Nikomäuse - eine Spezies, die viel zu wenig Beachtung findet. Diese putzigen Nager wohnen unter den Dielen oder in Wandhohlräumen. Das ganze Jahr über sind sie damit beschäftigt, für den 6. Dezember zu backen oder zu werkeln. (wenn sie nicht gerade andere possierliche Dinge treiben)
In diesen vier Geschichten stehen jedoch eher die 'Leut' im Vordergrund, die an Nikolaus ihre Stiefel vor die Tür stellen. Es handelt sich um Männer, die allein sind und sich nach einem Partner sehnen. In jeder Story findet einer dieser Leut ein Pendant.
Achtung: Schwule Liebesgeschichten.
Es handelt sich um die jugendfreie überarbeitete Version der Storys, die bereits unter den Titeln Niko-Mäuse gibt es nicht und Von Niko-Läusen und Niko-Mäusen erschienen sind.
Sämtliche Personen, Orte und Begebenheiten sind frei erfunden, Ähnlichkeiten rein zufällig. Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck oder eine andere Verwertung, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung der Autorin. E-Books sind nicht übertragbar und dürfen nicht weiterveräußert werden. Bitte respektieren Sie die Arbeit der Autorin und erwerben eine legale Kopie. Danke!
Texte: Sissi Kaiserlos
Fotos von shutterstock
Korrektur: Ein großes Dankeschön an Aschure.
Kontakt: http://www.bookrix.de/-sissisuchtkaiser/
Am Nikolausmorgen findet Damian, neben seinem mit Süßigkeiten gefüllten Stiefel, eine weinende Maus. Als Tierarzt interessiert ihn das Phänomen eines heulenden Nagers natürlich sehr. Die Maus, sie behauptet Niko-Willi zu heißen, ist von einer Kolonne zurückgelassen worden, die angeblich die Stiefel füllt. Dann ist da noch Tundra, die Hunger hat und der Postbote spielt auch eine Rolle.
~ * ~
In der Nacht hatte eine weiße Puderschicht die Welt überzuckert. Damian trank seinen ersten Kaffee, sah durch das Küchenfenster und bewunderte den glitzernden Schnee. Es war Samstag, daher braucht er nicht in seine Praxis und war entsprechend spät dran. Die Sonne hatte sich bereits weit über den Horizont geschoben. Ihre Strahlen ließen die Schneekristalle wie winzige Diamanten funkeln. Damian machte sich nichts vor. Spätestens gegen Mittag würde die dünne Schicht verschwunden sein, ein Opfer der für die Jahreszeit zu hohen Temperaturen.
Es war der Morgen des 6ten Dezember. Am Vorabend hatte er seinen Stiefel vor die Tür seines kleinen Häuschens gestellt, so, wie er von Kindesbeinen an kannte. Früher, als kleiner Junge, war er stets aufgeregt als erstes zu dem Stiefel gerannt und hatte ihn ausgekippt, um die Gaben zu bewundern. Heutzutage, mit Mitte vierzig, war er abgeklärter.
Tundra strich schnurrend um seine Beine. Die Katze hatte schon ihr Futter bekommen, versuchte aber stets, eine Zugabe zu erschmeicheln.
„Du hast genug. Wirst sonst zu fett, mein altes Mädchen.“ Damian trank seinen Rest Kaffee, beugte sich runter und kraulte Tundras Köpfchen. „Und nun gucke ich mal nach, ob der Nikolaus dagewesen ist.“
Damians Stiefel war, wie jedes Jahr, prall gefüllt mit Keksen und anderem Naschwerk. Eines war dieses Jahr jedoch anders: Neben dem Stiefel kauerte eine Maus mit roter Mütze und schluchzte. Damian war Tierarzt, daher schon von Berufs wegen interessiert an diesem ungewöhnlichen Nager. Er ging in die Hocke, schob den Stiefel etwas beiseite, damit er besser gucken konnte und hatte augenblicklich die volle Aufmerksamkeit der Maus. Große schwarze Knopfaugen sahen ihn an.
