Cover

Was in Bangkok passiert, bleibt in Bangkok

1.

Zum wohl hundertsten Mal guckte Keno auf die Uhr. Gegen fünf war er in Hamburg-Fuhlsbüttel losgeflogen und um kurz vor eins in Dubai gelandet. Der Anschlussflug sollte um zehn vor drei starten. Voraussichtliche Ankunft in Bangkok: Zwölf Uhr dreißig Ortszeit.

Neben ihm döste ein Pärchen, eine Sitzgruppe weiter eine Familie, die Mutter mit einem Kleinkind auf dem Schoß. Die Halle war voll mit Leuten, die für ein paar Stunden hier gestrandet waren. Es herrschte ständige Betriebsamkeit und eine Geräuschkulisse aus Gesprächsfetzen und Lautsprecherdurchsagen. Das Ambiente war exotisch, erinnerte ein bisschen an Tausend und eine Nacht. Eine kosmopolitische Atmosphäre, die ihn zu einer anderen Uhrzeit und an einem anderen Ort fasziniert hätte.

Als ihm sein Vorgesetzter Walter Sägebrecht vor drei Wochen mitteilte, das große Los gezogen zu haben, hatte er sich riesig gefreut. Inzwischen war jegliche Euphorie zugunsten Erschöpfung und nervlicher Anspannung verschwunden; latenter Angst, als Schwuler identifiziert zu werden. Er trug zwar weder ein Kainsmal auf der Stirn, noch plante er Sex auf den öffentlichen Toiletten, dennoch zitterte er innerlich. Das erste Mal hielt er sich in einem Staat auf, in dem ihm die Todesstrafe drohte. Ausländer wurden zwar davon verschont, doch lange Haftstrafen unter unvorstellbaren Bedingungen mussten auch sie vor einer Abschiebung befürchten. Waren nicht auch mal Homosexuelle unter ominösen Umständen im Gefängnis umgekommen?

Jedenfalls hing ihm fortwährend unterschwellige Panik im Nacken. Erst wenn er im Flieger Richtung Thailand saß, würde sich das wohl legen und er noch ein bisschen schlafen können. Glücklicherweise fand sein Termin beim Kunden erst am nächsten Tag statt, somit blieb ihm ein wenig Zeit zum Akklimatisieren. Walter hatte ihn mit dem verlängerten Aufenthalt geködert, außerdem reichlich Honig um seinen nicht vorhandenen Bart geschmiert, dass er doch der am besten qualifizierte Mitarbeiter für diese Aufgabe wäre. Anfangs war er geschmeichelt gewesen doch inzwischen überzeugt, dass sich sein Chef bloß um die anstrengende Reise drücken wollte.

Eine gefühlte Ewigkeit später wurde endlich sein Flug aufgerufen. Keno schulterte seine Tasche und begab sich, zusammen mit einem Pulk Passagieren, in Richtung des entsprechenden Gates. Auch an Bord des A380 hielt seine Anspannung an. Er begann erst aufzuatmen, als sich die Maschine vom Terminal entfernte und zur Startbahn rollte. Daran, dass ihm in wenigen Tagen die gleiche Prozedur bevorstand, dachte er lieber gar nicht erst.

Sein Arbeitgeber hatte aus Kostengründen lediglich Holzklasse, wie vielreisende Kollegen spaßeshalber die Economy-Class nannten, statt Business-Class gebucht. Mit seinen eins fünfundsiebzig kam Keno damit einigermaßen klar, doch alle größeren Passagiere taten ihm leid. Beispielsweise der Typ in der Reihe schräg gegenüber, der die langen Beine kaum unterzubringen wusste.

Sobald der Airbus Flughöhe erreichte und die Gurtanschnallsignale erloschen, begab sich Keno in Ruheposition und versuchte einzuschlafen. Sein Sitznachbar, ein älterer Herr, tat das Gleiche und das mit schnellem Erfolg, wie ein Schnarchen verriet. Leider litt der Typ unter Erstickungsanfällen, die das Sägen häufig unterbrachen, gefolgt von lauten, schnell aufeinanderfolgenden Grunzlauten, bevor wieder das Schnarchen einsetzte. Keno schreckte jedes Mal davon hoch.

Irgendwann gab er auf, voller Hass auf den Alten und bedauerte, kein Messer zur Hand zu haben. Er hätte die Nervensäge sonst kaltblütig ins Jenseits geschickt, das wahrscheinlich eh in Kürze auf den Kerl wartete. Schlafentzug weckte in ihm eben niederste Instinkte.

Die Stewardess brachte ihm auf seine Bitte hin Kaffee, Mineralwasser und ein Frühstück. Das Besteck bestand aus Plastik. Da hatte der alte Herr ja noch mal Glück gehabt. Vom Koffein einigermaßen aufgemuntert, schmeckte ihm das Essen ganz passabel. Im Anschluss steckte er Ohrstöpsel ein und wählte aus dem Entertainmentprogramm Unterhaltung für Kinder. Das hätte er mal eher tun sollen: So kam er doch noch zu einer kleinen Mütze Schlaf.

Beim Landeanflug kehrte die Vorfreude zurück, endlich die Heimat seiner Mutter kennenzulernen. Das war auch eines von Walters Argumenten gewesen: „Du, als halber Thai, hast einen viel besseren Draht zu den Schlitzau… ähm, unseren Geschäftspartnern als unsereiner.“

Nein, bei Walter handelte es sich nicht um einen Ausländerfeind, sondern bloß um einen Spaßvogel. Keno hatte ins Feld geführt, weder Sprachkenntnisse noch sonst irgendwelches besonderes Wissen über thailändische Gepflogenheiten zu besitzen. Damit stieß er bei Walter jedoch auf taube Ohren. Sein Chef war berühmt-berüchtigt für selektive Wahrnehmung. Außerdem waren seine Einwände eh nur rein formal, denn er wollte die Geschäftsreise liebend gern antreten.

Inzwischen hatte der Airbus am Terminal angedockt. Bewegung entstand. Eine endlose Schlange von Passagieren zog vorbei. Als der Strom allmählich verebbte, erhob sich der ganz außen sitzende Asiate, als nächstes der alte Herr und Keno bildete das Schlusslicht. Er hatte die ganze Zeit aus dem Fenster geguckt, um sich einen ersten Eindruck von Thailand zu verschaffen. Irgendwie sahen Flughäfen alle gleich aus: Öde und mit Stahlkonstruktionen vollgerotzt. Jedenfalls die, die er kannte. Das waren nicht besonders viele, nur die der typischen Urlaubsziele, wie Mallorca, Kreta und die Kanaren. Ach ja, nun auch der Airport von Dubai.

