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Advent, Advent, ein Herzlein brennt

1.

Eine Windböe wehte Patrick ein paar Blätter um die Füße, als er im Carport aus seinem Wagen stieg. Stirnrunzelnd betrachtete er das Auto seiner Schwester Grit, das schon morgens, als er zur Arbeit aufgebrochen war, vor der Garage auf dem Nachbarsgrundstück gestanden hatte. Dort wohnten seine Eltern, in der zweiten Hälfte des Doppelhauses. Normalerweise dauerten Grits Besuche nur wenige Stunden. Wollte er wissen, wieso sie diesmal länger blieb? Nach kurzer Überlegung entschied er sich dagegen. Es war bereits halb neun und seine Lust auf Smalltalk hielt sich stark in Grenzen.

Patrick liebte seine Schwester und deren Kinder, aber hinter ihm lag eine anstrengende Arbeitswoche und er sehnte sich nach Ruhe. Mit Grit konnte er bei ihrer nächsten Stippvisite immer noch reden. Sie kam ohnehin fast jedes Wochenende vorbei.

Er ging zum Haus, leerte seinen Briefkasten und schloss die Tür auf. Im Flur legte er seine Post auf die Garderobe und begab sich ins Schlafzimmer, um Wohlfühlklamotten anzuziehen. In Sweatshirt und seiner Lieblingsjeans stand er kurz darauf in der Küche, wo er sich einen Snack zubereitete, da klopfte es ans Fenster. Das konnte nur seine Schwester sein, weil sie die einzige war, die so etwas wagte. Selbst seine Eltern benutzten die Türglocke.

Er ließ sie herein und ahnte angesichts Grits bedrückter Miene sofort, dass etwas passiert war. „Hi Schwesterchen. Wie geht’s deiner Brut?“

„Ganz gut. Sie schlafen endlich.“ Sie folgte ihm in die Küche und lehnte sich, die Arme vor der Brust verschränkt, gegen die Arbeitsfläche. „Ich lass mich scheiden.“

Patrick hatte seinen Schwager noch nie ausstehen können. Grob unterteilt gab es Menschen, welche meinten, die Gesellschaft würde ihnen etwas schulden und solche, die das Umgekehrte dachten. Igor, Grits künftiger Exmann, gehörte in die erste Kategorie. Kein Job war dem feinen Herrn gut genug, was dazu führte, dass Igor meist auf der faulen Haut lag. Auch sonst legte sein Schwager ein asoziales Verhalten an den Tag und benahm sich stets herablassend und homophob, wenn sie einander sahen.

„Warum?“, erkundigte er sich pflichtschuldig, wobei er weiter sein Sandwich mit Gurken- und Tomatenscheiben belegte.

Grit schnappte sich ein Stück Gurke und wies damit auf ihn. „Als ob du das nicht wüsstest.“

„Und wie soll es weitergehen?“ Vor ihrer Ehe hatte seine Schwester als Friseurin oder Kellnerin gearbeitet. Von dem einen konnte man nicht leben, bei dem anderen waren auch die Arbeitszeiten für alleinerziehende Mütter inakzeptabel.

„Keine Ahnung und davon ganz viel“, gab Grit mit einem schiefen Lächeln zu.

Patrick nahm ein Bier aus dem Kühlschrank, seinen Teller und trug beides ins Wohnzimmer.

„Darf ich auch ein Bier haben?“, rief seine Schwester ihm hinterher.

„Bedien dich“, gab er zurück und ließ sich auf der Couch nieder. Normalerweise hätte er die Glotze angestellt, aber Grit hatte bestimmt Redebedarf. Er trank einen großen Schluck Pils und machte sich über sein spätes Abendessen her.

Eine Flasche in der Hand, schlenderte seine Schwester herein und stellte sich vors Fenster. Sie war schon immer schlank gewesen, doch nun wirkte sie richtiggehend mager. Schlechtes Gewissen keimte auf, sich so wenig um sie gekümmert zu haben. Wegen seiner Aversion gegen seinen Schwager war Patrick so gut wie nie nach Lüneburg, wo die beiden lebten, gefahren. Er hatte Grit daher meist nur gesehen, wenn die ihre Eltern besuchte und überaus selten unter vier Augen. Eigentlich, seit die Kinder da waren, gar nicht mehr.

