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Opernfreu(n)de

Jorge hatte sich in den Callboy Colin verliebt und deshalb ihren Kontakt abgebrochen. Da es schwer war einen Ersatz zu finden, verzichtete er erstmal auf ein neues Engagement. Als er mal wieder von seiner Stammloge aus ein Ballett verfolgte, entdeckte er Colin im Publikum, an dessen Seite sich ein attraktiver Typ befand. Wer war das? Ein Kunde?

~ * ~

 

1.

Jorge guckte sich All our Yesterdays das dritte Mal an. Nicht unbedingt wegen der Tänzer, sondern eher dem Bariton: Ein hübscher Mann mit toller Stimme. Er schloss die Augen, um das schöne Organ, ungestört von visuellen Reizen, zu genießen. Zu toppen wäre der Genuss nur noch, wenn Colin ihn dabei oral verwöhnen würde. Ach, Colin ...

Wehmütig seufzend öffnete Jorge seine Augen und betrachtete die Bühnenszene. Im Grunde war seine Verliebtheit in Colin bloß oberflächlicher Natur. Er mochte dessen attraktives Äußeres und sie kamen auch gut miteinander aus, doch es fehlte jegliche Gemeinsamkeit. Beispielsweise hasste Colin Ballett ebenso sehr, wie Opern. Insofern waren ihre gemeinsamen Besuche der Staatsoper für den Callboy eine Qual, obwohl jener das gut zu verbergen wusste. Dennoch hatte er es bemerkt. Nichtsdestotrotz war sein Herz Colin zugeflogen. Wahrscheinlich lag das daran, dass er sich einsam fühlte. Da konnte man schon mal zu irrationalen Emotionen neigen.

Mit Christoph war es ganz anders gewesen. Sie hatten sich in jedem Bereich toll verstanden, obwohl ihr Altersunterschied fünfzehn Jahre betrug. Genau wie er, war Christoph ein eingefleischter Ballettliebhaber, mochte gutes Essen und mischte sich gern mal – wie sie es oft scherzhaft nannten – unters Volk. Mit anderen Worten: Sie gingen in einfache Kneipen, um ein frisch gezapftes Pils zu trinken und Sozialstudien zu betreiben, zu raten, wer welchem Beruf nachging und ähnliches. Diese Freude daran, andere Menschen zu beobachten und deren Verhalten zu analysieren, hatte Jorge nie wieder bei jemandem gefunden.

Vor fünf Jahren war Christoph einem heimtückischen Krebsleiden erlegen. Fast auf den Tag genau zwölf Monate nach der Diagnose, hatte das Herz seines Partners für immer aufgehört zu schlagen. Glücklicherweise musste Christoph nicht lange leiden und war friedlich eingeschlafen. Im Grunde eine Erlösung, da er am Ende nur noch aus Haut und Knochen bestand. Die Scheißkrebszellen hatten ihn innerlich aufgefressen, so dass für Nahrung kein Platz mehr war.

Jorge versuchte die Erinnerung abzuschütteln. Er hatte Christoph auf dem Sterbebett versprochen, nicht in Trauer zu versinken. Einfacher gesagt, als getan. Sein geliebter Mann fehlte ihm so sehr. Selbst daran zu denken, dass Christoph nun keine Schmerzen mehr ertragen musste, war wenig tröstlich. Sehr egoistisch, aber für einen Hinterbliebenen tat sich nun mal eine klaffende Lücke auf.

Er ließ seinen Blick übers Publikum schweifen. Noch etwas, das Christoph und ihn verbunden hatte: Die Freude an schicker Kleidung. Nichts gegen ein legeres Outfit, aber in der Oper gehörte es sich – nach ihrer Meinung – einen Anzug zu tragen. Außerdem hatten sie es beide scharf gefunden, einander danach die Sachen auszuziehen. Manchmal war es sogar zu Sex gekommen, ohne dass sie überhaupt ein Stück der Abendkleidung loswurden.

Plötzlich zuckte Jorge zusammen. Der Blonde da unten ... war das etwa Colin? Als hätte der Mann seine Gedanken gelesen, schaute jener hoch und es handelte sich tatsächlich um Colin. Reflexartig hob Jorge die Hand, um zu winken, bemerkte es jedoch rechtzeitig und ließ sie schnell wieder sinken. Colin hingegen kannte keinerlei Skrupel und winkte, woraufhin er sich genötigt sah, die Geste zu erwidern.

Der Typ, der neben Colin saß – beide trugen schicke Anzüge – guckte ebenfalls zu ihm empor. Ein Braunhaariger, deutlich älter als der Callboy. Ein Kunde von Colin? Sehr wahrscheinlich. Warum sollte der sonst in die Oper gehen?

Obwohl sich Jorge dafür hasste, schließlich besaß er keinerlei Rechte auf Colin, keimte Eifersucht auf. Die restlichen Minuten bis zur Pause war er außerstande, dem Stück zu folgen. Stattdessen beobachtete er die beiden Männer und bewertete jede einzelne Bewegung. Die Art, wie Colin dem Kunden etwas ins Ohr flüsterte – war das vertraulich oder eher anbiedernd? Grinsten die zwei über ihn oder etwas anderes? Das Bühnenstück war jedenfalls keineswegs lustig.

Als der Vorhang fiel, atmete Jorge auf. Rasch verließ er seine Loge und steuerte die Toiletten an. Nachdem er seine Notdurft verrichtet hatte, ließ er am Waschbecken kaltes Wasser über seine Handgelenke laufen. Das kühlte seinen Puls etwas ab und verschaffte ihm den Gleichmut, sich ins Foyer zu begeben, um eine Erfrischung zu besorgen. Vielleicht hatte er Glück und traf dabei nicht auf Colin samt Freier.

Im Erdgeschoss herrschte an den Getränkeständen großer Andrang. Er stellte sich an der, nach seiner Schätzung, kürzesten Schlange an und sah nervös umher. Es ging bloß im Schneckentempo voran und war schon bald ersichtlich, dass er nebenan weitaus flotter vorangekommen wäre. Typisch. Im Supermarkt erlitt er oft das gleiche Schicksal. Egal, welche Kasse er wählte, passierte garantiert irgendetwas, das ihn zu einer langen Wartezeit verdammte. Entweder funktionierte die EC-Karte eines Kunden nicht, eine Oma suchte ewig nach Kleingeld oder das Kassengerät streikte plötzlich.

Genervt begann Jorge auf den Fersen zu wippen. Kurz bevor er endlich dran war, ertönte neben ihm Colins Stimme: „Hi Jorge. Schön dich zu sehen. Wie geht’s?“

Erschrocken fuhr er herum, wobei er um ein Haar mit einem Mann, der zwei volle Gläser vor sich her balancierte, kollidiert wäre. Der Typ verschwand kopfschüttelnd in der Menge.

„Oh, hallo. Freut mich auch“, gab er zurück.

„Du stehst in der falschen Schlange.“ Colin prostete ihm grinsend mit einem vollen Sektkelch zu. „Da vorn ging es ruckzuck.“

„War ja klar“, murmelte Jorge und fügte lauter hinzu: „Bist du neuerdings Ballettfan?“

„Ich nicht. Das weißt du doch. Anton ...“ Colin wies mit dem Kinn auf den Braunhaarigen, der etwas abseits stand, ebenfalls eine Sektflöte in der Hand. „... hat mich gefragt, ob ich ihn begleite. Er wollte ungern allein herkommen.“

„So, so.“ Jorge stand mittlerweile direkt vorm Tresen, bat die Bedienstete um ein Glas Sekt-Orange, steckte das Wechselgeld ein und folgte Colin zu dessen Begleiter.

Aus der Nähe betrachtet wirkte der recht attraktiv, in dem weißen Hemd mit roter Samtfliege und den silbernen Schläfen. Colin sah allerdings tausendmal besser aus. Blöder Vergleich. Immerhin war Colin erst Anfang dreißig und der Kunde ungefähr Mitte vierzig. Da besaß man eben schon gewissen Ecken und Kanten. Jorge hatte ja selbst bereits Falten im Gesicht, einige graue Haare und seine Haut war auch nicht mehr die straffeste.