„Tu-tu-tu mir nichts“, stotterte das Nagetier.
Für einen Moment verschlug es Damian die Sprache. Das war ja nun wirklich hochinteressant.
„Miow.“ Seine Katze Tundra kam angeschlichen, ging, angesichts der Maus, in Lauerstellung und machte sich zum Sprung bereit.
„Oh! Ein Fresskater!“, wimmerte die Maus angsterfüllt. „Ich will nicht ster-her-herben!“ Erneut spritzten winzige Tränchen aus ihren Äugelein.
„Tundra! Weg mit dir!“, befahl Damian, obwohl er wusste, dass es sinnlos war.
Tundra hörte nicht auf ihn, normal für eine Katze. Er seufzte resigniert, streckte die Hand nach der Maus aus und hob sie vorsichtig hoch. Der winzige Körper zitterte, er konnte sogar das wilde Herzpochen an seinen Fingern spüren. Damian nahm den Stiefel in die andere Hand, ging zurück ins Haus und schob mit dem Fuß die Tür zu. In der Küche setzte er die Maus auf dem Tisch ab und ließ sich auf einen Stuhl plumpsen.
„Eine sprechende Maus“, murmelte er.
„Danke! Du bist ein guter Leut!“ Das Nagetierchen packte mit beiden Pfoten den Rand der roten Zipfelmütze und zog sie sich tief in die Stirn. „Ich bin Niko-Willi.“
„Klar. Und ich bin Knecht Ruprecht.“
„Freut mich.“ Offensichtlich kannte die Maus den Begriff nicht. Sie klang nämlich kein Stück ironisch.
„Tschuldige. Ich bin Damian.“
Der Nager legte das Köpfchen schief und guckte groß. „Du hast gelogen?“
„Ich wollte einen Scherz machen“, gab Damian zu. „Tut mir leid.“ Draußen, auf der Fensterbank, hatte Tundra Aufstellung bezogen. Er konnte sehen, dass sie maunzte. „Du bist also Niko-Willi?“, nahm er das Gespräch wieder auf.
„Genau. Ich gehöre zu den Niko-Mäusen. Wir füllen eure Stiefel.“
„So, so. Interessant.“ Damian rieb sich das Kinn. „Und wieso sitzt du neben meinem Stiefel und jammerst? Solltest du nicht bei den anderen Mäusen sein?“
„Die haben mich einfach zurückgelassen. Ich wollte doch nur ganz kurz Pipi machen und schon waren sie weg.“ Der Mäuserich schniefte. „Na gut. Ich hab nicht Bescheid gesagt und außerdem musste ich groß. Hat länger gedauert. Bin wohl selbst schuld.“
Das hörte sich plausibel an. An die Mäuseköttel, die wohl in seinem Garten lagen, dachte Damian mal lieber nicht. Es reichte, dass er hier saß und mit einer Maus redete. Nur gut, dass ihn niemand dabei beobachtete, bis auf Tundra. Auf deren Schweigen konnte er sich aber verlassen.
„Und was willst du jetzt tun?“
Niko-Willi zuckte die Achseln. „Weiß ich nicht. Kannst du mir nicht helfen, meine Butze zu finden?“ Treuherzig wurde Damian angeblinzelt.