Grit, die in den dunklen Garten geguckt hatte, wandte sich um. „Kann ich erstmal bei dir unterkriechen?“

„Natürlich.“ Ihm missfiel der Gedanke, aber Blut war nun mal dicker als Wasser. Außerdem standen die Zimmer im Obergeschoss eh leer. Seine Pläne, dort eine Einliegerwohnung einzurichten, lagen aufgrund Zeitmangels brach.

„Du bist ein Schatz.“ Grit schickte ihm einen Luftkuss, trank aus ihrer Bierflasche und rülpste anschließend hinter vorgehaltener Hand. „Sorry.“

Achselzuckend nahm Patrick die Entschuldigung entgegen.

Grit ließ sich in den Sessel ihm gegenüber plumpsen und schlug ein Bein übers andere. „Papa organisiert nächste Woche den Umzug. Er hat bereits Onkel Bert eingespannt.“

Also war das Ganze schon beschlossene Sache gewesen, bevor er gefragt wurde. Patrick verkniff sich einen bissigen Kommentar. Immerhin besaß Grit gewisses Anrecht hier zu wohnen. Das Haus hatte nämlich ihren Eltern gehört, bevor er die eine Hälfte kaufte und die andere überschrieben bekam. Auf diese Weise wollten sie sichergehen, dass Igor im Falle ihres Ablebens leer ausging.

„Und wie läuft es bei dir? Was macht Greg?“, erkundigte sich Grit.

Sie kannte seinen Chef und guten Freund von Partys zu verschiedenen Anlässen. „Er ist frisch verliebt. Wir sehen uns seitdem nur noch sporadisch.“

Seine Schwester zog eine Grimasse. „Autsch!“

„Ach, das ist schon okay. Dinge ändern sich eben. Trennen sich Igor und du einvernehmlich?“

„Seine letzten Worte, bevor er gestern mit einem Koffer zu seiner neuen Freundin gezogen ist, waren: ‚Du gehst mir auf den Sack.‘ Insofern scheint ihm nichts an einer Fortführung unserer Ehe zu liegen.“ Die Wimpern gesenkt, knibbelte sie am Etikett der Flasche und seufzte leise. „Eigentlich schade. Im Bett ist er eine Granate.“

Patrick verdrehte die Augen. Als ob Sex eine Familie ernährte. Zugegeben: Igor war äußerlich ein heißer Typ, doch das wog den miesen Charakter nicht auf. Er pickte das letzte Scheibchen Gurke vom Teller, schob es sich in den Mund und streckte zurückgelehnt seine Beine aus. „Wissen die Kinder Bescheid?“

„Noch nicht. Ich hab ihnen gesagt, dass Papa in Urlaub gefahren ist.“

„Und deshalb schlafen sie jetzt bei Oma und Opa im Gästezimmer? Sehr logisch.“

„Sie denken, wir machen auch Urlaub.“

Eines musste er seiner Schwester lassen: Sie war nicht auf den Kopf gefallen. Okay, mit Ausnahme bei ihrer Partnerwahl. Allerdings war er genauso blöde, was das betraf. Vor sieben Jahren hatte Philip ihn aus heiterem Himmel wegen einem anderen verlassen. Ihm war damals das Herz gebrochen und nie wieder geheilt.

„Ich geh mal wieder rüber“, verkündete Grit, leerte die Flasche und stand auf. „Die Kinder haben nach dir gefragt. Bist du morgen beim Frühstück dabei?“

„Klar.“

„Schön.“ Sie kaum zu ihm rüber, um ihn auf die Stirn zu küssen und verließ, das Leergut in der Hand, den Raum.

Gleich darauf fiel die Haustür ins Schloss. Patrick brachte seinen Teller in die Küche, kehrte mit einer Flasche Mineralwasser zurück und schaltete den Fernseher an. Es lief irgendeine Samstagabendshow. Mit halbem Auge sah er zu, während er versuchte sich an den Gedanken zu gewöhnen, seine Schwester mit den Kindern zu beherbergen.

