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Süßer die Glocken nie klingen

Vor Weihnachten neigte Roberto von Mierenbach stets zu Nachdenklichkeit. Manchmal war Geld eher ein Fluch als Segen. Welcher von seinen Freunden mochte ihn bloß wegen seiner Moneten? Das würde er wohl erst rausfinden, wenn er irgendwann unter einer Brücke landete. Nicht, dass er darauf scharf wäre. Im Laufe der Feiertage passierte einiges, das ihn dazu veranlasste, manche Dinge in anderem Licht zu sehen.

~ * ~

 

1.

Missmutig betrachtete Roberto den Kostenvoranschlag des Dachdeckerbetriebes. Verdammt! Er wollte kein neues Haus bauen, sondern bloß die Pfannen und Isolierung erneuern lassen. Zwar schwamm er in Geld, was aber nicht hieß, dass er es zum Fenster rauswarf. Apropos: Die mussten ebenfalls durch neue ersetzt werden.

Mit Schwung drehte er seinen Sessel herum und guckte nach draußen. Der Himmel war grau, passend zu seiner Stimmung. Wozu taugte der ganze Reichtum, wenn man davon keine gute Laune kaufen konnte? Ein Klopfen an der Bürotür veranlasste ihn, sich zurück zum Schreibtisch zu wenden. Seine rechte Hand, Ezekiel Rosenbaum, schaute herein.

„Ein Herr Janosch Fritz steht vor der Tür und behauptet, einen Termin mit dir zu haben“, verkündete Ezekiel.

Roberto runzelte die Stirn. Das war wohl der Typ, den sein Freund Gregor ihm auf den Hals hetzen wollte. Irgend so ein Sanitär-Fritze. „Okay. Lass ihn rein.“

Neulich hatte er sich mit Gregor und dessen Betthasen zum Essen getroffen. Dabei war er auf sein aktuelles Projekt zu sprechen gekommen, die Sanierung von drei Wohnblocks. Die Verwaltung seiner Immobilien überließ er seinen Angestellten, doch bei großen Investitionen mischte er selbst mit. Jedenfalls insoweit, dass hohe Ausgaben seiner Genehmigung bedurften. Vertrauen war gut, Kontrolle jedoch besser.

Gregors Partner kannte jemanden, der in einer Sanitärfirma arbeitete und meinte, dass dieses Unternehmen bestimmt ein günstiges Angebot unterbreiten würde. Eigentlich stand Roberto nicht auf solchen ich-kenne-einen-der-Kram, aber Gregor zuliebe wollte er sich den Typen zumindest mal ansehen. Wer wusste schon, wozu das gut war? Irgendwann benötigte er vielleicht einen Gefallen von Gregor und besaß dann ein geeignetes Druckmittel. So funktionierte die Welt nun mal.

Inzwischen war Ezekiel wieder verschwunden und mit einem Jungspund im Schlepptau zurückgekehrt. Der Typ trug einen Anzug von der Stange, hatte ein unverbrauchtes Gesicht - wie fast alle in diesem Alter - und ein schönes Lächeln.

„Herr Janosch Fritz“, meldete Ezekiel den Besucher formell.

„Setzen Sie sich“, forderte Roberto den Mann auf und an Ezekiel gewandt: „Bring uns bitte Kaffee.“

„Danke, für mich nicht. Wasser wäre mir lieber“, erwiderte Fritz.

Stumm neigte Ezekiel den Kopf und schloss die Tür hinter sich. Seit neuestem neigte sein Sekretär zu unterkühltem Verhalten. Wahrscheinlich hätte er besser die Finger von Ezekiel gelassen. Tja, dumm gelaufen. Notfalls musste er eine Personalentscheidung treffen, wenn sich Ezekiel noch weiter in die Rolle des verlassenen Liebhabers reinsteigerte.

Mittlerweile hatte Fritz auf dem Stuhl vorm Schreibtisch Platz genommen, eine Mappe auf dem Schoß. Wirklich ein hübsches Kerlchen. Braune Augen mit langen Wimpern, braver Seitenscheitel und - soweit er das erkennen konnte - eine schlanke, straffe Figur.

