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Arztromane 8 - Amrum Spezial

 

 

Sämtliche Personen, Orte und Begebenheiten sind frei erfunden, Ähnlichkeiten rein zufällig. Der Inhalt dieses Buches sagt nichts über die sexuelle Orientierung des Covermodels aus. Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck oder eine andere Verwertung, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung der Autorin. E-Books sind nicht übertragbar und dürfen nicht weiterveräußert werden. Bitte respektieren Sie die Arbeit der Autorin und erwerben eine legale Kopie. Danke!

Text: Sissi Kaiserlos

Foto von shutterstock, depositphotos – Design Lars Rogmann

Korrektur: Aschure. Danke!

Kontakt: http://www.bookrix.de/-sissisuchtkaiser/


Alte Liebe rostet nicht

Marcus, Allgemeinmediziner, ist seit vier Jahren Single. Davor war er lange mit Kim, Heilpraktiker, fest liiert. Die ganze Zeit hat er es geschafft, seinem Ex aus dem Weg zu gehen, doch dann treffen sie unerwartet wieder aufeinander. Die Dinge entwickeln sich ebenso überraschend. Ein Kurztrip nach Amrum, zum Biikebrennen, bringt neue Erkenntnisse.

~ * ~


1.

Mit Unbehagen sah Marcus aus dem Fenster. Nieselregen bei Temperaturen um den Gefrierpunkt. Okay, immer noch besser als Schnee, aber auf Blitzeis konnte er ebenfalls gut verzichten. Warum musste sein Kollege und guter Freund George ausgerechnet heute Geburtstag haben?

Er riss sich zusammen. Gleich kam das bestellte Taxi und wenn die Feier nicht wäre, würde er den Abend allein auf der Couch verbringen. Keine erquickliche Alternative. Zwar liebte er Ruhe, doch seine eigene Gesellschaft hatte auf Dauer destruktiven Charakter.

Ein letztes Mal sah er in den Spiegel neben der Garderobe. Allmählich wurden aus den vereinzelten silbernen Strähnen ganze Partien. Bei Typen wie Sean Connery fand er das sexy, aber bei ihm wirkte das schlicht alt. Tja. Genau deswegen hatte Kim ihn vor vier Jahren verlassen. Also, nicht wegen der grauen Haare, sondern für einen Jüngeren. Das wusste er allerdings nur vom Hörensagen.

Er schlang sich einen Schal um den Hals, schlüpfte in eine Jacke und ging erneut in die Küche, um nach dem Taxi Ausschau zu halten. Der Wagen hielt gerade vorm Haus. Nachdem er sich den Beutel mit dem Geschenk geschnappt und Hermine, seiner Katze, Tschüss gesagt hatte, schloss er sorgfältig ab und trat durch die Haustür nach draußen. Der Regen suchte sich diesen Moment aus, um zu einem ordentlichen Guss zu werden. Leise fluchend rannte er zum Taxi, kletterte auf die Rückbank und nannte dem Fahrer Georges Adresse.

Während der Wagen durch Winterhudes Häuserschluchten fuhr, betrachtete er die vereinzelt am Straßenrand stehenden Baumgerippe. Januar und Februar gehörten für ihn zu den scheußlichsten Monaten des Jahres. Alles wirkte kalt und grau, nirgendwo ein Farbklecks, ausgenommen irgendwelcher Müll. Im Dezember gab es wenigstens Weihnachtsbeleuchtung, die aber im Laufe der letzten drei Wochen verschwunden war. Nur gelegentlich hing noch eine vergessene Lichterkette an einem der Fenster.

Nach wenigen Minuten Fahrtzeit hielt das Taxi am Bordstein. Marcus zahlte, stieg aus und hastete zum Hauseingang. Weiterhin goss es in Strömen. Hoffentlich hatten sie in drei Wochen, beim Biikebrennen auf Amrum, besseres Wetter. Falls nicht, würde der Kurzurlaub bestimmt zum Horrortrip ausarten. Drei Tage eingesperrt in einem Ferienhaus, zusammen mit sieben Medizinern - das endete doch in einem Massaker.

Auf sein Läuten hin ertönte das Summen des Türöffners. Im Treppenhaus sah er unschlüssig zwischen Lift und Stufen hin und her und entschied sich mal wieder für die sportliche Variante. Diesen nachträglich eingebauten Dingern misstraute er. Was, wenn man in solchem altertümlichen Teil steckenblieb? Es besaß zwar einen Alarmknopf, aber funktionierte der überhaupt?