Es wäre ihm weitaus lieber, wenn seine Eltern die drei aufnehmen würden, doch sie besaßen nicht genug Platz. Die beiden bewohnten lediglich das Erdgeschoss, das anders als in seiner Hälfte aufgeteilt war. Es bestand aus drei kleineren, statt zwei großen Räumen. Das gesamte Obergeschoss gehörte zu Patricks Anteil, ein Bad sowie drei Zimmer. Eigentlich wollte er eines davon zur Küche umgestalten und mittels einer Außentreppe einen separaten Zugang anlegen lassen. Tja. Dumm gelaufen. Er sollte sich wohl schnellstmöglich um die Verwirklichung kümmern.

Patrick schob die Gedanken beiseite. Grit neigte manchmal zu Kurzschlusshandlungen. Vielleicht war die Scheidung, obwohl er die natürlich begrüßte, bald vorerst wieder vom Tisch und er zerbrach sich umsonst den Kopf.

 

Am nächsten Morgen läutete er um halb neun bei seinen Eltern. Er besaß zwar einen Schlüssel, benutzte den aber nur in Notfällen. Wenn man so nah beieinander wohnte, musste man gewisse Regeln einhalten. Schon deshalb graute ihm davor, mit seinem Neffen und seiner Nichte zusammenzuleben. Die beiden waren zu klein, um die Bedeutung von Privatsphäre zu kennen.

Seine Mutter öffnete und bot ihm ihre Wange für einen Kuss. „Morgen, mein Schatz.“

„Morgen Mama.“ Er folgte ihr ins Wohnzimmer.

Am gedeckten Esstisch saß bereits die ganze Familie. Der sechsjährige Max und die vierjährige Julia rutschten von ihren Stühlen und flitzten auf ihn zu. Beide kamen äußerlich nach dem hübschen Igor, mit ihren dunklen Haaren und Augen. Hoffentlich blieb das die einzige Gemeinsamkeit.

Er hob Julia auf seine Hüfte und wuschelte Max, der sein Bein umarmte, durchs Haar. „Na, ihr süßen Racker. Ihr seid ja schon wieder gewachsen.“

Seine Nichte kicherte und sein Neffe tat kund: „Ich komm nächsten Sommer in die Schule.“

„Was? Schon?“ Lächelnd strich er Max erneut über den Schopf. „Unglaublich! Einmal nicht hingeguckt und zack! - schon seid ihr erwachsen.“

Er setzte Julia ab, die die Chance nutzte ihm einen feuchten Knutscher zu geben, bevor sie zurück zum Tisch hüpfte. Max küsste ihn mit weitaus weniger Spucke auf die Wange und begab sich auch zurück zur Tafel. Nachdem er seinen Vater und seine Schwester begrüßt hatte, nahm Patrick ebenfalls Platz.

Anfangs erforderten die Kinder einige Aufmerksamkeit, dann wandte sich das Tischgespräch anderen Themen zu. Sein Vater, Zahnarzt in Rente, erkundigte sich nach seiner Arbeit. Sein alter Herr wusste Kunst zu schätzen und besaß einige Skulpturen sowie Bilder. Da Patrick einen neuen Künstler in die Ausstellung aufgenommen hatte, verabredeten sie für die kommende Woche ein Treffen in der Galerie.

Im Anschluss ans Frühstück begleitete er Grit und die Kinder auf den Spielplatz. Während die beiden herumtobten, besprachen sie ein paar organisatorische Dinge. Grit wollte sich gleich am nächsten Tag um einen Kindergartenplatz bemühen und ihre Wohnung kündigen. Die lief auf den Namen seiner Schwester, somit stellte das kein Problem dar. Um die Scheidung kümmerte sich ihr Vater, der Kontakte zu einem Rechtsanwalt, einem ehemaligen Kunden, unterhielt.