„Hi. Ich bin Anton“, stellte sich selbiger vor und reichte ihm die Hand.

Er griff zu und erwiderte: „Jorge. Angenehm.“

„Wo wir gerade so nett plaudern“, mischte sich Colin ein. „Ich muss gleich weg. Bin noch verabredet. Würde es dir etwas ausmachen, dich ein bisschen um Anton zu kümmern?“

Verdattert sah er zwischen den beiden hin und her. Anton schien genauso perplex wie er und guckte Colin, der eine Unschuldsmiene zur Schau trug, missbilligend an. Was ging denn – bitteschön! – hier ab?

„Tut mir leid. Ich hab dich wohl ein bisschen überfahren.“ Colin zuckte die Achseln. „War ja nur ein Vorschlag.“

„Also ... ähm ... ich komm gut allein zurecht“, meldete sich Anton zu Wort.

Waren die beiden schon fertig? Ein Blowjob auf dem Klo, oder was? Oder hatten die zwei vorher gevögelt und sich anschließend in Abendgarderobe geworfen? In seiner Verwirrung stürzte er das Getränk in einem Zug runter.

Colin trank ebenfalls den Rest Sekt und klopfte Anton auf die Schulter. „Man sieht sich im Lila Leguan. Ich wünsch dir noch viel Spaß.“ Und an ihn gewandt: „Dir natürlich auch. War schön, dich mal wieder getroffen zu haben.“

Bevor er etwas erwidern konnte, war Colin bereits auf dem Weg nach draußen. Frech drückte der Callboy dabei einem der Türsteher das leere Sektglas in die Hand. Für solche kecken Aktionen hatte er Colin stets bewundert. Er würde es niemals wagen, derart aus der Rolle zu fallen.

„Öhm ... Jorge?“, bat Anton um seine Aufmerksamkeit.

„Mhm?“, gab er zurück und drehte sich in dessen Richtung.

„Das mit dem um mich kümmern, das ist mir echt peinlich. Keine Ahnung, was sich Colin dabei gedacht hat.“

„War wohl ein Scherz.“

Anton zuckte die Achseln. „Sehe ich auch so. Ich geh dann mal wieder rein.“

„Ich auch. Vielleicht läuft man sich mal wieder über den Weg.“

„Würde mich freuen“, antwortete Anton, nickte ihm zu und ging, mit einem Schlenker zu einem der Tresen, um das Glas loszuwerden, in Richtung Saal.

Kaum war der Mann aus seinem Blickfeld verschwunden, bereute er, Colins Vorschlag abgelehnt zu haben. Es wäre ziemlich angenehm gewesen, Gesellschaft in der Loge zu haben. Andererseits war Anton ein Kunde von Colin ... oder etwa nicht? Grübelnd begab er sich zurück in seine Loge.

Während des zweiten – und letzten – Aktes, wanderte sein Blick oft ins Parkett. Mit jeder vergehenden Minute bedauerte er mehr, Antons Gesellschaft verschmäht zu haben. Bei dem handelte es sich offensichtlich auch um einen eingefleischten Kultursüchtigen. Konzentriert verfolgte Anton die Darbietung und schloss gelegentlich, bei besonders intensiven Passagen, die Augen.

Was hatte es mit diesem Lila Leguan auf sich? War das ein Club? Jorge holte sein Smartphone hervor, etwas, das er sonst nie in der Oper tat. Es ließ ihm aber keine Ruhe. Er fand keine Homepage des Lokals, sondern lediglich Eintragungen im Branchenbuch und anderen Portalen. Es handelte sich anscheinend um eine Kneipe mit gemischtem Publikum, wobei die homosexuelle Klientel wohl in der Überzahl war. Das schloss er jedenfalls aus den Bewertungen.

Er steckte das Gerät wieder weg und rieb sich nachdenklich übers Kinn. Übte Colin neuerdings den Job eines Kneipenstrichers aus? Das konnte er sich kaum vorstellen. Es ging ihn auch gar nichts an. Ihr Verhältnis war Geschichte und Basta.

Am Ende der Vorstellung beeilte er sich, ins Foyer zu kommen und bezog an der Tür Aufstellung. Es dauerte ein Weilchen, bis Anton, der in der siebten Reihe gesessen hatte, in sein Blickfeld geriet. Ohne den direkten Vergleich zu Colin schnitt der Mann ziemlich gut ab. Als Anton ihn entdeckte, setzte er ein verbindliches Lächeln auf und bedeutete mit einer Geste, vor dem Eingang zu warten. Im Innenbereich herrschte nämlich ziemliches Gedränge. Ungeeignet, um ein paar private Worte zu wechseln.

Er ging also nach draußen und begab sich ans Ende des Gebäudes, wo eine Seitenstraße zum Bühnenausgang und in Richtung Alster führte. So war er der Traube Menschen, die in Richtung Parkhaus oder U-Bahnstation gingen, nicht im Weg. Anton gesellte sich wenig später zu ihm, zog eine Schachtel Zigaretten aus der Jacketttasche und bot ihm eine an.

„Danke. Ich rauche nicht“, lehnte er ab.

„Ich auch nicht. Bloß nach solchen Hochgenüssen oder ... na ja, eben danach.“ Schmunzelnd steckte sich Anton eine Kippe in den Mundwinkel, zückte ein Feuerzeug und zündete sie an.

„Sorry, dass ich vorhin so abweisend war. Colin hat mich irgendwie irritiert.“

„Macht nichts. Ich war auch ziemlich verwirrt. Betrachten wir es als witzige Showeinlage.“

„Ja, dafür ist er immer gut. Bist du ... seid ihr ...?“

„Ob ich ein Kunde von ihm bin? Ehrlich gesagt ist mir das zu teuer. Da stecke ich mein Geld doch lieber in eine vernünftige Opernkarte, als in ...“ Anton schrieb imaginäre Anführungszeichen in die Luft. „...in einen Hintern.“

Ganz seine Meinung, wobei er eine Verbindung beider Sachen bevorzugte und sich auch leisten konnte. Ein teures Vergnügen, aber es mangelte ihm nun mal nicht an monetären Mitteln. Warum also geizen? Zumindest waren nun zwei Dinge klar: Anton wusste von Colins Job und die beiden hatten nichts miteinander. Das Zweite gefiel ihm ausnehmend gut und Ersteres erleichterte die Konversation. Jorge hasste es, um den heißen Brei herumzureden.

„Ich wollte mir nächsten Freitag die Wiederaufnahme von Bernstein Dances ansehen. Hättest du vielleicht Lust, mir Gesellschaft zu leisten? Die Loge ist eh bezahlt, daher stellt das für mich keinen finanziellen Mehraufwand dar. Außerdem würde ich mich echt freuen.“

„Gern. Das stand schon in der letzten Spielzeit auf meiner Agenda, aber allein gehe ich ungern in die Oper. Darum war ich ja auch sehr dankbar, dass sich Colin zumindest für den ersten Akt geopfert hat.“

„Ja, das war bestimmt ein Opfer für ihn“, stimmte Jorge grinsend zu. „Wie hast du ihn denn dazu überredet?“

„Gar nicht.“ Anton blies einen Rauchkringel aus. „Das hat sich so ergeben.“

Hatte Colin einen Helferkomplex entwickelt? Anders konnte sich Jorge die Sache nicht erklären. „Vielleicht hat er endlich Geschmack an Kultur gefunden, dieser Banause.“

„Abwarten. Ich denke mal, er ist nicht generell abgeneigt. Manchmal muss so etwas reifen. Immerhin ist Colin fast zwanzig Jahre jünger als ich.“

Womit er sich gewaltig im Alter getäuscht hatte. Anton war also schon Anfang fünfzig. Na gut. So groß war der Unterschied zu Mitte vierzig nicht, zudem sah Anton dafür ziemlich frisch aus. „Dann wäre das mit nächstem Freitag also abgemacht?“

„Klar. Ich freu mich schon drauf. Treffen wir uns hier oder was schwebt dir vor?“

„Gib mir mal deine Handynummer“, bat Jorge, zog sein Smartphone aus der Jackentasche und aktivierte das Display.