„Vielen Dank, dass Sie mich empfangen“, ergriff Fritz das Wort. „Bestimmt stehen bei Ihnen die Lieferanten Schlange. Umso mehr weiß ich es zu schätzen.“

Was für ein Schleimer. Innerlich verdrehte Roberto die Augen. „Reden wir nicht um den heißen Brei herum. Hat Gregor Sie über die Größenordnung des Projektes unterrichtet?“

„Selbstverständlich. Dreimal je fünfzig Wohneinheiten sind mit neuen Bädern auszurüsten. Ich habe …“ Ezekiels Eintreten unterbrach Fritz‘ Ausführungen. Mit übertrieben blasierter Miene stellte sein Sekretär eine Tasse Kaffee sowie ein Glas mit einem Fläschchen Mineralwasser auf den Tisch und ließ sie wieder allein. Fehlte nur noch, dass Ezekiel demnächst anfing, in Livree herumzulaufen. Also, heiß würde das bestimmt aussehen, nur war sein Interesse leider erloschen.

Fritz schenkte sich Wasser ein, trank einen Schluck und begann von neuem: „Ich habe einige Kataloge und Preislisten mitgebracht, außerdem ein Unternehmensprofil, damit Sie wissen, mit wem Sie es zu tun haben.“

Bei diesen Worten holte Fritz Unterlagen aus der Mappe und legte sie auf den Schreibtisch. Mit einer Hand griff Roberto nach der Tasse, mit der anderen nach den Papieren. Während er an seinem Kaffee nippte, blätterte er in dem obersten Heftchen. Offenbar handelte es sich um einen Familienbetrieb, denn auf dem Titelblatt stand Sani-Fritz. Nicht sehr originell, andererseits auch ziemlich einprägsam. Schließlich hatte er den Typen insgeheim als Sanitär-Fritze bezeichnet. Laut der Broschüre lieferte die Firma das gesamte Portfolio, inklusive Montage.

„Ist das nicht eine Nummer zu groß für Ihre Klitsche?“, merkte Roberto mit hochgezogenen Augenbrauen an.

„Wir arbeiten mit etlichen Meisterbetrieben zusammen.“

„Hm“, machte er, schob das Heft beiseite und guckte in die Kataloge. Der eine beinhaltete Standardelemente, der zweite luxuriöse Ausführungen. „Was ist mit Fliesen?“

Wortlos zog Fritz eine weitere Broschüre aus der Mappe und reichte sie ihm über den Tisch. Im Grunde überflüssig, da Roberto eine weiße Standardfliese nehmen wollte, dennoch überflog er den Inhalt. Vielleicht sollte er über einen Farbwechsel nachdenken. Kackbraun wäre eine Option, da sah man den Schmutz nicht so schnell. Oder dunkelgrün? Er klappte den Katalog zu.

„Also gut. Ich brauche von Ihnen einen Kostenvoranschlag für die Elemente sowie sämtliche Klempnerarbeiten und was sonst noch so dazu gehört.“

„Für welche Serie? Oder soll ich verschiedene Varianten anbieten? Beinhalten die Bäder Duschen oder Wannen?“, erkundigte sich Fritz.

Gute Frage. Ehrlich gesagt hatte Roberto keine Ahnung. Was er allerdings wusste war, dass ihn dieser Fritz auf gewisse Weise reizte. Es juckte ihm in den Fingern, den Typen aus der Fassung zu bringen. „Ausschließlich Duschen“, behauptete er. „Was die Serie angeht: Nehmen Sie die günstigste und eine aus dem mittleren Preissegment. Spielt die Farbe eine Rolle?“

„Nein.“ Fritz beugte sich über den Tisch, schlug zielsicher eine Seite auf und wies auf eine ockerfarbene Kloschüssel. „Was halten Sie davon?“

„Sieht aus, als hätte da jemand reingekotzt.“

„Das ist die neueste Trendfarbe“, entgegnete Fritz ungerührt, blätterte weiter und zeigte auf ein hellblaues Waschbecken. „Wie ist es damit?“

„Nicht mein Geschmack. Belassen Sie es bei weiß. Das ist zeitlos“, entschied Roberto und schob sämtliche Unterlagen zurück zu seinem Gast. „Wir sollten das morgen Abend bei einem Essen näher besprechen.“