Danach war Patricks Geduld erstmal erschöpft. Er ließ Grit auf der Bank, auf der zwei weitere Mütter saßen, zurück und unternahm einen ausgedehnten Spaziergang. Um diese Jahreszeit waren die Bäume mit ihrem goldenen bis roten Laub besonders schön; außerdem mochte er die frische Luft, der teilweise ein erdiger Geruch anhaftete.

Mittags kamen Grit und die Kinder rüber, um ihm Tschüss zu sagen. Seine Schwester hatte den zweien versprochen, auf der Rückfahrt einen Zwischenstopp bei McDoof einzulegen, weshalb die beiden es kaum erwarten konnten in den Wagen zu steigen.

Den Rest des Tages verbrachte er damit, seinen Haushalt zu erledigen und zu relaxen.

 

Am Montagmittag trafen die Werke des neuen Künstlers ein. Er überließ es Tristan, seinem Mitarbeiter und zugleich rechter Hand, die Exponate auszupacken und zu katalogisieren. Es handelte sich um kleine Skulpturen, zumeist aus Bronze, die durch ihre Schlichtheit bestachen.

Im Laufe der Woche brachten sie gemeinsam die Exponate im Schauraum unter. Der Künstler, der am Donnerstag kam, um Ausstellung zu begutachten, war sehr zufrieden. Patricks Vater tauchte, wie verabredet, Freitagnachmittag auf und erwarb eine der Figuren, eine moderne Variante der Aphrodite.

Am Samstag verkaufte er zwei weitere Skulpturen. Wegen der relativ niedrigen Preise erfreuten sich die hübschen Werke ziemlicher Beliebtheit. Leider wohl auch bei Dieben, denn abends musste er feststellen, dass eine Figur fehlte.

Verärgert sah Patrick den leeren Platz an, auf dem morgens noch eine Statue, die dem berühmten Oscar ähnelte, gestanden hatte. Solche Verluste kamen in seiner Galerie überaus selten vor. Verirrten sich mal zwielichtige Leute in den Laden, behielt er diese im Auge, bis sie wieder draußen waren. An diesem Tag hatte er jedoch keine verdächtige Gestalt unter den Besuchern entdeckt.

Patrick überlegte hin und her, wer die Skulptur entwendet haben könnte. Solche Ware war für den Schwarzmarkt ungeeignet, da sie keinen hohen Wert hatte. Im Grunde kam nur jemand infrage, dem der kleine Oscar besonders gut gefiel und der nicht genug Geld besaß, um den Kaufpreis zu entrichten. Oder jemand, der ihn ärgern wollte. Wer sollte das sein? Soweit er wusste, hatte er keine Feinde; jedenfalls keine, die ihm auf diese Weise eins auswischen würden.

Igor? Ach nein, den hätte er bemerkt, zudem spielte Patrick bei der Scheidung seiner Schwester keine maßgebliche Rolle. Obendrein schien sein Schwager über die Auflösung der Ehe erleichtert zu sein. Jedenfalls hatte Grit so etwas geäußert und ihren Umzug um eine Woche verschoben.

Um kurz vor acht, Patrick hatte schon alles für den Feierabend vorbereitet, betrat einer von Tristans Freunden die Galerie. Moshe, wenn er sich recht entsann. Ab und zu kamen welche aus Tristans Clique vorbei, doch er hatte diesen Leuten nie großartig Beachtung geschenkt.

Moshe näherte sich mit reuevoller Miene dem Tresen. Patrick fiel ein, dass er den Mann vorhin in der Galerie gesehen hatte. Ihm schwante, weshalb Moshe solches Gesicht zog und richtig: Vor der Theke angekommen, holte jener den gestohlenen Oscar aus einem Jutebeutel und stellte ihn auf den Tresen.

„Es tut mir echt leid. Ich weiß gar nicht, was über mich gekommen ist. Ich hab die Statue gesehen und gedacht: Die muss ich haben“, erklärte Moshe leise, den Blick gesenkt. „Kaum war ich draußen, hab ich es bereut, mich aber nicht getraut umzukehren.“

„So leid es mir tut, aber ich muss die Polizei rufen“, erwiderte Patrick streng.