„Wie ist denn die Adresse?“
„Adresse?“, echote Niko-Willi. „Was ist das?“
„Das ist der Straßenname und die Hausnummer. Erstere stehen auf diesen Schildern an der Straßeneinmündung und letztere meistens am Haus.“
Der Mäuserich schlug die Augen nieder und fummelte angelegentlich an seinen Füßchen herum. „Kann nicht gut lesen. Bin eben dumm.“
Das Bild war rührend. Damians Herz flog dem kleinen Willi zu. Sanft stupste er mit dem Zeigefinger gegen die rote Mütze. „Hey! Viele Menschen können auch nicht lesen und schreiben, deswegen sind sie aber nicht dumm.“
Niko-Willi guckte hoffnungsvoll hoch. „Echt jetzt?“
„Ja. Echt. Sag mal, wieso gehst du nicht allein auf die Suche nach deiner … Hm, Butze?“
„Zu gefährlich“, flüsterte der Mäuserich, guckte über die Schulter und lenkte so Damians Blick auf Tundra. „Fresskater. Leut. Diese lauten Kisten mit Rädern.“
„Stimmt. Daran hab ich gar nicht gedacht.“
„Du-hu? Damian? Ich bin total müde.“ Niko-Willi gähnte demonstrativ. „Kann kaum noch aus den Augen gucken.“ Wie zum Beweis klappten ihm kurz die Lider zu. „Darf ich ein bisschen schlafen?“
Das würde Damian immerhin die Möglichkeit geben, seine Einkäufe zu erledigen und darüber nachzudenken, wie er Willis Butze suchen sollte. Ob er sie überhaupt finden wollte, anstatt das Tier zu Forschungszwecken … Nein, das kam nicht infrage. Willi in ein Labor zu geben, damit alle möglichen Leute an ihm herumexperimentierten, gefiel ihm nicht. Im Grunde seines Herzens war Damian ein guter Mensch, der niemandem etwas zuleide tun konnte. Willi brauchte seine Hilfe, also würde er sie bekommen.
Allerdings gab es ein Problem und genau das kratzte gerade am Holz der Haustür. Tundra hasste Kälte. Damian musste sie hereinlassen, wenn er es sich nicht mit ihr verscherzen wollte. Sein Blick wanderte in der Küche umher, bis er an dem leeren Vogelkäfig auf einem der Oberschränke hängenblieb. Das war die Lösung.
„Ich bin im Knast“, jammerte Niko-Willi kurz darauf, die Pfötchen um die Gitterstäbe geklammert. „Hol mich hier bloß wieder raus.“
„Es ist nur eine Art Schutzhaft. Leg dich schlafen. Ich bin bald wieder da“, versprach Damian, stellte den Käfig im Schlafzimmer auf die Fensterbank und schloss die Tür sorgfältig ab.
Dann ließ er Tundra, die sogleich an ihm vorbeischoss, herein. Miauend streifte sie, auf der Suche nach der Maus, durch die Räume. Schließlich rollte sie sich schmollend unter dem Küchentisch zusammen.
Beim Einkaufen war Damian nicht so recht bei der Sache. Automatisch packte er Lebensmittel in den Korb, während seine Gedanken bei Willi weilten. Konnte es sein, dass der Mäuserich die Wahrheit sagte? Jedenfalls würde das eine Erklärung für den Nikolaus sein. Dennoch: Eine Schar von Mäusen, die umherzog und überall Stiefel füllte, ließ sich so gar nicht mit seiner Vorstellung vereinbaren. Wie sollten die putzigen Nager das ganze Zeug transportieren? Zogen sie einen Leiterwagen hinter sich her?
„Das macht 40 Euro 59“, holte die Kassiererin ihn aus seinen Überlegungen ins Jetzt zurück.
Als Damian, in beiden Händen eine Einkaufstüte, auf sein Haus zuging, fiel ihm ein kleiner Gegenstand in der Nähe eines dichten Busches ins Auge. Er setzte eine Tüte ab, bückte sich und stellte fest, dass es sich um eine kleine Kiepe handelte. Willi musste sie abgesetzt haben, um sein Geschäft zu verrichten. Am Boden des Tragekorbes befanden sich einige Krümel. Damian kam sich wie ein Detektiv vor, als er eine Fingerkuppe anfeuchtet, die Krumen aufnahm und daran roch. Schwacher Keksduft ging von dem Corpus Delicti aus. Somit war der Transport geklärt. Er stopfte die Kiepe in eine der Tüten und setzte den Weg fort.
Tundra hatte sich inzwischen ins Wohnzimmer verkrümelt, vor einen der Heizkörper. Damian räumte die Einkäufe weg, legte die Kiepe auf die Fensterbank, setzte Wasser für Tee auf und ging anschließend ins Schlafzimmer. Willi hatte sich aus der Packung Papiertaschentücher, die Damian ihm gestiftet hatte, ein Nest gebaut. Zu einer Kugel zusammengerollt, schnorchelte er friedlich vor sich hin. Bei jedem Ausatmen vibrierten die Schnurrbarthaare. Die Mütze lag ordentlich zusammengefaltet vor dem Nest.