Im Flughafengebäude trabte er seinen Mitpassagieren hinterher zur Gepäckausgabe. Um das Fließband hatte sich bereits eine Traube gebildet, doch noch stand es still. Keno suchte sich einen Platz etwas abseits und holte sein Smartphone hervor, um sich die Wartezeit mit einem Spiel zu vertreiben.

Nach einer Weile begann das Band zu laufen. Er steckte das Gerät wieder ein und positionierte sich an einer Stelle, von der er einigermaßen Sicht hatte. Sein Gepäck kam mit dem letzten Schwung, als um ihn herum nur noch wenige Leute standen. Ein schäbiger Rollkoffer, der im Vergleich zu den anderen schicken Gepäckstücken wie ein Relikt aus alten Zeiten wirkte.

Auf dem Weg zum Ausgang kramte er die Unterlagen hervor, die Walter ihm gegeben hatte. Vom Kunden war ein Hotel in der Nähe des Unternehmens gebucht worden. Das FuramaXclusive, ein Vier-Sterne-Schuppen. Keno hatte sich im Internet Bilder angeschaut und hoffte, dass sie zumindest in etwa der Realität glichen.

Als er eine der vor dem Gebäude stehenden Taxen ansteuerte, sprang der Fahrer heraus und bugsierte sein Gepäck in den Kofferraum. Er zeigte dem Mann die Hotelbuchung, woraufhin der Typ nickte, wieder einstieg und - kaum dass er auf der Rückbank saß - losbrauste. Anfangs kamen sie gut voran, doch nach ungefähr zwanzig Minuten Fahrt begann der Verkehr zu stocken. Am Ende dauerte es über eine Stunde, bis der Wagen vorm Hotel hielt. Keno zahlte in Baht, die er vorsichtshalber noch in Deutschland besorgt hatte.

Das Innere des Gebäudes sah genauso aus, wie die Fotos im Internet. Das Einchecken verlief problemlos und schnell. Er erhielt eine Keycard, ging zum Lift und fuhr in den fünften Stock. Der Flur war steril, dafür sein Zimmer umso gemütlicher: Ein großzügiger, in warmen Farben eingerichteter Raum mit Doppelbett, Kochnische, Sitzecke und Balkon.

Er setzte den Wasserkocher in Betrieb, packte das Nötigste aus und kramte einen Beutel Jasmin-Tee aus dem Vorrat in einem der Schränke. Mit dem Becher ging er nach draußen, nahm auf einem der beiden Plastikstühle Platz und ließ den Blick umher schweifen. Wolkenkratzer, wohin man auch sah und unten: Blechkarosse an Blechkarosse.

Ein herzhaftes Gähnen brachte seinen Kiefer zum Knacken. Die hohe Luftfeuchtigkeit bei über dreißig Grad war gewöhnungsbedürftig und machte ihm sein Schlafdefizit deutlich bewusst. Anscheinend hatte es vor kurzem geregnet, denn er entdeckte einige Pfützen in der Umgebung. Laut Wetterbericht sollte es in den kommenden Tagen auch immer mal wieder Schauer geben.

Schon merkwürdig, wie sehr sich Städte mittlerweile ähnelten. Von der Kulisse her könnte er in jeder x-beliebigen Metropole sein. Dafür liebte er seine Heimatstadt, die sich bislang aus dem höher-größer-Wahn raushielt: Hamburgs Skyline war weiterhin von Kirchtürmen, statt von chromblitzenden Monstren geprägt.

Er nippte an seinem Tee und richtete den Blick in die Ferne. Schwer vorstellbar, dass seine Mutter hier mal gelebt hatte. Allerdings stammte sie aus einer nördlichen Provinz, nicht aus der Hauptstadt. Seinen Vater hatte sie über ein Vermittlungsinstitut kennengelernt. Böse Zungen würden behaupten, sie wäre gekauft worden. Na ja. Irgendwie entsprach das ja auch den Tatsachen, doch im Laufe der Zeit hatte sich daraus große Zuneigung entwickelt.

Seit ihrem Weggang war seine Mutter nie wieder in Thailand gewesen. Sie redete ausschließlich deutsch, hatte sich evangelisch taufen lassen und trug stets züchtige Kleidung. Bis auf ihre asiatischen Kochkünste (und natürlich ihr Äußeres) war wenig von ihrer Herkunft geblieben. Dass er Keno hieß verdankte er seinem Vater, der darauf bestanden hatte, ihren einzigen Sohn thailändisch zu benennen. Vor ihm hatte seine Mutter zwei Totgeburten gehabt und konnte nach ihm nicht mehr schwanger werden.

Keno leerte seinen Becher und beschloss, einen Bummel zu unternehmen. Ganz in der Nähe sollte ein Park liegen, außerdem wollte er unbedingt ein paar der Tempel angucken. Rasch tauschte er seine Jeans gegen Shorts, zog seine Socken aus und schlüpfte in Flipflops. Nachdem er seine Börse in seiner Gürteltasche verstaut hatte, schnappte er sich die Keycard und verließ das Zimmer.

 

Rund drei Stunden später kehrte er völlig verschwitzt und erledigt zurück. Den Lumphini-Park hatte er problemlos gefunden und sich eine Weile darin aufgehalten. Auf dem Weg zum nächsten Tempel war er erst in die falsche Richtung gelaufen. Als ihm der Irrtum auffiel hatte er ziemlich lange gebraucht, bis er wieder zum Ausgangsort fand und von dort nochmal so viel Zeit, bis er vor dem Bauwerk stand. Die Besichtigung des Tempels war Entschädigung für diese Mühen. Ein kostbares Kleinod inmitten all der seelenlosen Gebäude.

Bevor er zum Hotel ging, hatte er in einer der zahllosen Garküchen eine Kleinigkeit gegessen. Im Grunde fühlte er sich reif fürs Bett, doch dafür war es zu früh. Zudem konnte er einen weiteren Snack vertragen, dazu vielleicht einen Drink.

Nach einer erfrischenden Dusche klemmte er sein Notebook unter den Arm und begab sich ins Erdgeschoss. Das Restaurant war gut frequentiert. Er fand im Außenbereich einen freien Zweiertisch, mit Blick auf den kleinen Pool im Innenhof. Nur eine ältere Dame schwamm in dem kristallklaren Wasser, das von hohen Pflanzen umgeben war.

