Marcus, Allgemeinmediziner, ist seit vier Jahren Single. Davor war er lange mit Kim, Heilpraktiker, fest liiert. Die ganze Zeit hat er es geschafft, seinem Ex aus dem Weg zu gehen, doch dann treffen sie unerwartet wieder aufeinander. Die Dinge entwickeln sich ebenso überraschend. Ein Kurztrip nach Amrum, zum Biikebrennen, bringt neue Erkenntnisse.
~ * ~
1.
Mit Unbehagen sah Marcus aus dem Fenster. Nieselregen bei Temperaturen um den Gefrierpunkt. Okay, immer noch besser als Schnee, aber auf Blitzeis konnte er ebenfalls gut verzichten. Warum musste sein Kollege und guter Freund George ausgerechnet heute Geburtstag haben?
Er riss sich zusammen. Gleich kam das bestellte Taxi und wenn die Feier nicht wäre, würde er den Abend allein auf der Couch verbringen. Keine erquickliche Alternative. Zwar liebte er Ruhe, doch seine eigene Gesellschaft hatte auf Dauer destruktiven Charakter.
Ein letztes Mal sah er in den Spiegel neben der Garderobe. Allmählich wurden aus den vereinzelten silbernen Strähnen ganze Partien. Bei Typen wie Sean Connery fand er das sexy, aber bei ihm wirkte das schlicht alt. Tja. Genau deswegen hatte Kim ihn vor vier Jahren verlassen. Also, nicht wegen der grauen Haare, sondern für einen Jüngeren. Das wusste er allerdings nur vom Hörensagen.
Er schlang sich einen Schal um den Hals, schlüpfte in eine Jacke und ging erneut in die Küche, um nach dem Taxi Ausschau zu halten. Der Wagen hielt gerade vorm Haus. Nachdem er sich den Beutel mit dem Geschenk geschnappt und Hermine, seiner Katze, Tschüss gesagt hatte, schloss er sorgfältig ab und trat durch die Haustür nach draußen. Der Regen suchte sich diesen Moment aus, um zu einem ordentlichen Guss zu werden. Leise fluchend rannte er zum Taxi, kletterte auf die Rückbank und nannte dem Fahrer Georges Adresse.
Während der Wagen durch Winterhudes Häuserschluchten fuhr, betrachtete er die vereinzelt am Straßenrand stehenden Baumgerippe. Januar und Februar gehörten für ihn zu den scheußlichsten Monaten des Jahres. Alles wirkte kalt und grau, nirgendwo ein Farbklecks, ausgenommen irgendwelcher Müll. Im Dezember gab es wenigstens Weihnachtsbeleuchtung, die aber im Laufe der letzten drei Wochen verschwunden war. Nur gelegentlich hing noch eine vergessene Lichterkette an einem der Fenster.
Nach wenigen Minuten Fahrtzeit hielt das Taxi am Bordstein. Marcus zahlte, stieg aus und hastete zum Hauseingang. Weiterhin goss es in Strömen. Hoffentlich hatten sie in drei Wochen, beim Biikebrennen auf Amrum, besseres Wetter. Falls nicht, würde der Kurzurlaub bestimmt zum Horrortrip ausarten. Drei Tage eingesperrt in einem Ferienhaus, zusammen mit sieben Medizinern - das endete doch in einem Massaker.
Auf sein Läuten hin ertönte das Summen des Türöffners. Im Treppenhaus sah er unschlüssig zwischen Lift und Stufen hin und her und entschied sich mal wieder für die sportliche Variante. Diesen nachträglich eingebauten Dingern misstraute er. Was, wenn man in solchem altertümlichen Teil steckenblieb? Es besaß zwar einen Alarmknopf, aber funktionierte der überhaupt?
Georges Wohnungstür im zweiten Stock stand offen. Er hörte Stimmen und leise Musik. Im Flur stellte er seinen Beutel auf die Garderobe, hängte seine Jacke an einen Haken und spähte in die Küche. George werkelte mit Vera, Urologin und Kollegin von Georges on-off Freund Daniel, darin herum.
Mit den Worten: „Herzlichen Glühstrumpf, mein Lieber“, betrat er den Raum.
„Danke.“ George legte das Brotmesser beiseite und ließ sich umarmen.
„Soll ich dein Geschenk, einen 2010 Brunello di Montalcino, den Säuen vorwerfen oder lieber für dich verstecken?“
„Oh! Den gib mal her. Der ist viel zu kostbar für die Banausen“, bat George mit leuchtenden Augen.
