrikgebäude wie Pilze aus dem Boden geschossen, die inzwischen nach und nach durch ebenso schauderhafte Neubauten ersetzt wurden.
Am Montag und Dienstag war er mit Kreditanträgen derart ausgelastet, dass er Überstunden schieben musste. Erst am Mittwochnachmittag kam er daher dazu, beim Optiker seines Vertrauens vorstellig zu werden. Der Mann empfahl ihm ein Produkt, das angenehme Trageeigenschaften besitzen sollte.
Abends war er mit Kai zum Essengehen verabredet. Mit den neuen Linsen und besonders sorgfältig gestylt, betrat er ihr Lieblingsrestaurant, die Taverne Imiglykos am Alsterufer. Kai saß bereits an ihrem angestammten Tisch in einer Nische. Als er sich dazugesellte, guckte sein Freund ihn mit großen Augen an.
„Wow! Wer bist du und was hast du mit Abel gemacht?“
„Blödmann!“
„Ehrlich, du siehst toll aus. Wenn ich jetzt noch deine Garderobe ein bisschen aufpeppen dürfte, wärest du ein Traumtyp.“
„Vergiss es. Das Thema hatten wir schon zur Genüge.“ Ein ewiger Streitpunkt in ihrer Ehe.
„Dann eben nicht“, maulte Kai.
Wie immer, kriegte sich sein Kumpel schnell wieder ein. Beim Essen plauderten sie über dies und das, bis Kai plötzlich - die Gabel auf dem Weg zum Mund - mitten im Satz innehielt. Abel konnte förmlich das Ausrufezeichen über der Stirn aufleuchten sehen.
Tatsächlich platzte Kai mit einer neuen Idee heraus: „Du bist doch chronisch untervögelt. Ich finde, Alex sollte zumindest diesen Tatbestand ändern. Nun, wo wir uns wie ein Ei dem anderen gleichen, liegt es doch nahe, dass wir einfach die Rollen tauschen.“
„Hä?“
Kai schob sich den Bissen in den Mund, gestikulierte mit der Gabel herum und erklärte kauend: „Isch locke ihn in die Falle und du kommscht schum Schusch.“
„Ich versteh nur Bahnhof.“
Sein Gegenüber verdrehte die Augen, schluckte den Bissen runter und präzisierte: „Ich mache ihn scharf und du wirst ihn bumsen.“
„Du hast doch nicht alle Tassen im Schrank.“
Texte: Sissi Kaiserlos
Bildmaterialien: depositphotos - shutterstock
Cover: Lars Rogmann
Lektorat: Aschure - dankeschön
Tag der Veröffentlichung: 15.02.2019
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