Beim Kellner bestellte er Massaman Gaeng, ein thailändisches Curry-Gericht, sowie ein Glas trockenen Weißwein. Gleich darauf brachte der Mann, zusammen mit dem Wein, eine Flasche Wasser. Toller Service. Dankend nickte er dem Kellner zu, was dieser mit einem Wai erwiderte. Seine Mutter hatte ihm eine kurze Unterweisung in thailändischer Höflichkeit gegeben, daher kannte er diese Geste und wusste auch ungefähr, wie man wem gegenüber darauf reagierte.

Gerade wollte er sein Notebook aufklappen, als ein bekanntes Gesicht an seinem Tisch auftauchte. Er hätte damit rechnen müssen, denn Liebknecht Maschinenbau war einer der vier Mitbewerber am Markt. Dennoch hatte er gehofft, einen anderen Konkurrenten zu treffen, als ausgerechnet Jordan Liebknecht. Dessen Markenzeichen war umwerfendes Aussehen und - vermutlich daraus resultierend - kotzreizerregend großes Selbstbewusstsein.

Jordan grüßte ihn mit einem Wai, der jedoch von einem überheblichen Grinsen verfälscht wurde. „Schön dich hier zu treffen. Darf ich mich dazu setzen?“

Mr. Arroganz wartete seine Antwort gar nicht ab, sondern ließ sich einfach gegenüber nieder. Keno verzichtete daher darauf, den Gruß zu erwidern.

„Was für ein Zufall“, gab er spöttisch zurück. „Was treibt dich denn nach Bangkok?“

„Der schnöde Mammon.“ Jordan seufzte theatralisch. „Und selbst?“

Ein herbeigeeilter Kellner verschaffte ihm Gelegenheit, über eine schlagfertige Antwort nachzudenken. Jordan bat um einen Gin-Tonic.

Als der Mann wieder davon gehuscht war, entgegnete er: „Ich bin aus rein ethischen Motiven hier, nämlich, um die Welt zu retten.“

Einen Moment war Jordan sprachlos, leider viel zu kurz. „Im Grunde ist das auch mein Anliegen. Ich wollte nur das Nützliche mit dem ideellen Zweck verbinden.“

Eigentlich grenzte es an ein Wunder, dass Jordan ihn überhaupt erkannt hatte. Sie waren einander bisher nur auf zwei Messen begegnet. Beim ersten Mal war Keno als Besucher unterwegs, beim zweiten Mal als Standpersonal und von Walter den Liebknechts vorgestellt worden. Obwohl man konkurrierte, tat man loyal. Der alte Liebknecht hatte Walter kumpelhaft auf die Schulter geklopft und Keno die Hand geschüttelt, bis er dachte, sie würde gleich abfallen.

„Richtig so, Walter. Man muss den Nachwuchs fördern“, waren dabei Liebknechts Worte gewesen, verbunden mit einem falschen breiten Lächeln.

Jordan hatte damals sowohl Walter als auch ihm bloß zugenickt. Das war drei Monate her.

„Bist du allein unterwegs?“, erkundigte sich Keno.

„Meinem Vater werden die Fernreisen zu viel, daher habe ich diese übernommen.“ Jordan legte eine Pause ein, während der Kellner den Gin-Tonic servierte. „Und weil er sich das ganz spontan überlegt hat, durfte ich seinen Platz in der ersten Klasse einnehmen. Ansonsten hätte ich auf den Ruderbänken sitzen müssen.“

„Ruder …? Ach so, du meinst die Holzklasse.“

„Genau. Da der Airbus im Aufbau einer Galeere gleicht - unten das arbeitende Volk, oben die Patrizier - hab ich sie so getauft.“

Erstaunlich. Anscheinend war in dem hübschen Köpfchen mehr los als vermutet. „Heißt das, eure Angestellten müssen auf den billigen Plätzen fliegen?“

„Natürlich. Was denkst du denn? Wie sagt mein Vater immer so schön? Wer den Pfennig nicht ehrt, ist des Talers nicht wert.“

Klang Jordan bitter? Auch die Miene seines Gegenübers verdüsterte sich einen Augenblick, dann war dieser Eindruck wieder vorbei. „Na ja. Immerhin hat er damit Erfolg.“

Der Kellner brachte sein Curry-Gericht. Ein Glück. Im Eifer des Gesprächs hatte Keno sein Glas geleert und merkte die Wirkung des Alkohols. Da kam die feste Unterlage gerade richtig.

München - Hinterm Festzelt, nachts um halb eins …

 1.

Der Lärmpegel war unerträglich. Maverick fragte sich zum wohl hundertsten Mal, was er bloß hier verloren hatte: Im Hofbräuhaus auf dem Münchner Oktoberfest. Rundum unterhielten sich die Leute in Affenlautstärke, um die Blaskapelle zu übertönen. Wäre es wenigstens Rockmusik, könnte er besser damit leben.

„Ich besorge mal Nachschub“, rief Lothar und schwenkte einen leeren Humpen, um die Ansage zu untermalen.

Maverick nickte, unisono mit seinen Kollegen. Von links kam Blitzlichtgewitter. Paparazzi hatten sich auf irgendeinen Semi-Promi gestürzt. Der Grund, weshalb Karsten, Produzent der Serie Darling St. Pauli, ihre Anwesenheit bei dem Ereignis des Jahres für wichtig erachtete. „Sehen und gesehen werden“, lautete dessen Credo. „Nur so erhöht man Einschaltquoten.“

Wahrscheinlich erlitten sie eher einen Hörsturz. Wieso kümmerte sich das Gewerbeaufsichtsamt nicht darum, dass die Dezibel erträglich waren? Vermutlich wurden die Beamten vom Wirt geschmiert oder man sah einfach drüber hinweg.

Passende Verkleidung hatte er verweigert. Maverick trug Jeans, dazu - als einziges Zugeständnis - ein blau-weiß kariertes Hemd. Hanna Schiwa, die in der Serie eine Nutte spielte, Gitte Holm, eine Bardame, Beate Sombrowski, die Putzfrau, waren standesgemäß im Dirndl erschienen; Lothar Nickel, in der Serie ein Kellner und Karsten Knobler in Krachledernen. Nie im Leben würde er solche Dinger anziehen. Die sahen scheiße aus und waren bestimmt auch total ungemütlich.