„Das hab ich gehört“, meinte Vera grinsend, bot ihm die Wange für einen Kuss und fuhr fort, Mixed Pickles in Schälchen zu füllen.
Er holte die eingewickelte Flasche, überreichte sie George und fragte pflichtschuldig: „Soll ich was helfen?“
„Nö. Wir kommen klar“, erwiderte Vera.
Nach einem neugierigen Blick in die beiden Töpfe, die auf dem Herd standen, (Gulasch und ein heller Eintopf, vermutliche Hühnerfrikassee) schlenderte er ins Wohnzimmer, wo eine Tafel aufgebaut war. Daniel, ein Glas Wein in der Hand, unterhielt sich mit Amir und Finn. Berit, welche mit George und ihm die Gemeinschaftspraxis betrieb, befand sich auf dem Balkon und rauchte.
Er begrüßte Daniel mit einem Schulterklopfen, die beiden anderen per Handschlag und begab sich nach draußen. „Hast du auch eine für mich?“
Berit stieß eine Rauchwolke aus. „Vergiss es. Du bist seit Jahren clean.“
„Vielleicht möchte ich wieder anfangen.“
„Unsinn.“ Sie drückte ihre Kippe im Blumenkasten aus und rieb sich fröstelnd über die Arme. „Lass uns reingehen. Ich frier mir den Arsch ab.“
Berits burschikose Ausdrucksweise hatte ihn von Anfang an für die Frau eingenommen. In der Praxis mäßigte sie sich, um die Patienten nicht zu verunsichern, doch privat nahm sie kein Blatt vor den Mund. Er folgte ihr zurück ins Wohnzimmer, in dem inzwischen zwei neue Gäste eingetroffen waren: Emmanuel, ein Kollege von Daniel, und Giovanni, ein ehemaliger Kommilitone. Die Türklingel kündigte weiteren Besuch an, als er den zweien die Hand schüttelte.
„Sag mal …“ Berit zog ihn am Ärmel von den anderen weg und fuhr leise fort: „Hat George dir gesagt, wen er noch eingeladen hat?“
„Nein. Wieso?“
„Kim kommt mit seinem aktuellen Lover.“
Bei der Erwähnung seines Ex zuckte Marcus leicht zusammen. „Na und? Das mit ihm ist eine halbe Ewigkeit her.“
„Wollte es nur erwähnen, damit du nicht aus den Latschen kippst“, erwiderte Berit. „Falls du einen Vorwand brauchst, um abzuhauen, kann ich gern so tun, als ob ich meine Tage bekomme.“
Marcus zog eine übertrieben angeekelte Grimasse. „Bitte nicht solche Themen vorm Essen.“
„Blödmann“, murmelte Berit, verpasste ihm einen spielerischen Klaps gegen den Arm und gesellte sich wieder zu den anderen.
Seit ihrer Trennung hatte er Kim nicht mehr direkt gegenübergestanden, obwohl sie im gleichen Freundeskreis verkehrten. Anfangs waren ihre Freude so rücksichtsvoll gewesen, sie nie zusammen einzuladen. Später hatte er immer dann, wenn er erfuhr, dass Kim kommen würde, irgendeine Ausrede erfunden. Wahrscheinlich war das der Grund, weshalb George nichts davon erwähnt hatte.
Innerlich angespannt, äußerlich betont gelassen, stellte er sich neben Berit und gab vor, der Unterhaltung zu folgen. In Wirklichkeit behielt er den Türrahmen im Auge. Als Jeremy, ein Kumpel aus Studienzeiten, anstelle der befürchteten Gestalt hereinkam, atmete er auf. Im nächsten Moment tauchte Kim auf, einen blonden Schönling im Schlepptau, woraufhin er erneut zusammenzuckte.
Sein Ex hatte sich kein Stück verändert, stellte er fest. Alterten Mischlinge denn gar nicht? Kims Mutter stammte aus Korea, daher die Mandelaugen, pechschwarzen Haare und der olivfarbene Teint. Vom Vater hatte Kim nur den Nachnamen und Schwanz abbekommen. Witziger Weise erinnerte sich Marcus noch genau, wie das Teil aussah, trotz der vier Jahre, die dazwischen lagen. Er hätte eindeutig mehr herumvögeln sollen, um den Anblick zu vergessen.
„Setzt euch“, rief Vera und erschien mit einem Topf in den Händen, den sie auf einer der Wärmeplatten abstellte und wieder davoneilte.