Eine Weile sah Damian dem Mäuserich beim Schlafen zu. Das Kerlchen war echt putzig. Gerührt seufzte er, schloss die Tür wieder ab und kehrte in die Küche zurück. Mit einem Becher Tee in den Händen stellte er sich ans Fenster. Wie schon vermutet, war der Puderzucker inzwischen verschwunden. Die Sonne hatte sich hinter grauen Wolken verkrochen und ein scharfer Wind rüttelte an den Baumkronen. Das richtige Wetter, um sich mit einem Buch auf dem Sofa zu verkriechen.
Noch schöner wäre, sich mit einem Mann unter einer Decke zu verkriechen. Wehmütig dachte Damian an die schöne Zeit mit Ralf zurück. Drei Jahre hatten sie hier zusammen gewohnt, bis Ralf einen Job in München angeboten bekam. Die Fernbeziehung hielt nicht. Irgendwann gestand Ralf, dass er einen anderen hatte und damit war es vorbei.
Es dauerte lange, bis Damian die Sache einigermaßen verwinden konnte. Inzwischen waren fünf Jahre vergangen und ihre Liebe nur noch eine schwache Erinnerung. Vor allem vermisste er Küsse und Umarmungen.
Auf der Straße war wenig los. Ab und zu fuhr ein Auto vorbei oder ein Hundebesitzer passierte das Grundstück. Damian wollte sich gerade vom Fenster abwenden, als der Postbote in Sichtweite kam. So lange er hier wohnte, und das waren mittlerweile über zehn Jahre, hatte der Briefträger nie gewechselt. Vor ungefähr einem Monat war es dann doch geschehen: Ein unbekannter Postbote tauchte auf. Seit Damian den Mann das erste Mal gesehen hatte, war er hin und weg. Der Bote war ausnehmend hübsch und inzwischen fester Bestandteil von Damians Wunschträumen.
Wie immer stellte der Briefträger sein Fahrrad am Zaun ab. Anstatt jedoch, wie sonst, gleich den Gartenweg heraufzueilen, nahm er etwas behutsam aus der Box am Lenker und hastete erst dann aufs Haus zu. Neugierig ging Damian zur Tür, öffnete sie und sah dem Mann entgegen.
„Sie sind doch Tierarzt“, stieß der Postbote hervor. „Ist sie tot?“
Auf den Handflächen des Mannes lag eine Maus, die Willi sehr ähnelte, nur dass sie dicker war. Auch die rote Mütze fehlte nicht, allerdings trug der Mäuserich sie nicht auf dem Kopf. Sie ragte halb unter dem leblos wirkenden Körper hervor.
„Ich glaube, ich habe sie angefahren. Sie stand plötzlich da und ich konnte nicht mehr bremsen. Ist sie tot?“ Der Mann zitterte. Offenbar stand er unter Schock.
„Kommen Sie rein. Ich muss mir das Mäuschen näher angucken.“ Er hielt die Tür auf, ließ den Postboten eintreten und führte ihn in die Küche.
Nachdem er den Mann auf einen Stuhl genötigt hatte, setzte er frisches Teewasser auf. Unterdessen legte der Postbote die Maus überaus vorsichtig auf dem Tisch ab. Die Mütze landete neben dem schlaffen Körperchen.
„Das wollte ich nicht. Ich hab noch nie ein Tier getötet“, jammerte der Briefträger. „Außer mal eine Fliege. Oh Mann! Die stand echt da und hat sich keinen Zentimeter bewegt.“
„Ganz ruhig. Immerhin blutet die Maus nicht.“ Damian beugte sich über das Tierchen, fuhr prüfend mit dem Finger über den Brustkorb. Deutlich spürte er das Pochen des kleinen Herzens. Tot war sie also nicht. Vielleicht nur bewusstlos.