Er spähte rüber zum anderen Tisch und erkannte den Volksmusik-Barden Florian Kühleisen. Der war also derjenige, auf den die Paparazzi es abgesehen hatten. Neben dem wasserstoffblonden Kühleisen saß eine Tussi mit riesiger Oberweite. Ihre Titten schienen das Dirndloberteil sprengen zu wollen. Beim Hinsehen erschauderte Maverick. So etwas gehörte verboten, genau wie die Mucke von Kühleisen. Bei der rollten sich einem ebenfalls die Zehennägel hoch. Na ja, insofern passte es schon.

„Ich geh mal und helfe Lothar beim Tragen“, verkündete Hanna, stand auf und stöckelte auf ihren High-Heels davon. Irgend so komische Dinger, wie Turnschuhe mit hohem Absatz.

Anscheinend hatte sie die Aufmerksamkeit der Bluthunde auf sich gelenkt. Es blitzte mehrfach, dann tauchten zwei Männer mit Kameras an ihrem Tisch auf. Prompt lächelte Karsten derart breit, dass die schneeweißen Zähne nur so funkelten und legte einen Arm um Gittes Schultern. Erneut blendete der grelle Blitz.

„Ihr Name?“, brüllte einer der beiden.

„Karsten Knobler. Ich produziere Darling St. Pauli“, erwiderte Karsten. „Und das hier sind meine lieben Kollegen vom Set.“

Der Typ tippte eifrig auf einem Smartphone herum, während der andere noch mehr Fotos schoss. Anschließend pilgerten die zwei weiter. Na, tolle Wurst! Und dafür der ganze Aufstand? Glücklicherweise kehrten Lothar und Hanna in diesem Moment mit neuem Stoff zurück. Kein Wunder, dass die Bayern während des Oktoberfestes so viel soffen. Anders war der Mist schwer zu ertragen.

Gemächlich süffelte Maverick sein Bier, schaute umher und lauschte mit halbem Ohr dem Gelaber der anderen. Das meiste war so etwas wie: „Hast du die gesehen? Ist das nicht …?“ Oder: „Guck mal, der da! Ist das nicht …?“ Eben die Sehen-Gesehen-Nummer. Todlangweilig.

„Ich geh rüber und sage Florian Guten Tag“, verkündete Karsten. „Vielleicht hat er Lust, mal eine Gastrolle zu übernehmen.“

„Das wäre ja super“, gab Maverick spöttisch zurück. Was sollte dieser Jodel-Heini denn bitteschön spielen? Einen betrunkenen Gast? Oder sich selbst? Na ja. Hauptsache, der Typ sang nicht, ansonsten sollte es ihm egal sein.

„Nicht wahr?“ Karsten, resistent gegen seinen Spott, stand auf und begab sich an den Nachbartisch.

Also, beste Freunde waren die beiden schon mal nicht. Kühleisen wirkte leicht irritiert, als Karsten ihm kumpelhaft auf die Schulter klopfte. Auch die Idee mit der Gastrolle schien auf wenig Begeisterung zu stoßen. Karsten gestikulierte in ihre Richtung, woraufhin Kühleisen, arrogant eine Augenbraue gelüpft, sie nacheinander musterte. An ihm blieb der Blick länger hängen. Täuschte das, oder funkelte kurz Interesse in Kühleisens Augen auf? Wohl kaum. Der Halbgott der Jodelszene sah zwar aus wie eine Schwuchtel, war aber garantiert keine. In solchen Kreisen hatte man strikt hetero sein.

Eventuell war Kühleisen ein Schrankschwuler. Offiziell galt Maverick ja ebenfalls als hetero. Seine Familie und Freunde wussten schon Bescheid, doch er hängte es nicht an die große Glocke. Es interessierte sowieso niemanden, dafür war er ein zu kleines Licht. Sollte er je Starruhm erlangen, wäre das wohl eher ein Problem. Schauspielern nahm man den Part als Vampir, Verbrecher, Zombie oder Superheld ab, doch als Schwuler einen Hetero mimen? Niemals. Als Hetero einen Schwulen zu spielen, war hingegen okay. Verrückte Welt.

Misstrauisch beäugte Maverick die Flüssigkeit in seinen Humpen. Anscheinend machte einen dieses schale Gesöff wirr im Schädel, auf derart philosophische Gedanken zu kommen. Trotz dieser Überlegung leerte er sein Maß und winkte damit einer vorbeieilenden Kellnerin zu. Die Frau, acht volle von der Sorte in den Händen, nickte und hastete weiter.

Kurz darauf waren seine Kollegen und er mit frischem Bier versorgt. Großzügig übernahm Karsten diese Runde, wie auch schon die erste. Die Mädels schwächelten allmählich. Eine von ihnen war immer unterwegs zur Toilette. Bisher hatte Maverick erst einmal die Örtlichkeiten aufgesucht und dabei die Schlange gesehen, die vorm Damen-Klo stand. Die holde Weiblichkeit tat wohl gut daran, sich praktisch beim ersten Anzeichen von voller Blase dort anzustellen. Männer waren da klar im Vorteil. Die Urinale wurden zwar ebenfalls stark frequentiert, doch man kam wesentlich schneller dran.

Nach der vierten Runde brachen Hanna, Beate und Lothar auf. Maverick erhob sich ebenfalls, allerdings nur, um die Keramikabteilung zu besuchen. Jemand hatte dort auf den Boden gekotzt. Es stank nach Urin und Erbrochenem wie im Schweinestall. Rasch erledigte er sein Geschäft und kehrte zu den verbliebenen beiden Kollegen zurück.

Da sich Gitte und Karsten intensiv miteinander unterhielten, guckte er umher und landete schließlich wieder beim Nachbartisch. Kühleisen sah von Maß zu Maß besser aus. Das mit dem Schöntrinken klappte also tatsächlich. Bisher hatte Maverick das noch nie an solch geschmacklosem Objekt ausprobiert und war daher von dem Ergebnis fasziniert.

Eigentlich wurde es langsam Zeit, zurück ins Hotel zu gehen. Andererseits: Was sollte er da? Den von Karsten gebuchten Zimmern mangelte es an Luxus (wie beispielsweise Pornokanal oder Minibar) und obendrein waren sie ungemütlich. Also blieb er lieber noch, bis der Alkohol ihn genug betäubt hatte, um gleich ins Bett zu fallen.

Gitte und Karsten verabschiedeten sich wenig später. Die zwei hatten es plötzlich sehr eilig, als wenn sie etwas Spannendes vorhätten. Darüber, was das sein könnte, dachte Maverick besser nicht nach. Unwissen war manchmal ein Segen. Gemächlich leerte er sein Glas und grübelte, ob er ein weiteres vertrug, als er Kühleisen in Richtung Toiletten davongehen sah. Mit einem Mal musste er auch dringend pissen.