„Bitte nicht!“ Moshe schaute hoch, die Augen erschrocken aufgerissen. „Ich tue alles, wirklich alles, wenn Sie davon absehen.“

Advent, Advent, noch ein Herzlein brennt

1.

Seit einer Woche hing am schwarzen Brett die interne Stellenausschreibung für den freiwerdenden Platz in Michaels Abteilung. Sein Kollege Achim ging Ende März in Ruhestand. Die Statuten verlangten dieses Vorgehen, obwohl mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit niemand aus der Firma in Betracht kam. Immerhin benötigte es ein entsprechendes Studium, was wohl keiner der Müllwerker vorweisen konnte. Was die kaufmännischen Abteilungen betraf: Auch dort war geeignetes Personal Mangelware.

Michael überlegte, ob er Serhan zu einer Initiativbewerbung anstiften sollte. Sein Kumpel jobbte als Kurierfahrer, mit der angeblichen Aussicht auf Beförderung in eine höhere Ebene. Serhan erzählte seit ungefähr drei Jahren, dass der Aufstieg unmittelbar bevorstand. Vermutlich war das seinem unglaublichen Optimismus geschuldet. Jeder andere hätte schon die Flinte ins Korn geworfen.

Jedenfalls wäre Serhan der ideale Bewerber für die Stelle. Michael würde auch ein gutes Wort für seinen Kumpel einlegen. Vetternwirtschaft gab es in dem Unternehmen nach wie vor, insofern besäße das erheblichen Wert. Was ihn davon abhielt, Serhan diesen Freundschaftsdienst zu erweisen? Tja … eine Stimme in seinem Kopf flüsterte ihm ständig zu, diesen Glücksfall für seine Zwecke auszunutzen. Wie hieß es doch so schön? Eine Hand wusch die andere. Warum sollte Serhan für diesen Gefallen nicht etwas für ihn tun? Das war doch nur fair.

Vielleicht hatten ihn seine Freunde angesteckt, von denen einige mit zweifelhaften Methoden zum Ziel gekommen waren. Zumindest erhoffte er sich ein bisschen trügerische Nähe, von der er ein Weilchen zehren konnte. Frage war bloß, wie er Serhan das Ganze servierte. Darüber grübelte er schon eine Weile, ohne eine zündende Idee.

Sollte er Serhan was von Hochschlafen erzählen? Es ins Lächerliche ziehen? Nein, das führte bestimmt nicht zum Erfolg. Wie wäre es, wenn er an Serhans Mitleid appellierte? Immerhin war Michael seit Monaten untervögelt. Das ginge schon eher. Oder mit der Wahrheit rausrücken? Niemals! Serhan würde garantiert versuchen, ihn zu trösten und anderweitig zu verbandeln. Der Mann war zu gut für diese Welt, genau wie Tristan. Nicht umsonst hatte er sich in Serhan verliebt.

Als Michael am Mittwochmorgen zur Arbeit fuhr, war immer noch keine Entscheidung gefallen. Er tendierte zu der Mitleidsmasche. Darauf sprang Serhan bestimmt an. Die Zeit drängte allmählich, denn nach Weihnachten waren viele Kollegen in Urlaub. Der Stellenanzeige, die man im Januar schalten würde, musste er unbedingt zuvorkommen. Das erhöhte Serhans Chancen erheblich.

Im Geiste rechnete Michael nach. Genau genommen standen ihm bloß noch vier Tage zur Verfügung. In einer Woche war nämlich schon Heiligabend. Die Bewerbung sollte also bis Mittwoch eingegangen sein. Er nahm sich vor, den Freitag ins Auge zu fassen, um mit Serhan ins Kino zu gehen und hinterher … Was, wenn noch andere aus der Clique mitkommen wollten? Wie erklärte er Serhan, dass sie allein …? Zogen sie mit mehreren los, war danach meistens noch ein Clubbesuch angesagt.