„Miowww!“ Tundra strich ihm um die Beine.
„Sie ist am Leben“, erklärte er, an den Postboten gewandt. „Ihr Herz schlägt.“
„Puh!“ Der Mann sackte erleichtert in sich zusammen. „Was ist, wenn sie sich etwas gebrochen hat?“ Ein vertrauensseliger Blick aus braunen Augen traf Damians.
„Miaaaau!“ Seine Katze machte Anstalten, auf den Tisch zu springen.
Er wollte sich gerade bücken und sie hochnehmen, doch der Postbote kam ihm zuvor und hob Tundra auf seinen Schoß. „Du bist ja ein hübscher Kater“, säuselte der Mann.
„Katze“, korrigierte Damian.
Der Teekessel begann zu pfeifen. Für einen Moment war er damit beschäftigt, einen Becher aus dem Schrank zu holen, Teebeutel hinein zu werfen und Wasser darüber zu gießen. Als er sich dem Tisch wieder zuwandte, hatte sich etwas verändert. Während er den Teebecher vor dem Briefträger abstellte, überlegte er, was anders war. Argwöhnisch musterte er die Maus. Ha! Die Mütze! Wie, bitteschön, kam die rote Mütze plötzlich auf den Kopf des Mäuserichs?
„Wie heißt sie denn?“ Der Postbote beschmuste Tundra so intensiv, dass die ganz weggetreten auf seinen Knien hing.
So kannte Damian sein Mädchen gar nicht. Tundra war nur bei ihm zutraulich, nie bei Fremden.
„Tundra“, antwortete er knapp, wandte seine Aufmerksamkeit wieder der Maus zu und beäugte sie eingehend. Lag da ein Grinsen auf dem Mäulchen? Er guckte näher hin, kitzelte den Mäuserich am Bauch und …
„Wuhuhuhu!“, kicherte das Tierchen, schlug mit der Pfote nach seinem Finger und lag gleich darauf wieder still da. Was für ein mieser Schauspieler. Damian musste grinsen.
„Tundra? Ist das nicht die sibirische Steppe oder so?“, flötete der Postbote, völlig auf die Katze fixiert.
In diesem Augenblick krachte im Schlafzimmer etwas auf den Boden. Damian schwante Böses. Er schnappte sich den Mäuserich, während Tundra fauchte und sich aus dem Griff des Briefträgers schlängelte. Zugleich kamen sie vor der Schlafzimmertür an.
„Hiiilfe“, hörte er ein hohes Stimmchen piepsen.
„Willilein!“, rief der Laiendarsteller in seiner Hand.
Der Postbote kam in den Flur gewetzt. „Was ist denn los?“
Minuten später hatte sich das Chaos gelegt. Tundra war im Wohnzimmer eingesperrt, der Vogelkäfig stand wieder auf der Fensterbank und zwei Mäuseriche lagen sich in den Armen. Damian hockte auf der Bettkante und der Briefträger neben ihm.
„Wow“, flüsterte der Mann. „Das ist besser als Kino.“
„Wie kann man nur so dämlich sein, den Käfig von der Fensterbank zu ruckeln. Ich fass es nicht“, grummelte Damian, dem der Schreck noch immer in den Knochen saß.
Willi linste beschämt zu ihm rüber. „Ich fühlte mich so eingesperrt“, rechtfertigte er sich zum wohl hundertsten Mal.
„Du hättest dir das Genick brechen können!“, brauste Damian auf.
„Niko-Mäuse haben sieben Leben“, klugscheißerte der dicke Mäuserich.
„Katzen haben sieben Leben, nicht Mäuse“, stellte der Postbote richtig.
„Genau! Katzen, nicht Mäuse“, bekräftigte Damian und hob drohend den Zeigefinger. „Wenn du noch einmal versuchst dich umzubringen, dann aber bitte nicht in meinem Schlafzimmer. Davon bekomme ich Alpträume.“
„Es tut mir soooooo leid.“ Willi löste sich von dem anderen Mäuserich und trippelte zur geöffneten Klappe. „Bitte. Sei wieder lieb mit mir. Wer ist das da eigentlich?“ Schwarze Äugelein richteten sich voller Neugier auf den Postboten.