Die Reihen hatten sich inzwischen ziemlich gelichtet. Er konnte daher beobachten, wie Kühleisen in die Keramikabteilung ging, gleich wieder herauskam und dem Ausgang zustrebte. Offenbar war der Raum mittlerweile Sperrgebiet, was ihn veranlasste, seine Route ebenfalls zu korrigieren.

Draußen empfing ihn seidenweiche Luft und - im Vergleich zum Zeltinneren - herrliche Ruhe. Aus dem Augenwinkel entdeckte er Kühleisens weißes Hemd, das im nächsten Moment aus seinem Sichtfeld verschwand. Er lief an den Biertischen mit schwatzenden Gästen vorbei, bog um die Ecke und wurde unversehens mit Dunkelheit konfrontiert

Rasch gewöhnten sich seine Augen an die Lichtverhältnisse. Vor ihm lag ein schmaler Gang, der links von Büschen und rechts vom Zelt begrenzt war. Wenige Meter entfernt: Das weiße Hemd. Kühleisen urinierte gerade gegen die Zeltplane. War das eine Art Protestaktion gegen das Establishment oder bloß Gedankenlosigkeit?

Maverick baute sich zu voller Größe auf, seine Beine etwas auseinandergestellt und Hände in die Seiten gestemmt. „Was sehen meine entzündeten Augen? Beschädigung fremden Eigentums ist strafbar.“

Kühleisen zuckte bei seinen Worten merklich zusammen und guckte in seine Richtung, pinkelte aber weiter. Chapeau! Der Mann besaß Eier in der Hose.

„Auf der anderen Seite ist die Plane ziemlich schmutzig. Vielleicht tust du dem Zeltbesitzer sogar einen Gefallen“, fügte Maverick hinzu. „Unter diesem Aspekt werde ich deinem Beispiel mal folgen.“

Er holte seinen Schwanz hervor und richtete den Strahl ebenfalls aufs Zelt. Urinieren in freier Wildbahn war weitaus schöner, als in dem stinkenden Kabuff. Wahrscheinlich ein verbliebener Urinstinkt aus grauer Vorzeit. Zudem verschaffte es gewisse Befriedigung, etwas mit seinem Harn zu markieren. Moment! Urin-stinkt? Da steckte ja sowohl das eine als auch das andere Wort drin. Hatte das etwas zu bedeuten? Das musste er nachher unbedingt mal recherchieren.

„Du bist doch einer dieser Serien-Fuzzis“, meldete sich Kühleisen zu Wort, mittlerweile fertig mit dem Geschäft und dabei, untenrum für Ordnung zu sorgen.

„Und du bist dieser Jodel-Fritze“, konterte Maverick.

Kühleisen gluckste. „Gute Retourkutsche.“

Zweiter Punkt für den Mann: Humor. „Wieso pinkelst du hier draußen? Liegt im Klo ein Toter?“ Maverick packte sein Gemächt wieder ein, wobei er mehr Aufheben als nötig veranstaltete, um ein bisschen mit seinem Riesenschwanz anzugeben.

„Zumindest riecht es so, als sei dort etwas Menschliches oder Tierisches vor langer Zeit verendet“, erwiderte Kühleisen und kam näher heran.

„Das trifft wohl auf den Mageninhalt zu, den jemand auf dem Boden verloren hat. Bestimmt haben die Schweinshaxen schon eine ganze Weile im Kühlhaus gelegen, bevor sie auf den Grill kamen.“

Weiße Zähne blitzten auf. „Bist du immer so sarkastisch oder bloß im betrunkenen Zustand?“

„Keine Ahnung. Meine Selbstreflektion ist ziemlich mau.“

Kühleisen grinste erneut. „Du hörst dich an, wie einer dieser Sozialheinis.“

„Ursprünglich hab ich auf Lehramt studiert. Da ist anscheinend einiges von hängengeblieben.“

„Ich hab keine Lust, da wieder reinzugehen“, stellte Kühleisen mit einem Blick aufs Zelt fest. „Und du?“

„Auch nicht. Andere Vorschläge?“

„Lass uns was zu trinken besorgen und noch ein bisschen quatschen.“

„Okay. Wo bekommen wir die Flüssigware her?“

Kühleisen zwinkerte ihm zu. „Ich kümmere mich darum. Rühr dich nicht von der Stelle.“

Er salutierte, woraufhin Kühleisen leise glucksend davonhuschte. Der Typ schien ziemlich in Ordnung zu sein. Vielleicht war es falsch jemanden daran zu messen, mit schlechten Songs Geld zu verdienen. Zudem sollte man nicht mit Steinen werfen, wenn man im Glashaus stand. Schließlich war die Serie, mit der er seinen Broterwerb sicherte, auch nicht gerade Oscar-verdächtig.

Maverick schaute sich nach einer Sitzgelegenheit um und entdeckte ein großes Stück Pappe, das sich hervorragend als Unterlage eignete. Er legte es, ein bisschen entfernt von ihren improvisierten Urinalen, auf den Boden und nahm darauf Platz. Die Beine angezogen und Arme darum geschlungen, schaute er hinauf in den Himmel. Nur wenige Sterne waren zu sehen. Soweit er sich erinnerte, hatte in seiner Kindheit das Firmament einer schwarzen Suppe mit tausenden weißen Einsprengseln geglichen.

Gerade als er sich fragte, ob Kühleisen verlorengegangen war, kehrte jener zurück, in jeder Hand einen Humpen. Er nahm einen entgegen und rückte etwas beiseite.

Vorsichtig ließ sich Kühleisen neben ihm nieder und prostete ihm zu. „Auf die bayrische Gastfreundschaft.“

Ohne zu wissen, was damit gemeint war, erwiderte er die Geste und trank einen großen Schluck. Das Zeug machte durstig. Vermutlich würde er, wenn er weiter so soff, am nächsten Morgen verdurstet sein. Das war wie mit dem Fahrtwind: Je schneller man radelte oder rannte, desto eher drohte man, an Unterkühlung zu sterben.

„Das Bier ist ein Geschenk von dem Typen an der Zapfanlage. Ich hab im Gegenzug versprochen, nie wieder zu singen“, behauptete Kühleisen grinsend.