Die Gäste verteilten sich an der Tafel. Berit bugsierte ihn zu einem Platz, ließ sich neben ihm nieder und flüsterte: „Also, allzu intelligent sieht Blondie nicht aus. Na ja, dumm bumst eben gut.“
„Sei nicht so gehässig“, gab er ebenso leise zurück.
„Ts. Stell dich nicht so an.“
„Ich bin bloß fair.“
„Wozu? Willst du dir damit eine Medaille verdienen?“, fragte sie mit hochgezogenen Brauen.
Daniel, der herumging und Wein verteilte, beendete ihre Unterhaltung. „Weiß oder rot?“
„Ich hätte lieber Bier“, bat Berit und Marcus: „Ich nehme roten.“
Glücklicherweise saß Kim am anderen Ende der Tafel, dazu noch auf seiner Seite, also außerhalb seines Blickfeldes. Dennoch war sich Marcus der Gegenwart seines Ex deutlich bewusst. Während um ihn herum alle plauderten und aßen, wanderten seine Gedanken zurück zu dem Tag, an dem er Kim kennengelernt hatte; dabei stocherte er auf seinem Teller herum und steckte sich den einen oder anderen Bissen in den Mund, ohne etwas zu schmecken.
Vor zwölf Jahren, auf einer Party, hatte er Kim getroffen. Zwischen ihnen waren gleich Funken geflogen. In derselben Nacht landeten sie zusammen im Bett. Er erinnerte sich an Einzelheiten, wie Kims atemloses, raues Lachen und schimmernde Haut im Schein der Nachttischlampe. Es folgten noch mehr Nächte, Kino-, Club- und Restaurantbesuche, ihre erste gemeinsame Reise. Danach beschlossen sie zusammenzuziehen. Ihre wilde Ära war vorbei, also ein guter Zeitpunkt, um sesshaft zu werden.
Sie harmonierten wunderbar, nicht nur sexuell. Kim teilte seinen Humor, Filmgeschmack und las die gleichen Bücher wie er. Nur ab und zu gerieten sie sich in die Haare, wenn er auf der Couch hängen und sein Partner losziehen wollte. Manchmal blockte er, manchmal ging er Kim zuliebe mit. Diese Differenzen stellten keine Belastung für ihre Beziehung dar, jedenfalls nach seiner Meinung.
Das verflixte siebte Jahr überstanden sie schadlos, doch im achten krachte es gewaltig. Vielleicht litt Kim an einer Art vorzeitigen Midlifecrisis, vielleicht reichte ihre Liebe doch nicht für ein ganzes Leben. Streit häufte sich und Kim zog immer öfter allein durch die Clubs. Bei solcher Gelegenheit geschah es: Kim ging fremd. Der Rest passierte im Zeitraffer. Plötzlich hatte Kim eine eigene Wohnung und verließ ihn mit den Worten: „Tut mir leid. Ich hab einen anderen.“
Acht Jahre Partnerschaft waren mit zwei Sätzen beendet. Marcus stand fassungslos vor den Trümmern und fragte sich, ob er irgendwelche Anzeichen übersehen hatte. Die Wäre-Hätte-Phase überstand er nur mithilfe eines Therapeuten. Inzwischen ging er zwar noch regelmäßig zu Dr. Brunner, doch es waren eher Freundschaftsbesuche. Niemand wusste davon, sonst würden Ging-ein-Arzt-zum-Arzt-Witze auf jeder Feier kursieren. In ihren Kreisen war man diesbezüglich nicht zimperlich.
„Erde an Marcus“, drang Berits Stimme zu ihm durch.
„Hm? Was ist denn?“
„Du starrst seit einer Weile deinen leeren Teller an. Ist das eine neue Form von aus-Kaffeesatz-lesen?“
„Sehr witzig.“ Er bedachte sie mit einem schiefen Grinsen, füllte sich eine halb Kelle Gulasch auf und griff nach einer Scheibe Weißbrot. „Was macht eigentlich dein Liebesleben?“
Berit winkte ab. „Nicht der Rede wert. Mein letzter Lover ist mit fliegenden Fahnen zurück zu Mutti, als die ihm mit Scheidung gedroht hat.“
„Mutti?“
„Seine holde Gattin ist zwanzig Jahre älter als er.“ Sie schob sich einen Löffel Hühnerfrikassee in den Mund.
„Ach so. Eine Zwangsehe, des Geldes wegen?“
Kauend nickte Berit.
