Es hatten sich nur wenige Personen in der Kapelle versammelt. In vorderster Reihe saßen der Gatte des Verstorbenen und dessen Eltern, dahinter verteilte sich eine Handvoll gemischtes Publikum. Vermutlich Freunde und Bekannte.
Holger überflog ein letztes Mal seine Notizen. Den Löwenanteil zum Inhalt hatten die Eltern des Verblichenen beigesteuert. Der Ehemann war bei ihrer Besprechung zwar dabei, aber weitestgehend stumm gewesen. Wahrscheinlich trauerte der arme Mann zu sehr, um Worte zu finden. Das erlebte Holger oft. Der Tod kam, selbst wenn man ihn erwartete, stets überraschend.
Die Musik, who wants to live forever von Queen, endete. Er trat ans Rednerpult, legte seine Zettel darauf ab und räusperte sich. „Nichts ist gewisser als der Tod – nichts ist ungewisser, als seine Stunde. Diese Worte stammen von Anselm von Canterbury.“
Holger legte eine winzige Kunstpause ein, bevor er weitersprach: „Liebe Familie, liebe Freunde. Wir sind hier, um Abschied von Cord zu nehmen.“
Während seiner folgenden Ansprache beobachtete er die Anwesenden. Die Mutter löste sich in Tränen auf, der Vater wirkte gefasst und der Gatte apathisch. Auch das sah Holger häufig. Vielfach vermochten die Trauernden nicht zu realisieren, dass der Angehörige wirklich tot war. Meist erfolgte das erst, wenn der Sarg - oder, wie in diesem Fall, die Urne - in die Erde gelassen wurde.
„Und denkt bitte daran: Cord ist weiterhin bei euch, in euren Herzen und Gedanken. So lange ihr ihn nicht vergesst, wird er weiterleben“, schloss Holger seine Rede und gab seinem Assistenten ein Zeichen, woraufhin Andreas Bouranis Auf anderen Wegen ertönte.
Zu den Klängen erhoben sich die Anwesenden und begannen, an der Urne vorbei zu defilieren. Allen voran der Witwer, der stumm, die Hände gefaltet, kurz davor verharrte. Danach kamen die Eltern, gefolgt vom Rest. Holger stand am Ausgang und nickte jedem, der ihn passierte, ernst zu. Das Schlusslicht bildete sein Assistent mit der Urne.
Im Gänsemarsch ging’s, der Urnenträger voran, gleich dahinter Holger mit dem Blumenschmuck, zur Grabstätte. Man hatte sich für eine Stelle im Ruheforst entschieden, einem erst vor wenigen Jahren neu angelegten Bereich. Dieser lag in unmittelbarer Nähe des angrenzenden Waldgebietes und bestand aus jungen Bäumen, um die kreisförmig Urnen beigesetzt wurden.
Sein Onkel Waldemar, dem das Bestattungsinstitut gehörte, unkte manchmal, dass man irgendwann den Angehörigen nur noch die Asche des Verstorbenen in eine Dose eingeschweißt übergeben würde. Alles Weitere wäre dann Sache der Hinterbliebenen. Meist äußerte sein Onkel solch düstere Prognosen unter Alkoholeinfluss. Glücklicherweise trank Waldemar Pastengräber selten. Holger galt zwar als Schwarzseher, aber was seinen Job betraf mochte er es gar nicht, wenn jemand dessen baldiges Ende prophezeite.
Sein Assistent senkte die Urne in das ausgehobene Loch und trat beiseite. Holger stellte sich vor die Trauergemeinde, neben einen Eimer Erde, in der eine kleine Schaufel steckte.
„Wenn ihr mich sucht, sucht in euren Herzen. Habe ich dort eine Bleibe gefunden, lebe ich in euch weiter. Mit diesem Zitat von Rainer Maria Rilke verabschieden wir uns von Cords sterblicher Hülle.“ Nach diesen Worten zog er sich einige Schritte zurück.
Erneut machte der Witwer den Anfang, legte eine rote Rose ins Grab und warf eine Schaufel Erde hinterher. Die Eltern taten das Gleiche, dann die übrigen Gäste. Wie aufs Kommando fing der Himmel an zu weinen. Erst nur ein paar Tropfen, doch schnell wurde ein richtiger Guss daraus. Entsprechend beeilten sich die Anwesenden, die Stätte zu verlassen. Unter aufgespannten Schirmen oder die Handtaschen überm Kopf, kondolierten die Leute dem Witwer und den Eltern, bevor sie davon hasteten.
Hans Wannegat, Rentner und sein Assistent bei Trauerfeiern, hatte ebenfalls einen Regenschirm dabei, so dass sie einigermaßen trocken die Kapelle erreichten. Schnell war der Innenraum aufgeräumt. Anschließend stiegen sie in ihren Dienstwagen und machten sich auf den Rückweg zum Bestattungsinstitut.
„Also, wenn du mich fragst, war der Tote nicht sonderlich beliebt“, meinte Hans.
„Wir hatten schon Beerdigungen mit weniger Teilnahme.“
„Ich weiß. Trotzdem. Ich hatte nicht den Eindruck, dass einer von denen, bis auf die Mutter, richtig um den Typen trauert.“
„Tränen sind kein Beweis“, widersprach Holger. „Vielleicht hatte sie ein mit Zwiebelsaft getränktes Taschentuch dabei.“
„Du nun wieder.“ Schmunzelnd zwinkerte Hans ihm zu. „Gehen wir irgendwo einen Kaffee trinken? Oder wartet schon die nächste Leiche auf dich?“
„Gewöhnlich zeichnen sich unsere Kunden durch große Geduld aus.“
Hans gluckste. „Das liebe ich an diesem Geschäft.“
Verständlich. Hans war vor der Verrentung als Einzelhandelskaufmann im Bekleidungssektor tätig gewesen. Vor dreißig Jahren hatte dieser Beruf wohl noch Spaß gemacht, doch in Zeiten von Discountern und anderen Billigramsch-Läden dürfte einem das Lachen vergangen sein. Na gut, es war wohl eher vierzig Jahre her. Holger kannte nämlich von klein auf nur Klamottengeschäfte à la Hennes&Schauritz.