Georges Wohnungstür im zweiten Stock stand offen. Er hörte Stimmen und leise Musik. Im Flur stellte er seinen Beutel auf die Garderobe, hängte seine Jacke an einen Haken und spähte in die Küche. George werkelte mit Vera, Urologin und Kollegin von Georges on-off Freund Daniel, darin herum.

Mit den Worten: „Herzlichen Glühstrumpf, mein Lieber“, betrat er den Raum.

„Danke.“ George legte das Brotmesser beiseite und ließ sich umarmen.

„Soll ich dein Geschenk, einen 2010 Brunello di Montalcino, den Säuen vorwerfen oder lieber für dich verstecken?“

„Oh! Den gib mal her. Der ist viel zu kostbar für die Banausen“, bat George mit leuchtenden Augen.

„Das hab ich gehört“, meinte Vera grinsend, bot ihm die Wange für einen Kuss und fuhr fort, Mixed Pickles in Schälchen zu füllen.

Er holte die eingewickelte Flasche, überreichte sie George und fragte pflichtschuldig: „Soll ich was helfen?“

„Nö. Wir kommen klar“, erwiderte Vera.

Nach einem neugierigen Blick in die beiden Töpfe, die auf dem Herd standen, (Gulasch und ein heller Eintopf, vermutliche Hühnerfrikassee) schlenderte er ins Wohnzimmer, wo eine Tafel aufgebaut war. Daniel, ein Glas Wein in der Hand, unterhielt sich mit Amir und Finn. Berit, welche mit George und ihm die Gemeinschaftspraxis betrieb, befand sich auf dem Balkon und rauchte.

Er begrüßte Daniel mit einem Schulterklopfen, die beiden anderen per Handschlag und begab sich nach draußen. „Hast du auch eine für mich?“

Berit stieß eine Rauchwolke aus. „Vergiss es. Du bist seit Jahren clean.“

„Vielleicht möchte ich wieder anfangen.“

„Unsinn.“ Sie drückte ihre Kippe im Blumenkasten aus und rieb sich fröstelnd über die Arme. „Lass uns reingehen. Ich frier mir den Arsch ab.“

Berits burschikose Ausdrucksweise hatte ihn von Anfang an für die Frau eingenommen. In der Praxis mäßigte sie sich, um die Patienten nicht zu verunsichern, doch privat nahm sie kein Blatt vor den Mund. Er folgte ihr zurück ins Wohnzimmer, in dem inzwischen zwei neue Gäste eingetroffen waren: Emmanuel, ein Kollege von Daniel, und Giovanni, ein ehemaliger Kommilitone. Die Türklingel kündigte weiteren Besuch an, als er den zweien die Hand schüttelte.

„Sag mal …“ Berit zog ihn am Ärmel von den anderen weg und fuhr leise fort: „Hat George dir gesagt, wen er noch eingeladen hat?“

„Nein. Wieso?“

„Kim kommt mit seinem aktuellen Lover.“

Bei der Erwähnung seines Ex zuckte Marcus leicht zusammen. „Na und? Das mit ihm ist eine halbe Ewigkeit her.“

„Wollte es nur erwähnen, damit du nicht aus den Latschen kippst“, erwiderte Berit. „Falls du einen Vorwand brauchst, um abzuhauen, kann ich gern so tun, als ob ich meine Tage bekomme.“

Marcus zog eine übertrieben angeekelte Grimasse. „Bitte nicht solche Themen vorm Essen.“

„Blödmann“, murmelte Berit, verpasste ihm einen spielerischen Klaps gegen den Arm und gesellte sich wieder zu den anderen.

Seit ihrer Trennung hatte er Kim nicht mehr direkt gegenübergestanden, obwohl sie im gleichen Freundeskreis verkehrten. Anfangs waren ihre Freude so rücksichtsvoll gewesen, sie nie zusammen einzuladen. Später hatte er immer dann, wenn er erfuhr, dass Kim kommen würde, irgendeine Ausrede erfunden. Wahrscheinlich war das der Grund, weshalb George nichts davon erwähnt hatte.

Innerlich angespannt, äußerlich betont gelassen, stellte er sich neben Berit und gab vor, der Unterhaltung zu folgen. In Wirklichkeit behielt er den Türrahmen im Auge. Als Jeremy, ein Kumpel aus Studienzeiten, anstelle der befürchteten Gestalt hereinkam, atmete er auf. Im nächsten Moment tauchte Kim auf, einen blonden Schönling im Schlepptau, woraufhin er erneut zusammenzuckte.

Sein Ex hatte sich kein Stück verändert, stellte er fest. Alterten Mischlinge denn gar nicht? Kims Mutter stammte aus Korea, daher die Mandelaugen, pechschwarzen Haare und der olivfarbene Teint. Vom Vater hatte Kim nur den Nachnamen und Schwanz abbekommen. Witziger Weise erinnerte sich Marcus noch genau, wie das Teil aussah, trotz der vier Jahre, die dazwischen lagen. Er hätte eindeutig mehr herumvögeln sollen, um den Anblick zu vergessen.

„Setzt euch“, rief Vera und erschien mit einem Topf in den Händen, den sie auf einer der Wärmeplatten abstellte und wieder davoneilte.

Die Gäste verteilten sich an der Tafel. Berit bugsierte ihn zu einem Platz, ließ sich neben ihm nieder und flüsterte: „Also, allzu intelligent sieht Blondie nicht aus. Na ja, dumm bumst eben gut.“

„Sei nicht so gehässig“, gab er ebenso leise zurück.

„Ts. Stell dich nicht so an.“

„Ich bin bloß fair.“

„Wozu? Willst du dir damit eine Medaille verdienen?“, fragte sie mit hochgezogenen Brauen.

Daniel, der herumging und Wein verteilte, beendete ihre Unterhaltung. „Weiß oder rot?“

„Ich hätte lieber Bier“, bat Berit und Marcus: „Ich nehme roten.“

Glücklicherweise saß Kim am anderen Ende der Tafel, dazu noch auf seiner Seite, also außerhalb seines Blickfeldes. Dennoch war sich Marcus der Gegenwart seines Ex deutlich bewusst. Während um ihn herum alle plauderten und aßen, wanderten seine Gedanken zurück zu dem Tag, an dem er Kim kennengelernt hatte; dabei stocherte er auf seinem Teller herum und steckte sich den einen oder anderen Bissen in den Mund, ohne etwas zu schmecken.

Vor zwölf Jahren, auf einer Party, hatte er Kim getroffen. Zwischen ihnen waren gleich Funken geflogen. In derselben Nacht landeten sie zusammen im Bett. Er erinnerte sich an Einzelheiten, wie Kims atemloses, raues Lachen und schimmernde Haut im Schein der Nachttischlampe. Es folgten noch mehr Nächte, Kino-, Club- und Restaurantbesuche, ihre erste gemeinsame Reise. Danach beschlossen sie zusammenzuziehen. Ihre wilde Ära war vorbei, also ein guter Zeitpunkt, um sesshaft zu werden.

Sie harmonierten wunderbar, nicht nur sexuell. Kim teilte seinen Humor, Filmgeschmack und las die gleichen Bücher wie er. Nur ab und zu gerieten sie sich in die Haare, wenn er auf der Couch hängen und sein Partner losziehen wollte. Manchmal blockte er, manchmal ging er Kim zuliebe mit. Diese Differenzen stellten keine Belastung für ihre Beziehung dar, jedenfalls nach seiner Meinung.

Das verflixte siebte Jahr überstanden sie schadlos, doch im achten krachte es gewaltig. Vielleicht litt Kim an einer Art vorzeitigen Midlifecrisis, vielleicht reichte ihre Liebe doch nicht für ein ganzes Leben. Streit häufte sich und Kim zog immer öfter allein durch die Clubs. Bei solcher Gelegenheit geschah es: Kim ging fremd. Der Rest passierte im Zeitraffer. Plötzlich hatte Kim eine eigene Wohnung und verließ ihn mit den Worten: „Tut mir leid. Ich hab einen anderen.“

Acht Jahre Partnerschaft waren mit zwei Sätzen beendet. Marcus stand fassungslos vor den Trümmern und fragte sich, ob er irgendwelche Anzeichen übersehen hatte. Die Wäre-Hätte-Phase überstand er nur mithilfe eines Therapeuten. Inzwischen ging er zwar noch regelmäßig zu Dr. Brunner, doch es waren eher Freundschaftsbesuche. Niemand wusste davon, sonst würden Ging-ein-Arzt-zum-Arzt-Witze auf jeder Feier kursieren. In ihren Kreisen war man diesbezüglich nicht zimperlich.