„Wenn ich einen Typen mit den Traummaßen 90-60-40 fände, würde ich auch zuschlagen.“
„Pft“, machte Berit. „Heutzutage werden die Leute dank moderner Medizin viel zu alt. Denk nur an den Heesters. Fast zwanzig Jahre musste die arme Simone auf ihr Erbe warten.“
„Bedauernswert“, stimmte Marcus zu. „Bist du eigentlich zum Biikebrennen mit von der Partie?“
Sie verdrehte die Augen. „Klar. Ich kann mir doch ein Feuerchen bei zünftiger Blasmusik und Glühwein nicht entgehen lassen.“
„Du hast die Erbsensuppe vergessen.“
„Wie konnte ich nur?“ Berit seufzte theatralisch. „Sollte ich mal austesten, ob Blondie bi ist?“, überlegte sie laut.
„Nur zu.“ Er zwinkerte ihr zu. „Meinen Segen hast du.“
Amir, der ihnen gegenüber saß und bisher mit Jeremy geplaudert hatte, mischte sich ein: „Wofür hat Berit deinen Segen?“
„Für einen Friseurbesuch“, log er geistesgegenwärtig. „Sie überlegt, sich einen Irokesen schneiden zu lassen.“
„Krass“, meinte Amir. „Den Mut hätte ich nicht.“
Während sich Amir und Berit über das Für und Wider eines Styling-Wechsels unterhielten, spähte Marcus an ihr vorbei, um einen Blick auf Kim zu erhaschen. Der sah in genau dem Moment rüber zu ihm. Rasch guckte er weg. Eine Reaktion, für die er sich innerlich einen Tritt in den Hintern verpasste. So benahmen sich doch nur Teenager in der Blüte ihres Hormonüberschusses.
Im Laufe der nächsten halben Stunde löste sich die Tafel auf. Vera und Daniel halfen George beim Abräumen, Berit ging rauchen, Jeremy verzog sich mit Kim und Blondie auf die Couch und der Rest blieb sitzen. Marcus schloss sich Berit an, die ihm wortlos eine Kippe anbot. Kopfschüttelnd lehnte er ab.
„Wegen des Biikebrennens: Man sagt, dass die Frauen früher diese Feuer entzündeten, um ihren Liebhabern am Festland freie Bahn zu signalisieren. Ihre Ehemänner waren nämlich zuvor zum Walfang aufgebrochen.“ Berit produzierte einen perfekten Rauchkringel. „Meinst du, da ist was dran?“
„In Überlieferungen steckt immer ein wahres Korn. Wer hätte sonst die ganze Feldarbeit erledigen sollen?“
„Manchmal beneide ich die Leute um ihr damaliges Leben. Das war garantiert hart, aber man hatte ganz andere Probleme als heutzutage. Es gab noch keine Diäten, Scheidungen sowieso nicht und um die Rente brauchte man sich keine Sorgen machen, weil man eh früh abkratzte.“
„Alles eine Frage der Betrachtung.“ Seufzend sah Marcus ins Wohnzimmer, wo Kim, der Blonde und Jeremy angeregt miteinander plauschten. „Kann ich auf dein Angebot zurückkommen? Ich muss hier weg.“
„Nö. Stell dich deinen Dämonen. Du bist schließlich erwachsen“, erwiderte Berit trocken, steckte die Kippe zu der anderen in den Blumenkasten und rauschte an ihm vorbei.
Vielleicht hatte sie wirklich ihre Tage, so launisch, wie sie sich verhielt. Marcus stopfte seine Hände in die Hosentaschen und blieb noch einen Augenblick draußen, bevor er ins warme Wohnzimmer zurückkehrte. Fieberhaft suchte er nach irgendeiner Ausrede, um sich bei George für seinen hastigen Aufbruch zu entschuldigen, doch ihm wollte keine einfallen. Außerdem - was machte er sich bloß vor? - wäre sowieso klar, dass er vor Kim flüchtete.
‚Auf in den Kampf‘, sprach er sich im Geiste Mut zu und gesellte sich zu der Gruppe auf der Couch, indem er im Sessel gegenüber Platz nahm.
Jeremy, der eine Allgemeinmedizinerpraxis in Duvenstedt betrieb, diskutierte mit Kim über alternative Behandlungsmethoden. Sein Ex hatte vor einiger Zeit ins Heilpraktiker-Fach gewechselt. Gelegentlich, wenn Marcus ratlos war, gab er Patienten Kims Praxisvisitenkarte. Er fand das fair, außerdem hatte Kim fachlich was drauf und konnte beachtliche Erfolge aufweisen. Ob diese Selbstheilungskräften oder der fernöstlichen Medizin zuzuschreiben waren, stand auf einem anderen Blatt.