Fritz runzelte die Stirn, nickte aber. „Sehr gern.“

„Gut. Dann um sieben im Louis C. Jacob. Bitte erscheinen Sie in Abendgarderobe.“

Das Stirnrunzeln vertiefte sich. „Alles klar.“

„Das war ein Scherz. Ziehen Sie ruhig etwas Legeres an.“ Sein Gegenüber versuchte, ein Aufatmen zu verbergen, doch Roberto entging es nicht. Schmunzelnd lehnte er sich zurück. „Es könnte sein, dass unsere Besprechung etwas länger dauert. Nur vorab zur Info.“

Stumm nahm Fritz das zur Kenntnis, beförderte alle Unterlagen zurück in die Mappe und leerte das Glas. „Dann will ich Sie nicht weiter aufhalten.“

„Ezekiel bringt Sie raus.“ Roberto griff nach dem Telefonhörer und wählte eine interne Nummer. „Herr Fritz möchte gehen“, verkündete er, sobald Ezekiel abgenommen hatte.

„Sehr wohl, Herr von Mierenbach“, antwortete der Blödmann.

Kurz darauf hatte Roberto sein Büro wieder für sich allein. Als erstes nahm er Kontakt mit einem seiner Angestellten auf, um herauszufinden, was in den Bädern benötigt wurde. Der Mann schickte ihm unverzüglich eine Aufstellung per Mail. So ganz verkehrt hatte er mit seiner Annahme nicht gelegen. Bis auf zehn Wohnungen waren alle nur mit Duschen ausgestattet. Als nächstes rief er im Hotel Louis C. Jacob an und reservierte einen Tisch sowie ein Doppelzimmer. Letzteres für den Fall, dass der gute Herr Fritz bereit war, für einen lukrativen Auftrag die Beine breit zu machen oder eher auf alle Viere zu gehen. Roberto bevorzugte nämlich den Doggystyle.

Nachdem das erledigt war, wandte er sich wieder dem Dachdecker zu. Erneut nahm er den Telefonhörer in die Hand, diesmal um die Firma anzurufen und eine Überarbeitung der unverschämten Offerte zu fordern. Danach beauftragte er Ezekiel, bei zwei weiteren Unternehmen Angebote einzuholen.

Bei der Gelegenheit wusch er seinem Sekretär den Kopf. „Mein lieber Ezekiel. Du willst mich doch nicht zwingen, über einschneidende Maßnahmen nachzudenken, nicht wahr?“

„Drohst du mir etwa?“, fragte Ezekiel kühl.

„Iwo. Das ist nur eine freundliche Ermahnung.“

Sein Sekretär legte einfach auf. Hätte er vorher gewusst, wie zickig Ezekiel sein konnte … ach, egal. Es war eben passiert. Sie hatten eine wirklich gute Zeit miteinander gehabt. Ezekiel ließ sich hervorragend vögeln und besaß viel Humor. Letzterer war dem Mann anscheinend abhandengekommen. Seit Sex passe war, hatte er Ezekiel nicht mehr lachen hören. Sollte ihm das zu denken geben? Ach, nein. Er brauchte seinen Kopf für wichtigere Dinge, als für eingeschnapptes Personal.

Beispielsweise dafür, ein Gutachten über den Zustand der Fundamente der zu sanierenden Gebäude zu lesen. Auch dort bestand Handlungsbedarf. Das beschäftigte ihn eine ganze Weile. Letztendlich übertrug er diese Aufgabe an einen seiner Ingenieure, der das nötige Fachwissen für solche Maßnahmen besaß. Roberto wusste, wo seine Grenzen lagen und war vernünftig genug, um sich das einzugestehen. In jüngeren Jahren hatte er zu Selbstüberschätzung geneigt und daraus seine Lehren gezogen.

Er klappte das Notebook zu und drehte sich zum Fenster. Auf der Elbchaussee herrschte dichter Verkehr, wie eigentlich ständig. Kaum zu glauben, dass die Grundstückpreise in solcher Lage enorm hoch waren. Allerdings merkte man auf der dem Garten zugewandten Hausseite kaum etwas von dem Straßenlärm und hatte vom oberen Geschoss Blick auf die Elbe.