Auf der Arbeit hatte Michael kaum Gelegenheit, weiter über die Sache nachzudenken. Eine großangelegte Kampagne, um den Bürgern die Müllabfuhr näher zu bringen, hielt ihn in Atem. Es galt, die Verteilung von Plakaten und Postwurfsendungen zu koordinieren. In Meetings am Vor- und Nachmittag diskutierte er mit Kollegen, welche Stadtteile am geeignetsten für welche Maßnahme waren oder ob man einfach überall streute. Zudem waren für das erste Quartal Infostände geplant. Auch über deren Standorte wurde beraten.

Manchmal hatte Michael das Gefühl, dass seine Arbeit überwiegend aus Quasseln bestand. Manche Kollegen schienen die Zusammentreffen bei Kaffee und Keksen regelrecht zu zelebrieren. Dachte man, alles wäre gesagt, hatte immer einer noch irgendeinen Beitrag parat. Oft passte der nicht mal zum Thema.

Das erinnerte ihn daran, wie seine Mutter früher über Elternabende in der Schule gestöhnt hatte: „Unglaublich. Haben die Leute keine anderen Hobbys, als abends in muffelnden Klassenzimmern zu sitzen und Müll zu reden?“

Nach Feierabend nahm er den Faden wieder auf. Während der Bus ihn durch den alltäglichen Stau im Schneckentempo zur Bahnstation schaukelte, recherchierte er das aktuelle Kinoprogramm. Keiner der laufenden Filme interessierte ihn. Es wäre sowieso sinnvoller, Serhan zu einem Heimkinoabend einzuladen. Man sprach doch auch vom Heimvorteil. Na gut, in anderem Zusammenhang, aber er könnte Serhan geschickt abfüllen und auf diese Weise schon mal für den richtigen Pegel sorgen.

Betrunken war sein Kumpel erfahrungsgemäß sehr anlehnungsbedürftig. Das hatte in Clubs mitunter zu Ärger geführt, wenn Serhan sich an den Falschen hängte. Einmal war dabei sogar ein Veilchen herausgesprungen, allerdings für Holger, der dummerweise zwischen Serhan und den genervten Gast geriet. Was für ein Abend. Am Ende waren sie allesamt aus dem Laden geflogen.

Zurück zu seinen Plänen: Serhan guckte gern Horrorfilme. Überhaupt nicht sein Genre, doch wie sollte er seinen Kumpel sonst ködern? Mit Pornos? Nein, aus dem Alter waren sie längst raus, sich gemeinsam zu sowas einen runterzuholen. Ach, Quatsch! Also ob sie das jemals getan hätten. Michael durchforstete das Internet nach aktuellen Horrorstreifen. Ein neuer Teil des Halloween-Klassikers war am Start. Och nö. Dann doch lieber was mit Zombies. Am besten überließ er es Serhan, einen Film auszuwählen. Zufrieden mit dieser Entscheidung wechselte Michael zu seinem Zeitungs-Abo und las den restlichen Heimweg.

Bis acht Uhr drückte er sich vor dem Anruf, doch dann fand er keine Ausreden mehr. Er wählte also Serhans Nummer und merkte, wie ein Frosch in seinem Hals wuchs, während er in den Hörer lauschte.

Gerade wollte er wieder auflegen, als das Gespräch angenommen wurde: „Hi Micha. Was verschafft mir die Ehre?“

„Ähm … Hi.“ Michael räusperte sich umständlich. „Ich wollte fragen, ob du am Freitag Lust hättest, mit mir einen Film zu gucken.“

„Freitag?“, echote Serhan. „Okay. Was läuft denn im Kino?“

„Ich dachte eher ans Couchkino.“

„Ach so. Wer kommt noch?“

„Öhm … also … ich dachte, wir bleiben unter uns.“

„Ist mir nur recht. Dieses ganzen Verliebten gehen mir höllisch auf den Geist.“

Autsch! Das war ein Schlag unter die Gürtellinie. „Stimmt. Geht mir genauso.“

„Wir könnten Janosch einladen. Der ist ja genauso doof dran wie wir“, schlug Serhan vor.