Kurz darauf hatten sie ihre Nummern ausgetauscht und verabschiedeten sich voneinander. Er wechselte auf die andere Straßenseite, um zum Parkhaus zu gehen, in dem sein Porsche stand. Anton, der mit der Bahn gekommen war, blieb auf der anderen Seite zurück. Die Hände in den Hosentaschen versenkt, lief er am Café Opera, in dem er einst oft mit Christoph nach einer Vorstellung gesessen hatte, vorbei. Eigentlich hätte er Anton noch auf einen Drink einladen können. Der Mann wirkte überaus sympathisch. Tja. Das war wohl so ein Abend der verpassten Gelegenheiten. Zumindest besaß er nun Antons Nummer. Wenigstens in diesem Punkt hatte er seine Chance genutzt.

2.

 

Gemächlich steuerte Anton auf die U-Bahnstation zu und zündete sich dabei eine zweite Zigarette an. Eigentlich hätte er Lust, noch einen Abstecher in den Lila Leguan zu unternehmen, aber dafür war er overdressed. Dazu, vorher zu Hause die Kleidung zu tauschen, fehlte ihm der Elan.

Sein Blick wanderte rüber, zur anderen Straßenseite, wo Jorge gerade in einer schmalen Gasse verschwand. Was für ein glücklicher Zufall, dass er genau an diesem Abend ... oder handelte es sich gar nicht um höhere Gewalt, sondern hatte Colin das eingefädelt? Unsinn! Welches Interesse hätte Colin daran, ihm Jorge vorzustellen? Der hatte sicher andere Hobbys, als Amor zu spielen. Außerdem war die ganze Sache nicht auf Colins Mist gewachsen, sondern auf Martins, dem Wirt des Lila Leguan.

Bevor er die Stufen in die Station hinunterstieg, trat er seine Kippe auf dem Bürgersteig aus. Unten herrschte reges Treiben. Zwischen den Gästen der Oper, die, wie er, rumgetrödelt hatten, befanden sich etliche Jugendliche. Der Unterschied war, wegen der Garderobe, besonders krass. High Society meets Altkleidersammlung. Na gut, das war übertrieben, doch angesichts der teils zerrissenen Klamotten der jungen Leute – ja, ja, die kaufte man neuerdings absichtlich in diesem Zustand – kam es ihm so vor.

Tagsüber trug Anton, wegen des Dresscodes, ständig einen Anzug. Mittlerweile waren die Regeln ein wenig gelockert, Krawatten nicht mehr unbedingt Pflicht, doch als Abteilungsleiter einer Bank musste er dennoch stets akkurat aussehen. In seiner Freizeit stieg er zwar auf Jeans um, aber so ganz ablegen tat er den gepflegten Look nie.

Ein Zug fuhr ein und wehte ihm das Haar ins Gesicht. Er musste unbedingt mal wieder zum Friseur.

Während er in ein fast leeres Abteil stieg, fischte er sein Smartphone aus der Jacketttasche und rief, sobald er saß, eine Internetseite mit Nachrichten auf. Neuerdings gab es wieder vermehrt antisemitische Übergriffe. Dummheit starb irgendwie nie aus. Das Jahrtausend, in dem extreme Verblödung unter Strafe gestellt wurde, würde er ja leider nicht mehr miterleben. Wahrscheinlich geschah das sowieso niemals, da sich unter denen, die richteten und Politik betrieben, zuhauf solche Leute befanden.

Er wechselte in die Klatschspalten. Leider waren die genauso schrecklich. Wen – zum Henker! – kümmerte es, ob ein alterndes Model mit einem jungen Sänger herumpoppte? Ihn jedenfalls kein bisschen. Seufzend steckte er das Gerät wieder ein und sah aus dem Fenster. Am Wochenende hatte er versprochen, mit seinen beiden Nichten in den Heidepark zu fahren. Die zwei waren absolute Achterbahnfans. Wahrscheinlich endete es wieder damit, dass er irgendwo herumsaß, während die Mädels ihren Spaß hatten. Ihm wurde nun mal übel in diesen Höllengefährten. Allerdings war das immer noch besser, als mit zwei gelangweilten Teenagern abzuhängen. Vermutlich dauerte es nicht mehr lange, bis die beiden Mädchen in dieses Alter kamen. Sascha war bereits zwölf, Agnetha vierzehn.

Sein Bruder und dessen Frau Birgit hatten erst spät Kinder bekommen. Harald war achtunddreißig, seine Schwägerin ein Jahr jünger gewesen, als Agnetha auf die Welt kam. Eigentlich normal heutzutage, wo sich die meisten Leute frühestens in diesem Alter ihren Kinderwunsch erfüllten. Sein Bruder hatte ihm jedoch mal unter vier Augen gesteckt, dass er bereute, nicht ein Jahrzehnt eher losgelegt zu haben. Mit Anfang fünfzig den Problemen mit zwei pubertierenden Teenagern entgegenzusehen, war wahrlich kein Zuckerschlecken; mit dreißig oder vierzig natürlich ebenso wenig, doch die Belastungsgrenze sank mit den Jahren erheblich.

Die Bahn erreichte seine Zielhaltestelle. Mit ihm stiegen weitere Passagiere aus, die sich, sobald sie den Bahnhof verlassen hatten, in alle Richtungen verstreuten. Lediglich ein Pärchen bog ebenfalls in die Wohnstraße ein, durch die sein Weg führte. Anton schlenderte hinter den beiden her, die händchenhaltend in eine Unterhaltung vertieft waren. Ab und zu schnappte er Gesprächsfetzen auf, die ihn zum Schmunzeln brachten. Offenbar handelte es sich um Studenten, die eine Diskussion über Politik führten. Ihn interessierte es schon lange nicht mehr, was die angeblich Regierenden taten. Egal ob rot, grün oder schwarz: Am Ende gewann stets das Kapital. Er hatte gut reden, schließlich gehörte er selbst in gewisser Weise dazu, doch das blendete er gern mal aus.

 

Am folgenden Morgen holte er seine Nichten ab und verbrachte einen angenehmen Tag im Heidepark. Die Mädchen ließen ihn die meiste Zeit in Ruhe. Es reichte den beiden, dass er ein Eis und zum Mittag Pommes mit Hamburgern spendierte. Ansonsten standen die zwei ständig in den Warteschlangen vor Fahrgeschäften oder kreischten wie verrückt, wenn sie in einer der Achterbahnen saßen.

Auf der Rückfahrt schlief Sascha auf der hinteren Bank ein. Agnetha, die auf dem Beifahrersitz hockte, wirkte hingegen putzmunter. Sie plapperte in einem fort, über die Schule, die Eltern und schließlich kam sie auf ihn zu sprechen.

„Was ist eigentlich mit dir? Warum nimmst du dir keinen neuen Mann?“, verlangte sie zu wissen.

„Das ist nicht so einfach. Die wachsen schließlich nicht auf Bäumen.“

„Es gibt doch Partnervermittlungen oder das Internet.“

Er streifte sie mit einem kurzen Seitenblick. „Das ist nicht mein Ding. Oder würdest du offiziell zugeben, dass du jemanden suchst?“

„Die bei der Partnervermittlung haben Schweigepflicht und im Internet kannst du einen Tarnnamen verwenden.“

„So, so. Du kennst dich ja gut aus.“

„Hallo? Ich bin schon vierzehn“, empörte sich Agnetha. „Auf Facebook hab ich seit zwei Jahren ein Profil.“

Etwas, das in der Familie für einigen Zündstoff gesorgt hatte. Sein Bruder war – gelinde gesagt – wenig begeistert darüber gewesen. Seine Schwägerin hatte das gelassener gesehen. Sie war großer WhatsApp-Fan und konnte die Aufregung gar nicht verstehen. Letztendlich hatte Agnethas Großvater, ebenfalls ein Mitglied der Facebook-Gemeinde, den Streit geschlichtet und wachte seitdem über den Account der Enkeltochter. Eine strengere Jury, was das posten von irgendwelchen Bildern betraf, konnte es gar nicht geben.