Wow! Der Mann sammelte immer mehr Sympathiepunkte. „Warum sattelst du nicht auf Komiker um?“

„Ach nein. Auf der Bühne stehen und Witze erzählen finde ich doof.“

„Immer noch besser, als alberne Lieder zu trällern.“

„Na ja …“ Kühleisen zwinkerte ihm zu. „Ich werde das ja nicht ewig machen. Über kurz oder lang plane ich, auf etwas ganz anderes umzusteigen.“

„Ach ja? Willst du Schmuck- und Modedesigner werden? So, wie alle diese Ex-Gattinnen von irgendwelchen Sport- oder Showgrößen?“

„Puh! Du bist echt fies!“, maulte Kühleisen und stach ihm den Ellbogen in die Seite. „Reiß dich mal zusammen.“

„Sorry. Also: Wie lauten deine Pläne?“

„Ich hab schon einige Pflegeprodukte entwickelt … na ja, entwickeln lassen. Sobald ich eine ganze Linie am Start habe, will ich die ernsthaft promoten und immer weiter ergänzen.“

„Schuhpflege?“, hakte Maverick feixend nach.

„Haarpflege.“ Affektiert strich sich Kühleisen ein paar blondierte Strähnen aus der Stirn. „Meine Eltern besitzen eine Kette Friseursalons. Da bot sich das an.“

„Schlau.“

„Nicht wahr?“ Kühleisen zwinkerte ihm zu. „Wie heißt du überhaupt?“

„Maverick.“

„Florian. Angenehm.“

Schweigen breitete sich aus. Herb männlicher Duft stieg Maverick in die Nase. Florian roch verdammt gut. War das Zeug aus dieser Produktlinie oder körpereigener Geruch? Falls letzteres zutraf, bräuchte man den nur extrahieren und in Flaschen abfüllen. Er würde den Kram sofort kaufen.

„Sag mal … wie findest du Gloria?“, erkundigte sich Florian.

„Wer soll das sein?“

„Meine Begleitung. Du hast ihr doch auf die Titten gestarrt.“

„Ach so. Hab ich das?“

„Ich hatte jedenfalls den Eindruck.“

Maverick trank einen großen Schluck. „Na ja. Katastrophen ziehen Blicke eben magisch an.“

„Du meinst, sie hat sich etwas zu sehr aufpimpen lassen?“

„Meinem Geschmack entspricht es jedenfalls nicht.“

„Magst du sie lieber flach?“, wollte Florian wissen.

„Wenn du schon so direkt fragst: Ich mag es lieber oben flach und untenrum aufgepimpt.“

Stille entstand, in der Florian ihn eindringlich musterte. Maverick konnte förmlich hören, wie es in dessen Schädel ratterte.

Schließlich schien Florian zu einem Ergebnis zu kommen. „Willst du damit andeuten, auf Männer zu stehen?“

„Der Kandidat hat hundert Punkte.“

Vernehmlich ließ Florian Luft entweichen. „Ein Glück! Und ich hab schon befürchtet, gleich ein Veilchen verpasst zu bekommen.“

„Nö. Ich bin viel zu besoffen, um so gut zielen zu können.“

Wieder trat Stille ein. Maverick merkte, dass Florian ihn aus dem Augenwinkel abcheckte. Was passierte als nächstes? Wurde seine Ahnung bestätigt?

Florian nahm einen langen Schluck, stellte das Maß beiseite und wandte sich ihm zu. „Ich finde dich ziemlich heiß.“

Sein Schwanz, der auf den Duft mit zunehmender Härte reagiert hatte, bekam einen weiteren Schub. „Willst du damit andeuten, auf mich zu stehen?“

Die Antwort bestand in einem zaghaften Kuss auf seinen Mundwinkel. Maverick stellte sein Bier ebenfalls weg und zog Florian im Nacken heran. Mit der Berührung ihrer Lippen fielen sämtliche Hemmungen von ihm ab.

Gestrandet in Niebüll

 1.

Um Viertel vor fünf verließ Lukas seine Wohnung, verfrachtete seinen Trolley in den Kofferraum seines Ford Focus und klemmte sich hinters Lenkrad. Den Wagen hatten ihm seine Eltern gesponsert, damit er endlich seinen geliebten alten Twingo verschrottete. Er hätte sich ein anderes Modell gekauft, doch letztendlich war es ihm nicht so wichtig. Hauptsache, die Karre brachte ihn ohne Zwischenfälle ans Ziel.

Eigentlich wollte er die Fähre um achtzehn Uhr nehmen, hatte jedoch bis um vier im Büro gesessen. Freitags herrschte ab mittags Totentanz in seiner Abteilung, was dazu führte, dass den Letzten die Hunde bissen. Das war in diesem Fall er gewesen. Fehlerhaft ausgestellte Frachtpapiere hatten ihn einiges an Zeit gekostet. Die Zwanzig-Uhr-Fähre würde er trotzdem noch locker erreichen.

Während er durch die Stadt in Richtung Autobahn fuhr, kam ein bisschen Ferienstimmung auf. Die Sonne strahlte vom wolkenlosen Himmel. Hoffentlich hielt sich das Wetter. Laut Vorhersage sollte es die ganze Woche, die er auf Amrum verbringen würde, so bleiben. Das wäre klasse. Er hatte absolut keine Lust, in den vier angemieteten Wänden zu hocken. Beim Wandern-Radfahren-Bummeln war er zwar ebenfalls allein, aber wenigstens unter Leuten. Vielleicht hatte er ja Glück und lernte ein paar nette Urlauber kennen. In der Blauen Maus war das bei seinen letzten Reisen nach Amrum auch geglückt. Allerdings war er da stets zu zweit oder in einer Gruppe unterwegs gewesen. ‚Ach, lass es einfach auf dich zukommen‘, beruhigte er sich im Geiste.

Ursprünglich hatte er mit einem Kumpel die Ferienwohnung gebucht. Vor drei Wochen, beim letzten Abi-Treffen, war ihm aufgefallen, dass Frank der schwangeren und frisch verlassenen Alissa schöne Augen machte. Inzwischen waren die beiden ein Paar. Frank hatte vorgeschlagen, das Appartement zu dritt zu bewohnen. Na, Prost Mahlzeit! Da fuhr er doch lieber allein, anstatt mit einem frisch verliebten Pärchen.

Stirnrunzelnd bemerkte er die Blechkarawane, die sich im Schritttempo der Autobahnauffahrt näherte. Normalerweise war in Richtung Norden kaum was los. Einige Minuten später erkannte er, dass ein liegengebliebenes Fahrzeug eine Spur blockierte. Das Reißverschlussprinzip funktionierte nur bedingt. Es gab immer Leute, die es eiliger hatten als andere und durch ihre Drängelei Staus verursachten. Nach seiner Meinung sollte man solchen Verkehrsteilnehmern den Führerschein entziehen.