„Was sagst du dazu?“, wandte sich Jeremy unversehens an ihn.
Es ging um einen Patienten mit Krebsdiagnose, bei dem die Schulmedizin versagte. „Sofern dem Mann dadurch kein Schaden entsteht: Warum nicht?“
Der Blonde musterte ihn neugierig. Bestimmt hatte Kim auf ihr Verhältnis hingewiesen. Die beiden saßen nah beieinander, hielten aber Gottseidank nicht Händchen. Solche Zurschaustellung von Glück hätte bei Marcus Kotzreiz ausgelöst.
„Der größte Schaden ist das Loch im Geldbeutel, mit dem die Patienten meine Praxis verlassen“, witzelte Kim und fügte hinzu, kurz den Blick auf den Blonden gerichtet: „Übrigens arbeite ich oft mit Bryan zusammen. Seine Massagen mobilisieren Kräftereserven.“
So hieß der Typ also. ‚Spricht Kim von Schwanzmassagen?‘, dachte Marcus spöttisch.
„Interessant“, meinte Jeremy, an Bryan gewandt. „Betreibst du eine eigene Praxis?“
„Nein. Ich bin fest in Teilzeit angestellt und arbeite sonst auf Honorarbasis.“
„Manchmal massiert Bryan im Mens Heaven am Steindamm. Da hab ich ihn kennengelernt“, erzählte Kim.
Seit wann ging sein Ex in die Sauna? Normalerweise mied Kim solche Orte, genau wie Schwimmbäder, wegen der Keime.
„Aha. Erotische Massagen?“, wollte Jeremy wissen.
„Es passiert schon, dass die Typen dabei einen Ständer bekommen, aber ich beschränke mich auf den oberen Bereich“, antwortete Bryan.
Marcus beschloss, genug für die Völkerverständigung getan zu haben. „Dann viel Spaß noch. Ich muss leider los. Eigentlich gehöre ich ins Bett, Magen-Darm-Virus, und hab mich nur George zuliebe aufgerafft herzukommen.“
Er sprang auf, fand George im Flur und behauptete, unter Kopfschmerzen zu leiden. Flink schlüpfte er in seine Jacke und verließ die Wohnung. Erst auf der Treppe fiel ihm ein, dass er seinen Schal vergessen hatte. Egal. Den konnte George ihm Montag mitbringen.
George hat für die Sommerferien das Appartement auf Amrum gebucht, von dem Kim und Marcus so geschwärmt haben. Zwei Wochen mit Daniel an der Nordsee. Das würde ihr angespanntes Verhältnis vielleicht verbessern. Leider ist Daniel von der Idee - gelinde gesagt - wenig begeistert.
~ * ~
1.
„Ich will nicht in dieses Kuhkaff am Ende der Welt!“, schimpfte Daniel.
„Sibirien liegt am Ende der Welt“, konterte George genervt. „Außerdem ist Wittdün kein Kaff, sondern fast eine Stadt.“
„Klugscheißer! Ach, fahr doch allein dahin. Oder nimm deinen heißgeliebten Marcus mit. Ich jette Last Minute nach Malle. Da ist wenigstens was los.“ Daniel, den üblichen Buko (Beischlafutensilienkoffer) in der Hand, verließ seine Wohnung und knallte die Tür hinter sich zu.
Tja, das war’s dann wohl. Diesmal würde George nicht einlenken, das nahm er sich fest vor. Dann fuhr er eben wirklich allein nach Amrum. Oder gab es jemanden, den er mitnehmen konnte? Marcus, mit dem er in den vergangenen vier Jahren oft Kurztrips unternommen hatte, schied ja leider wegen der Beziehungskiste mit Kim aus.
Grübelnd schlenderte George durch seine Wohnung, schnappte sich schließlich sein Smartphone und scrollte durch die Kontaktliste. Finn? Ach nein. Jeremy? Das passte schon eher. Moment! Emmanuel wäre doch der perfekte Kandidat. Zum einen wischte er Daniel damit einen aus, zum anderen verstanden sie sich gut. Zweifelsohne würde sein Freun… Ex-Bettgefährte davon erfahren, da die beiden in einer Praxis arbeiteten. Zudem war somit klar, dass Emmanuel zum fraglichen Termin Zeit hatte.