„Ich suche eigentlich gar keinen Neuen. Bin so, wie es ist, ziemlich zufrieden.“

„Ziemlich?“, echote seine Nichte. „Die kleine Schwester von überhaupt nicht?“

„Was ist das denn für ein Spruch? Ich bin eben relativ zu... Oh Mann! Lass uns bitte über etwas anderes reden.“

„Wieso weichst du mir aus?“ Agnetha kam ganz nach ihrer Mutter. Die konnte auch verdammt hartnäckig sein.

„Ich möchte eben nicht darüber sprechen.“

„Ts. Soll ich dir vielleicht helfen? Einer meiner Lehrer ist schwul und sieht total klasse aus.“

„Danke, nein. Ich komm schon klar.“

„Das sieht man ja. Wie lange ist das jetzt mit diesem Arsch... mit Arif her?“

„Zwei Jahre“, gab er widerwillig Auskunft.

„Ich konnte den nie leiden“, tat Agnetha abschätzig kund. „Der passte gar nicht zu dir.“

Eigentlich müsste er ihr dafür eine Rüge erteilen, aber leider hatte sie recht. Mit Arif war hauptsächlich der Sex gut gewesen, der Rest ... Im Grunde hatte ihn der Scheißkerl ausgenommen wie eine Weihnachtsgans. Da Arif weniger verdiente, waren ihre gemeinsamen Reisen selbstverständlich von ihm finanziert worden. Das Gleiche galt für Miete, ihre Autos und Lebensmittel. Während ihrer Beziehung hatte ihm das nichts ausgemacht, schließlich bekam er dafür etwas zurück. Erst im Nachhinein war ihm aufgegangen, dass die Aufrechnung ziemlich einseitig aussah. Sein Konto hatte arg gelitten und er dafür auch noch einen Tritt in den Arsch erhalten. Allmählich erholte er sich von beidem.

„Warum sagst du nichts?“, erkundigte sich Agnetha, eine Spur verunsichert.

„Ich möchte darüber nicht mehr reden. Okay?

„Mhm. Okay“, stimmte sie mit deutlichem Widerstreben zu.

Den Rest der Fahrt bemühten sie sich um unverfängliche Themen und überließen in weiten Teilen dem Radio die Unterhaltung. Anton war froh, als sie das Heim seines Bruders erreichten. Der Tag hatte ihn angestrengt, trotz – oder wegen? – des vielen Leerlaufs. Jedenfalls beneidete er seinen Bruder nicht, regelmäßig der Inquisition durch Agnetha ausgesetzt zu sein. Natürlich musste der keine Rede und Antwort bezüglich seines Liebeslebens stehen, doch es gab bestimmt genug andere Themen, die ähnlich aufreibend waren.

Er begleitete seine Nichten – Sascha besaß eine innere Uhr und war bei ihrer Ankunft von selbst aufgewacht – ins Haus. Wie nicht anders zu erwarten, nötigte ihn seine Schwägerin, noch auf eine Tasse Kaffee zu bleiben. Birgit war eine mustergültige Hausfrau und das in jederlei Hinsicht. Kaum zu glauben, dass sie mal ihre Karriere dem Kinderkriegen vorgezogen hatte.

Das Gespräch drehte sich hauptsächlich um die anstehenden Geburtstage. Beide Mädchen waren im Mai geboren, im Abstand von zwei Jahren und zwei Wochen. Wie jedes Jahr, sprachen sie sich bezüglich der Geschenke ab. Agnetha wünschte sich ein Fahrrad, womit deren Etat vollständig aufgebraucht war und Sascha ein neues Smartphone, natürlich mit Vertrag. Ein Glück, dass die beiden überhaupt noch Wünsche äußerten, anstatt, wie so viele andere in dem Alter – das wusste Anton von Kollegen – bloß nach Geld zu verlangen.

Nach einer Stunde eiste er sich los, unter dem Vorwand, dass er noch verabredet wäre. Sein Bruder brachte ihn zur Tür und rollte, sobald sie außer Sichtweite waren, mit den Augen.

„Manchmal beneide ich dich. Du glaubst ja nicht, wie anstrengend Familie sein kann“, gab Harald auch verbal seinen Unmut kund. „Danke, dass du die Mädchen ausgeführt hast.“

„War mir ein Vergnügen. Halt die Ohren steif.“ Er klopfte seinem Bruder auf die Schulter und begab sich zu seinem Wagen.

Bevor er einstieg, winkte er seinen Nichten, die im ersten Stock am Fenster klebten, zu.

Harald hatte gut reden. Sein Bruder war seit fast zwanzig Jahren mit Birgit zusammen. Selbstverständlich gab es bei den beiden Höhen und Tiefen, doch im Großen und Ganzen stimmte die Chemie zwischen den beiden. Etwas, das wohl kaum jedes Ehepaar von sich behaupten konnte. Er wäre schon glücklich, wenn er noch jemanden fände, mit dem es einigermaßen passte. Entgegen seiner Aussage wollte er nämlich schon ganz gern einen neuen Partner, aber Agnetha brauchte ja nicht alles wissen.

 

Die ganze folgende Woche verbrachte er in Vorfreude auf den Freitag. Zum einen wegen dem Stück, zum anderen wegen Jorges Gesellschaft. Er schätzte den Mann als äußerst sympathisch ein, außerdem teilten sie eine Vorliebe, was doch ziemlich vielversprechend klang. Wohlgemerkt: Auf platonischer Basis.

Was das andere betraf: Es handelte sich ja wohl zweifelsohne um einen von Colins Kunden, weshalb alles andere für ihn ein Tabu darstellte. Typen, die sich einen derart teuren Callboy leisteten, hatten – nach seiner Auffassung – einen echten Dachschaden. Mehr als ficken oder blasen konnte ein Escort für den Preis doch auch nicht. Andere Möglichkeit: Vielleicht hatte Jorge besondere Vorlieben. Fesselspiele? Natursekt? Okay, in Colins Anzeige stand zwar ‚keine Fetische‘, doch Papier war geduldig. Das konnte man ja wohl inzwischen auch auf Online-Anzeigen ummünzen.

Am Dienstag sowie Donnerstag absolvierte er seine turnusmäßigen Besuche im Lila Leguan. Wie stets leistete Pepe gute Dienste und das Pils mundete hervorragend. Bloß schade, dass sein Gesprächspartner von neulich nicht wieder auftauchte. Wie hieß der noch? Ach ja, Marlon. Wahrscheinlich hatte er den mit seinem Opern-Gerede vergrault. Leider konnte er Billard überhaupt nichts abgewinnen, sonst hätte er zum Ausgleich ein paar Runden mit Marlon gespielt.

Übrigens: Ein bisschen merkwürdig war die Chose letzte Woche ja schon gelaufen. Er hatte mit Martin irgendwann auch mal darüber gequatscht, dass er gern in die Oper ging. Das war ziemlich lange her, doch der Typ schien das Gedächtnis eines Dinosauriers zu besitzen. Vergangenen Montag hatte Martin ihn nämlich darauf angesprochen. Sie waren ins Plaudern gekommen – es herrschte gerade ziemliche Flaute im Leguan – wobei er eingestand, dass er zwar unbedingt mal wieder ein Ballett angucken wollte, doch allein nicht hingehen mochte. Martin hatte ihm kurzerhand Colin als Begleitung aufs Auge gedrückt mit dem Hinweis, dass jener noch Spielschulden einzulösen hätte.