Roberto war in diesem Haus aufgewachsen. Er liebte das alte Gemäuer, obwohl die Erinnerungen an seine Kindheit nicht alle schön waren. Daran trug aber das Gebäude keine Schuld, sondern nur dessen Bewohner. Seine Eltern waren sehr reservierte Personen. Warum sie unbedingt ein Kind machen mussten, entzog sich seiner Kenntnis. Vermutlich gehörte das für sie zu einer Ehe dazu.

Seine Erziehung hatten sie weitestgehend extra dafür eingestelltem Personal überlassen. Kindermädchen gaben sich die Klinke in die Hand. Erst später erfuhr Roberto den Grund dafür: Die überbordende Libido seines Vaters. Offenbar konnte sein alter Herr die Finger nicht von den Frauen lassen. Seine einzige stete Bezugsperson war die Köchin, Kunigunde, inzwischen in Rente. Sie hatte ihn mit Liebe überschüttet und oft an ihren wogenden Busen gedrückt, wenn die Welt ihm mal wieder zu grausam erschien. Ohne sie wäre er verloren gewesen.

Vor zehn Jahren hatten seine Eltern ihm die Geschäfte überlassen und sich nach Fuerteventura verdrückt. Dort genossen sie ihren Lebensabend. Von ihm aus konnten sie dort für immer bleiben, mit ihrer kaltherzigen Art. Es grenzte an ein Wunder, dass er nicht genauso geworden war. Oder täuschte das und er befand sich auf dem besten Weg dorthin?

Seufzend wischte er sich mit beiden Händen übers Gesicht. In letzter Zeit suchten ihn manchmal solche Überlegungen heim. Wahrscheinlich lag es an der Jahreszeit. Der Winter stimmte ihn stets melancholisch.

Das klingelnde Telefon riss ihn aus seinen Gedanken. Er drehte sich zum Schreibtisch, nahm den Hörer ab und bellte: „Ja?“

„Steht die Gästeliste für Samstag? Ich brauche die Anzahl der Personen für das Catering“, erkundigte sich Ezekiel.

„Bestell wie immer“, gab Roberto zurück. „Und informiere die Hamburger Tafel, dass sie am Sonntag die Reste abholen können.“

„Okay. Was ist mit den Live-Acts? Willst du sie dir vorher ansehen?“

„Nö. Du machst das schon.“

„Was ist los? Sonst bist du doch so ein Kontrollfreak.“

„Ezekiel!“, schimpfte Roberto. „Soll ich dir den Arsch versohlen?“

„Dann verklage ich dich, wegen sexueller Belästigung“, erwiderte Ezekiel trocken und beendete grußlos das Gespräch.

Grinsend, weil ihm diese Widerborstigkeit imponierte, legte Roberto auf. Trotzdem musste er demnächst mit Ezekiel ein ernstes Wort reden. In dieser Weise konnten sie auf Dauer nicht zusammen arbeiten.

Einen weiteren Nachteil - neben der Zickerei - hatte die Sache: Ihre gemeinsamen Mahlzeiten fielen aus. Ezekiel war zwar kein begnadeterer Koch, brachte aber Hausmannskost gut zustande. Jedenfalls weitaus besser, als Roberto das vermochte und zudem null Lust zum Selbermachen verspürte. Er war also seit einer Weile auf Tiefkühlkost, Lieferservice oder Restaurantbesuche angewiesen. An diesem Abend begnügte er sich mal wieder mit einem Fertiggericht aus der Kühlung.

Silvesternachlese

 

Ezekiel war ganz schön angepisst über Robertos Abgang mitten in der Silvesterparty. Ihm stand zwar reichlich Personal zur Seite, dennoch: Es war ein gewaltiger Unterschied, ob man die Verantwortung teilte oder allein trug. Letztendlich stellte es sich als Glücksfall heraus, da er unerwartet über einen liebenswerten Typen stolperte.

~ * ~

 

1.

Als gegen drei die letzten Gäste das Haus verließen, atmete Ezekiel auf. In der Küche war bereits fast aufgeräumt und alle Gläser eingesammelt. Den Rest würde das Personal später am Tag erledigen. Er bedankte sich bei den Leuten, geleitete sie zur Tür und schloss hinter ihnen ab. Nachdem er sämtliche Außenbeleuchtung ausgeschaltete hatte, drehte er eine letzte Runde.