„Erde an Marcus“, drang Berits Stimme zu ihm durch.

„Hm? Was ist denn?“

„Du starrst seit einer Weile deinen leeren Teller an. Ist das eine neue Form von aus-Kaffeesatz-lesen?“

„Sehr witzig.“ Er bedachte sie mit einem schiefen Grinsen, füllte sich eine halb Kelle Gulasch auf und griff nach einer Scheibe Weißbrot. „Was macht eigentlich dein Liebesleben?“

Berit winkte ab. „Nicht der Rede wert. Mein letzter Lover ist mit fliegenden Fahnen zurück zu Mutti, als die ihm mit Scheidung gedroht hat.“

„Mutti?“

„Seine holde Gattin ist zwanzig Jahre älter als er.“ Sie schob sich einen Löffel Hühnerfrikassee in den Mund.

„Ach so. Eine Zwangsehe, des Geldes wegen?“

Kauend nickte Berit.

„Wenn ich einen Typen mit den Traummaßen 90-60-40 fände, würde ich auch zuschlagen.“

„Pft“, machte Berit. „Heutzutage werden die Leute dank moderner Medizin viel zu alt. Denk nur an den Heesters. Fast zwanzig Jahre musste die arme Simone auf ihr Erbe warten.“

„Bedauernswert“, stimmte Marcus zu. „Bist du eigentlich zum Biikebrennen mit von der Partie?“

Sie verdrehte die Augen. „Klar. Ich kann mir doch ein Feuerchen bei zünftiger Blasmusik und Glühwein nicht entgehen lassen.“

„Du hast die Erbsensuppe vergessen.“

„Wie konnte ich nur?“ Berit seufzte theatralisch. „Sollte ich mal austesten, ob Blondie bi ist?“, überlegte sie laut.

„Nur zu.“ Er zwinkerte ihr zu. „Meinen Segen hast du.“

Amir, der ihnen gegenüber saß und bisher mit Jeremy geplaudert hatte, mischte sich ein: „Wofür hat Berit deinen Segen?“

„Für einen Friseurbesuch“, log er geistesgegenwärtig. „Sie überlegt, sich einen Irokesen schneiden zu lassen.“

„Krass“, meinte Amir. „Den Mut hätte ich nicht.“

Während sich Amir und Berit über das Für und Wider eines Styling-Wechsels unterhielten, spähte Marcus an ihr vorbei, um einen Blick auf Kim zu erhaschen. Der sah in genau dem Moment rüber zu ihm. Rasch guckte er weg. Eine Reaktion, für die er sich innerlich einen Tritt in den Hintern verpasste. So benahmen sich doch nur Teenager in der Blüte ihres Hormonüberschusses.

Im Laufe der nächsten halben Stunde löste sich die Tafel auf. Vera und Daniel halfen George beim Abräumen, Berit ging rauchen, Jeremy verzog sich mit Kim und Blondie auf die Couch und der Rest blieb sitzen. Marcus schloss sich Berit an, die ihm wortlos eine Kippe anbot. Kopfschüttelnd lehnte er ab.

„Wegen des Biikebrennens: Man sagt, dass die Frauen früher diese Feuer entzündeten, um ihren Liebhabern am Festland freie Bahn zu signalisieren. Ihre Ehemänner waren nämlich zuvor zum Walfang aufgebrochen.“ Berit produzierte einen perfekten Rauchkringel. „Meinst du, da ist was dran?“

„In Überlieferungen steckt immer ein wahres Korn. Wer hätte sonst die ganze Feldarbeit erledigen sollen?“

„Manchmal beneide ich die Leute um ihr damaliges Leben. Das war garantiert hart, aber man hatte ganz andere Probleme als heutzutage. Es gab noch keine Diäten, Scheidungen sowieso nicht und um die Rente brauchte man sich keine Sorgen machen, weil man eh früh abkratzte.“

„Alles eine Frage der Betrachtung.“ Seufzend sah Marcus ins Wohnzimmer, wo Kim, der Blonde und Jeremy angeregt miteinander plauschten. „Kann ich auf dein Angebot zurückkommen? Ich muss hier weg.“

„Nö. Stell dich deinen Dämonen. Du bist schließlich erwachsen“, erwiderte Berit trocken, steckte die Kippe zu der anderen in den Blumenkasten und rauschte an ihm vorbei.