„Das ist der Mäusebote, der deinen dicken Kumpel gebracht hat“, ätzte Damian.
„Ich bin Nils“, verriet der Postbote und der frisch eingetroffene Mäuserich murrte: „Ich bin nicht dick!“
„Ich brauche eine Auszeit.“ Damian erhob sich, ging zur Tür und drehte sich dort noch einmal um. „Hier herrscht Ruhe, während ich nachdenke.“ Unter seinem drohenden Blick zogen Willi, Nils und der nicht dicke Mäuserich die Köpfe ein.
~ * ~
Nils konnte sein Glück kaum fassen. Er saß wirklich in der Küche des hübschen Tierarztes und trank mit ihm Tee. Seit einem Monat, von dem Tag an, als er den Mann das erste Mal erblickte, geisterte der durch seine Wachträume. Nun war das Schicksal eingesprungen und hatte die Maus vor sein Fahrrad geführt. Es musste einfach göttliche Fügung sein. Man traf doch nicht jeden Tag auf sprechende Mäuse mit roten Mützchen.
„Ich bin Damian.“ Sein Gegenüber fuhr sich durchs Haar, wodurch Nils‘ Aufmerksamkeit auf die grauen Schläfen gelenkt wurde.
„Ich weiß. Ich bringe deine Post. Daher weiß ich auch, dass du Tierarzt bist.“
Blaue Augen musterten ihn nachdenklich. „Ich bekomme meine Geschäftspost in die Praxis geschickt.“
Ups! Nils wurde rot und senkte den Blick auf seinen Becher. Natürlich hatte Damian recht und er war ein Idiot. Dank Internet wusste er von der Praxis. Sollte er sein Interesse offen zugeben? Dass Damian auf Männer stand, wusste er vom ersten Moment an. Es war die Art, wie der ihn angesehen hatte. Wäre er jünger, würde er keinen Augenblick zögern, aber als Mann Anfang vierzig ließ er die Sache lieber langsamer angehen.
„Ach, ist ja auch egal. Diese Scheißmäuse liegen mir auf dem Magen. Tundra wird mich nie wieder mit dem Hintern angucken, wenn ich sie länger einsperre.“ Wie zur Bekräftigung dieser Theorie, ertönte ein wütendes Fauchen hinter der Wohnzimmertür. „Willi, also die eine Maus, behauptet, dass es irgendwo eine Kolonie gäbe, zu der er gehört. Sie füllen die Stiefel am Nikolaustag.“ Damian tippte sich an die Stirn. „Klar. Und im Himmel ist Jahrmarkt.“
„Hast du dich nie gefragt, woher das ganze Zeug kommt? Meine Eltern sind schon lange tot. Dennoch ist mein Schuh immer voll. Sogar dann, wenn ich ihn nicht geputzt habe. Warum also sollte Willi nicht recht haben?“
„Magst du noch einen Tee?“, fragte Damian und stand auf.
Mittlerweile war es Nils so warm in seiner Postlermontur geworden, dass er die Jacke endlich abstreifte und über die Stuhllehne hängte. Sein Blick wanderte zum Fenster. Vereinzelte Schneeflocken sanken herab, wie winzige Federn. Seine Augen huschten zu Damian. Er musste schlucken, lenkte den Blick auf seine Hände und wünschte, er wäre weniger schüchtern. Flirten war so gar nicht sein Ding.
„Pfefferminze oder Hagebutte?“ Damian seufzte. „Wieso hab ich eigentlich keine anständigen Teesorten im Haus? Ich mag das Zeug nicht einmal.“
„Pfefferminze ist okay. Hat meine Mutti immer gekocht, wenn ich krank war“, murmelte Nils und musste plötzlich blinzeln. Feiertage stimmten ihn immer rührselig. Langsam sollte er damit klarkommen, dass er seit zehn Jahren keine Eltern mehr hatte.