Seine Schuhsohlen klebten an manchen Stellen fest, als er durch den vorderen Saal schritt. Etliche Getränke waren im Laufe des Abends verschüttet worden. Oft fragte er sich, ob die reichen Herrschaften alle eine schlechte Kinderstube genossen hatten. Die Teppiche, die zu den Emporen führten, waren ebenfalls verdreckt. Was die Bezüge der Sofas betraf: Die beäugte er lieber nicht näher. Auch die Stripper hatten mit Sekt und Co. herumgepanscht, ganz zu schweigen von Körpersäften. Der eine oder andere war, gegen zugesteckte Scheine, zu besonderen Showeinlagen bereit gewesen.

Im hinteren Saal das Gleiche. Nach einem kurzen Rundumblick besuchte er erst die Herren-, dann die Damentoilette. Letztere war, wegen der Unterzahl an Frauen, wenig frequentiert worden, entsprechend sauber und roch aber nach Zigarettenqualm. Ezekiel, als ehemaliger Nikotinsüchtiger, reagierte darauf empfindlich, obwohl die elektronische Lüftung das meiste schon weggesogen hatte. Vorsichtshalber inspizierte er die Papierkörbe, ob sich darin eine qualmende Kippe befand. Fehlanzeige. Plötzlich hörte er ein Scharren. Erschrocken musterte er die Klokabinen. Alle vier Türen waren unverriegelt. Die ganz links sprang auf. Einer der Stripper, ein hübscher Blonder, trottete gähnend aus der Zelle und stellte sich vors Waschbecken.

„Bist du auf dem Klo eingepennt?“, erkundigte sich Ezekiel.

„Scheint so. Ich wollte bloß einen durchziehen und muss danach wohl weggeduselt sein.“ Der Mann drehte den Wasserhahn auf und wusch sich seelenruhig die Hände. „Wie spät ist es?“

„Kurz nach drei.“

„Na, dann ist es ja nicht so schlimm. Ich dachte schon, ich hätte den ganzen Tag verschlafen.“ Im Spiegel lächelte der Mann ihm zu.

Der Typ war wirklich ausnehmend attraktiv. Schöne blaue Augen, umrahmt von langen dunklen Wimpern, was einen tollen Kontrast zu den blonden Strähnen bildete. Zudem wirkte der Mann sympathisch.

„Du hast nicht zufällig noch ein bisschen Dope dabei?“

„Nur einen ganz kleinen Rest. Wieso?“, antwortete der Typ, der gerade seine Hände abtrocknete.

„Ich bin total aufgedreht und hab auf schnell saufen keine Lust.“

„Ist eh ungesund.“ Grinsend warf der Mann die benutzten Tücher in den Papierkorb. „Also willst du mit mir eine Rolle rauchen?“

„Mir wäre ein Kakao lieber. Ich bin ex-nikotinsüchtig.“

Der Mann nickte verständnisvoll. „Okay. Fragt sich aber, wo wir den Kakao herbekommen sollen.“

„Ich hab welchen in meiner Wohnung.“

„Ähm …“ Der Typ kniff die Augen zusammen und betrachtete ihn misstrauisch. „Nichts für ungut, aber meine Mami hat mir verboten, mit Fremden mitzugehen.“

„Eine weise Frau. Wir sind aber schon praktisch in meiner Wohnung. Sie liegt im Souterrain.“

„Ach so. Du bist doch dieser Typ, der mich und die anderen gebucht hat, richtig?“

„Gut erkannt.“

„Na, dann wird das wohl in Ordnung sein“, entschied sein Gegenüber. „Ich bin übrigens Lukas.“

„Ezekiel.“

Lukas‘ Mundwinkel flogen hoch. „Ist nicht dein Ernst.“

„Besprich das mit meiner Mutter. Ich kann nichts dafür“, gab Ezekiel pikiert zurück, wandte sich um und öffnete die Tür.