„Gute Idee“, log Michael. „Ich ruf ihn gleich an. Wie ist es? Bringst du einen Film mit? Ich kümmere mich um den Rest.“

„Abgemacht. Was darf’s sein? Einen Splatter? Oder was weniger Blutiges?“

„Wenn’s okay ist, lieber was Vegetarisches.“

„Weichei“, spottete Serhan. „Gut. Ich bring eine Auswahl mit. Um wieviel Uhr?“

„Sieben? Ich könnte Pizza bestellen.“

„Gebongt. Ich nehme eine mit Salami, Oliven und doppelter Portion Käse.“

„Ist notiert. Dann also bis Freitag“, verabschiedete sich Michael.

„Jau. Bis denne“, erwiderte Serhan und legte auf.

Na super! Wie kam er aus der Sache mit Janosch wieder raus? Behauptete er, dass ihr Freund keine Zeit hätte, würde die Lüge wahrscheinlich am nächsten Dienstag auffliegen. Schwindelte er, den Anruf vergessen zu haben, holte Serhan das garantiert nach. Er biss also in den sauren Apfel und wählte Janoschs Nummer. Der nahm sofort ab.

„Hi Micha. Wie geht’s?“

„Gut soweit. Sag mal … was machst du Freitagabend?“

„Sorry, da bin ich verabredet“, antwortete Janosch.

Ihm fiel ein Stein vom Herzen. „Schade. Mit wem denn?“

„Ach, nur ein Kunde meiner Eltern. Ein Geschäftsessen.“

„Du Armer. Na, dann viel Spaß. Bis spätestens Dienstag.“

„Mal gucken. Kann sein, dass ich da auch verhindert bin“, gab Janosch zurück. „Ich melde mich in dem Fall aber vorher. Schönen Abend.“

„Wünsch ich dir auch.“ Nachdenklich ließ Michael den Hörer sinken. Normalerweise verpasste Janosch nie einen Dienstag im Grenzwertig. Was war denn da los? Egal. Hauptsache, die Sache mit Serhan klappte.

 

Den Donnerstag überstand er noch ziemlich ruhig, aber ab Freitagmittag wurde er zunehmend hibbelig. Glücklicherweise war an diesem Tag früh Feierabend, was ihn daran hinderte, auf der Arbeit grobe Schnitzer zu machen.

Auf dem Heimweg kaufte er ein und kam gegen vier schwer beladen zuhause an. So schön es auch war, gemütlich in der Bahn zu sitzen und zu lesen, statt sich hinterm Lenkrad zu langweilen: Mit dem Wagen zum Supermarkt zu fahren besaß deutliche Vorteile, vor allem, wenn man haufenweise Getränke besorgte. Michaels Arme schienen vom Schleppen etliche Zentimeter länger geworden zu sein.

Nachdem er ausgepackt hatte - zwei Sixpacks Pils, eine Flasche Rum, dreimal Cola, Chips, Erdnussflips, Salzstangen und ein paar Lebensmittel fürs Frühstück - putzte er seine Wohnung. Anschließend war er völlig verschwitzt. Unter der Dusche nahm er die überfällige Intimrasur vor und benutzte verschwenderisch viel Shampoo sowie Duschgel.

Hinterher musterte er sich kritisch im Spiegel. Gleichmäßige Gesichtszüge, unspektakuläre braune Augen, Haare, schlaff wie Spaghetti, in langweiligem Braun. Nur sein Mund stach ein bisschen heraus. Die Lippen waren voll und schön geschwungen. Serhan hingegen war ein echter Adonis, mit dem dunklen Teint, pechschwarzem Schopf und tiefdunklen Augen. Hinzukamen meterlange Wimpern und ein Traumkörper, außerdem war Serhans stete gute Laune ansteckend. Seufzend gestand sich Michael ein, dass er damit kaum konkurrieren konnte, was ihn noch mehr von seiner Mitleidsmasche überzeugte.

Er cremte sich gründlich mit Lotion ein und schlüpfte in schwarze Pants, seine Lieblingsjeans und ein weißes T-Shirt. Danach bereitete er im Wohnzimmer alles vor. Neben der Couch, auf einem Servierwagen, baute er die Getränkebatterie auf, stellte Schüsseln für den Knabberkram und Gläser bereit und legte Servietten dazu. Den Adventskranz, den ihm seine Mutter jedes Jahr schenkte, verlagerte er vom Couchtisch auf die Fensterbank. Schließlich brauchten sie den Tisch zum Essen.