Als er endlich den Abbieger erreichte, war eine kostbare Viertelstunde verstrichen. Um diese wieder aufzuholen, gab er entsprechend Gas. Leider währte sein Glück nicht lange: Bereits kurz hinter Quickborn staute sich der Verkehr erneut. Diesmal war eine Baustelle schuld. Danach hatte er aber freie Bahn.

An der Brücke, die den Nord-Ostsee-Kanal überspannte, warf er einen Blick auf die Uhr. Noch anderthalb Stunden. Das sollte zu schaffen sein. Wäre Frank an Bord, würde er die nächste Abfahrt und den Schleichweg über die Dörfer nehmen. Da er sich nicht so gut auskannte wie sein Kumpel, blieb er lieber auf der A7.

Etwas später kündigten Schilder eine Baustelle an, die sich über zwölf Kilometer zog. Auf zwei verengten Spuren lief der Verkehr einigermaßen flüssig weiter, dennoch fraß die reduzierte Geschwindigkeit etliches an Zeit. Als die Abfahrt Handewitt in Sicht kam, war es bereits sieben. Sofern keine weiteren Verzögerungen passierten, könnte Lukas trotzdem noch rechtzeitig am Anleger sein.

Es kam, wie es kommen musste. Erst trödelte ein Traktor mit Heuanhänger vor ihm her, ohne eine Möglichkeit zum Überholen. Als nächstes bremste ihn für eine Weile ein Bus aus, bis der in eine Haltebucht stoppte. Kurz vor acht passierte er das Ortsschild und obwohl es inzwischen sinnlos war, fuhr er bis zur Mole und guckte zu, wie die Fähre ablegte. Verdammte zehn Minuten zu spät. Wenn der Scheiß-Traktor nicht gewesen wäre … ach, es war sinnlos, sich darüber Gedanken zu machen. Die Götter hatten sich eben gegen ihn verschworen. Eventuell führten sie etwas im Schilde, wie ihn vor einem Unglück zu bewahren. Vielleicht ging die Fähre unter oder an Bord brach ein Feuer aus. Diese Vorstellung munterte ihn ein bisschen auf.

Er zückte sein Smartphone und checkte, wann die nächste Fähre ablegte. Morgen früh um Viertel nach sieben. So etwas hatte er sich schon gedacht. Lukas lehnte sich zurück und überlegte, was er mit den Stunden bis dahin anfangen sollte. In Dagebüll zu bleiben war keine Option. Im Ort gab es nur Restaurants, die ihn bereits von außen abschreckten.

Vor zwei Jahren hatte er schon mal eine Fähre verpasst, allerdings in Franks Begleitung. Damals waren sie nach Niebüll gefahren, um die Wartezeit in einem Bistro mit Billardtischen zu verbringen. Mit etwas Glück fand er den Laden wieder. So groß war das Städtchen ja nicht.

Er fuhr den Weg zurück, den er gekommen war. Hinter dem Ortschild hielt er sich auf der Hauptstraße und tatsächlich: Sie führte direkt an besagtem Bistro vorbei. Idealerweise lag gegenüber der Parkplatz eines Supermarktes. Lukas stellte seinen Wagen darauf ab, angelte seine Jacke vom Rücksitz und stieg aus.

Inzwischen dämmerte es. Auf der Straße herrschte so gut wie kein Verkehr, genau wie auf den Gehwegen. Zumindest schien im Laden etwas los zu sein, stellte er fest, als er darauf zuging. Sein Magen knurrte, wohl eine Reaktion auf die hässlichen Bilder potentieller Mahlzeiten, die in einem der Fenster hingen. Wer auch immer sie geschossen hatte: Talent als Food-Fotograf war keines vorhanden.

Bevor er das Lokal betrat, studierte er die Öffnungszeiten an der Tür. Neun bis Mitternacht. Das war doch schon mal eine Aussicht. Danach waren noch sieben Stunden zu überbrücken, die er in seinem Wagen auf dem Inselparkplatz in Dagebüll pennen konnte. Dafür war es zwar etwas kühl, bei ungefähr acht Grad, aber dann würde er eben zwischendurch aussteigen und ein paar Runden herumlaufen.

Im Lokal empfing ihn ein erträglicher Geräuschpegel. Offenbar durfte in den Sitzreihen links, die wie in Bahnwaggons angeordnet waren, geraucht werden. Das war ihm beim letzten Besuch gar nicht aufgefallen. In der Mitte befand sich ein runder Tresen, rechts davon standen vier Billardtische, gesäumt von Bistrotischen mit Hockern. Das Publikum war gemischt, von ziemlich jung bis ganz schön alt alles dabei.

Lukas nahm am Tresen Platz und griff nach der Speisekarte. Neben den typischen Imbissgerichten, wie Pommes mit Schaschlik und so weiter, gab es zahlreiche Pizza-Varianten. Bei einigen zog er die Nase kraus, wie beispielsweise bei dem Belag Spargel mit Sauce Hollandaise.

„Hi. Kann ich dir was zu trinken geben?“, sprach ihn der Barkeeper, ein Typ mit Migrationshintergrund, an.

„Ein Becher Kaffee, bitte. Mit viel Milch.“ Sein Magen hatte sich für fettiges Essen entschieden. „Und Pommes rot-weiß mit Schinkenwurst.“

Der Mann nickte und rief die Bestellung durch eine Luke in der Wand hinter der Bar. Anschließend stellte er eine Milchtüte sowie einen Becher vor Lukas ab und goss Kaffee hinein. „Wenn du Nachschlag möchtest, sag Bescheid.“

Lukas schenkte dem Typen ein Lächeln. „Danke.“

Nachdem er seinen Kaffee mit reichlich Milch verdünnt hatte, probierte er das Zeug. Typische Automatenplörre, aber einigermaßen genießbar. Während er weitere Schlucke trank, sah er sich genauer um. Der Raucherbereich war gut frequentiert. Auch an den Billardtischen war einiges los. An zweien spielten Teenager, an einem ältere Herren und am vierten zwei Männer in ungefähr seinem Alter. Ein paar Mädels saßen an den Bistrotischen und guckten zu. Im Hintergrund dudelte moderater Pop.