Auf dem Weg durchs Haus überlegte er, ob er verrückt geworden war, einen Stricher in sein Heiligtum mitzunehmen. Andererseits: Hatte er sich nicht ebenfalls prostituiert? Sein üppiges Gehalt, die günstige Miete und angenehme Arbeitsstelle verdankte er nur seiner Bereitwilligkeit, für Roberto die Beine breitzumachen. Insofern sollte er sich Überheblichkeit besser verkneifen.

„Ich hab voll das Ende der Party verpennt.“ Lukas kicherte hinter ihm. „Hab ich was verpasst?“

„Nö. Keine Schnapsleichen oder ähnliches“, erwiderte Ezekiel über die Schulter und fing an, die Treppe zu seiner Wohnung runterzusteigen. „Das ist der Vorteil der vornehmen Gesellschaft. Sie hinterlassen keine Toten aus den eigenen Reihen.“

„Du klingst ganz schön sarkastisch dafür, dass du selbst so ein Heini bist.“

„Ich bin bloß das Faktotum des Hausherrn.“ Er schloss seine Wohnungstür auf und ließ seinen Gast eintreten.

Mit großen Augen schaute sich Lukas um. „Wow! Coole Hütte.“

Rund sechzig Quadratmeter nannte Ezekiel sein eigen. Die Küche und beide Zimmer besaßen Fenster, nur das Bad keines. Im Wohnzimmer und Schlafzimmer lag dicker Teppich auf dem Boden, der Rest war hell gefliest.

Er dirigierte Lukas in die Küche. „Setz dich. Ich muss nur schnell aufs Klo, dann geht’s los.“

Bei seiner Rückkehr war der Raum leer. Vom Wohnzimmer her ertönte Lukas‘ Stimme: „Darf ich Musik anmachen?“

„Ja, aber nicht so laut.“ Ezekiel stellte einen Topf mit Milch auf den Herd und begann, Kakaopulver mit Zucker anzurühren.

Stayin alive von den Bee Gees erklang. Kurz darauf tanzte Lukas in bester Travolta-Manier in die Küche, wackelte mit den Hüften und sang: „Whether you're a brother or whether you're a mother, you're stayin alive, stayin alive, feel the city breakin and everybody shakin, and we're stayin alive, stayin alive, ha-ha-ha-ha, stayin alive.”

„So textsicher?”, spottete er.

Achselzuckend grinste Lukas ihn an, wippte und summte, bis erneut der Refrain erklang, den er wieder mitträllerte. Inzwischen war der Kakao fertig. Ezekiel füllte ihn in zwei Becher, stellte sie auf den Tisch und nahm daran Platz. Erwartungsvoll sah er zu Lukas hoch, der ein winziges Alupäckchen aus der Hosentasche pfriemelte und ihm reichte. Noch immer bewegte sich sein Gast zur Musik, die allmählich verklang, wie es damals bei Discosongs üblich war.

Als das nächste Stück begann, eine Ballade, ließ sich Lukas ihm gegenüber auf den Stuhl plumpsen. „Sorry. Die Jungs reißen mich immer wieder mit.“

„Bist du nicht zu jung für solche Mucke?“

„Eigentlich schon, aber ich steh eben auf den alten Kram.“ Lukas nahm ihm das Päckchen weg, pulte die Alufolie auseinander und begann, das kleine Stück Dope in ihre Becher zu bröseln.

Typischer Duft stieg in Ezekiels Nase. Ab und zu gönnte er sich ein bisschen Marihuana, aber eigentlich waren diese Zeiten lange vorbei. Vor und während seines Studiums hatte er exzessiv gekifft, doch danach - zusammen mit dem Rauchen - auch den Konsum bewusstseinserweiternder Drogen aufgegeben. Irgendwie bewirkten sie bloß das Gegenteil, jedenfalls bei ihm.

Zum Schluss rührte Lukas erst in seinem, dann im eigenen Becher und probierte einen Schluck. „Mhm. Lecker.“

Während die Bee Gees How deep is your love und Tragedy sangen, genossen sie ihren Kakao. Lukas, die langen Beine ausgestreckt, machte einen tiefenentspannten Eindruck. Er schätzte seinen Gast auf Mitte zwanzig, vielleicht noch jünger. Es lag ihm auf der Zunge zu fragen, warum sich Lukas vor anderen auszog, anstatt auf weniger eklige Art Geld zu verdienen. Beispielsweise könnte sich ein so gutaussehender Mann einen Sugardaddy suchen. Okay, das war ebenfalls ziemlich widerlich. Ein Job als Model käme auch in Betracht, mit der Figur und dem hübschen Babyface.