Er wählte und hielt das Gerät an sein Ohr. Nach zweimaligem Tuten ertönte: „Hier ist die Mailbox von Emmanuel Belzenberg. Hinterlassen Sie nach dem Signalton eine Nachricht, dann rufe ich umgehend zurück.“
„Hi, hier ist George. Sag mal, hast du in den Praxisferien schon was vor? Ruf mich bitte dringend an.“ Nachdem er aufgelegt hatte, sah er einen Moment sinnend aus dem Fenster. Eigentlich hatte er vorgehabt, mit Daniel an einen Badeteich zu fahren. Die Sonne brannte vom wolkenlosen Himmel bei annähernd dreißig Grad. Ach, bestimmt lungerte die halbe Stadt an den verfügbaren Seen herum, da war der Balkon mit einer Schüssel Wasser für seine Füße doch die bessere Alternative.
Wenig später saß er auf dem Freisitz, die Tageszeitung auf seinem Schoß und ein großes Glas Eistee in der Hand. Ein Schirm spendete Schatten, dennoch war es verdammt heiß in der Stadt. Kein Lüftchen rührte sich. Sollte das den ganzen Sommer so gehen? Na, dann gute Nacht.
Seine Gedanken wanderten zu Daniel. Seit nahezu fünf Jahren führten sie nun eine On-Off-Beziehung. Lag es am Altersunterschied? Daniel war Ende dreißig, er Mitte vierzig. Eigentlich vertretbar, aber manchmal hatte er den Eindruck, sein Ex trüge noch Eierschale auf dem Kopf. Dabei war Daniel promovierter Urologe. Kindsköpfe dürften so ein Studium doch kaum schaffen, andererseits hatte Intelligenz nichts mit Empathie zu tun. Nach seiner Ansicht haperte es da bei Daniel gewaltig.
George wandte seine Aufmerksamkeit der Tagespresse zu. Die politischen Artikel las er erst gar nicht, sonst würde er sich nur aufregen. Nach seiner Meinung sollte man das ganze Pack durch eine komplett neue Riege ersetzen und zwar aus dem Volk. Irgendwann hätte man wieder das Gleiche, weil Menschen eben dazu neigten Geldhähne zu ihren Gunsten aufzudrehen, wenn sie die Macht dazu bekamen, aber davor würde endlich mal frischer Wind im Parlament wehen. Die hohlen Phrasen der amtierenden Politiker hatte er gründlich satt.
Das war auch so eine Sache, die ihn fuchste: Daniel ging nie wählen. Wozu hatte man eine Stimme, wenn man sie nicht erhob? Okay, das war falsch ausgedrückt, da Daniel durchaus rumbrüllen konnte, wie gerade vorhin bewiesen.
Kopfschüttelnd widmete er sich wieder der Zeitung. Eine Rentnerin war in ihrer Wohnung überfallen, vergewaltigt und beraubt worden. Der Täter gehörte lebenslang weggesperrt. Weder Achtung vorm weiblichen Geschlecht noch dem Alter war wohl kaum therapierbar. Ganz schön kaputt, diese heutige Gesellschaft. Die Menschen lebten, verglichen mit früher, in Saus und Braus, dennoch machten sie selbst vor Brutalität nicht halt, um ihre Luxusbedürfnisse zu stillen.
Das Vibrieren seines Smartphones riss ihn aus den fruchtlosen Überlegungen. Emmanuels Name stand auf dem Display. Erfreut nahm er das Gespräch an: „Hi. Wie geht’s dir?“
„Ich komme gerade vom Einkaufen und schwitze wie ein Schwein. Sonst noch Fragen?“
„In der Milchabteilung ist es doch angenehm kühl.“
„Allerdings, doch hinterher ist es draußen umso heißer. Was verschafft mir die Ehre deines Anrufs?“
„Hast du Lust auf zwei Wochen Nordsee umsonst?“
Kurzes Schweigen, dann seufzte Emmanuel. „Lass mich raten: Daniel ist abgesprungen.“
„Gut erkannt. Also: Wie sieht’s aus?“
„Generell hätte ich schon Interesse, möchte aber Daniel nicht verärgern.“
Daran hätte er denken müssen. Emmanuel war einfach zu gut für diese Welt. „Wenn sich Daniel davon geärgert fühlt, dass du mich begleitest, hat er selbst schuld.“
„So einfach ist das nicht. Immerhin arbeiten wir zusammen.“
„Dann hol dir deinen Segen, bevor du zusagst.“
„Okay. Gute Idee. Ich rufe ihn gleich mal an. Schließlich gibt es einiges vorzubereiten, wie haufenweise Reiselektüre kaufen und so“, erwiderte Emmanuel.