Wie es sich wohl anfühlte, in so einem Kaff zu wohnen? Lukas war in der Großstadt aufgewachsen und konnte sich das nur schwer vorstellen. Tagaus tagein die gleichen Gesichter und abends bloß eine Weggehmöglichkeit. Kein Kino, Shopping, Disco oder einschlägiger Club. Grausam. Er war kein begeisterter Szenegänger, aber in jungen Jahren schon ein bisschen herumgekommen. Wahrscheinlich amüsierten sich Jugendliche auf dem Dorf anders. Hier und da mal ein Schützenfest, Jahrmarkt, oder private Partys. Wenn man es nicht anders kannte, war man damit wohl zufrieden.

In Zeiten von Internet und Co. hatte sich sowieso vieles verändert. Zu Lukas‘ Sturm- und Drangzeit lief man noch nicht konsequent mit einem Smartphone vor der Nase durch die Gegend. Damals waren Flatrates teuer, ebenso die Geräte. Es gab auch schon einige, die ihre Freizeit ausschließlich in virtuellen Welten verbrachten, doch viele liefen eher in der freien Wildbahn herum. Inzwischen dürfte sich das Verhältnis zugunsten Computerspielen und -interaktion umgekehrt haben. Somit war man, sofern es zuverlässigen Internetzugang gab, in Städten und der Provinz gleichgestellt.

Der Barkeeper, der sein Essen auf den Tresen stellte, riss ihn aus seinen Überlegungen. Die Pommes sahen knusprig aus. Prompt meldete sich wieder sein Magen zu Wort. Er leerte die beiden Portionspäckchen Majo und Ketchup über die Fritten, wickelte sein Besteck aus der Serviette und begann zu essen. Mit halbem Auge verfolgte er dabei die Billardpartie seiner beiden Altersgenossen. Die zwei waren offensichtlich geübte Spieler. Es machte Spaß zuzugucken, wie sie gegeneinander kämpften. Der Kleinere der beiden versenkte drei Halbe hintereinander, bevor ein Zug fehlschlug, der andere zwei Volle und die schwarze sechs. Pech gehabt. Lukas musste schmunzeln, als er den Kleineren feixen sah.

Am Ende gewann dennoch der andere. Offenbar hatten beide die Lust verloren, denn sie packten ihre Queues ein und kamen zum Tresen. Um nicht als Spanner dazustehen, richtete Lukas seine Aufmerksamkeit aufs Essen. Er hörte, wie der eine um die Rechnung bat und der andere ein Bier bestellte. Aus dem Augenwinkel erkannte er, dass es sich bei letzterem um den kleineren Typ mit dem braunen Wuschelkopf handelte. Im selben Moment sah jener zu ihm rüber und ließ den Blick einmal an ihm rauf und runter wandern. Prompt schlug sein Gaydar positiv aus.

Womit er niemals gerechnet hätte war, hier einen Gleichgesinnten anzutreffen. Na gut. Selbst in einem Städtchen mit 10.000 Einwohnern bestand eine gewisse Wahrscheinlichkeit. Nach den neuesten Statistiken waren zehn Prozent aller Europäer nicht ausschließlich hetero. Dennoch war es ein krasser Zufall, ausgerechnet in diesem Lokal … okay, wo sollten die Leute in Niebüll sonst hingehen?

Tschau!“, rief der Kumpel des Braunhaarigen und verließ, das Queue-Köfferchen in der Hand, den Laden.

Lukas schob sich den letzten Pommes in den Mund, legte das Besteck auf den Teller und winkte dem Barkeeper zu. „Ich hätte gern eine Cola.“

Der Braunhaarige, vor dem inzwischen ein Bier stand, guckte ihn neugierig an. „Du bist nicht von hier, nicht wahr?“

„Stimmt. Ich bin gewissermaßen gestrandet.“

„Ah! Du wolltest bestimmt die Fähre erreichen“, riet der Typ.

„Richtig. Ich war zehn Minuten zu spät.“

„Ärgerlich.“ Der Mann rückte näher, zugleich schob der Barkeeper seine Cola über den Tresen. „Wohin sollte die Reise denn gehen? Amrum oder Föhr?“

„Amrum.“

„Echt jetzt? Du siehst mehr nach Föhr aus.“

„Wie kommst du darauf?“

Der Typ hatte mokkabraune Augen und ein verdammt hübsches Lächeln. „Der typische Amrum-Urlauber trägt Gesundheitslatschen, oftmals einen bunten Trainingsanzug und Bauchansatz.“

Grinsend prostete Lukas dem Spaßvogel zu. „Alles Vorurteile.“

„Erfahrungswerte“, widersprach der Mann, hob das Glas, trank und wischte sich mit dem Handrücken den Schaum von der Oberlippe.

Übrigens: Ein schöner Mund. „Verirren sich oft solche Leute hierher?“

„Ab und zu. Als Sylter kann ich Touris auf hundert Meter Entfernung erkennen.“

„Du kommst von Sylt? Was machst du dann hier?“, wunderte sich Lukas.

„Vielleich arbeiten?“ Der Mann feixte. „Ich bin Jesse. Mit wem habe ich die Ehre?“

„Lukas.“

„Angenehm.“ Jesse nahm auf dem Hocker neben seinem Platz. „Ich musste mal runter von der Insel, ein bisschen Festlandluft schnuppern. Drüben sind mir die meisten zu versnobt.“

„Kann ich gar nicht glauben“, spottete Lukas.

„In Westerland geht es noch, aber die anderen Käffer …“ Jesse rümpfte die Nase. „Grausam.“

„Du wohnst hier?“

„Mhm.“ Jesse nickte. „Wo kommst du her?“

„Erkennst du das nicht mit deinem geübten Auge?“

„Scherzkeks. Nun sag schon. Ich vermute mal Flensburg oder Hamburg.“

„Hamburg ist richtig geraten.“

„Da war ich schon ein paarmal. St. Pauli und so. Ist mir aber zu viel los. Wahrscheinlich ist das das Inselkind-Gen in mir“, vermutete Jesse, nahm einen großen Schluck und spähte rüber zu dem Billardtisch, der immer noch frei war. „Du spielst nicht zufällig Pool?“

„Schon, aber nicht allzu gut.“

„Das macht nichts. Ich gewinne gern.“ Jesse verpasste ihm einen aufmunternden Schubs gegen die Schulter. „Lass uns ein paar Runden spielen.“

Impressum

Texte: Sissi Kaiserlos
Bildmaterialien: shutterstock
Cover: Lars Rogmann
Lektorat: Aschure - dankeschön
Tag der Veröffentlichung: 06.09.2018

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /