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Angelo - nomen est omen

1.

Lucas tauschte den weißen Laborkittel gegen seine Lederjacke, schloss den Spind und verließ den Umkleideraum. Wie immer war er der letzte in der Abteilung, der Feierabend machte. Auf die anderen wartete daheim Familie, eine Lebensgefährtin, irgendjemand, auf ihn bloß die Glotze.

In Foyer nickte ihm die Kollegin, die hinterm Empfangstresen saß, freundlich zu. Die Gesichter in diesem Bereich wechselten häufig, daher lohnte es nicht, sich die Namen der Damen zu merken. Überhaupt kannte er die meisten Mitarbeiter nur vom Sehen, wenn überhaupt. Bei über 1.000 Angestellten kein Wunder. Trotz der Fülle an Angebot befand sich kein Mann unter ihnen, der als Partner infrage kam. Dabei hieß es doch stets in den Medien, dass sich die meisten Beziehungen am Arbeitsplatz entwickelten.

Draußen herrschte typisches Aprilwetter. Mittags hatte noch die Sonne geschienen, nun regnete es Bindfäden. Er schlug den Kragen seiner Jacke hoch und hastete zur nächsten Bushaltestelle. Bis er dort ankam, war sein Haar klitschnass und durch seine Brille konnte er nur noch verschwommen sehen.

Lucas nutzte den öffentlichen Nahverkehr, weil er auf dem Arbeitsweg gern ein bisschen schmökerte. Außerdem gab er die Hoffnung nicht auf, vielleicht in Bus oder Bahn auf seine zweite Hälfte zu stoßen.

Mit einem Taschentuch verschaffte er sich einigermaßen klare Sicht. Natürlich hatte der Regen prompt aufgehört, sobald er das Wartehäuschen erreichte. Verdammter April! Zum Glück trug er Schuhe aus wasserabweisendem Material, sonst hätte er auf dem Heimweg ein kaltes Fußbad genossen.

Wenig später hielt ein Bus, wie üblich überfüllt. Einige Stationen musste Lucas stehen, bevor er einen Platz ergatterte und seine Lektüre, einen Krimi, hervorkramte. Obwohl die Handlung spannend war, sah er, anstatt zu lesen, gedankenverloren aus dem Fenster.

In knapp zwei Wochen wurde er dreißig. Eigentlich kein Grund, um schon Torschlusspanik zu bekommen, dennoch fürchtete er sich vor diesem Datum. Laut seinen Recherchen in den letzten Wochen zählte er zu der winzigen Gruppe von zwölf Prozent, die mit über zwanzig noch Jungfrau waren. Genauere Studien dazu, wieviel Männer in seinem Alter diesen Status besaßen, existierten nicht. Ehrlich gesagt würde er auch lügen, falls ihn jemand dazu befragte. Es war einfach zu peinlich.

Seit Tagen beschäftigte er sich mit der Frage, wie er seinen Zustand ändern konnte. Na gut, das Thema war schon etwas älter, aber allmählich brannte es ihm unter den Nägeln. Er wollte unbedingt vor seinem Geburtstag in die körperliche Liebe eingeweiht werden.

Eigentlich stellte das kein Problem dar. Schließlich gab es genug Männer, die ihren Körper für Geld anboten. Lucas hatte etliche Anzeigen auf einschlägigen Portalen studiert, doch darunter war keine gewesen, die ihn ansprach. Für seine Zwecke sollte es schon ein besonderer Mann sein, nicht bloß ein Typ mit großer Klappe.

Seufzend versuchte er sich auf sein Buch zu konzentrieren. Der Kommissar wäre ein Kerl nach seinem Geschmack. Ein Naturbursche mit Witz und Charme. Ob es Sinn hatte, wenn er selbst eine Kontaktanzeige aufgab? ‚Jungfrau, 29 Jahre, mittelblond, blaue Augen, 180 cm, schlank, Brillenträger, nicht hässlich, sucht liebevollen Mann, der ihn nach allen Regeln der Kunst verführt.‘ Na, Klasse! Die Typen würden garantiert Schlange stehen!

Vielleicht sollte er seine Schwanzgröße hinzufügen. Mit etwas Schummeln kam er immerhin auf 17x4 Zentimeter. Da er aber den passiven Part innezuhaben gedachte, spielte das wohl keine Rolle.

Erneut lenkte er seine Aufmerksamkeit auf die Lektüre und verpasste darüber fast die Station, an der er in die Bahn wechseln musste. Allerdings nicht weil er las, sondern weiter über sein Dilemma grübelte.

Das Abteil, in das er einstieg, war einigermaßen leer. Lucas setzte sich auf einen Fensterplatz und ließ das Buch gleich in der Tasche. Es hatte keinen Sinn einen weiteren Leseversuch zu unternehmen, dazu war er viel zu abgelenkt.

In Gedanken formulierte er die Anzeige ein paarmal neu, doch das Ergebnis blieb immer dasselbe. ‚Looser sucht zärtlichen Mann, der ihn ganz vorsichtig entjungfert‘ wäre der Klartext, wenn er alle Schnörkel wegließe. ‚Großzügige Entlohnung‘ könnte er noch dazuschreiben, aber das lockte bestimmt einen Haufen Spinner an, die bloß auf die Knete aus waren. Ha, ha! Sehr witzig! Als ob jemand aus einem anderen Grund mit ihm in die Kiste springen würde.