„Meine auch. Sag mal … hättest du Lust, Tundra ein wenig zu beruhigen? Anscheinend mag sie dich. Ich kann nicht denken, wenn sie so herumjault.“ Mit gequälter Miene sah Damian zum Wohnzimmer.
„Kein Problem.“ Froh darüber, etwas tun zu können, sprang Nils auf und ließ die Katzendame in den Flur. Sogleich bezog Tundra vor der Schlafzimmertür Aufstellung und stimmte ein Mauzkonzert an. Kurzerhand hob er sie hoch, trug sie in die Küche und ließ sich mit ihr auf einem Stuhl nieder. Als würden sie ihn ewig kennen, streckte sich Tundra auf seinem Schoß aus und schloss genüsslich die Augen, während seine Finger über den zarten Flaum ihres Bauches strichen. Wie gern hätte er selbst eine Katze. In Nils‘ kleiner Wohnung war jedoch kein Platz und er neigte nicht zu Tierquälerei.
„Hast du eine Ahnung, wo die Kolonie stecken könnte?“ Damian stellte einen Becher mit dampfendem Tee vor ihm ab, setzte sich hin und runzelte die Stirn. „Immer vorausgesetzt, dass sie existiert. Klinge ich eigentlich irre?“
„Nur ein bisschen.“ Nils verbiss sich ein Grinsen. „Warum fragen wir die Mäuse nicht einfach, wie das Haus aussieht? Ich komme hier in der Gegend viel herum.“
„Also glaubst du daran?“ Mit zusammengezogenen Brauen sah Damian ihn an und rührte dabei in seinem Tee.
„Hab ich eine Wahl? In deinem Schlafzimmer steht ein Käfig, in dem sich zwei sprechende Mäuse mit roten Mützen befinden. Ich kiffe nicht, bin nicht betrunken und nehme auch sonst keine Drogen. Falls ich nicht gerade träume, dürfte das also real sein.“ Nils senkte den Blick auf Tundra und streichelte ihren Hals. Die rosa Zunge hatte sich aus ihrem Maul geschmuggelt und sie schnurrte wie ein gut geölter Dieselmotor. Er konnte das Brummen sogar in seinen Beinen fühlen. Glück war eine schnurrende Katze sowie Damian in seiner Nähe. Von Nils aus, hätte er ewig so sitzen können.
„Dann gehe ich jetzt und kitzele Informationen aus den Mäusen raus.“ Damian stand auf und sah auf ihn runter. „Tundra entwickelt sich zum Luder“, murmelte er, wohl nur für seine Ohren bestimmt, bevor er die Küche verließ.
Nils beschäftigte sich weiter mit der Katze, trank ab und zu einen Schluck Tee und ließ seine Gedanken schweifen. Die Mäuse bildeten den perfekten Anlass, um öfter mit Damian das Gespräch zu suchen. Sie waren doch jetzt gewissermaßen Geheimnisträger.
Sein Blick irrte zum Fenster. Der leichte Schneefall hatte aufgehört. Eigentlich musste er noch ein paar Briefe austragen, allerdings konnte er das auch auf Montag verschieben. Es handelte sich eh zumeist um Werbesendungen, die niemand vermisste.
„Unglaublich! Anscheinend befinden sich die beiden orientierungslosesten Mäuse aller Zeiten in meinem Schlafzimmer.“ Mit diesen Worten, gefolgt von einem genervten Stöhnen, kehrte Damian zurück und sank auf einen Stuhl. „Das Haus besitzt Fenster und eine Tür. Na klasse! Dann ist es ja ganz leicht zu finden.“
„Ich hab die Maus weiter oben an der Straße gefunden, dort, wo die Milchgasse abzweigt.“
„Dann ist davon auszugehen, dass sich die …“ Damian machte Anführungszeichen mit den Fingern. „…Butze ganz in der Nähe befinden muss. Niko-Lasch wirkt nicht so, als würde er gern weit laufen.“
„Niko-Lasch?“
„So heißt der dicke Mäuserich.“
„Ach so.“ Nils kraulte Tundras weiche Ohren.