Ehrlich gesagt war es ihm eigentlich egal, was genau hinter der Sache steckte. Hauptsache, er hatte Gesellschaft von jemandem, der sich einigermaßen benehmen konnte und gepflegt aussah. Dahingehend hatte er mit Colin das große Los gezogen. Einziger Wermutstropfen: Colin war später verabredet und musste daher in der Pause aufbrechen. Dafür hatte er während des ersten Aktes einen Sitznachbarn, der ihn ab und zu auf besonders schöne Muskelpartien des einen oder anderen Tänzers aufmerksam machte. Was Colin an Begeisterung für Musik und Tanz fehlen ließ, wertete dieses Interesse an den männlichen Körpern wieder auf. Es hatte ihn auf jeden Fall prächtig unterhalten.

Anton leerte sein Glas und winkte Martin zum Zahlen heran. Als Stammkunde dürfte er auch einmal monatlich seine Zeche begleichen, doch er tat das lieber gleich. Schulden waren ihm ein Graus.

„Wie war’s überhaupt letzten Freitag?“, erkundigte sich Martin und schob ihm sein Wechselgeld zu.

„Spitze. Schöne Musik, attraktive Tänzer und eine tolle Begleitung. Danke nochmal.“

„Keine Ursache. Also hat sich Colin benommen?“

„Hat er. Außerdem habe ich durch ihn jemanden kennengelernt, mit dem ich morgen in die Oper gehe“, verriet Anton, von den zwei genossenen Bieren, dem Blowjob und anstehenden Opernbesuch total euphorisch gestimmt.

„Dann hat sich das ja gelohnt. Da wünsche ich dir viel Spaß.“

„Dankeschön. Bis nächste Woche.“ Anton klopfte auf den Tresen, rutschte vom Hocker und streifte auf dem Weg zur Tür seine Jacke über.

Der Lila Leguan lag nur wenige Straßen von seiner Wohnung entfernt. Die hatte er zum gleichen Zeitpunkt gekauft, in dem er das Lokal entdeckte. Noch heute nannte er das einen absoluten Glücksfall. Zwei Fliegen mit einer Klappe erschlagen, wie einst das tapfere Schneiderlein. So boten sich ihm ganz in der Nähe sowohl sexuelle Befriedigung, als auch soziale Kontakte. Ideal für einen Single.

 

Unverhofft

 

Sebastian sah echte Probleme, einen Ersatz für Colin zu finden. Seine Ansprüche waren ziemlich gestiegen, nachdem der Callboy die Messlatte hoch gesetzt hatte. Da er seine Bettgefährten regelmäßig auszuwechseln pflegte, stand eine Weiterbeschäftigung von Colin außerfrage. Auf dessen Rat hin suchte er das Valentino auf, um dort vielleicht einen neuen Stecher aufzutreiben.

~ * ~

 

1.

Sebastian säuberte sich mit einer Handvoll Papiertücher, knüllte sie zusammen und warf sie achtlos auf den Boden. Im Bad rauschte die Klospülung. Kurz darauf kam Guido ins Zimmer und begann, sich anzuziehen. Von den körperlichen Attributen her konnte der Callboy mit Colin konkurrieren, ansonsten jedoch ... na gut, es war unfair, die beiden zu vergleichen. Guido besaß eben andere Qualitäten, doch leider kaum solche, die er zu schätzen wusste. Fürs horizontale Gewerbe war der Mann eigentlich zu weich veranlagt.

„Bist du zufrieden mit mir?“, erkundigte sich Guido, schloss die Hemdknöpfe und linste dabei leicht verunsichert zu ihm rüber.

Genau das war es. Diese ständige latente Unterwürfigkeit ging Sebastian gehörig auf den Sack. Schon auf der Vernissage hatte es ihn gewaltig genervt, dass Guido null eigene Meinung vertrat und wie ein Äffchen an seinem Rockzipfel hing. Colin hätte sich ganz anders verhalten, abschätzige Kommentare abgegeben ... tja, selbst schuld. Schließlich hatte er Colin abserviert. Vielleicht sollte er den Callboy anrufen und um eine Empfehlung bitten. Es musste doch jemanden geben, der ähnlich gestrickt war.

„Sebastian?“, hakte Guido nach, mittlerweile fertig angezogen.

„Alles in Ordnung. Du bist jeden Cent wert.“ Das stimmte zumindest bezüglich des Ficks. Da hatte Guido volle Leistung erbracht.

„Also wirst du mich wieder buchen?“

„Mal sehen. In nächster Zeit wohl nicht. Ich hab zu viel zu tun.“

„Okay. Dann geh ich mal.“ Guido begab sich zur Tür und fügte hinzu, die Klinke schon in der Hand: „War ein schöner Abend. Danke dafür.“

Mit einem leisen Klicken fiel die Zimmertür hinter dem Mann ins Schloss. Seufzend streckte sich Sebastian aus, verschränkte die Arme hinterm Kopf und studierte die Decke. Ein Glück, dass Guido weg war, sonst hätte er garantiert gleich etwas Böses gesagt. So etwas wie Weichei oder Speichellecker. Normalerweise wahrte er die Etikette, doch Guido hatte ihn echt zur Weißglut getrieben. Nur, weil man Geld von jemandem kassierte, musste man diesem noch lange nicht nach dem Mund reden.

Ach, drauf geschissen. Sein Arsch brannte, er hatte abgespritzt und gut. Das reichte auf jeden Fall für eine Weile.

Er begab sich ins Bad, duschte ausgiebig und stieg gemächlich in seine Klamotten. Die Idee mit Colin ließ ihn nicht mehr los. Es war erst elf an einem Freitagabend. Eigentlich eine humane Zeit, um solche Anrufe zu tätigen.

Er setzte sich also angezogen aufs Bett, zückte sein Smartphone und wählte Colins Nummer. Die Mailbox sprang an.

„Hi, hier ist Sebastian. Hast du vielleicht einen Tipp, wo ich geeigneten Ersatz für dich herbekomme? Ist nicht dringend. Danke schon mal vorab. Ciao.“ Er legte auf, steckte das Gerät in seine Hosentasche und sah sich seufzend um.

Eigentlich war es Sünde, einen derart hohen Betrag für so wenig Zeit in dem luxuriösen Hotelzimmer auszugeben. Insgesamt betrug seine Aufenthaltsdauer, von der Ankunft bis zu seinem gleich folgenden Check out, ungefähr fünfzig Minuten. Dafür würde genauso gut eine Absteige reichen. Allerdings mochte er Sauberkeit und bevorzugte natürlich ein gepflegtes Ambiente.

Im Fahrstuhl holte er ein Tütchen Pfefferminzdrops hervor, um sich einen in den Mund zu stecken. In der verspiegelten Wand sah er einen attraktiven Typen mit mürrischer Miene. Colin hatte mal gelästert, er würde zum Lachen in den Keller gehen. Da war was dran. Er lächelte eigentlich ständig, doch bloß in der Öffentlichkeit. Das tat man eben im Geschäftsleben, wenn man was erreichen wollte. Natürlich kam man auch mit Härte weiter, doch ein Lächeln öffnete mehr Türen. Diese Lektion hatte er früh gelernt.

In der Lobby beglich er seine Rechnung und gab ein großzügiges Trinkgeld. Im Wechsel benutzte er drei verschiedene Hotels für seine Stelldicheins, damit er nicht allzu sehr als Stundengast auffiel. Vermutlich interessierte es niemanden, wie lange er sich aufhielt, aber sicher war sicher. Auch das hatte er früh begriffen: Stets auf der Hut sein.

Draußen sog er tief die frische Luft ein, die von der Alster her wehte. Im Frühling war das sehr angenehm, im Sommer roch es manchmal eher nach Moder. Langsam legte er den Weg in Richtung Jungfernstieg zurück, um in ein Taxi zu steigen. Davon, um diese Zeit seinen Chauffeur zu rufen, sah er lieber ab. Trotz seiner Milliönchen war er kein Schinder, der von seinen Angestellten ständige Bereitschaft erwartete. Die Fahrt dauerte eh nur wenige Minuten.

Als er vor seinem Haus wieder ausstieg, begegnete ihm sein Nachbar mit Hund. Er grüßte höflich, streichelte kurz das gutmütige Tier, einen alten Pudel und begab sich aufs Grundstück. Im Souterrain brannte noch Licht, sonst war alles dunkel.