Langsam setzte die Wirkung ein. Ezekiel merkte das daran, dass seine Gedanken zerfaserten und er zunehmend schärfer wurde. Die letzten Male hatte er Marihuana allein konsumiert, dazu Musik gehört und - wie er sich erst jetzt entsann - einen Masturbations-Marathon hingelegt. Dope erzeugte bei ihm stets geile Fantasien, die sogar für zwei Orgasmen reichten. Irgendwie hatte er das anscheinend verdrängt und nur im Kopf behalten, anschließend gut einschlafen zu können.

Lukas begann auf dem Stuhl umher zu rutschen und ihm Blicke zuzuwerfen, die er als feurig interpretierte. Ging es seinem Gast genauso wie ihm? Vorsichtig inspizierte er Lukas‘ Schritt, wo sich eine deutliche Ausbuchtung zeigte. Wunderbar. Zwei Männer - ein Gedanke.

„Ähm … was hältst du von ein bisschen Sex?“, schlug er vor.

„Ein bisschen?“ Lukas kicherte albern. „Wie geht das?“

„Komm mit.“ Ezekiel sprang auf und spürte leichten Schwindel, der jedoch schnell wieder verschwand.

Lukas folgte ihm ins Schlafzimmer, zog rasch sämtliche Klamotten aus und ließ sich rücklings aufs Bett fallen. Etwas langsamer, total von dem Adonis abgelenkt, streifte Ezekiel ebenfalls alle Hüllen ab. Als er sich zu Lukas gesellte, fing der ohne Umschweife an, ihn zu küssen. Begeistert machte er mit.

Aus dem Rein-Raus-Spiel, mit dem er eigentlich gerechnet hatte, wurde eine Orgie aus lecken, lutschen und streicheln. Seinen ersten Höhepunkt erlebte er durch Lukas‘ Mund, den zweiten - der etwas länger brauchte - durch Lukas‘ Faust. Beide Male revanchierte er sich auf gleiche Weise. Danach besaß er knapp die Kraft, eine Decke über ihre Körper zu ziehen, bevor er wegduselte.

 

Nerviges Schrillen weckte ihn irgendwann. Schlaftrunken wälzte er sich aus dem Bett, stieg in seine Hose und streifte im Gehen ein T-Shirt über. Im Flur befanden sich drei Klingel-Anschlüsse: Einer fürs Büro, sein eigener und der für Robertos Wohnung. Letzterer lieferte nur ein visuelles Signal, die beiden anderen waren mit verschiedenen Klingeltönen belegt. Aktuell läutete der Büroanschluss, was nur bedeuten konnte, dass die Putz- und Räumkolonne Einlass verlangte.

Ezekiel schlüpfte in Flipflops, eilte die Treppe hoch und ließ die Mannschaft herein. Der Leiter des Teams, Bastian, mit dem er schon oft zusammengearbeitet hatte, musterte ihn mit einem breiten Grinsen. „Na, gerade erst aufgestanden?“

„Nö. Ich schlafe gewissermaßen noch“, gab er zurück. „Du kennst dich ja aus. Wenn was ist: Klopf bei mir.“

Bastian salutierte zackig und marschierte den anderen hinterher. Gähnend latschte Ezekiel die Stufen wieder runter, warf mit der Ferse die Tür ins Schloss und ging ins Bad, um seine Blase zu leeren. Anschließend setzte er den Kaffeeautomaten in Betrieb. Auf dem Weg ins Schlafzimmer lief er fast in Lukas, der ihm entgegenkam, hinein.

„Moin“, nuschelte Lukas und trottete weiter in Richtung Badezimmer.

Schmunzelnd beobachtete er die splitterfasernackte Gestalt, bis sie hinter der Tür verschwunden war. Selbst mit zerrauften Haaren und zerknautschtem Gesicht war Lukas ein absoluter Hingucker.