„Hast du keinen Reader? Außerdem gibt’s in Wittdün einen Buchladen.“
„Trotzdem muss ich mich um einiges kümmern, jemanden finden, der meine Pflanzen gießt und den Briefkasten leert.“
„Frag doch Marcus. Der macht mit Kim Urlaub auf der Terrasse.“
„Das werde ich tun. Ich melde mich, sobald ich alles geregelt habe. Bis später.“
„Bis später“, murmelte George, beendete die Verbindung und legte das Gerät zurück auf den Tisch. Hoffentlich machte Daniel keinen Aufstand. Davon würde sich Emmanuel garantiert beeindrucken lassen und absagen. Sollte er für den Notfall bei Jeremy anfragen? Ach nein, besser abwarten. Von allen möglichen Kandidaten war ihm Emmanuel der liebste.
Der Rückruf erfolgte erst abends. Gerade kochte er ein paar Nudeln, dazu eine Gemüse-Bolognese, (ab und zu befand er sich auf dem vegetarischen Trip), als es in seiner Gesäßtasche vibrierte. Er fischte das Smartphone heraus und klemmte es sich zwischen Schulter und Ohr, wobei er weiter in der Pfanne rührte. „Und?“
„Alles paletti. Daniel hat mir viel Spaß gewünscht und Marcus übernimmt den Facility-Service.“
„Wunderbar. Wollen wir uns vorher treffen?“
„Gern. Wie wäre es mit morgen zum Brunch?“, schlug Emmanuel vor.
„Das passt. Um elf im Schach-Café?“
„Da ist es immer so laut. Lass uns lieber ins Café May gehen.“
„Okay. Bestellst du einen Tisch?“
„Mach ich. Bis morgen“, verabschiedete sich Emmanuel und legte auf.
Am nächsten Tag betrat George um fünf vor elf das Lokal. Eine Bedienung zeigte ihm den reservierten Platz und fragte nach seinen Getränkewunsch. Mit einem Cappuccino, den sie ihm über den Tresen gereicht hatte, setzte er sich an den Tisch, der sich im hinteren Bereich befand. Dort standen alte Couchgarnituren, wie er sie von seinen Großeltern kannte.
Punkt elf tauchte Emmanuel auf, schaute sich um, entdeckte ihn und winkte ihm lächelnd zu. Ebenfalls mit einem Getränk ausgestattet, nahm er wenig später neben George Platz. „Morgen.“
„Morgen“, gab er zurück. „Ich hatte ganz vergessen zu erwähnen, dass es nur ein Doppelbett gibt.“
„Kein Problem, so lange ich unten liegen darf.“
George blinzelte. „Bitte?“
„Das war ein Scherz. Ich hab letztes Mal doch auch das untere Bett gehabt.“
„Ach so. Dachte schon, das wäre ein Hinweis auf deine sexuellen Vorlieben.“
Emmanuel zuckte die Achseln. „Das trifft schon zu.“
„So genau wollte ich das nicht wissen.“
„Dann vergiss es wieder. Ich hol mir mal was zu beißen“, erwiderte Emmanuel, erhob sich und bot an: „Soll ich dir was mitbringen?“
„Danke. Ich geh gleich selbst.“
Während sich Emmanuel zum Buffet begab, beobachtete George die anderen Gäste. Es handelte sich überwiegend um junge Paare mit Nachwuchs im Babyalter. In der Nähe musste ein Nest sein. Als Emmanuel zurückkehrte, stand er auf und lud ebenfalls einen Teller voll.
„Also, nun erzähl mal. Wo genau geht’s hin?“, fragte Emmanuel, sobald er wieder saß.
„Nach Wittdün in das Appartement, das Marcus und Kim so gefallen hat.“
„Das ist das Dorf am Anleger, richtig?“
„Genau.“ George belud eine gebutterte Brötchenhälfte mit Marmelade und biss hinein.
Da auch Emmanuel mit Essen beschäftigt war, schwiegen sie erstmal. Gegenüber versuchte ein Pärchen, den Nachwuchs davon abzuhalten, die Couchlehne anzuknabbern. Neben ihnen kreischte ein Kleinkind vor Vergnügen, weil der Vater Hoppe-Hoppe-Reiter mit ihm spielte. Vielleicht sollten sie sich für ihren nächsten Besuch in diesem Etablissement eine Babypuppe kaufen, um sich der Allgemeinheit anzupassen. George liebte Kinder und hätte nichts gegen eigene, Daniel war vehement dagegen. Nun ja … in Anbetracht der mangelnden körperlichen Notwendigkeiten für eine Schwangerschaft fiel das ja eh aus.