Prüfend schaute er sich um. Auf dem Sideboard standen Weihnachtsfiguren aus dem Erzgebirge, ein Erbe seiner Großeltern. Rasch räumte er sie in eine Schublade, da sie in seinen Augen plötzlich peinlich wirkten.

Noch eine halbe Stunde, bis Serhan eintraf. Unruhig tigerte Michael durch die Wohnung, räumte hier etwas weg, rückte da etwas gerade und sah alle naslang aus dem Küchenfenster, von dem er Ausblick auf die Straße hatte. Kam Serhan eigentlich mit dem Fahrrad? Dafür fand er es zu kühl, aber sein Freund fuhr bei jedem Wetter. Als Fahrradkurier war man bestimmt abgehärtet. Michael zückte sein Smartphone und checkte die Temperatur. Acht Grad, Tendenz fallend. Für Dezember relativ milde, für eine Frostbeule wie ihn bitterkalt.

Ihm fiel die Pizza ein. Er ging eilte in sein Arbeitszimmer, das diesen Namen kaum verdiente. Darin befand sich zwar ein Schreibtisch, ansonsten jedoch nur Kram, der im Grunde überflüssig war. Er nahm vorm Notebook Platz und rief die Seite seines Lieblingslieferdienstes auf. Für Serhan orderte er den gewünschten Belag, für sich selbst eine mit Schafskäse und Oliven. Sonst aß er meist Thunfisch oder Spinat, aber beides schied in Anbetracht seiner Pläne aus. Das eine wegen des Fischgeruchs, das andere wegen der grünen Fäden zwischen den Zähnen.

Als die Bestellung abgeschickt war, holte er zur Ablenkung ein Kartenspiel auf den Bildschirm. Nach kurzer Zeit gab er wegen mangelnder Konzentration auf und fing wieder an, durch die Räume zu laufen.

Seine Wohnung war ein absoluter Glücksgriff. Sie lag im Erdgeschoss in Marienthal, nur zwanzig Minuten zu Fuß vom Grenzwertig entfernt. Die Miete war erschwinglich und es gab sogar eine Tiefgarage, in der sein Polo parkte. Einziger Makel: Man hörte die Regionalbahn, deren Gleise in der Nähe vorbeiführten. Zum Glück verkehrte der Zug bloß halbstündlich, der letzte gegen elf und der erste gegen sieben. Insofern hielt sich der Lärm im Rahmen.

Endlich ertönte die Türglocke. Michael zuckte zusammen, obwohl er darauf gewartet hatte. Er betätigte den Öffner und spähte ins Treppenhaus. Tatsächlich schien Serhan mit dem Drahtesel gekommen zu sein, wenn er die geröteten Wangen und verstrubbelten Haare richtig deutete.

„Hi, Alter.“ Serhan drückte ihm eine Plastiktüte in die Hand. „Kleines Mitbringsel.“

Er ließ seinen Gast eintreten, schob die Wohnungstür mit dem Fuß ins Schloss und guckte in die Tüte. Wodka? Seit wann trank Serhan solches Zeug? Hatte er was verpasst?

„Nur für den Fall, dass deine Vorräte nicht reichen“, erklärte Serhan, der sich vor der Garderobe von Schal, Jacke und Schuhen befreite.

„Und was ist mit den Filmen?“

Mit einem breiten Grinsen zog Serhan zwei DVDs aus der Jackeninnentasche. „Tadaa! Für immer Shrek und From dusk til dawn.“

„Eine gelungene Mischung“, murmelte Michael kopfschüttelnd, stellte den Wodka in den Kühlschrank und folgte Serhan ins Wohnzimmer.

 

Impressum

Texte: Sissi Kaiserlos
Bildmaterialien: shutterstock, depositphotos
Cover: Lars Rogmann
Lektorat: Aschure - dankeschön
Tag der Veröffentlichung: 09.11.2018

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