Im Schlafzimmer zog er Socken und einen Pullover an, bevor er sich erneut in die Küche begab. Ihm fiel auf, dass Lukas sein erster One-Night-Stand war, seit er in Robertos Villa wohnte. Davor hatte es lange Zeit auch keine gegeben. Eigentlich war Ezekiel nicht der Typ für seelenlosen Sex. Als Single hatte man diesbezüglich leider keine Wahl. Da hieß es: friss oder stirb. Okay, das klang zu drastisch, traf aber ungefähr den Punkt.

Während er den Tisch deckte, ließ er im Geiste den vergangenen Abend Revue passieren. Lukas hatte den Abend total rausgerissen. Alles davor - außer dem ständigen Aufpassen - war total langweilig gewesen. Die meisten Gäste hatten ihn entweder ignoriert oder von oben herab behandelt. Roberto sollte sich mal Gedanken über seine sozialen Kontakte mache, wobei diese Bezeichnung im Grunde reiner Hohn war. Keiner der Anwesenden kam wegen Roberto, sondern nur wegen Sehen und Gesehen werden, sowie der zu erwartenden sexuellen Anreize.

„Gibt’s Kaffee?“, fragte Lukas von der Tür her, immer noch im Adamskostüm.

Wahrscheinlich war man als Stripper-Schrägstich-Stricher ziemlich abgestumpft. Niemals würde Ezekiel länger als nötig in einer fremden Wohnung nackt herumlaufen.

„Ist gleich fertig.“

„Wunderbar“, murmelte Lukas, eierte davon und kehrte wenig später angezogen zurück, um am Küchentisch Platz zu nehmen. „Für einen Kaffee reicht es noch gerade, dann muss ich aber los. Die Arbeit ruft.“

„Was? Du hast an Neujahr ein Engagement?“, wunderte sich Ezekiel, stellte einen Kaffeebecher vor seinem Gast ab und schenkte für sich einen zweiten ein.

„Nö. Ich arbeite im Bahnhofskiosk.“

Mit seinem Kaffee gesellte er sich zu Lukas an den Tisch. „Also machst du das andere nur nebenher?“

„Natürlich! Was denkst du denn? Alle Kollegen gehen einer regulären Arbeit nach.“ Vernehmlich schlürfte Lukas einen Schluck. „Von dem Kram allein kann man nicht leben.“

„Echt? Ich dachte, damit macht man die große Kohle.“

„Ts.“ Kopfschüttelnd zeigte Lukas ihm einen Vogel. „Ich hab pro Monat vielleicht zwei oder drei Buchungen. Das langt gerade mal, um sich ein bisschen Luxus zu gönnen.“

„Beispielsweise Marihuana.“

„Genau. Wobei ich echt selten kiffe.“

Dazu verkniff sich Ezekiel eine Bemerkung. Nach seiner Meinung hatte jemand, der auf der Toilette einen durchzog, oft etwas in der Tasche. Andernfalls würde man einen Joint doch ganz anders zelebrieren.

Lukas leerte den Becher, stand auf und verließ den Raum. Ezekiel hörte Kleidung rascheln. Er sprang ebenfalls auf und lehnte sich in den Türrahmen. „Übrigens: Frohes Neues Jahr.“

„Wünsch ich dir auch“, erwiderte Lukas, bereits in Schuhen und Jacke. „Schade, dass ich los muss. Hätte nichts gegen eine weitere Runde einzuwenden.“

„Vielleicht ein anderes Mal.“

„Das wäre klasse. Kann ich ohne weiteres hier rausspazieren?“

„Ich bring dich noch zur Tür.“ Er folgte Lukas die Treppe rauf, wobei er eine Spur Bedauern angesichts des straffen Hinterns vor seinen Augen empfand und öffnete die Haustür. „Mach’s gut.“

„Du auch“, antwortete Lukas, küsste ihn auf die Wange und eilte hinaus.

Langsam schloss Ezekiel die Tür und ging wieder nach unten. Hätte er Lukas gleich reinen Wein einschenken sollen? Ach, wozu? Bestimmt liefen sie einander nie wieder über den Weg.

Impressum

Texte: Sissi Kaiserlos
Bildmaterialien: depositphotos, shutterstock
Cover: Lars Rogmann
Lektorat: Aschure - dankeschön
Tag der Veröffentlichung: 08.12.2018

Alle Rechte vorbehalten

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