„Hast du denn schon Pläne, wie du deinen Urlaub verbringen möchtest?“, ergriff Emmanuel wieder das Wort, als ihre Teller leergegessen waren.
„Eigentlich möchte ich nur relaxen. Ein paar Sachen hab ich natürlich schon mal recherchiert, schließlich sind zwei Wochen lang“, erwiderte George, holte sein Smartphone hervor und rief seine Notizen auf. „Direkt neben unserem Domizil gibt es einen Fahrradverleih. Die Insel ist circa zehn Kilometer lang, wofür wir damit ungefähr eine Dreiviertelstunde brauchen, sofern wir uns nicht hetzen. Am Ortseingang von Norddorf befindet sich ein Minigolfplatz, außerdem kann man um das Naturschutzgebiet Odde wandern …“
„Merk dir, wo du warst“, unterbrach ihn Emmanuel und stand auf, den leeren Teller in der Hand. „Ich hol mir kurz Nachschub.“
„Bringst du mir bitte einen Fruchtquark mit?“
Emmanuel nickte und ging zum Buffet. Bei einer vorbeieilenden Kellnerin bestellte George unterdessen zwei Milchkaffees. Da Emmanuel zuvor einen getrunken hatte, ging er davon aus, dass ein zweiter willkommen war. Während er auf seinen Quark wartete, scrollte er durch seine Notizen. In Wittdün gab’s zwei Supermärkte, womit die Nahversorgung gesichert war, im Appartement Internetanschluss, um sich Lesestoff zu besorgen. Außerdem befanden sich noch viele andere Läden an der Hauptstraße, unter anderem ein Buchgeschäft. Selbst bei schlechtem Wetter war also für Unterhaltung gesorgt. Sofern es dermaßen heiß blieb, konnten sie eine Fahrt nach Hallig Hooge und Langeness unternehmen. Bekanntermaßen war es auf dem Wasser etwas kühler, zudem reizte es ihn diese einsamen Landstriche anzugucken.
Emmanuel stellte das Gewünschte vor ihm ab und ließ sich wieder neben ihm nieder. Gleich darauf brachte die Bedienung ihre Getränke. Erneut widmeten sie sich ihrem Essen, bevor George fortfuhr: „Ich hab einige Unternehmungen zusammengestellt, für den Fall, dass uns die Decke auf den Kopf fällt. Den Rest können wir aber vor Ort besprechen.“
„Gute Idee“, stimmte Emmanuel zu, nahm einen Schluck Milchkaffee und leckte sich den Schaum von der Oberlippe. „Kommt Strandliegen auch in deiner Liste vor?“
„Nein. Das ist doch selbstverständlich.“ Täuschte das, oder grinste Emmanuel in sich rein?
„Gibt es irgendwas zu beachten? Bist du Vegetarier?“
„Nur phasenweise. Momentan stehe ich nicht auf Fleisch.“
„Möchtest du über Daniel reden?“, erkundigte sich Emmanuel sanft.
„Ähm … nein. Fange ich erstmal damit an, höre ich bestimmt gar nicht wieder auf, also lassen wir es gleich.“
„Wie du meinst. Wenn du doch Redebedarf hast, sag einfach Bescheid.“
„Danke. Und du bremst mich, wenn ich dir mit dem Scheiß auf den Wecker falle.“
„Klaro“, winkte Emmanuel ab. „Darüber mach dir keine Gedanken.“
Ihre Unterhaltung wandte sich anderen Themen zu. Emmanuel berichtete, dass wieder mehrfach Feigwarzen auftraten. Manchmal fand George es ganz schön abartig, worüber Ärzte beim Essen sprachen. Anscheinend hatte der Vater gegenüber etwas aufgeschnappt, denn der Typ runzelte die Stirn und betrachtete sie aus zusammengekniffenen Augen. Entweder dachte er darüber nach, ob sie pervers waren oder hatte selbst solche Dinger am Arsch. Na ja, vielleicht auch beides.
Gegen eins verließen sie das Lokal und verabschiedeten sich mit kumpelhaftem Schulterklopfen. Umarmungen waren Treffen in internen Kreisen vorbehalten.
Texte: Sissi Kaiserlos
Bildmaterialien: depositphotos, shutterstock
Cover: Lars Rogmann
Lektorat: Aschure - dankeschön
Tag der Veröffentlichung: 05.01.2019
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