Wenig später hielt er auf dem Parkplatz eines Supermarktes, in dessen Eingangsbereich sich eine Bäckerei mit Sitzmöglichkeiten befand. Großzügig spendierte Hans die Getränke, mit denen sie es sich an einem Fensterplatz gemütlich machten.
Der Regen hatte inzwischen aufgehört. Sinnend guckte Holger, seinen Becher in den Händen, nach draußen. Eine Windböe kräuselte die Oberflächen der Pfützen. Zwei Kinder mit bunten Gummistiefeln, an den Händen einer Frau, versuchten in möglichst viele der Wasserlachen zu treten. Sehr zum Missvergnügen der Dame. Sie zerrte an den beiden und schimpfte in einem fort, was Holger zwar nicht hören, aber an ihren schnappartigen Mundbewegungen sehen konnte.
„Meine Enkel kommen dieses Wochenende zu Besuch“, meldete sich Hans, der ebenfalls auf den Parkplatz geguckt hatte, zu Wort.
„Welche? Die Hannoveraner oder Flensburger?“
„Letztere. Sabine bringt sie am Freitag und holt sie am Sonntag wieder ab.“
„Du Armer.“
„Ach was. Die sind noch im flauschigen Alter. Wir gehen Samstag ins Schwimmbad und Sonntagmittag ins Kino. Damit sind sie vollauf zufrieden.“
Obwohl Holger aus einem behüteten Elternhaus stammte, konnte er sich mit Familie nicht so recht anfreunden. Seiner Schwester ging es genauso. Sie arbeitete selbständig als Physiotherapeutin und wechselte Männer schneller, als manche ihre Unterwäsche. Eventuell gab es einen Zusammenhang mit dem Beruf ihres Vaters. Der war evangelischer Pfarrer. Sie hatten also, praktisch mit der Muttermilch, die Bibel inhaliert. Vermutlich war dadurch eine Art Allergie entstanden, die sich erst in späteren Jahren auswirkte.
Nach dem Kaffee trennten sich ihre Weg: Hans ging zu Fuß nach Hause, Holger fuhr weiter. Auf ihn wartete noch ein bisschen Papierkram. Die Endrechnung für die Beerdigung konnte erstellt werden, da nun alle Belege der anderen Beteiligten vorlagen. Es war oberste Pflicht, diese Kosten möglichst schnell weiter zu belasten. Sein Onkel besaß zwar eine Kapitaldecke, doch die schrumpfte rasch, wenn man Auslagen in vierstelliger Höhe tätigte.
Abends ging er, wie jeden Dienstag, ins Grenzwertig, um mit seiner Clique zu darten. Seit Tristan und Keegan, zwei seiner sechs Kumpel, unter der Haube waren, hatte sich allerdings etwas verändert. Zum einen fehlte oft einer der beiden, zum anderen kamen merkwürdige Themen auf den Tisch. Beispielsweise erzählte Keegan, der zum Pflegevater avanciert war, Anekdoten von den Zwillingen. Die anderen amüsierten sich darüber, Holger hingegen fand das zum Gähnen langweilig.
Diesmal waren sowohl Tristan als auch Keegan mit von der Partie. Wie in guten alten Zeiten, warfen sie sich gegenseitig dumme Sprüche an den Kopf. Niemand verlor ein Sterbenswörtchen über Kinder, womit für Holger den Abend rundherum gelungen fand. Daran änderte auch sein Pech beim Darten nichts.
Am nächsten Tag meldete sich Jonas Grubner, der Gatte des verstorbenen Cord Sanmann, und vereinbarte einen Termin für ein Vorsorgegespräch. Eigentlich etwas frühzeitig, denn der Mann war erst geschätzt Mitte dreißig, aber Geld stank ja bekanntlich nicht. Außerdem konnte Holger dem Kunden dann auch gleich die Rechnung, die er am Vortag fertiggestellt hatte, präsentieren.
Pünktlich um drei Uhr kreuzte Grubner im Laden auf. Nebenbei angemerkt: Der Kerl sah ziemlich gut aus. Hübsche braune Augen, schlank und vor allem fand Holger die feingliedrigen Finger sehr schön. Diesbezüglich war er ein bisschen fetischmäßig veranlagt.
Er bat Grubner in sein Büro, holte Kaffee sowie Mineralwasser und nahm mit dem Mann am Besprechungstisch Platz. Auch deshalb liebte er seinen Job: Wegen des großzügigen Raumes mit Privatsphäre. War mal wenig los, verschanzte er sich hinterm Schreibtisch und surfte im Internet oder spielte irgendetwas.
Aus taktischen Gründen unterhielt er sich mit Grubner erstmal über Vorsorgemöglichkeiten, anstatt den Kunden gleich mit der Rechnung zu konfrontieren. Die war zwar im veranschlagten Rahmen ausgefallen, dennoch reagierten einige Leute schockiert. Trauer wirkte sich offenbar auf das Erinnerungsvermögen aus.
Grubner wollte alles über Seebestattungen wissen. Ausgiebig erörterten sie die Vor- und Nachteile. Langfristig gesehen war es günstiger als andere Bestattungsformen. So fielen keinerlei Kosten für die Grabnutzung, -stein und -pflege an. Eine begleitete Beisetzung auf See schlug mit 800 bis 3.000 Euro zu Buche, eine stille mit 200 bis 500 Euro. Diese Preise galten nur für Nord- und Ostsee.