Vielleicht hatte sie wirklich ihre Tage, so launisch, wie sie sich verhielt. Marcus stopfte seine Hände in die Hosentaschen und blieb noch einen Augenblick draußen, bevor er ins warme Wohnzimmer zurückkehrte. Fieberhaft suchte er nach irgendeiner Ausrede, um sich bei George für seinen hastigen Aufbruch zu entschuldigen, doch ihm wollte keine einfallen. Außerdem - was machte er sich bloß vor? - wäre sowieso klar, dass er vor Kim flüchtete.

‚Auf in den Kampf‘, sprach er sich im Geiste Mut zu und gesellte sich zu der Gruppe auf der Couch, indem er im Sessel gegenüber Platz nahm.

Jeremy, der eine Allgemeinmedizinerpraxis in Duvenstedt betrieb, diskutierte mit Kim über alternative Behandlungsmethoden. Sein Ex hatte vor einiger Zeit ins Heilpraktiker-Fach gewechselt. Gelegentlich, wenn Marcus ratlos war, gab er Patienten Kims Praxisvisitenkarte. Er fand das fair, außerdem hatte Kim fachlich was drauf und konnte beachtliche Erfolge aufweisen. Ob diese Selbstheilungskräften oder der fernöstlichen Medizin zuzuschreiben waren, stand auf einem anderen Blatt.

„Was sagst du dazu?“, wandte sich Jeremy unversehens an ihn.

Es ging um einen Patienten mit Krebsdiagnose, bei dem die Schulmedizin versagte. „Sofern dem Mann dadurch kein Schaden entsteht: Warum nicht?“

Der Blonde musterte ihn neugierig. Bestimmt hatte Kim auf ihr Verhältnis hingewiesen. Die beiden saßen nah beieinander, hielten aber Gottseidank nicht Händchen. Solche Zurschaustellung von Glück hätte bei Marcus Kotzreiz ausgelöst.

„Der größte Schaden ist das Loch im Geldbeutel, mit dem die Patienten meine Praxis verlassen“, witzelte Kim und fügte hinzu, kurz den Blick auf den Blonden gerichtet: „Übrigens arbeite ich oft mit Bryan zusammen. Seine Massagen mobilisieren Kräftereserven.“

So hieß der Typ also. ‚Spricht Kim von Schwanzmassagen?‘, dachte Marcus spöttisch.

„Interessant“, meinte Jeremy, an Bryan gewandt. „Betreibst du eine eigene Praxis?“

„Nein. Ich bin fest in Teilzeit angestellt und arbeite sonst auf Honorarbasis.“

„Manchmal massiert Bryan im Mens Heaven am Steindamm. Da hab ich ihn kennengelernt“, erzählte Kim.

Seit wann ging sein Ex in die Sauna? Normalerweise mied Kim solche Orte, genau wie Schwimmbäder, wegen der Keime.

„Aha. Erotische Massagen?“, wollte Jeremy wissen.

„Es passiert schon, dass die Typen dabei einen Ständer bekommen, aber ich beschränke mich auf den oberen Bereich“, antwortete Bryan.

Marcus beschloss, genug für die Völkerverständigung getan zu haben. „Dann viel Spaß noch. Ich muss leider los. Eigentlich gehöre ich ins Bett, Magen-Darm-Virus, und hab mich nur George zuliebe aufgerafft herzukommen.“

Er sprang auf, fand George im Flur und behauptete, unter Kopfschmerzen zu leiden. Flink schlüpfte er in seine Jacke und verließ die Wohnung. Erst auf der Treppe fiel ihm ein, dass er seinen Schal vergessen hatte. Egal. Den konnte George ihm Montag mitbringen.



2.

Bedauernd sah Kim seinem Ex hinterher. Er hatte gehofft, ein paar Worte unter vier Augen mit Marcus wechseln zu können. Die nächste Gelegenheit ergab sich wohl erst wieder in vier Jahren, so wie er Marcus‘ Fähigkeit ihm auszuweichen einschätzte. Natürlich könnte er einfach anrufen und um ein Treffen bitten, zweifelte aber stark, dass Marcus dem zustimmte.

Jeremy stand auf und ging zu den anderen, so dass sie allein auf der Couch saßen.

