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Schwerfälliger Cowboy

Ich weise darauf hin, dass die in den Storys erwähnten Regularien nicht unbedingt der Realität entsprechen. Da ich aber weder über die Schwierigkeiten eine Aufenthalts-, noch die eine Arbeitserlaubnis zu erhalten doziere, sondern Prosa schreibe, bitte ich das zu verzeihen. Das Gleiche gilt für die Rinderzucht. Trotz aller Recherchen bin ich kein Fachmann und muss mit dem, was ich im Internet finde, zurechtkommen.

 

Schwerfälliger Cowboy

 

Felix Möller hielt sich – dank seiner Mutter, die in zweiter Ehe einen Amerikaner geheiratet hatte – unbefristet in den USA auf. Vom Tellerwäscher bis zum Fitnesstrainer hat er viele Jobs durch, als er auf die Idee verfiel, sein Glück auf einer Ranch zu versuchen.

~ * ~

 

1.

Die Northfolk-Ranch entsprach ihrem Internetauftritt: Das gelbe Haupthaus, mit weißem Dach, Erkern und einer großen Veranda, war von hohen Bäumen gesäumt. Dahinter standen, in der gleichen Farbkombination, die Nebengebäude und Garagen. Etwas abseits davon lagen Ställe, Scheunen und ein Silo, an die sich unendliches Weideland und Wälder anschlossen. Laut der Homepage befanden sich in letzteren Bungalows für Feriengäste sowie der Fluss, der im Lake Maxinkuckee mündete.

Felix marschierte auf das Gebäude zu, wobei sein Rollkoffer über den unebenen Weg holperte.

Seit immerhin vier Jahren lebte er in Indiana. Obwohl sich weder die Landschaft, noch das Klima großartig von seiner Heimat, Schleswig-Holstein, unterschieden, fühlte er sich nach wie vor fremd. Dafür gab es einige Gründe. Beispielsweise die ungewohnt weiten Entfernungen zwischen den Ortschaften, die Hire-and-fire-Mentalität der Amis und fehlenden sozialen Kontakte. Trotzdem er ein aufgeschlossener Mensch war, hatte er bisher keine Freunde gefunden. Bekannte ja, aber Leute, mit denen man mehr als nur plaudern oder zusammen ein Bier trinken konnte: Fehlanzeige.

Daheim, in einem kleinen Dorf in der Nähe von Kiel, hatte er allerdings auch kaum welche zurückgelassen. Nach dem Schulabschluss waren die meisten weggezogen, genau wie er. Felix hatte in Kiel studiert, Sport und Kunst auf Lehramt, im Anschluss an sein Referendariat einen Jahresvertrag erhalten und vergeblich auf Weiterbeschäftigung gehofft. Es gab zwar freie Lehrerstellen in Deutschland, doch einen Umzug nach Bayern oder in die neuen Bundesländer lehnte er ab. Er entschloss sich also ganz neu anzufangen und folgte seiner Mutter, die in zweiter Ehe einen Amerikaner geheiratet hatte, in die Staaten. Dank seines Familienstatus‘ erhielt er eine unbefristete Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis.

Seit seiner Ankunft hatte er alle möglichen Jobs innegehabt: Vom Burgerbrater bis hin zum Fitnesstrainer. Manche hätte er gern länger ausgeübt, andere lieber sofort hingeschmissen. Eines hatten sie jedoch allesamt gemein: Das Gehalt reichte knapp für die Miete und zum Überleben.

Derart gefrustet war er auf die Stellenanzeige der Northfolk-Ranch gestoßen. Idealerweise lag diese nicht allzu fern von Chicago, wo seine Mutter mit ihrem zweiten Gatten lebte. Die Stellenbeschreibung hörte sich zusammengefasst nach einem Mädchen-für-alles an: Arbeit in den Ställen, auf den Feldern sowie Reinigung und Reparatur der Ferienbungalows, Betreuung der Gäste bei Ausflügen und organisierten Festen. Letzteres entsprach am ehesten seinem Können und den Rest würde er schon lernen. Er besaß zwei rechte Hände, kam gut mit Tieren klar und mochte Gartenarbeit. Was ihn jedoch am meisten reizte war, raus aus der Stadt zu kommen. Wieder jeden Morgen frische Landluft schnuppern, wie seit Kindesbeinen an gewohnt; den Tag mit Joggen zwischen Feldern, Wiesen und Bäumen beginnen, statt durch Häuserschluchten zu laufen.

Felix hievte seinen Koffer auf die Veranda und wollte gerade klopfen, als die Tür aufgerissen wurde und zwei Kinder an ihm vorbeistürmten. Die beiden nahmen keinerlei Notiz von ihm und verschwanden im Schatten der Bäume. Kopfschüttelnd hob er erneut die Hand und klopfte gegen den Türrahmen.

„Hallo? Ich bin Felix Möller und hatte mich für heute angemeldet“, rief er und spähte in den breiten Flur.

„Hi. Kommen Sie rein. Erste Tür links“, schallte es zurück.

Er trat ins Haus und folgte der Einladung, die ihn direkt in eine riesige Küche führte. Es roch herrlich nach frischgebackenem Kuchen. Eine Frau mit grauem Zopf, eine geblümte Kittelschürze über der Jeans, stand an der Spüle und sah ihm entgegen.

„Hallo. Ich bin Annegret. Setzen Sie sich doch.“ Sie wies mit dem Kinn zum Tisch, trocknete sich die Hände an der Schürze ab und fischte ein Smartphone aus einer der Taschen. „Ich sage Ford Bescheid, dass Sie da sind.“

Nach einem kurzen Telefonat – unterdessen hatte Felix am Küchentisch Platz genommen – fragte sie: „Möchten Sie was trinken?“

„Ein Glas Wasser wäre toll.“

Sie holte einen Krug mit orangefarbenem Inhalt und eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank und stellte beides, zusammen mit einem Glas, vor ihm ab. „Bedienen Sie sich.“

Annegret wandte sich wieder der Spüle zu. Felix goss Wasser ins Glas, tat etwas von dem anderen Zeug, das nach Orangenlimonade aussah, hinzu und probierte einen Schluck. Die Mischung schmeckte lecker.

„Darf ich fragen, woher Sie stammen?“, erkundigte sich Annegret über die Schulter.

„Aus einem Dorf in Norddeutschland.“

„Ach ja? Meine Großeltern kommen aus der Nähe von Hannover.“

„Also kennen Sie Deutschland?“

„Nur von Fotos, aus Erzählungen und dem Internet. Ich war nie dort.“ Annegret griff nach einem Geschirrhandtuch und begann, die abgewaschenen Sachen abzutrocknen. „Vor über achtzig Jahren sind die beiden, auf der Flucht vor den Nazis, ausgewandert. Verständlicherweise hat es sie nie wieder nach Deutschland gezogen.“

„Im Internet steht, dass der Eigner auch deutschstämmig ist.“

„Richtig. Allerdings lebt Matts Familie schon eine Generation länger hier.“

Im Flur erklangen Schritte. Gleich darauf kam ein Mann in die Küche, das Gesicht wettergegerbt, mit grauen Schläfen und in Arbeitsmontur: Derbe Stiefel, eine Weste über einem karierten Hemd und verwaschenen Jeans.

„Hi. Ich bin Ford“, stellte sich der Mann vor und reichte ihm die Hand.

Felix sprang auf und schlug ein. „Angenehm. Felix Möller.“

„Ich zeig dir erstmal, wo du wohnst.“ Ford beäugte seinen Trolley. „Ist das dein ganzes Gepäck?“

„Vorerst ja. Sofern alles gut läuft, lass ich den Rest hinterherschicken.“

Ford nickte verständig. „Sehr vernünftig. Dann komm mal mit.“

Auf dem Weg zu den Nebengebäuden schaute sich Felix neugierig um. Vor den Garagen stand ein alter Pickup, in dessen Nähe befanden sich die beiden Kinder. Der Junge hielt einen Stock in der Hand und bohrte damit im Sand herum. Das Mädchen hockte daneben und guckte zu. Wahrscheinlich hatten die zwei irgendwelche Krabbeltiere entdeckt. Ameisen oder so.

„Sind das Annegrets Enkel?“

„Nein. Die beiden gehören zu Amalie, Matts Schwester.“

„Niedliche Kinder.“

„Hm“, machte Ford bloß, hielt vor einer Haustür, öffnete sie und ließ ihm den Vortritt.

Hintereinander stiegen sie eine Treppe hoch. Oben zählte Felix sechs Türen, die vom Flur abgingen. Ford schloss die dritte auf und ließ ihn erneut als erster eintreten. Der Raum war lichtdurchflutet und enthielt einen Esstisch mit zwei Stühlen, eine Couch, ein Sideboard und eine kleine Küchenzeile. Eine Tür führte in eine Schlafkammer, hinter der zweiten befand sich ein Duschbad.

„Schön“, kommentierte Felix begeistert.

Seine letzte Bude, ein Einzimmerapartment mit Blick auf eine Hauptverkehrsstraße, war kleiner und dunkler gewesen.

„Richte dich erstmal in Ruhe ein. Wenn du fertig bist, komm rüber zu den Ställen.“ Ford tippte sich an eine imaginäre Hutkrempe, drehte um und polterte die Stufen wieder runter.

Nachdem unten die Haustür ins Schloss gefallen war, herrschte Totenstille. Wahrscheinlich befanden sich alle anderen Bewohner auf dem Gelände. Felix warf einen Blick in den Flur, bevor er die Tür zumachte und sich erneut in seinem Reich umsah. Das Mobiliar hatte schon einige Jahre auf dem Buckel, wie er an etlichen Gebrauchsspuren erkannte. Der helle Bezug des Sofas wies ein paar Flecken auf, die Tischplatte ein paar Kratzer. Auch dem Holzboden sah man das Alter an. Dank eines bunten Teppichs sowie der ebenfalls bunten Vorhänge wirkte die Ausstattung dennoch gemütlich. Außerdem hatte Felix schon in derart schlimmen Bruchbuden gehaust, dass das Zimmer eine wesentliche Verbesserung darstellte.

Er bezog das Bett und brachte seinen Kulturbeutel ins Bad, wo er die Einrichtung genauer inspizierte. Die Elemente waren eindeutig neueren Datums und alles sehr sauber. Nachdem er Zahnpflegeartikel, Kamm und Rasierzeug ausgepackt hatte, räumte er seine Klamotten in den Einbauschrank in der Schlafkammer. Sein Wecker kam auf den Nachtschrank, Notebook, Malutensilien und seine Bücher auf das Sideboard im Wohnzimmer. Seinen Proviant, den er vorsichtshalber mitgebracht hatte, verstaute er im Kühlschrank.

Bei seiner Mutter standen noch drei Umzugskartons voller Krimskrams, wie ein bisschen Nippes, weitere Bettwäsche, Winterklamotten. Sobald heraus war, ob er bleiben würde, wollte er sie von dem Plunder befreien. Sie wohnte in beengten Verhältnissen und benötigte den Platz.

Die Küchenzeile war vollständig ausgestattet. Er vermisste zwar eine Kaffeemaschine, aber es gab einen Wasserkocher, Filter und eine Kanne. Rasch bereitete einen Becher Instantkaffee zu, den er im Stehen vorm Fenster schlürfte. Von dort hatte er Blick auf die Garagen. Die beiden Kinder waren inzwischen verschwunden, dafür stand neben dem Pickup ein zweiter gleichen Modells.

Er musste unbedingt Ford fragen, wie man das Problem des Einkaufens logistisch lösen konnte. Der Bus fuhr nur alle Jubeljahre, außerdem war der Weg bis zur Haltestelle irre lang. Eben hatte er über dreißig Minuten benötigt. Insofern war eine Tour in die nächste Stadt kein kurzer Ausflug, sondern eine halbe Weltreise. Ohne Auto war man in dieser Einöde echt aufgeschmissen. Vielleicht reichte die Bezahlung ja aus, sich bald ein altes Exemplar zu leisten. Felix seufzte. Wunschdenken. Selbst wenn er die Kohle für den Verkauf zusammengekratzt bekam, fehlte ihm die für Versicherung, Steuern und Sprit.

In solchen Momenten wie diesem überfiel ihn manchmal Reue, sein altes Leben hinter sich gelassen zu haben. Allerdings brauchte er nur an die aufmüpfigen Schüler denken, oder daran, in vorwiegend katholischen Bundesländern oder im Osten eine Stelle anzutreten, schon söhnte ihn das mit seinem Schicksal aus. Dann doch lieber weiter in Indiana sein Glück versuchen.

Er leerte seinen Becher, spülte ihn aus, trat auf den Flur und schloss sorgfältig ab. Anscheinend blieb die Haustür stets offen, denn sein Schlüssel passte nicht ins Schloss. Gemächlich umrundete er das Gebäude und steuerte die Ställe an, wobei er seinen Blick schweifen ließ. Ihm gefiel die endlose Weite, die er auch von daheim kannte. Aus Spaß pflegte seine Mutter oft zu sagen, man könnte schon morgens sehen, wer mittags zu Besuch auftauchte, so platt war das Land.

Je näher er dem ersten Stall kam, desto deutlicher hörte er das Gackern von Hühnern. Etwas, womit er auf der Northfolk-Ranch niemals gerechnet hätte. Als er in den Schatten des Gebäudes trat, empfing ihn der Gestank von Hühnerkacke. Auf der rechten Seite war, hinter einem Maschendraht, das Federvieh untergebracht. In der Mitte verlief ein breiter Gang und auf der rechten Seite standen ein Traktor, ein Pflug sowie allerlei Gerätschaften, deren Bezeichnung er nicht kannte. Von Ford keine Spur.

Im nächsten Stall roch es nach Pferden. Wieder ein breiter Mittelgang, an dem sich links und rechts Boxen befanden. Langsam wanderte er an den teils leeren, teils mit einem Pony belegten Abteilen vorbei. Am Ende des Ganges stieß er auf Ford, der den Huf eines Pferdchens untersuchte.

„Hi. Kann ich irgendwie helfen?“, fragte er pflichtschuldig.

„Kennst du dich mit Pferden aus?“, erwiderte Ford und nahm sich den nächsten Huf vor.

„Sagen wir es mal so: Ich habe keinen Angst vor denen und sie nicht vor mir.“

Ford gluckste. „Gute Antwort. Ich bin gleich fertig.“

Das Pony schnaubte, als wollte es diese Aussage bestätigen. Ein hübsches Tier mit braunem Fell und langer, blonder Mähne. Oder nannte man das bei Pferden anders? Obwohl auf dem Land aufgewachsen, war sein Wissen über diese Spezies beschränkt. In der Umgebung hatte es bloß Kuhweiden, Felder und eine Hühner-Massentierhaltung gegeben.

Er lehnte sich gegen eine Box und beobachtete, wie Ford fachmännisch ein spitzes Steinchen aus dem Huf entfernte. Anschließend war der letzte dran. Danach führte Ford das Pony in ein Abteil und wandte sich ihm zu.

„Ich hab den Auftrag, dich ein bisschen herumzuführen. Wir nehmen wohl besser einen der Pickups, anstatt zu reiten.“

„Das würde mir sehr entgegenkommen“, stimmte Felix zu.

Sie verließen den Stall, schlugen den Weg zum Haupthaus ein, gingen daran vorbei und zu einem der Pickups. Ford nahm hinterm Lenkrad Platz, er auf dem Beifahrersitz. Dem Innenraum war anzumerken, dass es sich um ein Arbeitsfahrzeug handelte. In der Türablage steckten verschiedene Werkzeuge und schmutzige Lappen, außerdem ließ die Sauberkeit zu wünschen übrig. Das Armaturenbrett war mit einer Staubschicht bedeckt, im Bodenraum lag Sand und Gras.

In der folgenden Stunde zeigte Ford ihm einige Bungalows, Wiesen mit Rindern und ein paar nette Stellen auf dem Gelände. Neben dem Fluss gab es einen kleinen See, der im Schatten hoher Bäume lag. Ford ratterte etliche Daten über das Anwesens herunter, die jedoch an Felix vorbeigingen. Er war viel zu sehr damit beschäftigt, die vielen Eindrücke zu verarbeiten. Das riesige Areal bot eine Menge Abwechslung, von baumloser Wiesenlandschaft bis hin zu tiefstem Wald. Für Kinder musste es, mit den unzähligen Möglichkeiten, ein Paradies darstellen. Gut, für Erwachsene auch, nur dass er nicht mehr dazu neigte, Höhlen zu bauen oder Verstecken zu spielen.

Als Ford den Wagen wieder vor der Garage abstellte, fiel ihm sein Einkaufsproblem ein. „Sag mal, gibt es hier in der Nähe einen Supermarkt?“

„Leider nicht, aber zwei der Wagen stehen für Personal zur Verfügung. Du kannst dich in eine Liste eintragen, die Annegret verwaltet oder mit einem der anderen Jungs fahren.“

„Okay. Danke für die Führung. Wann soll ich morgen antreten?“

„Melde dich um acht bei Amalie in dem Büro gegenüber der Küche.“

„Alles klar. Schönen Abend noch.“ Er stieg aus, winkte Ford zu und steuerte seine neue Bleibe an.

Das Bleichgesicht und die schwule Rothaut

Liwanu wurde als Ersatz für Cox eingestellt. Der Halbindianer konnte gut mit Pferden, war fleißig und ehrlich, ansonsten zurückgezogen. Ein ruhiger Vertreter eben. Genau passend für die Northfolk-Ranch.

~ * ~

 

1.

Die Northfolk-Ranch gefiel Liwanu ausnehmend gut. Im Vergleich zu den vorherigen, waren die Unterkünfte für Bedienstete purer Luxus. Er hatte schon in Baracken mit fließend kaltem Wasser gehaust oder in solchen, in denen es gar keines gab. Außerdem mochte er es, dass sorgsam mit den Tieren umgegangen wurde. Diesbezüglich hatte er schon so einiges erlebt. Zu guter Letzt waren die Leute allesamt in Ordnung. Keiner guckte ihn schief an, bloß weil er eine schwule Rothaut war. Auch oder gerade in dieser Richtung, hatte er etliche schlechte Erfahrungen hinter sich.

Natürlich hätte er seine Neigung verschweigen können. Andere gingen ja auch nicht mit ihren sexuellen Vorlieben hausieren. Noch nie hatte sich ihm ein Mann mit ‚Hallo, ich bin devot‘ oder ‚Hallo, ich steh auf dicke Titten‘ vorgestellt‘. Leider galten für Schwule andere Kriterien, als für Anhänger besonderer Vorlieben, außerdem hatte er keinen Bock auf Versteckspiele. Irgendwie kam es ohnehin immer heraus. Man beäugte ihn eben, schon wegen seiner Hautfarbe, besonders kritisch und da reichte ein winziger Ausrutscher, falscher Blick, was-auch-immer, um ihn zu outen. Manchmal bloß auf den Verdacht hin, manchmal, weil er ein Indiz, wie beispielsweise eine Wichsvorlage, offen rumliegen lassen hatte.

Letzteres konnte auf der Northfolk-Ranch nicht passieren. Man schätzte gegenseitig die Privatsphäre. Niemand drang unbefugt in seine Unterkunft ein oder rückte ihm zu nahe auf den Pelz. Das war in den ersten vier Wochen so gelaufen, und er ging davon aus, dass es auch so blieb. In den meisten Fällen hatte sich sein erster Eindruck bisher bestätigt.

In Liwanus Adern floss zur Hälfte rotes, zur Hälfte weißes Blut. Sein Vater, ein Cherokee, hatte noch vor seiner Geburt im Reservat Suizid begangen. Seine Mutter, gebürtige Texanerin, lebte ebenda in einem Trailerpark und hatte sich inzwischen entweder zu Tode gesoffen oder vegetierte weiter vor sich hin.

Vor einigen Jahren war es ihm endlich gelungen, einen Schlussstrich zu ziehen und sie aus seinem Gedächtnis zu streichen. Davor hatte er ihr regelmäßig Geld zukommen lassen, wofür er weder Dank noch Anerkennung erfuhr. Im Nachhinein sah er es so: Hätte er seine Zahlungen eher eingestellt, wäre sie vielleicht inzwischen trocken. Es war jedoch sinnlos, sich über Vergangenes Gedanken zu machen.

Von seinem Vater hatte er das exotische Äußere und den Instinkt für Pferde geerbt. Na gut, das war nur eine Vermutung, aber von seiner Mutter konnte er beides nicht haben. Sie war hellhäutig, blond und mochte keine Tiere. Ihr hatte er bloß eine gewisse Schulbildung und ein paar Manieren zu verdanken.

Bevor sie anfing ständig zu saufen, war sie bemüht gewesen, ihm eine gute Mutter zu sein. Leider vergeblich. Sie konnte wohl nichts für ihre Hartherzigkeit. Der Tod seines Vaters hatte sie genauso verbittert, wie von den eigenen Eltern verstoßen zu werden. Die waren über das Verhalten ihrer Tochter entsetzt. Selbst nach dem Ableben seines Erzeugers wollten die beiden verbiesterten Alten keinen Kontakt, nicht mal zu ihrem Enkel, dem Bastard eines Indianers.

Seine Mutter hatte ihm den Namen seines Vaters gegeben: Liwanu, brummender Bär. Das, sowie sein Aussehen, waren das Einzige indianische an ihm. Alles, was er von den Sitten seiner eingeborenen Ahnen wusste, hatte er recherchiert. Als Kind aus Büchern, später im Internet. Seine Mutter konnte oder wollte ihm nichts darüber erzählen. Ebenso verweigerte sie eine Reise in das Reservat seines Stammes. Wahrscheinlich hätte es nur alte Wunden aufgerissen.

Sie lernte seinen Vater auf einer Tramptour quer durch die Bundesstaaten kennen. Er musste in einer der ersten Nächte entstanden sein. Am Ende ihrer Ferien trennten sich die beiden mit dem Versprechen, einander so bald wie möglich wiederzusehen. Sein Vater reiste tatsächlich zu seiner Mutter, wurde aber von deren Eltern des Hauses verwiesen. Ob ihm diese Schmach so sehr zusetzte, in den Freitod zu gehen? Jedenfalls erfuhr seine Mutter einige Wochen später, dass sein Vater kurz nach seiner Rückkehr ins Reservat tot aufgefunden wurde. Sie durfte ihn noch gebären, danach warfen ihre Eltern sie ebenfalls raus.

Seine Kindheit hatte er in winzigen Wohnungen und letztendlich im Trailerpark verbracht. Geld war immer knapp. Freundschaften schloss er gar nicht erst. Er schämte sich für sein Zuhause und als seine Mutter zu trinken anfing, war das ein weiterer Grund. Gleich nach seinem dem Schulabschluss zog er los, um auf einer Ranch zu arbeiten. Seitdem hatte er sich praktisch einmal im Halbkreis durchgejobbt, beginnend in Texas über Neu Mexico, Arizona, Colorado, Nebraska, Iowa, Illinois bis nach Indiana. Als er die Stellenanzeige der Northfolk-Ranch fand, war gerade seine letzte Schrottkarre zusammengebrochen. Insofern hatte er gar keine große Wahl und dabei anscheinend einen Glücksgriff getan.

Neben den ganzen Annehmlichkeiten, durfte er sich sogar manchmal einen der Pickups ausleihen. Er brauchte bloß den Tank wiederauffüllen. Außerdem konnte er nach Belieben in den Ställen ein- und ausgehen. Natürlich war er meistens bei den Pferden, seinen besten Freunden. Einziger Wermutstropfen: Seine Wohnung lag im Obergeschoss, hatte also keine Terrasse. Das wäre aber auch zu viel verlangt gewesen.

Aktuell war er mit Hank, dem Vorarbeiter, Jeremy und Will unterwegs, um die Zäune zu kontrollieren. Wegen des teils unwegsamen Geländes ritten sie die Grenzen ab, anstatt mit einem der Pickups zu fahren. Fand sich ein reparaturbedürftiger Abschnitt, orderte Hank per Handy den Wagen mit Material, der bis zur nächsten zugänglichen Stelle fuhr.

Keine spannende Tätigkeit, doch Liwanu war schon zufrieden, wenn er auf einem Pferd sitzen durfte. Man hatte ihm Abraxas, einen schwarzen Wallach, zugeteilt. Es war Liebe auf den ersten Blick. Das ziemlich temperamentvolle Tier ließ sich von ihm willig führen. Wahrscheinlich handelte es sich ursprünglich um eine Art Test, denn Hank hatte verwundert geguckt, als er gut mit Abraxas zurechtkam. Vielleicht irrte er sich auch. Was Menschen betraf, war sein Gespür gering ausgeprägt.

Gerade hatte Hank den Pickup angefordert sowie Jeremy und Will angewiesen, den kaputten Abschnitt instand zu setzen. Zu zweit ritten sie weiter. Hank verteilte stets die Arbeit und bildete die Vorhut. Es ging gerecht zu. Beim den nächsten beiden Malen würde es Liwanu zufallen, mit einem der anderen die Reparatur auszuführen. So kam jeder mal in den Genuss, für ein Weilchen die Seele baumeln zu lassen.

Hank gehörte zu den wortkargen Gesellen. Im Laufe der letzten Wochen hatte er den Mann selten mehr, als zwei Sätze am Stück reden hören. Also: Privat. Beruflich sprach Hank natürlich öfter, aber sonst … tote Hose. Liwanu war das nur recht. Er hatte überhaupt keine Lust auf dummes Gequatsche. Selbstverständlich passte er sich an, wenn einer der Cowboys unbedingt labern wollte, doch so oft es ging, hielt er sich aus allem raus.

„Gefällt’s dir hier?“, wandte sich Hank überraschend an ihn.

„Ähm … ja.“

„Gut.“ Hank richtete die Aufmerksamkeit wieder auf den Zaun.

Liwanu war enttäuscht und wünschte, dass Hank erneut das Wort an ihn richtete. Irgendetwas haftete dem Mann an, das sein Interesse weckte. Mit den braunen Haaren und Augen, der schlanken Figur und dem wettergegerbten Gesicht stach Hank eigentlich kaum aus der Menge heraus. Es dürften also andere Attribute sein, die ihn anzogen, ausgenommen der Tatsache, dass sie gleich tickten. Er hatte es daran erkannt, wie Hank ihn heimlich einer Musterung unterzog. Kein Hetero taxierte einen anderen auf solche intensive Art. Vielleicht irrte er sich, aber das passierte eigentlich so gut wie nie.

Wahrscheinlich war es der Altersunterschied. Er schätzte Hank auf Anfang vierzig, also ungefähr fünf Jahre älter als er. Schon immer hatte er ein Faible für solche Typen gehabt, vermutlich ein Vaterkomplex. Vögeln tat er allerdings wahllos. Ergab sich eine Gelegenheit, war er sofort dabei, egal ob passiv oder aktiv oder welcher Altersgruppe sein Sexpartner angehörte. (Natürlich mit Ausnahme Minderjähriger.) Das Leben war zu kurz, um Chancen auf Sex zu vergeuden.

Was Beziehungen betraf, hegte Liwanu keinerlei Illusionen. Ein paarmal war er von älteren Männern als Betthäschen gehalten worden, doch niemand wollte offiziell mit einer Rothaut zusammen sein. Es gab zwar Kreise, in denen es als chic galt, sich mit einem exotischen Liebhaber zu schmücken, doch in der Gesellschaft, in der er sich bewegte, blieb man als Homosexueller lieber unauffällig.

„Hank?“

„Mhm?“, machte jener, ohne den Blick vom Zaun zu nehmen.

„Kann ich vielleicht umziehen, wenn eine der unteren Wohnungen frei wird?“

„Klar. Das dauert aber noch.“ Hank drehte sich in seine Richtung. „Tut mir leid, dass es so gelaufen ist. Dein Vorgänger hat immer oben gewohnt. Ich hab mir gar nichts dabei gedacht, die letzte untere Wohnung einer Saisonkraft zu geben.“

„Macht doch nichts.“

„Dann ist ja alles gut“, erwiderte Hank und wandte sich wieder ab.

Liwanu hätte furchtbar gern eine Terrasse gehabt. Er liebte es, abends draußen zu sitzen und zu lesen. Am offenen Fenster oder irgendwo in der Landschaft war das nicht das Gleiche. Da fehlten der Komfort eines bequemen Liegestuhls und die Nähe zu eisgekühlten Getränken. Na gut, er jammerte auf hohem Niveau. Bei seiner letzten Anstellung hatte er sich ein Zimmer mit einem anderen Angestellten teilen müssen. Leider dazu mit einem, der nachts ganze Wälder abholzte. Dagegen war der aktuelle Mangel ein Kinkerlitzchen.

„Ich denke, für heute reicht’s“, verkündete Hank wenig später, stoppte und schickte sich an, zu wenden.

Liwanu dirigierte Abraxas ebenfalls herum. Gemächlich ritten sie zu den beiden anderen zurück, die inzwischen fast fertig waren. Mit ihrer Hilfe war der Zaun im Nu repariert. Rasch sammelten sie die Werkzeuge an und machten sich auf den Rückweg. Hank ritt mit Jeremy vorneweg, er mit Will hinterher.

„Wir grillen nachher“, sprach Will ihn an. „Wenn du magst, kannst du dich gern dazugesellen.“

„Danke. Ich überleg’s mir.“

„Du musst nur was zu trinken und Fleisch oder so mitbringen. Jeremy macht Salat und Knoblauchbrot für alle.“

„Hört sich gut an“, erwiderte Liwanu.

„Das ist nur ein Angebot. Ich weiß ja, dass du lieber allein abhängst.“ Will zwinkerte ihm zu. „Auf Dauer wird man davon aber matschig im Kopf.“

„Wie meinst du das?“

„Na, so entstehen Verschwörungstheorien. Weil Leute Sachen so lange in ihrem Gehirn verwursten, bis solcher Scheiß dabei rauskommt“, erklärte Will.

„So weit bin ich noch nicht.“

„Ich hab dich nur auf das Risiko hingewiesen.“

Den Rest des Weges schwieg Will. Es war aber keine lastende Stille, sondern stumme Übereinkunft, dass es nichts weiter zu bereden gab.

Im Stall angekommen, versorgte Liwanu sein Pferd und blieb auch noch, als alle anderen bereits gegangen waren. Sorgfältig bürstete er Abraxas‘ Mähne und Schweif, nachdem er zuvor Halme und Zweiglein entfernt hatte. Der Wallach hielt ganz still und rieb, als er fertig war, die Nüstern an seinem Arm. Zum Abschluss bekam Abraxas eine Möhre sowie ein paar Streicheleinheiten, dann verließ Liwanu den Stall und begab sich in seine Wohnung.

Sein ganzes Habe beschränkte sich auf einen Koffer und zwei Kisten. In einer davon befanden sich Dinge, die er im Laufe der vergangenen Jahre gesammelt hatte. Wertloses Zeug, wie der Schädel eines Wildtieres, schöne Steine, ein paar Knochen; außerdem Bücher, zwei handgewebte Wolldecken in bunten Farben, ein Beutel mit indianischen Heilsteinen, wie Türkis, Karneol, Turmalin, Amethyst und Tigerauge, das unverzichtbare Notebook, eine kleine Sammlung CDs mit indianischer Musik und ein einfacher Espressokocher. Die Sachen hatte er inzwischen im Wohnzimmer verteilt, so dass der zuvor nüchterne Raum recht gemütlich wirkte.

Der Inhalt der zweiten Kiste und des Koffers bestand aus Klamotten, Bettwäsche, Handtüchern und einer provisorischen Campingausrüstung, wie Spirituskocher, Blechgeschirr, faltbarer Wasserkanister, Dosenöffner und so weiter. Einige Male hatte er nämlich zwischen zwei Jobs eine Weile im Auto gelebt. Liwanu hoffte, dass die Stücke bald nur noch Erinnerungswert besaßen und er für lange Zeit sesshaft wurde. Er hatte das Umherziehen mehr als satt.

Nach einer ausgiebigen Dusche kochte er ein einfaches Reisgericht. Oft verzichtete er auf Fleisch. Zum einen aus Sparsamkeit, zum anderen aus gesundheitlichen Gründen. Er fühlte sich einfach besser, wenn er vegetarisch aß.

Während er sein Abendessen verspeiste überlegte er, ob er sich später zu den anderen gesellen sollte. Er wollte seinen Kollegen nicht das Gefühl geben, ihre Gastfreundschaft zu verschmähen. Schließlich entschied er, wenigstens für eine halbe Stunde auf ein Getränk dazu zustoßen. Immerhin musste er mit Jeremy und Dan, ebenfalls Stammpersonal, längere Zeit auskommen.

Beim Abwasch wanderten seine Gedanken zu den Bewohnern des Haupthauses. Die Ranch gehörte Matt, mit dem er, in Hanks Anwesenheit, das Einstellungsgespräch geführt hatte. Amalie war Matts Schwester, Glenn deren Ehemann. Welche Rolle Felix, den er öfter im Stall traf, spielte, entzog sich seiner Kenntnis. Vielleicht wohnte der bloß so in dem Haus. Das Gebäude war groß genug, um mehr als zwei Wohnungen zu beherbergen.

Randbemerkungen zufolge, die er mal aufgeschnappt hatte, handelte es sich allerdings um Matts Lover. Es wurde aber immer viel gelabert, ohne dass es Wahrheitsgehalt haben musste. Sein Gaydar hatte zwar bei Matt sowie Felix ausgeschlagen, doch das hieß keinesfalls zwangsläufig, dass die beiden ein Paar waren. Zwei Schwule sprangen, entgegen der geläufigen Meinung, nicht automatisch aufeinander an. Manchmal fragte er sich, wer auf diese blöde Idee gekommen war. Liwanu kannte genug schwule Typen, um die er lieber einen großen Bogen machte.

Annegret fiel wohl die Rolle der Haushälterin zu. Sie war die gute Seele und praktisch rund um die Uhr im Einsatz. Ford besaß den Status ‚der Mann für alles‘ und schien sich hauptsächlich um die Landwirtschaft zu kümmern. Beide mochte er sehr. Sie hatten eine ruhige Gelassenheit an sich, die sofort Vertrauen erweckte. Die zwei wohnten ebenfalls in dem Nebengebäude, in dem seine Wohnung lag, im Erdgeschoss, genau wie Hank.

Was Marsha und Jannis betraf: Liebe Kinder. Immer, wenn er die beiden irgendwo sah, winkten sie ihm zu. Gleich zu Anfang hatte er sie im Stall bei den Ponys getroffen, wo sie ins Gespräch kamen. Anscheinend waren sie schwer beeindruckt von seinem Wissen über Pferde, denn seitdem behandelten sie ihn mit gewisser Ehrfurcht.

Liwanu trocknete die letzten Teile ab, hängte das Geschirrtuch übers Spülbecken und nahm eine Flasche Saftschorle aus dem Kühlschrank. Ohne rechte Begeisterung machte er sich auf den Weg zur Grillparty.

 

Impressum

Texte: Sissi Kaiserlos
Bildmaterialien: shutterstock
Cover: Lars Rogmann
Lektorat: Aschure - dankeschön
Tag der Veröffentlichung: 08.06.2018

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