„Wie sieht es mit dem Mittelmeer aus?“, wollte Grubner wissen.
Bisher war noch niemand mit solchem Wunsch an Holger herangetreten. „Das müsste ich erst eruieren. Ich kann Ihnen gern dazu ein Angebot schicken.“
„Bitte.“ Grubner schlug ein Bein übers andere und spähte in die mittlerweile leere Tasse. „Darf ich noch ein bisschen Kaffee haben?“
„Aber natürlich“, erwiderte Holger, schenkte nach und holte in diesem Zuge die Rechnung von seinem Schreibtisch, um sie vor dem Kunden auf den Tisch zu legen. „Das ist die Endabrechnung. Die Vorauszahlung habe ich bereits berücksichtigt, so dass nur noch eine geringe Summe fällig ist.“
Gering war dabei ein dehnbarer Begriff. Insgesamt hatte die Beisetzung rund 4.000 Euro gekostet, wovon zwei Drittel ausstanden.
Mit unbewegter Miene studierte Grubner den Beleg und steckte ihn gefaltet in die Jackettasche. „Ich werde die Überweisung morgen veranlassen.“
„Danke, auch im Namen meines Onkels.“
Grubner runzelte die Stirn. „Das hier ist ein Familienbetrieb?“
„Sozusagen. Neben meinem Onkel und mir arbeiten hier sonst nur Aushilfen.“
Sein Gast nippte am Kaffee, ohne ihn aus den Augen zu lassen. Besaß der Typ einen Gaydar? Oder warum musterte Grubner ihn derart intensiv? Automatisch fuhr sich Holger übers Haar, um rauszufinden, ob sich eine Strähne aus dem Knoten gelöst hatte. Bei der Arbeit trug er wahlweise einen Zopf oder Dutt, wobei er die Bezeichnung Bun bevorzugte. Das andere klang zu altbacken.
„Also können Sie sich Ihre Zeit relativ frei einteilen?“, fragte Grubner.
„Ähm … wie meinen Sie das?“
„Es wird doch sicher so etwas wie einen Neffen-Bonus geben“, erläuterte Grubner.
„Keine Ahnung. Ich hab noch nie versucht, meinen Status auszunutzen.“ Bis auf den Umstand, dass er ohne Familien-Bonus den Job nicht bekommen hätte.
„Sind Sie gelernter Bestatter?“
„Nein. Ich bin Quereinsteiger. Mein Studium, Ethnologie und Kunstgeschichte, prädestiniert mich zwar nicht unbedingt für den Beruf, ist aber durchaus hilfreich.“
So etwas wie Anerkennung glomm in Grubners Schokoaugen auf. Vielleicht bildete er sich das aber nur ein, weil er es sehen wollte. Zugegeben: Holger war stolz auf seinen guten Abschluss.
„Ich will Sie mal nicht länger aufhalten.“ Grubner leerte die Tasse, fischte eine Visitenkarte aus der Innentasche des Jacketts und legte sie auf den Tisch. „Bitte schicken Sie mir das Angebot für die Seebestattung per E-Mail. Das spart Papier.“
Neugierig überflog Holger das Kärtchen. So, so, ein Banker. Darauf hätte er, angesichts des steifen Anzugs, auch fast getippt. Handschriftlich war am unteren Rand Grubners private E-Mail-Adresse vermerkt.
„Vielen Dank für Ihren Besuch“, erwiderte er artig, stand auf und geleitete Grubner zum Ausgang, wo sie sich mit Handschlag verabschiedeten.
Nachdenklich kehrte Jonas zu seinem Wagen zurück. Holger Pastengräber war Cord auf unheimliche Weise ähnlich. Dieser Eindruck hatte sich während ihres Treffens, unter dem Vorwand eines angeblichen Vorsorgewunsches, noch verstärkt. Neben den Äußerlichkeiten - lange braune Haare, feingeschnittenes Gesicht, blaue Augen und grazile Statur - war es Pastengräbers trockene, coole Art, die ihn an Cord erinnerte.
Gewisse Übereinstimmungen hatte er schon beim ersten Gespräch, als es um die Trauerrede ging, bemerkt, aber erst später richtig realisiert. Durch den Todesfall war er in seiner Wahrnehmung noch zu beeinträchtigt gewesen.
Genau wie von Pastengräber zitiert, ‚nichts ist gewisser als der Tod – nichts ist ungewisser, als seine Stunde‘, hatte Cords Herz urplötzlich aufgehört zu schlagen. Zu dem Zeitpunkt war die Diagnose Lungenkarzinom ein Jahr her. Krebs-Spezialisten hatten Cord nur drei bis sechs Monate Lebenserwartung prognostiziert. Mit jedem Tag, den sein Gatte länger durchhielt, war die Hoffnung auf eine Fehleinschätzung gestiegen. Zum Schluss hatte sich Cords Zustand sogar erheblich gebessert, wahrscheinlich ein letztes Aufbäumen, bevor Gevatter Tod endgültig zuschlug.
Obwohl Cords Ableben für sämtliche Beteiligten eine Erleichterung darstellte, da sein Gatte ein unleidlicher Patient war, saß der Schock anfänglich tief. Eben noch gemeinsame Pläne geschmiedet, stand Jonas unversehens vor dem Nichts. Cord und er hatten vorgehabt, ein letztes Mal auf ihre Lieblingsinsel zu reisen. Eine Woche Palma de Mallorca in einem Luxushotel. Henkersmahlzeit hatte Cord das scherzhaft genannt und sich zwanzig Tage vorher aus dem Staub gemacht. Irgendwie bezeichnend für ihr Verhältnis. Ein Wunder, dass sie es überhaupt je zum Standesamt geschafft hatten.