„Mit dem warst du mal zusammen?“, flüsterte Bryan in sein Ohr. „Ganz schön heiß, der Typ.“

Mit den silbernen Schläfen und Fältchen in den Augenwinkeln wirkte Marcus tatsächlich noch attraktiver als damals. Ansonsten hatte sich sein Ex kaum verändert. Immer noch die gleiche, überaus schlanke Figur, wachen hellblauen Augen und Angewohnheit, bei Nervosität mit den Füßen zu wippen.

„Willst du dein Glück bei ihm versuchen?“, gab Kim ironisch zurück.

Bryan schmollte. „Quatsch! Das war doch nur eine Anmerkung.“

Lächelnd beugte er sich vor und küsste Bryans vorgeschobene Unterlippe. „Und ich hab bloß einen Scherz gemacht.“

Sie begaben sich zu den anderen, die am Tisch saßen und über einen anstehenden Kurztrip sprachen. Kim füllte sein Weinglas neu und schenkte auch Bryan etwas ein, wobei er aufmerksam lauschte. Offenbar sollte es nach Amrum gehen.

„Was wollt ihr denn im Februar an der Nordsee?“, mischte er sich ein.

„Uns das Biikebrennen angucken“, erklärte Vera. „Das ist wie Osterfeuer, bloß früher im Jahr.“

„Offenes Feuer. Wie aufregend“, spottete Bryan.

„Es geht nicht vorrangig ums Feuer, sondern darum, sich ein bisschen frischen Wind um die Nase wehen zu lassen“, erwiderte Vera. „Früher sind wir in großen Gruppen nach Dänemark gefahren. Nun ist mal eine Nordseeinsel dran.“

An die Dänemarkreisen erinnerte sich Kim gern. Dreimal war er mit Marcus dabei gewesen, als es zu Silvester in den Norden ging. In Ferienhäusern mit Schwimmbad und Whirlpool hatten sie mit zehn und mehr Personen eine Menge Spaß gehabt.

„Ihr habt nicht zufällig noch zwei Plätze frei?“, erkundigte er sich.

„Sorry. Alle Schlafplätze sind ausgebucht“, gab Berit mit - wenn ihn nicht alles täuschte - gewisser Genugtuung zurück.

„Ein Glück“, murmelte Bryan.

Das Gespräch wandte sich anderen Themen zu. Jeder hatte irgendeine Anekdote zu berichten, und am besten vermochten Daniel und Amir, solche wiederzugeben. Ein Lacher und Glas Wein folgte dem nächsten. So verrann die Zeit im Nu.

Gegen zwölf machten die ersten Gäste Anstalten aufzubrechen. Bryan, der schon seit einer Weile unterm Tisch an seinem Bein herumfummelte, warf ihm auffordernde Blicke zu. Eigentlich wollte Kim noch auf ein Gläschen bleiben, gab jedoch nach. Bryan zu verärgern bedeutete: Kein Sex. Diesbezüglich war sein Lover eine echte Diva. Einmal eingeschnappt brachte Bryan es fertig, ihn eine ganze Woche wie Luft zu behandeln.

Zusammen mit Berit, Vera und Emmanuel verließen sie die Wohnung. Unten angekommen, verabschiedeten sie sich von den dreien, die nach einem Taxi Ausschau hielten. Kim wohnte nur wenige Straßen entfernt, daher gingen sie zu Fuß.

Bryan, beide Hände in den Jackentaschen vergraben, meinte: „Das war nicht dein Ernst mit den freien Plätzen, oder?“

„Ich hab schon begriffen, dass du keine Lust auf den Ausflug hast.“

„Hier ist es schon arschkalt, aber auf Amrum …“ Bryan zog die Schultern hoch. „Da frieren einem doch die Eier ab.“

„Das hat sich erledigt, wie du gehört hast.“

„Könnte ja sein, dass du planst dort ein Zimmer anzumieten, oder so.“

Mit dem Gedanken hatte er tatsächlich gespielt. „Käme mir nie in den Sinn.“

„Dann ist ja gut“, brummelte Bryan und hüllte sich den Rest des Weges in Schweigen.



Sonntags spukte die Sache mit dem Amrumtrip noch in Kims Kopf herum, doch am Montag geriet sie in Vergessenheit. Wie immer an diesem Tag, war das Wartezimmer proppenvoll. In den ersten drei Monaten des Jahres - genau wie in den letzten - häuften sich grippale Infekte. Kim hatte alle Hände voll zu tun, um den Ansturm zu bewältigen.