Unangenehme Stille trat ein, in der nur das Schnurren zu hören war. Er hatte keine Ahnung, was er sagen sollte. Vielleicht sollte er besser gehen und doch noch den Rest Post zustellen. Vorsichtig nahm er die Katze hoch, setzte sie auf dem Boden ab und klopfte sich auf die Schenkel. „Ich muss dann mal wieder. Die Arbeit …“
„Schade. Sag mal … kannst du mir vielleicht helfen, diese verflixte Butze zu finden? Ich hab keinen Schimmer, wie ich das anstellen soll.“ Damians Blick war verzagt.
Das war Nils‘ Chance auf ein Wiedersehen. Er stand auf und griff nach seiner Jacke. „Soll ich wieder herkommen, wenn ich fertig bin?“, bot er eifrig an.
„Bitte. Das ist total lieb von dir. Auch, dass du dich um Tundra gekümmert hast.“ Damian sah auf die Katze runter, die gerade sorgfältig ihre Pfoten leckte. „Als Ausgleich für deine Hilfe lade ich dich zum Essen ein, okay?“
„Gerne. Ich beeil mich.“ Nils schlüpfte in seine Uniformjacke. „Dann bis nachher“, sagte er über die Schulter, als er hinausging.
Es dauerte etwa eine Stunde, bis er die restlichen Sendungen verteilt hatte. Anschließend brachte er das Fahrrad zurück zur Poststation und radelte mit seinem eigenen nach Hause. Schnell sprang er unter die Dusche, rasierte sich gründlich und verwendete einige Zeit darauf, seine widerspenstigen Haare zu stylen. Warum gab er sich eigentlich solche Mühe, wenn Damian ihn doch schon verschwitzt und zerstrubbelt gesehen hatte? Wenn er derart aufgebrezelt wieder auftauchte, würde der Tierarzt doch nur Verdacht schöpfen, dass Nils etwas von ihm wollte. Nils musterte seine Erscheinung im Spiegel. Wie sah Damian ihn? Er selbst fühlte sich wie eine graue Maus. Apropos: Die Mäuse! Er sollte sich wohl mal beeilen.
Es dämmerte bereits, als er erneut auf den Drahtesel stieg. Von seiner Wohnung waren es ungefähr zwanzig Minuten bis zu Damians Haus. Als er ankam, gingen bereits die Straßenlaternen an und die Dämmerung war Dunkelheit gewichen. Nils schob das Fahrrad in den Garten und stellte es neben der Garage ab. In der Küche brannte Licht. In seinem Bauch begann es aufgeregt zu kribbeln, während er den Weg zur Haustür zurücklegte. Sein Herz schlug viel zu schnell. Er holte ein paarmal tief Luft, bevor er auf den Klingelknopf drückte.
Die Tür wurde aufgemacht und Nils bildete sich ein, dass Damians Augen froh aufleuchteten.
„Komm rein“, wurde er aufgefordert. „Die Mäuse schlafen. Ich hab nur noch rausgekriegt, dass neben der Butze so ein Kasten steht, wie auf meinem Grundstück. Anscheinend gibt es bei den Niko-Mäusen Pfadfinder und solche, die einfach dumm hinterherlatschen. Wie Lemminge“, erzählte Damian, während er vor Nils her zur Küche ging.
Es duftete nach Essen. Eigentlich hatte Nils damit gerechnet, dass Damian ihn in ein Restaurant ausführen wollte, aber das hier war natürlich viel besser. Sein Magen knurrte laut, was Damian ein Schmunzeln entlockte.
„Setz dich. Wir können gleich essen. Deine Jacke kannst du mir geben.“
Nils streifte seine Lederjacke ab, reichte sie Damian und setzte sich an den Tisch. Kurz darauf
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Sissi Kaiserlos
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Lektorat: Aschure - dankeschön
Tag der Veröffentlichung: 18.07.2018
ISBN: 978-3-7438-7553-1
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