Jonas schwang sich hinters Steuer seines BMWs, den er auf dem Gelände des gegenüberliegenden Friedhofs Ohlsdorf geparkt hatte. Cord war auf einem anderen, wesentlich kleineren in Bergstedt beigesetzt worden. Zusammen hatten sie das Grab ausgesucht, genau wie die Trauermusik und eine Anzahlung beim Bestattungsinstitut, beim alten Pastengräber, hinterlegt. Gewissermaßen ein Schulterschluss kurz vor Toresschluss.
Seufzend wischte sich Jonas ein paar verirrte Strähnen aus der Stirn. Er wünschte, er könnte das vergangene Jahr ebenso einfach wegwischen. Seine Versuche, einen auf heile Welt zu machen und sein Einlenken, wann immer Streit auszubrechen drohte. Man zankte nun mal nicht mit einem Todkranken. Scheiß Pietät! Mal wieder war er der Leidtragende gewesen, wie schon all die Jahre davor. Oft hatte er Cords Tod herbeigesehnt, um endlich mit allem abschließen zu können, woraufhin ihn sein schlechtes Gewissen veranlasste, besonders liebevoll zu seinem Ehemann zu sein.
Hätte Cord keinen Lungenkrebs gehabt, wären sie schon lange geschieden gewesen. Die schlechte Nachricht traf ausgerechnet in der Phase ein, in der er sich zur Trennung durchgerungen hatte. Entsprechend glaubte er, Cord hätte ihm einen Bären aufgebunden, bis er die Diagnose schwarz auf weiß sah. Kurz darauf wurde deren Wahrheitsgehalt deutlich: Cord bekam Chemo, verlor alle Haare und magerte ab. Zum Schluss bestand er nur noch aus Haut und Knochen. Tja. Und nun passte er sogar in eine Urne.
Jonas startete den Motor und lenkte seinen Wagen zum Ausgang. Die Rushhour hatte inzwischen eingesetzt. Vorm Friedhof staute sich der Verkehr, so dass er eine ganze Weile brauchte, bis er die Ratsmühlendamm-Brücke überquert hatte. Dahinter ging es besser voran. Wie immer benutzte er einen Schleichweg, anstelle der Hauptstraßen und stellte wenig später seinen Wagen in der Garage ab.
Buntes Laub bedeckte den Vorplatz. Beinahe rutschte er auf ein paar unter Blättern versteckten Eicheln aus. Verärgert kickte er die Dinger ins Gebüsch und beschloss, am Wochenende vor den Garagen zu fegen. Hoffentlich kam ihm einer der Nachbarn zuvor.
Im Flur seines Reihenhauses entledigte er sich seiner Schuhe und des Mantels, bevor er die Treppe hochstieg, um in Wohlfühlklamotten zu schlüpfen. In Jogginghose und Sweatshirt kramte er ein Fertiggericht aus dem Tiefkühlfach hervor und stellte es in die Mikrowelle. Anschließend ging er ins Wohnzimmer, das, anstatt als Krankenstation, wieder dem ursprünglichen Zweck diente. Sowohl das geliehene Bett als auch die Sauerstoffflasche und anderes Equipment, waren nach Cords Tod unverzüglich abgeholt worden.
Er ließ sich auf der Couch nieder und betrachtete die Reiseunterlagen, die sich auf dem Tisch befanden. Urlaubskataloge, die Bestätigung des Reisebüros, ihre Flugtickets. Es war alles bis ins Detail organisiert gewesen. Jonas hatte mit einer in Palma ansässigen Klinik Kontakt aufgenommen, um die Notfallversorgung zu sichern und benötigte Ausstattung zu leihen. Für den Transport ins Flugzeug und Hotel war gesorgt, vor Ort ein Elektrorollstuhl gemietet, damit Cord mobil blieb. Das ganze Zeug hatte er inzwischen storniert, bis auf die Reise.
Erst wollte er allein fliegen, um sich auf Mallorca von den letzten Monaten zu erholen. Nachdem er Holger Pastengräber getroffen und sein Gaydar eindeutig ausgeschlagen hatte, reifte in ihm eine neue Idee. Wahrscheinlich war das verrückt, aber er glaubte daran, sich in Begleitung von Cords Doppelgänger besser von seiner Vergangenheit lösen zu können. Ständig die Unvollkommenheit seines Ehemanns vor Augen geführt zu bekommen, musste doch heilsame Kräfte haben.
Wie sollte er es aber bewerkstelligen, Pastengräber Junior als seinen Begleiter anzuheuern? Seine sozialen Kompetenzen waren leider ziemlich mangelhaft. Das hatte Cord ihm immer wieder vorgeworfen, neben seinen fehlenden Qualitäten im Bett. Beides war für seinen Gatten Grund genug gewesen, sich mit anderen zu vergnügen. Niemand wusste davon, bis auf die Betroffenen. Cords Eltern hielten ihren Sohn weiterhin für einen mustergültigen Ehemann und seine hatten Cord nie gemocht, aber mit denen war er eh kaum in Kontakt.
Zurück zu Holger Pastengräber: Wie bewegte man jemanden dazu, mit einem Fremden eine Reise anzutreten? Half bei Pastengräber das Zaubermittel Geld? Der Typ schien nicht unter monetärer Not zu leiden. Wie sah es mit Sex aus? Wäre das ein Lockmittel? Ha, ha! Sehr witzig! Als ob er in der Richtung was zu bieten hätte. Nicht umsonst war Cord ständig fremdgegangen.
Jonas holte sein Mikrowellengericht und verspeiste es vor der Glotze. Es sollte ein Gesetz gegen schlechte Unterhaltung erlassen werden, doch dann wäre das Fernsehen weitestgehend tot. Also auch keine Lösung. Zumindest stimmte ihn die laufende Sendung - seit wie vielen Jahren gab es eigentlich diesen Wer wird Millionär-Scheiß? - zuversichtlich, dass Leute für Knete zu vielem bereit waren; unter anderem dazu, sich vor laufender Kamera zum Affen zu machen. Vielleicht hatte er demnach bei Pastengräber ebenfalls Erfolg. Falls nicht, war er es, der sich zum Narren machte. Jonas hatte schon weitaus Schlimmeres erlebt.
Im Laufe des nächsten Vormittags traf Pastengräbers Angebot ein. Jonas fand die Mail erst, als er in der Mittagspause seinen Account checkte. Eines stand fest: Tot reiste man teurer auf die Balearen als lebendig. Er schickte eine Antwort, in der er Pastengräber um ein Treffen im Café neben dem Bestattungsinstitut bat.
Anscheinend witterte der Mann ein Geschäft, denn die Erwiderung kam prompt. „Sehr gern. Wann und um wie viel Uhr? Herzliche Grüße, Ihr Holger Pastengräber.“
„Heute um fünf?“
„Das passt. Also, bis nachher und noch viel Erfolg. Herzlich Grüße, Ihr Holger Pastengräber.“
Jonas war versucht, eine Mail mit ‚Schmerzliche Grüße, Ihr Jonas Grubner‘ zu senden, ließ es aber sein. Bestimmt besaß Pastengräber keinen Funken Humor, denn das wäre in dem Gewerbe kontraproduktiv.
Den Rest seiner Pause verbrachte er damit, über ein adäquates Angebot zu grübeln. Unter Zugrundelegung von Callboy-Tarifen, die er im Internet fand, müsste er ein hohes Sümmchen aufwenden. Andererseits beinhaltete das Engagement keinen Sex, was ja wohl einen erheblichen Abschlag rechtfertigte. Letztendlich entschied er, Pastengräber pro Tag 150 Euro zu offerieren. Das waren immerhin insgesamt 1.050 Euro, zuzüglich der Reise und kostenloser Verpflegung.
Als letzte Amtshandlung überwies er die restlichen Beerdigungskosten, bevor er sich wieder seiner Arbeit widmete.
Um kurz vor vier parkte er seinen Wagen erneut auf dem Friedhofsgelände. Es regnete ziemlich heftig. Er spannte seinen Schirm auf und eilte zur nächsten Fußgängerampel. Als er die andere Straßenseite erreichte, hatte der Guss bereits seine Hosenbeine durchnässt. Zum Glück waren es nur wenige Schritte bis zum Café. Vor dem überdachten Eingang klappte er seinen Regenschirm zu, ehe er das Lokal betrat.
Nur wenige der Tische waren besetzt, dafür die Bar gut frequentiert. Offensichtlich hatte die draußen mit Schildern angekündigte Happy Hour einiges an jungem Volk angelockt. In einer Nische am Fenster saß Holger Pastengräber und sprang auf, als er sich näherte. Wie am Vortag trug der Mann die Haare zu einem angesagten Dutt am Hinterkopf verschnürt. Mit Dreitagebart dürfte das verboten sexy aussehen.
„Guten Tag“, begrüßte ihn Pastengräber, reichte ihm die Hand und nahm wieder Platz.
Jonas erwiderte den Gruß, setzte sich gegenüber hin und überflog die laminierte Getränkekarte. Schade, dass er noch fahren musste. Er könnte etwas Alkoholisches gut gebrauchen, um sich Mut anzutrinken. „Einen Cappuccino, bitte“, bestellte er beim herbeigeeilten Kellner und deponierte seinen Schirm auf der Fensterbank.
„Was für ein Wetter.“ Kopfschüttelnd guckte Pastengräber aus dem Fenster. „Man könnte meinen, die Welt geht unter.“
Dazu fiel Jonas keine gescheite Erwiderung ein. Er war noch nie gut in Smalltalk gewesen.
„Ich hoffe, ich habe Sie mit meinem Angebot nicht geschockt“, redete Pastengräber weiter, den Blick nun auf ihn gerichtet. „Vielleicht gibt es günstigere Möglichkeiten. Wenn Sie möchten, kann ich mich gern darum kümmern.“
Jonas winkte ab. „Wenn ich es billiger haben will, kann ich ja auf Mallorca Suizid begehen.“
Pastengräbers Mundwinkel zuckten verräterisch, aber nur ganz kurz. „Also bitte, Herr Grubner! Darüber scherzt man nicht.“
„Verzeihung“, murmelte er und dankte dem Kellner, der das bestellte Getränk vor ihm abstellte, mit einem Lächeln. „Wo wir gerade über Mallorca reden: Waren Sie schon mal dort?“
„Ein paarmal als Jugendlicher. Ballermann und so“, erwiderte Pastengräber. „Heutzutage zieht mich nichts mehr dorthin.“
Enttäuschung breitete sich in Jonas aus. Anscheinend zog er ein langes Gesicht, denn Pastengräber ruderte zurück: „Das ist nicht abwertend gemeint. Die Insel hat durchaus ihren Reiz.“
Der Typ war schlüpfrig wie ein Aal. Vermutlich würde Pastengräber alles Mögliche behaupten, nur um einen Kunden nicht zu verärgern. Etwas ratlos, wie er weiter vorgehen sollte, rührte Jonas in seinem Cappuccino.
„Also, ich würde eigentlich schon ganz gern mal wieder dorthin. Gerade um diese Jahreszeit, wenn es draußen so kalt und grau ist.“ Pastengräber seufzte vernehmlich. „Na ja. Wer träumt nicht von Urlaub?“
„Könnten Sie denn kurzfristig freinehmen?“
„Können schon. Mein Onkel liegt mir ständig in den Ohren, dass ich endlich meine Urlaubstage nehmen soll.“
Bingo! „Was würden Sie tun, wenn Ihnen jemand eine Mallorca-Reise schenkt?“
Pastengräber zog die Augenbrauen zusammen. „Tja, gute Frage. Käme darauf an, welche Bedingungen daran geknüpft sind.“
„Nehmen wir mal an, Sie würden dafür noch eine Belohnung bekommen.“
Sein Gegenüber runzelte die Stirn. „Worauf wollen Sie hinaus?“
„Okay. Reden wir offen. Ich hab vor Cords Tod eine einwöchige Reise für zwei Personen gebucht und stehe nun mit den beiden Flugtickets allein da.“
Pastengräber, weiterhin stirnrunzelnd, trank einen Schluck Kaffee. „Verstehe ich das richtig, dass Sie mir gerade ein unmoralisches Angebot unterbreiten?“
„Wieso unmoralisch? Ich brauche nur einen Reisebegleiter, keinen Bettwärmer.“
„Sprachen Sie nicht von einer Belohnung?“
„Ach so. Damit meinte ich Geld. Ich biete Ihnen pro Tag 150 Euro.“ Jonas sah förmlich, wie es in Pastengräbers Kopf ratterte.
„Und die Reise obendrauf?“
„Genau.“
„Öhm … darüber muss ich nachdenken. Wann soll es losgehen?“
„In fünf Tagen.“
„Das ist sehr kurzfristig. Warum ausgerechnet ich?“
„Ich hab nicht sonderlich viele Freunde. Außerdem würden die mich alle mit Samthandschuhen anfassen“, improvisierte Jonas. „Ich brauche aber jemanden, der mich ganz normal behandelt.“
„Ach so“, brummelte Pastengräber. „Ich dachte, es liegt an meinem umwerfenden Sexappeal.“
Ups! Steckte doch Humor in dem Kerl? „Wie ich schon sagte, bin ich nicht an Sex interessiert.“
„Verständlich, so kurz nach dem Verlust eines nahestehenden Menschen“, verfiel Pastengräber wieder in die Bestatter-Rolle.
„Also, wie sieht’s aus?“, drängelte Jonas.
„Ich sag morgen Bescheid.“
„Gut. Es würde mich sehr freuen, wenn Sie mich begleiten.“
„Eine Bedingung gleich vorab: Das mit dem Sie müssen wir lassen, sonst brauche ich gar nicht darüber nachdenken.“
„Selbstverständlich. Übrigens handelt es sich bei dem Hotelzimmer um eine Suite. Wir würden uns also nicht allzu nah auf der Pelle hocken.“
„Gut zu wissen.“ Pastengräber schob die Hemdsmanschette hoch, um auf eine altmodische Armbanduhr zu schauen. „Ich muss los. Sie hören morgen von mir.“
Jonas winkte den Kellner heran und zückte seine Börse. „Sie sind eingeladen.“
Zurück an seinem Arbeitsplatz ließ sich Holger in seinen Schreibtischsessel fallen. Stille Wasser waren verdammt tief: Niemals hätte er Grubner einen derartigen Vorschlag zugetraut. Eine Woche Urlaub umsonst, dazu noch ein Batzen Kohle. Er wäre dumm, dazu nein zu sagen, dennoch bereitete die Sache ihm Kopfschmerzen.
Wie kam Grubner dazu, gerade ihm solches Angebot zu unterbreiten? Lag es an seiner Ähnlichkeit mit dem Verstorbenen? Die war Holger sehr wohl aufgefallen. Gleicher Körperbau, gleiche Haarlänge und -farbe sowie Mundpartie. Aber sollte Grubner dann nicht eher davor zurückschrecken, mit ihm Zeit zu verbringen? Das riss doch nur frische Wunden wieder auf.
„Na, mein Junge“, holte ihn sein Onkel, der im Türrahmen lehnte, aus seinen Grübeleien. „Mach mal Feierabend. Ich krieg ja allmählich ein schlechtes Gewissen, dass ich dich ausbeute.“
„Ach, Unsinn“, wehrte Holger ab. „Wie sieht eigentlich die Planung für nächste Woche aus?“
„Das weißt du doch. Eine Urnenbeisetzung mit Fremdredner, eine ohne jegliches Drumherum und ansonsten das Übliche.“
„Also wäre ich abkömmlich?“
Sein Onkel begann zu strahlen. „Sag bloß, du machst endlich Urlaub.“
„Ich denke darüber nach.“
„Wunderbar. Ich trage dich für zwei Wochen in meinen Urlaubsplaner ein“, frohlockte sein Onkel und eilte davon.
Mancher Arbeitnehmer würde sich um solchen Chef reißen. Allerdings hatte Holger bisher erst fünf Tage seines Jahresurlaubs genommen, was seinem Onkel natürlich Sorgen bereitete. Er wäre in absehbarer Zukunft für längere Zeit nicht verfügbar. Insofern diente das vermeintlich selbstlose Verhalten reinem Eigennutz.
„Warum nicht gleich drei Wochen?“, rief er seinem Onkel hinterher.
„Du hast recht“, gab der zurück. „Also drei Wochen.“
Holger verdrehte die Augen gen Himmel. Ironie war für Waldemar Pastengräber ein Fremdwort. Das hatte sein Onkel mit seinem Vater gemein. Er liebte beide, trotzdem ging ihm deren stoisches Verhalten manchmal mächtig auf den Sack.
Er räumte seinen Schreibtisch auf und klemmte sich seine Aktentasche unter den Arm. Auf dem Weg guckte er ins Büro seines Onkels und wünschte einen schönen Feierabend, woraufhin der „gleichfalls“ murmelte, ganz vertieft in irgendeine Akte.
Draußen schiffte es schon wieder. Holger schlug seinen Jackettkragen hoch. Allmählich wurde es Zeit, einen Mantel über dem Anzug zu tragen. Unweigerlich erinnerte ihn das an Grubners Offerte. Eine Woche Sonne tanken wäre wirklich super. Er beschloss, daheim die Wettervorhersage für die Balearen zu checken und seine Entscheidung von den dort herrschenden Temperaturen abhängig zu machen.
Rund eine Stunde später, nachdem er sich die restliche Gemüsepfanne des vorigen Tages vorm Notebook reingezogen hatte, stand sein Entschluss fest. Für die kommende Woche waren auf Mallorca durchschnittlich 24 Grad angekündigt, bei zumeist wolkenlosem oder zumindest trockenem Wetter. Sollte er wie angekündigt bis morgen warten, bevor er eine Antwort schickte? Ach nein. Das wäre unfair. Bestimmt saß Grubner auf heißen Kohlen, denn das Flugticket und Hotel musste ja noch auf seinen Namen umgebucht werden.
Er schrieb also: „Hallo, ich habe mich entschieden, dein Angebot anzunehmen. Bitte ruf mich an, damit wir Details besprechen können. LG Holger Pastengräber. Privat Tel.: XXX.“
Anschließend besorgte er etwas zu trinken aus der Küche und ließ sich auf der Couch nieder. Gerade zappte er durch die Fernsehkanäle, als sein Festnetzanschluss läutete. Eine unbekannte Nummer. Das konnte eigentlich nur Grubner sein.
„Pastengräber“, meldete er sich dennoch förmlich.
„Hallo, hier ist Jonas Grubner.
„Das ging ja schnell. Steht deine Einladung noch?“
„Natürlich. Ich hab mir das vorher reiflich überlegt.“
„Gut. Dann schicke ich dir gleich meine persönlichen Daten, für die Umbuchungen. Meinst du, das klappt so schnell?“
„Mit Cords Totenschein sollte das wohl einwandfrei über die Bühne gehen“, erwiderte Grubner. Ach nein, jetzt ja Jonas für ihn.
„Sendest du mir bitte den Link des Hotels? Ich würde mir das ganz gern vorab ansehen.“
„Klar. Außerdem brauche ich deine Bankdaten. Oder willst du das Geld in bar?“
„Ne. Überweisen ist besser. Wollen wir uns vorher nochmal treffen, um Einzelheiten zu besprechen?“
„Gern. Schlag was vor.“
„Sonntag um elf zum Brunchen in dem Café, in dem wir uns vorhin getroffen haben?“
„Das gefällt mir gut. Dann also bis Sonntag“, stimmte Jonas zu.
„Schönen Abend noch“, verabschiedete sich Holger, legte auf, holte das Notebook und stellte es auf den Couchtisch.
Nachdem er Jonas die erforderlichen Daten gesandt hatte, schaltete er erneut durch die Fernsehprogramme. Auf ARTE blieb er an einer Doku über Marokko hängen. Das brachte ihn auf eine Idee, wie sie den Urlaub auf Mallorca gestalten könnten. Stichwort: Auf den Spuren der Ur-Mallorquiner. Euphorisch begab er sich an die Recherche.
Da war beispielsweise das Castell de Bellver, die Burg der schönen Aussicht, umgeben von einer waldähnlichen Grünanlage. Das Kastell hatte man um einen Innenhof gebaut und die beiden Stockwerke ebenfalls rund gestaltet. Die in den unteren Etagen befindlichen Arkaden waren romanischen Ursprungs, während der Säulengang im oberen aus der gotischen Zeit stammte.
Oder die Talayot de sa Canova. Jahrtausende alte Türme, aus tonnenschweren Steinen errichtet von einer einzigartige Kultur, die sich nur auf den Balearen, vor etwa 3300 Jahren bis zur Ankunft der Römer, im Jahr 123 vor Christus, entwickelte. Die Ureinwohner bauten in Zyklopen-Technik – also nur aus nackten Felsen, ohne Mörtel – runde Talayots. Möglicherweise handelte es sich um Wachtürme, denn sie standen meist in erhöhter Lage in befestigten Siedlungen.
Mindestens 200 dieser Großsteinbauten der Talayot-Kultur waren über ganz Mallorca verteilt. So etwa in Son Fornés, ungefähr eine halbe Stunde von Palma entfernt, eine der am besten erhaltenen Siedlungen. 400 bis 500 Ureinwohner lebten einst dort, in dicht nebeneinander stehenden Hütten, wie in einer Reihenhaussiedlung. Die bisherigen Funde konnten im Museum, im nahe gelegenen Ort Montuiri, betrachtet werden.
Ganz vertieft in seine Nachforschungen bekam Holger erst nach einer ganzen Weile mit, dass Jonas längst geantwortet und ihm den Weblink fürs Hotel geschickt hatte. Das Ciutat Jardi, ein villenähnliches Gebäude im maurischen Stil, lag unmittelbar am Meer. Begeistert klickte Holger durch die Fotogalerie. Neben einer Bar am Pool sowie im Gebäude, gab es ein Restaurant und viele Terrassen. Man konnte Fahrräder leihen, an Yoga-Kursen (nicht sein Ding) teilnehmen und sich massieren (das schon eher) lassen.
Passte seine Badehose eigentlich noch? Wann hatte er das Ding überhaupt gekauft? Das dürfte zu Anfang seines Studiums gewesen sein. Ein modernes Exemplar, genauso einige andere Accessoires, wie Sonnenbrille und so weiter, mussten also her.
Am nächsten Abend machte er eine Bestandsaufnahme seines Kleiderschranks. Die Einkaufsliste erweiterte sich um Shorts, Bademantel, ein paar Tanktops und Flipflops. Außerdem brauchte er einen neuen Koffer, da der vorhandene starke Abnutzungserscheinungen aufwies.
Der Samstag verging mit Shoppen. Einmal im Kaufrausch, ergänzte Holger seine Garderobe um zwei Jeans und drei schicke Hemden. Ziemlich erledigt kehrte er heim, mit etlichen Tüten und einem Trolley beladen. Er war sogar zu kaputt, um das Zeug auszupacken. Wie hielten Frauen es nur aus, ständig durch Läden zu geistern und trotzdem noch fit zu sein? Anscheinend waren sie tatsächlich das stärkere Geschlecht.
Am Sonntag traf er um zehn vor elf im Café ein. Vorsichtshalber hatte er einen Tisch reservieren lassen, was sich als klug herausstellte: Das Lokal war rappelvoll. Kurz nach ihm kam Jonas und guckte sich suchend um. Der Mann überragte viele der Gäste und sah im Freizeitdress, mit den zerstrubbelten braunen Haaren, total schnuckelig aus.
Holger winkte, woraufhin sich Jonas vorsichtig zu ihm durchschlängelte. Das war der Nachteil am Brunch-Buffet: Die Leute wuselten gleich blinden Hühner umher.
„Wenn ich gewusst hätte, dass es hier wie im Tollhaus zugeht, hätte ich was anderes vorgeschlagen“, entschuldigte er sich, als Jonas seinen Tisch erreichte.
„Kein Problem. Mich stört das nicht.“ Jonas nahm ihm gegenüber Platz. „Das mit den Flugtickets klappt gegen eine kleine Gebühr und im Hotel musste ich bloß Bescheid geben.“
„Übrigens ein sehr schönes Hotel.“
„Nicht wahr?“, erwiderte Jonas mit deutlichem Stolz.
Inzwischen war ein Kellner aufgetaucht. „Möchten die Herren brunchen oder à la carte bestellen?“
„Das geht auch?“, wunderte sich Holger.
„Selbstverständlich“, gab der Mann zurück.
„Was meinst du?“, wandte er sich an Jonas.
„Ich bin dafür. Bitte für mich schon mal einen Latte Macchiato und ein Glas Orangensaft.“
„Für mich das Gleiche“, bat Holger, schnappte sich die Karte und begann sie zu studieren.
Als der Kellner mit ihren Getränken zurückkehrte, hatte er sich für das italienische Frühstück entschieden. Jonas bestellte die französische Variante.
„Möchtest du eigentlich nur Strandurlaub machen oder auch ein bisschen Sightseeing?“, erkundigte sich Holger.
„Von allem etwas. Ich dachte, wir leihen uns einen Wagen und kurven ein wenig herum.“
Das war ganz nach seinem Geschmack. Als er Jonas von seiner Idee erzählte, stieß er damit offene Türen ein. Derart angestachelt, geriet er ins Schwärmen. Jonas lauschte aufmerksam und stellte ab und zu Fragen, die echtes Interesse bekundeten.
Auf diese Weise verging die Zeit im Nu. Um eins brachen sie auf, weil Jonas noch eine Verabredung hatte. Vor dem Lokal vereinbarten sie, sich am Dienstag um zehn auf dem Flughafen zu treffen. Beschwingt von dem angenehm verbrachten Vormittag, trat Holger den Heimweg an. Zuhause angekommen machte er sich daran, sein neu erworbenes Zeug auszupacken und bereits einiges in den Trolley zu sortieren.
Am folgenden Tag übergab er seinem Onkel alle laufenden Projekte, erledigte noch ein wenig Kleinkram und durfte gegen zwei gehen. Er nutzte das, um letzte Einkäufe zu tätigen. Sonnenmilch hatte er vergessen, ebenso Reiselektüre und - man wusste ja nie, was passierte - Kondome sowie Gleitgel in Portionstütchen. Vielleicht ergab sich doch etwas zwischen Jonas und ihm oder mit einer anderen Reisebekanntschaft.
Dienstagmorgen wachte er auf, bevor der Wecker klingelte. Obwohl es erst halb sieben war, fühlte er sich putzmunter. Nachdem er geduscht, gefrühstückt und alles im Koffer verstaut hatte, tigerte er rastlos durch seine Wohnung. Schließlich rief er ein Taxi, da er eh keine Minute stillsitzen konnte. Entsprechend trudelte er viel zu früh am Flughafen ein, aber da gab es wenigstens etwas zu gucken. In der Nähe des Abflug-Terminals, ihrem Treffpunkt, setzte er sich auf eine Bank und sah dem Treiben zu.
Vierteil vor zehn traf Jonas ein. Sie gaben ihr Gepäck auf, checkten ein und vertrödelten die Wartezeit damit, in den Duty-free-Shops zu stöbern. Holger erwarb Lakritze und Schoko-Minze-Bonbons, Jonas ein Fläschchen Rasierwasser, das von einer Verkäuferin in einen Plastikbeutel, zusammen mit dem Kaufbeleg, eingeschweißt wurde. „Zollvorschriften“, erklärte sie dazu.
Endlich erfolgte durch die Lautsprecher der Aufruf für ihren Flug. Holgers Bauch kribbelte vor Vorfreude, als sie in Richtung Gate marschierten.
Texte: Sissi Kaiserlos
Bildmaterialien: depositphotos
Cover: Lars Rogmann
Lektorat: Aschure - dankeschön
Tag der Veröffentlichung: 20.10.2018
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