Einst hatte an derselben Stelle sein Elternhaus gestanden, eine marode Villa. Eine Sanierung lohnte nicht, daher war ein Neubau entstanden. Manchmal bereute er diese Entscheidung, da mit dem Abriss auch viele Erinnerungen verschwunden waren. Auf der anderen Seite hatte er einen Neuanfang dringend gebraucht. Leider ließ sich ein Charakter schwerer neu gestalten, als ein Gebäude.

Gerade hatte er die Eingangshalle betreten und Licht angemacht, als sein Smartphone vibrierte. Er zog es hervor, sah Colins Nummer und nahm den Anruf an.

„Hi. Schön, dass du zurückrufst“, meldete er sich.

„Gleich mal vorab: Ich bin ausgestiegen. Diese Nummer wird in Kürze tot sein“, erwiderte Colin.

„Na, da hab ich ja Glück, dass ich dich noch erreiche.“

„Wohl wahr. Wegen dem Ersatz: Leider kann ich dir niemanden empfehlen. Der Einzige, der infrage käme, ist schon länger inaktiv. Ich könnte dir aber eine Adresse geben, wo du vielleicht Erfolg hast.“

„Na, dann sag mal an.“

Colin nannte eine Anschrift am Steindamm, absolut nicht seine Gegend und den Namen Valentino. „Die meisten der Jungs dort werden dir zu jung sein. Ab und zu treiben sich da aber auch andere Professionelle herum. Ich war ja auch lange Stammgast.“

„Okay. Danke. Dann schau ich da demnächst mal rein. Wie geht’s dir so?“

„Gut. Ich bin in festen Händen. Hätte nie gedacht, dass mir das so sehr gefällt.“

„Tja. Unverhofft kommt oft, nicht wahr? Ich wünsch dir alles Gute“, verabschiedete sich Sebastian.

„Dir auch. Tschüss.“

Er speicherte die Adresse des Valentino, legte Schuhe sowie Jacke ab und verzog sich mit einem doppelten Scotch auf die Couch im Wohnzimmer. Eine eigene Homepage besaß der Club nicht, schon mal ein Manko. Es gab bloß Einträge auf einschlägigen Portalen und einen Artikel in einem Online-Magazin. Während er diesen studierte, nippte er an seinem Whisky. Das las sich schon mal ziemlich interessant. Die Vorstellung, sich ungezwungen ein bisschen umzugucken, gefiel ihm weitaus besser, als wieder irgendeinen Callboy zu buchen und erneut eine blöde Erfahrung zu machen. Na gut, so schlimm war Guido auch nicht, aber eben ungeeignet. Vermutlich hatte Colin ihn ein bisschen verwöhnt.

Sebastian legte das Gerät beiseite, lehnte sich zurück und betrachtete die gegenüber hängenden Gemälde. Es handelte sich um die Gemüsebilder, die er neulich von diesem - wie hieß der Künstler noch? – erstanden hatte. In dem ansonsten sehr schlicht ausgestatteten Raum, bildeten sie schöne Farbtupfer. Genau deshalb hatte er sie ja gekauft.

Tefik, sein Gärtner und Mann fürs Grobe, meinte beim Aufhängen: „Nett, aber für meinen Geschmack zu abstrakt.“

Leider war Tefik für ihn zu alt und zudem hetero, ansonsten hätte er den Mann glatt geheiratet. Es gab nur wenige Menschen, die ihm Paroli boten. Dazu gehörte Anatol, sein Chauffeur, ein Schriftsteller, sowie Carola, seine Haushälterin. Andernfalls wäre es ihm unmöglich, mit diesen Leuten gut auszukommen.

Was Anatol betraf: Der hoffte seit Jahren auf den Durchbruch mit Horrorgeschichten. Bislang vergeblich. Sebastian hatte mal eines der Bücher gelesen und lieber verschwiegen, was er davon hielt. Sein Geschmack war ohnehin nicht ausschlaggebend. Wenn er mal Trivialliteratur schmökerte, dann Detektivgeschichten, keine Metzeleien. Insofern war er eh die falsche Zielgruppe.

Seine Mutter hatte diese Groschenromane verschlungen. Julia und wie die alle hießen. Sie meinte immer, Realität hätte sie genug, die müsste sie nicht auch noch lesen. Auch sein Motto, bis zu seinem vierundzwanzigsten Lebensjahr, allerdings auf andere Weise. Bis dahin hatte er Archäologie studiert, inklusive zweier Auslandspraktika. Mit dem Unfalltod seiner Eltern – sie starben auf der Autobahn, als ein LKW in einen Stau raste – wurde er mit dem wahren Leben konfrontiert. Von heute auf morgen übernahm er ihre Geschäfte, von denen er null Ahnung besaß.

Anfangs waren ihm viele Fehler unterlaufen, die ein Vermögen kosteten. Erst mit der Zeit fuchste er sich mehr und mehr in das fremde Aufgabengebiet ein. Mittlerweile hatte er den Bestand an Immobilien verdoppelt und damit ein Imperium erschaffen. Dieses zu lenken, überließ er einem Stab aus fähigen Mitarbeitern. Lediglich bei neuen Objekten oder großen Umbaumaßnahmen mischte er noch mit, ansonsten beschränkte er sich darauf, seinen Vermögensberg wachsen zu sehen. Außerdem kümmerte er sich um die Stiftung seines Vaters, die Geld für archäologische Projekte spendete. Insofern war ihm ein Quäntchen seines damaligen Steckenpferdes geblieben. Sein Interesse an Ausgrabungsarbeiten hatte sich allerdings mittlerweile verflüchtigt, entsprechend überließ er diese mühsame Tätigkeit lieber anderen, anstatt ein eigenes Projekt anzuleiern.

Manchmal fragte er sich, was er eigentlich noch von seinem Leben erwartete. Auf finanziellem Sektor hatte er alles erreicht. Seine Objekte warfen mehr Geld ab, als er bis an sein Lebensende aufbrauchen konnte. Privat hatte er sich mit den Gegebenheiten eingerichtet. Einen passenden Partner für ihn gab es nicht und Gespielen für gewisse Zeiträume würden sich schon finden. Ansonsten trieb er ein bisschen Sport und frönte ab und zu dem Glücksspiel, beides ohne rechte Leidenschaft. Irgendwie war die ihm sowieso abhandengekommen, zusammen mit seinen Eltern, an denen er mit großer Liebe gehangen hatte.

 

Pechvogel vs. Paradiesvogel

 

Pepe hatte die Nase voll von dem Job (und Nebenerwerb) im Lila Leguan. Fast zur gleichen Zeit wechselte der Marktleiter des Discounters, in dem er bisher eine Teilzeitstelle innehatte. Seinen alten Chef konnte er nicht leiden, den neuen jedoch sehr. Kian Lüdenscheid, so hieß der Mann, bot ihm einen Vollzeitjob an. Er griff also mit beiden Händen zu.

~ * ~

 

1.

Die Arbeit hinter der Käse- und Aufschnitt-Theke mochte Pepe am wenigsten. Im Rotationsprinzip war aber jeder mal dran, so dass es genug Abwechslung gab. Am liebsten füllte er Regale auf. Da konnte er in Ruhe schalten und walten sowie seinem Ordnungstrieb nachgeben. Wenn hinterher die Waren farblich sortiert in Reihe und Glied standen, verschaffte ihm das gewisse Befriedigung.

Außerdem hasste er Frühdienste. Pepe hasste es, vorm Aufstehen das Haus zu verlassen. So nannte er es, wenn er verschlafen aus der Tür taumelte und kaum den Weg zur Bushaltestelle fand. Insofern fand er es toll, dass etliche seiner Kolleginnen freiwillig diese Schichten übernahmen, um rechtzeitig, wenn die Sprösslinge von der Schule kamen, wieder zu Hause zu sein.

Ein weiteres Highlight: Kian Lüdenscheid, der neue Marktleiter. Ein hübscher Halbasiate, dazu noch total sympathisch. Sie hatten sich vom ersten Moment an gut verstanden. Ehrlich gesagt war Pepe total in den Mann verknallt und es schien, als ob der auch Interesse hätte. Er wollte es aber ganz langsam angehen lassen. Diesmal sollte alles richtig laufen, nicht hoppla-hopp. Die zarten Bande waren viel zu wertvoll, um sie mit vorschnellem Sex zu besudeln. Also, nicht dass Kian schon danach gefragt hätte. Bisher waren sie sowieso nur zweimal in der Pause zusammen einen Kaffee trinken gegangen, alles noch ganz harmlos.

Ein Wermutstropfen, neben der Käse-Aufschnitt-Sache: Sein Kollege Ahmet. Der Typ hatte vor ungefähr einem halben Jahr angefangen im Markt zu arbeiten und bis vor einigen Wochen lief alles ganz gut. Dann passierte das mit seinem mehr oder minder unfreiwilligen Outing. Nadja, eine Kollegin, rückte ihm zu nah auf die Pelle und er dachte, es wäre eine klasse Idee ihr reinen Wein einzuschenken, um sie möglichst schonend auf Abstand zu bringen. Die blöde Kuh hatte das dummerweise überall herumposaunt. Da striktes Diskriminierungsverbot herrschte, eigentlich kein großes Problem. Den meisten Kollegen ging es eh am Arsch vorbei. Nur Ahmet hatte ihn seitdem auf dem Kieker und bezeichnete ihn bei jeder Gelegenheit, wenn niemand in der Nähe war, als Schwuchtel, Schwanzlutscher oder mit ähnlich abwertenden Begriffen.

Aktuell saß er an der Kasse. Etwas, das er ab und zu ganz gern tat, vor allem, wenn Leute riesige Wagenladungen kauften. Je mehr die Leute aus dem Markt schleppten, desto mehr Regale mussten neu bestückt werden. Ein Kreislauf, in dem er völlig aufging. Diesbezüglich hatte er den richtigen Beruf gewählt.

„Macht zehn Euro zweiundsechzig“, teilte er einer älteren Dame mit, die daraufhin in ihrer Börse nach Kleingeld kramte.

Das verschaffte ihm eine kurze Verschnaufpause. Er beobachtete die genervten Gesichter der anderen Kunden und fragte sich, warum die es so eilig hatten. Wartete daheim ein liebender Ehegatte oder bloß die Glotze? Wieso waren Deutsche eigentlich immer so ungeduldig? Als ob sie etwas verpassten, wenn sie mal ein paar Minuten irgendwo rumstanden. In anderen Ländern war ihm das nie so unangenehm aufgefallen.

Die Frau breitete etliche Cent Stücke auf dem Tresen aus. Er zählte die passende Summe ab, warf den Rest zurück in ihre Börse und nahm einen Euroschein entgegen. Nachdem er ihr den Kassenbon gegeben und einen schönen Tag gewünscht hatte, begann er die nächsten Waren einzuscannen. Das sah simpel aus, erforderte jedoch Konzentration. Stets musste er im Display prüfen, ob der Scanner das richtige Produkt angenommen hatte. Auf Dauer konnte einen das ganz schön erschöpfen, so dass er froh war, als er nach einer Stunde abgelöst wurde. Vorwiegend saßen die ungelernten Mitarbeiter an den Kassen. Er musste also nur zu Stoßzeiten oder in Krankheitsfällen mal ran.

Als er in Richtung der Personalräume eilte – seine Blase war zum Bersten voll – traf er Ahmet, der gerade eine Palette Getränke durch den Gang schob.

„Hey, du Hinterlader. Warum so eilig?“

„Klappe, Hackfresse“, gab er barsch zurück und eilte weiter.

Es war natürlich der falsche Weg, Ahmet ebenfalls mit Schimpfworten aus dem untersten Regal zu belegen, aber ja wohl menschlich. Jedenfalls ging es ihm dadurch etwas besser.

Nachdem er sein Geschäft erledigt hatte, schaute er im Pausenraum vorbei, um auf die Schnelle einen Kaffee zu trinken. Es stand immer eine Kanne auf der Warmhalteplatte, mit mehr oder minder genießbarem Gebräu. Während er seine Tasse in kleinen Schlucken leerte, lauschte er dem Gespräch zweier Kolleginnen, das sich um deren Kinder drehte. Mal wieder war er heilfroh, mit so etwas nie konfrontiert zu werden. Entweder flippten diese Rotznasen aus oder sie hockten zunehmend adipös vor ihren Computern. Das galt für die meisten Jungs. Bei den Mädels waren die Probleme breiter gefächert. Es gab Pferdenärrinnen, Prinzessinnen, Mauerblümchen, Intelligenzbestien und natürlich auch welche außer Rand und Band. Außerdem schwebte das Damoklesschwert der ungewollten Schwangerschaft über dieser Klientel. Nö. Nix für ihn. Als Babys waren die Kleinen noch ganz süß, aber sobald sie in die Schule kamen – das Grauen.

Er stellte seine Tasse in die Spülmaschine, verließ den Raum und lief beinahe in Kian, der geradewegs auf ihn zusteuerte, hinein. Im letzten Moment wich er aus.

„Hi. Hab dich gar nicht gesehen“, stieß er erfreut hervor.

„Hättest du Lust, in der Pause mit mir ins Bistro gegenüber zu gehen?“

Eigentlich hatte er, wegen seines schmalen Budgets, belegte Brote dabei, aber die konnte er auch noch am nächsten Tag essen. „Gern.“

„Treffen wir uns um halb sieben am Ausgang?“

„Okay. Bis nachher.“ Er nickte Kian zu und eilte ins Lager, um sich Waren zum Einsortieren zuteilen zu lassen.

Göran, der Lagerleiter, halste ihm eine Gitterbox mit abgepacktem Aufschnitt auf, somit glücklicherweise weitab vom Getränkesortiment und Ahmet. Es dauerte eine ganze Weile, bis er die abgelaufenen Waren aus- und die neuen einsortiert hatte. Bei seiner Rückkehr ins Lager war es schon fast Pausenzeit, daher trödelte er ein bisschen herum, bis seine Uhr wenige Minuten vor halb sieben anzeigte, tauschte im Umkleideraum die rote Weste gegen seine Jeansjacke und marschierte zum Ausgangsbereich.

Er entdeckte Kian am gegenüberliegenden Bäckereitresen, mit einer der Verkäuferinnen am Scherzen. Das Mädel lächelte und war offensichtlich von der Charmeoffensive angetan, so, wie die gesamte weibliche Belegschaft. Was der vorherige Chef mit Autorität versucht hatte zu erreichen, schaffte der neue spielend ohne jeglichen Druck. Tja. So etwas nannte sich Führungsqualität. Da konnte sich so mancher eine Scheibe von abschneiden.

Pepe wartete in gebührendem Abstand, bis Kian fertig war und auf ihn zukam. Sie verließen den Laden, überquerten die Straße und betraten das Bistro, das warme und kalte Snacks anbot. Idealerweise hatte es zu den gleichen Zeiten wie der Supermarkt geöffnet. Eigentlich logisch, da das Publikum hauptsächlich aus den gleichen Kunden bestand. Außerhalb der Öffnungszeiten des Discounters herrschte in der Gegend weitestgehend tote Hose.

Pepe bestellte am Tresen einen Croque, Kian ein Nudelgericht, dazu tranken sie beide Cola. Mit ihren Getränken nahmen sie an einem der kleinen Tische Platz. Zu dieser Stunde war einiges in dem Lokal los, entsprechend der Lärmpegel hoch. Nebenan saßen zwei Mütter mit plärrenden Kleinkindern auf dem Schoß, auf der anderen Seite vier schwatzende Teenager.

„Und? Gefällt es dir immer noch so gut?“, erkundigte sich Kian, ganz der fürsorgliche Chef.

„Klar. Hey! Ich arbeite schon seit drei Jahren in dem Laden.“

„Trotzdem werde ich ja wohl mal fragen dürfen.“

„Bist du deshalb mit mir hergegangen?“

„Nein. Also, nicht nur. Ich wollte dich fragen … ähm …“ Kian senkte den Blick, beide Hände um das Glas Cola geschlossen. „Ob wir am Wochenende mal was zusammen unternehmen können.“

Sein Chef war schüchtern? Wie süß. Pepe seufzte innerlich vor entzücken. „Klar. Was schwebt dir denn vor?“

„Weiß nicht. Was magst du denn? Kanufahren? Oder lieber ins Kino?“

Das klang beides gut, wobei er im Kanu bestimmt eine schlechte Figur machte. Bei seinem letzten Versuch hatte er versehentlich mehrfach den Uferbäumen einen Besuch abgestattet und hinterher das große Jucken bekommen. Lenken war genauso wenig seine Stärke, wie Paddeln.

„Kino klingt gut. Was guckst du denn so für Filme?“

„Bevorzugt Action, vor allem Marvel-Streifen. Ich bin ziemlicher Batman-Fan“, gestand Kian mit einem schiefen Grinsen.

„Dito. Spiderman mag ich auch, wobei Tobey Maguire … na ja, nicht so mein Fall. Dann doch eher Michael Keaton oder Val Kilmer.“

Zwischen ihnen war von Anfang an klar gewesen, dass sie am gleichen Ufer fischten. Pepe besaß einen ausgezeichneten Gaydar, doch selbst ohne dem hätte er das sofort erkannt. Es war die Art, wie Kian ihn von oben bis unten abcheckte. Das tat kein Hetero. Im Gegenzug nahm er Kian ebenfalls auf diese Weise unter die Lupe, woraufhin sie einen vielsagenden Blick getauscht hatten.

„Wenn du schon damit anfängst, wäre Christian Bale mein Favorit. Black Panther ist in den Kinos angelaufen. Den würde ich mir gern angucken“, schlug Kian vor.

„Einverstanden. Da wollte ich auch hin. Freitag und Samstag hab ich aber Spätdienst. Oder gehen wir danach?“ Pepe zückte sein Smartphone und sah nach, wann der Film im nächstgelegenen Kino lief. „Im UCI am Freitag um zehn nach zehn?“

„Na, das passt doch. Also abgemacht: Gehen wir Freitag nach Feierabend hin. Paddeln können wir trotzdem mal, außer du bist wasserscheu.“

„Das nicht. Ich bin bloß völlig unbegabt. Wie wäre es sonst mit Tretboot fahren?“

Lächelnd schüttelte Kian den Kopf. „Das ist doch total spießig.“

„Na und?“

„Okay. Wenn’s dir damit besser geht. Hast du den neuesten Avengers schon gesehen?“, lenkte Kian aufs Thema Kino zurück.

Sie gerieten ins Plaudern über alte und neue Filme mit ihren Superhelden. Die Differenz von acht Jahren, Kian war Anfang dreißig, schmolz darüber zu einem unwesentlichen Faktor. Gestört hatte Pepe die sowieso nicht. Da gab es zwar noch den Bildungsunterschied, dafür jedoch einige Gemeinsamkeiten, so dass der ebenfalls zu vernachlässigen war. Außerdem konnte er das in Abendkursen irgendwann aufholen, also überhaupt kein Problem. Die Chemie stimmte und somit der wichtigste Aspekt, jedenfalls von seiner Seite.

Zurück im Supermarkt, trennten sich ihre Wege im Eingangsbereich. Gleich dort, hinter dem Backshop, befanden sich die Büros von Kian, der Buchhaltung, Personalabteilung sowie die Zentralkasse. Sie verabschiedeten sich mit einem „bis später“, da man einander bestimmt während der Schicht noch mal über den Weg lief. Kian pflegte nämlich, entgegen dem Vorgänger, regelmäßig im Markt umher zu spazieren, um sich, wie er behauptete, ein eigenes Bild vom Geschäft zu machen.

Beschwingt von der angenehmen Pausengestaltung eilte Pepe durch den Markt, tauschte seine Jeansjacke gegen die Weste mit Firmenemblem und holte sich den nächsten Auftrag im Lager ab: Eine Palette verschiedener Senf- und Ketchupsorten. Genau sein Ding. Er mochte die konsequent gelben und roten Verpackungen sehr.

 

Die nächsten Tage verbrachte er voller Vorfreude auf den Kinobesuch. Wann immer er Kian traf, wechselten sie ein paar Worte. Leider kam es zu keinem weiteren gemeinsamen Essen. Kian fragte nicht und selbst die Initiative zu ergreifen, empfand er als zu aufdringlich. Zudem kam das seinem Etat zugute. Mit seinem Gehalt, und ohne die Zusatzeinnahmen aus dem horizontalen Gewerbe, musste er ziemlich haushalten. Er besaß zwar ein finanzielles Polster, eben aus dieser Nebentätigkeit, doch das wollte er keinesfalls für alltägliches aufbrauchen. Es war für andere Zwecke gedacht, wie seine berufliche Fortbildung oder Unvorhersehbares.

Wegen seiner guten Laune konnte ihm nicht mal Ahmets Stänkerei etwas anhaben. Zweimal beglückte der Typ ihn mit irgendwelchen Schmähausdrücken, was er mit einem kühlen Lächeln überging. Irgendwie schien Ahmet seine Ignoranz mehr zu ärgern, als eine Erwiderung auf gleichem Niveau. Das war jedenfalls sein Eindruck. Der Typ rannte mit einer Stinklaune durch die Gegend und teilte nach allen Seiten aus. Einmal brachte Ahmet sogar eine Kollegin zum Weinen, indem er sie als fette Kuh bezeichnete. Natürlich ohne Zeugen und hinterher behauptete der Arsch, das niemals gesagt zu haben.

Endlich brach der Freitag an. Nichts vermochte seine Euphorie zu dämpfen, zumal Ahmet keinen Dienst hatte. In seiner Hochstimmung verstrich die Zeit im Nu, nur die letzte Stunde wollte gar nicht vergehen. Alle paar Minuten sah er auf die Uhr und wurde ständig hibbeliger. Um punkt neun verließ er frisch gestylt den Umkleideraum, hastete durch den Laden und bezog im Kassenbereich, der inzwischen fast verwaist war, Aufstellung. Niemand nahm Notiz von ihm. Alle waren damit beschäftigt, möglichst schnell aufzuräumen, um ebenfalls Feierabend machen zu können.

Er wartete fast eine Viertelstunde, bis Kian auftauchte und sich entschuldigte: „Tut mir leid. Ich musste noch schnell eine Email schreiben.“

„Macht doch nichts. Wir haben ja Zeit.“

Kian schenkte ihm ein dankbares Lächeln. Gemeinsam verließen sie den Laden und legten den kurzen Weg zur nächsten Haltestelle zurück, an aus einem Bus Passagiere strömten. Sie gingen in den hinteren Bereich, während das Fahrzeug bereits wieder die Haltebucht verließ. Das Anfahren erfolgte derart abrupt, dass Pepe stolperte und fast hingefallen wäre, hätte Kian ihn nicht am Arm festgehalten. Normalerweise passierte ihm so etwas nie. Vermutlich lag es an seiner Nervosität, dass er ein bisschen wacklig auf den Beinen war.

Sie nahmen auf der letzten Bank Platz. Es waren weitaus mehr Leute aus, als eingestiegen, so dass die Sitzplätze um sie herum leer blieben. Kian schien gedanklich weit weg zu sein und schwieg, den Blick in die Ferne gerichtet. Rücksichtsvoll hielt Pepe den Mund, da er verstand, dass man nach dem Job eine kleine Auszeit benötigte. Oft ging es ihm genauso.

Impressum

Texte: Sissi Kaiserlos
Bildmaterialien: shutterstock
Cover: Lars Rogmann
Lektorat: Aschure - dankeschön
Tag der Veröffentlichung: 22.05.2018

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