Auch in den folgenden Tagen rannten ihm die Leute die Tür ein. Entsprechend froh war er, als das Wochenende nahte. Er nahm sich fest vor, über die Aufnahme eines Kollegen nachzudenken. Finanziell würde das passen. Kims Wohnung war bezahlt und sein Einkommen derart hoch, dass er plante, aus steuertechnischen Gründen eine zweite Immobilie anzuschaffen. Die Mieteinkünfte sollten zudem später seine Alterssicherung darstellen.

Freitagnachmittag, als die Sprechstunde vorbei und der Papierkram erledigt war, beschäftigte er sich also mit der Suche nach Unterstützung. Im Ärzteblatt überwogen Anzeigen, in denen Praxen zur Übernahme oder Nachfolger gesucht wurden. Kim wollte sowieso lieber jemanden dazu nehmen, den er kannte. Giovanni oder Jeremy wären seine Wunschpartner, doch beide besaßen keine Zusatzqualifikation. Außerdem würde Jeremy die lukrative Praxis in Hamburgs Speckgürtel sowieso nicht aufgeben.

Schließlich legte er die Sache wieder zu den Akten, räumte auf und schloss die Praxis ab. Leichtes Schneegestöber hatte eingesetzt. Eine pulvrige Schicht Weiß bedeckte den Bürgersteig, wie er mit einem Blick durchs Fenster auf dem ersten Treppenabsatz feststellte. Froh darüber, das Haus nicht verlassen zu müssen, erklomm er die Stufen in den ersten Stock.

Im Flur schlüpfte er aus seinen Schuhen, ging ins Bad und streifte dabei den weißen Kittel ab. Seine restlichen Klamotten landeten ebenfalls auf dem Boden, bevor er in die Duschkabine stieg. Heißes Wasser sorgte für Entspannung. Er benutzte verschwenderisch viel Seife und Shampoo und rasierte sich gründlich im Intimbereich. Vorm Spiegel am Waschbecken kümmerte er sich anschließend um die wenigen Stoppeln am Kinn. Schließlich wollte er Bryan, der später vorbeikommen würde und auf so etwas akribisch achtete, nicht abstoßen.

Apropos: Ihr Verhältnis war in letzter Zeit ziemlich angespannt. Kim ahnte, woran das lag. Vermutlich lauerte Bryan darauf, dass sich ihre Beziehung entwickelte, beispielsweise indem sie zusammenzogen. Eventuell irrte er sich jedoch und die Ursache war eine ganz andere. Vielleicht hatte ihre Liaison einfach das Verfallsdatum erreicht, so, wie es mit denen davor geschehen war. Gleichgültig wäre ihm das nicht, weil er Bryan mochte, aber nur auf lauwarme Art. Das zwischen ihnen beschränkte sich auf Sex und belangloses Geplauder, genau wie bei seinen vorherigen Lovern.

In seinen Bademantel gehüllt ließ er sich auf der Couch im Wohnzimmer nieder. Gerade hatte er seine Füße auf den Couchtisch gelegt, als der Festanschluss läutete. Murrend stand er wieder auf, holte das Mobilteil und bellte hinein: „Ja?“

„Hi, hier ist George. Hast du immer noch Interesse, an dem Amrumtrip teilzunehmen?“

„Ähm … ja. Wieso?“

George seufzte. „Daniel ist abgesprungen.“

„Ach? Macht ihr mal wieder Beziehungspause?“ Keine Seltenheit bei den beiden.

„Diesmal ist es wohl ernst.“

Das sagte George jedes zweite Mal. „Ich würde gern mitkommen, allerdings ohne Bryan. Der hat Angst vor der Kälte.“

„Es ist eh nur ein Bett frei und sowieso besser, wegen Marcus, du weißt schon. Wahrscheinlich wird er mir den Kopf abreißen, wenn er davon erfährt.“

„Dann sag’s ihm lieber nicht vorher“, riet Kim.

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Sissi Kaiserlos
Bildmaterialien: depositphotos, shutterstock
Cover: Lars Rogmann
Lektorat: Aschure - dankeschön
Tag der Veröffentlichung: 23.01.2019
ISBN: 978-3-7438-9508-9

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