Frustriert strich er sich durchs mittlerweile nur noch feuchte Haar und betrachtete sein Spiegelbild im Fenster. Gewöhnlich. Ohne die Brille wäre er noch nichtssagender. Das dicke Gestell verlieh ihm zumindest den Anschein von Intellektualität. Er war zwar promovierter Chemiker und entwickelte medizinische Produkte, doch sein kulturelles Allgemeinwissen beschränkte sich auf Kinofilme und Bücher.

Zudem hatte er, was menschliche Kontakte betraf, totale Hemmungen. Die einzige Ausnahme bildete Marlon, ein ehemaliger Studienkollege und ebenfalls schwul. Zwischen ihnen hatte von Anfang an die Chemie gestimmt. Bedauerlicherweise nur insoweit, dass es für eine Freundschaft reichte, sonst hätte er ein Problem weniger.

Apropos: Er sollte lieber an der folgenden Haltestelle aussteigen, sonst käme ein neues hinzu, nämlich auf den nächsten Zug in die andere Richtung zu warten. Das dauerte auf dieser Regionalstrecke gut und gerne mal eine halbe Stunde, da sie von der Bundesbahn betrieben wurde.

Mittlerweile hatte erneut Regen eingesetzt. Um nicht erneut durchnässt zu werden, trödelte Lucas im Bahnhofsgebäude herum und betrat schließlich aus Langeweile den dort ansässigen Kiosk. Es handelte sich um einen der größeren Sorte, mit reichhaltigem Angebot an Lektüre, Rauchwaren und Lebensmitteln. Eher aus Neugier denn Kauflust, stöberte er in den Zeitschriften und erstand schließlich, weil der Typ hinter der Kasse so böse guckte, das Magazin, in dem er zuvor geblättert hatte.

Trockenen Fußes daheim angekommen, warf er das Blatt auf die Garderobe. Nachdem er Jacke und Schuhe abgelegt hatte, ging er in die Küche und holte die Reste vom Vortag aus dem Kühlschrank. Kochen war, neben seinem Beruf, sein Steckenpferd. Er experimentierte gern mit Lebensmitteln. Zutaten zu vermengen, ohne vorherige Analyse der Zellstruktur sowie anderer Eigenschaften, besaß für ihn perfekten Entspannungseffekt. Nicht immer kam dabei ein wohlschmeckendes Elaborat zustande, doch zumindest war es stets gesünder als Fertignahrung.

Während die Mikrowelle sein Abendessen erhitzte, tauschte er seine Jeans gegen eine Jogginghose. Anschließend hockte er sich mit dem Teller auf die Couch, um beim Essen ein bisschen in die Glotze zu gucken und blieb bei einer Quizshow hängen. Es war faszinierend, welche Rätsel – deren Lösung im Prinzip niemanden interessierte – die Kandidaten per Multiple-Choice-Verfahren beantworten mussten. Beispielsweise verlangsamten beim Frittieren freigesetzte Moleküle die Erderwärmung. Diese bahnbrechende Erkenntnis beruhigte höchstens das Gewissen sämtlicher Fastfood-Junkies, ansonsten gehörte sie auf den Abfallhaufen unnützen Wissens.

Obwohl ihn die Belanglosigkeit der Sendung nervte, sah er sie bis zum Schluss an. Vermutlich aus dem gleichen Grund, aus dem Schaulustige bei einem Unfall gafften: Es erzeugte ein erregendes Schaudern einer Katastrophe zuzusehen, ohne selbst davon betroffen zu sein.

Er ließ den Fernseher laufen, schaltete aber den Ton leiser und brachte den leeren Teller in die Küche. Auf dem Rückweg fiel ihm das Magazin ins Auge. Dessen Inhalt war zwar fast ebenso banal wie die Quizsendung, aber zumindest sprach es ihn auf gleichgeschlechtlicher Ebene an.

Erneut ließ er sich auf der Couch nieder und schlug die Zeitschrift auf. Die ersten Seiten handelten von irgendwelchen Prominenten, von denen er nicht mal die Hälfte kannte. Es folgten Szenetipps, dann Kleinanzeigen. Gelangweilt überflog er die Inserate, blätterte um und war mit einem Mal wie elektrisiert.

Dunkle Augen in einem attraktiven Gesicht. Leider nur eine schwarzweiß Fotografie, dennoch sehr beeindruckend. Schön geschwungene Lippen, umrahmt von einem Dreitagebart. Der Mann besaß eindeutig südländische Wurzeln, schätzungsweise spanische oder italienische. Letzteres schloss Lucas aus dem Namen: Angelo. Ach, Quatsch. Bestimmt war das ein Pseudonym.

Gespannt las er den Anzeigentext: „Er für schöne Stunden $$. 190 cm, Muskeln, 19x5, Brusthaar, gepflegt, OV, AV nur aktiv, kein BDSM, Fetisch o.ä., Kontakt unter: angelo.himmelstor@ ...“

Wow! Das hörte sich gut an! Er studierte das Inserat abermals und begann zu lächeln. Blind tastete Lucas nach einem Stift, umrandete die Anzeige und lehnte sich zurück. Da war er also, sein Lebensretter.

Eine Weile starrte er zufrieden grinsend ins Leere, bevor er sein Notebook heranzog, aufklappte und startete. Als erstes tippte er Angelos Kontaktdaten bei Google ein, nur vorsichtshalber, um keinem Scharlatan aufzusitzen. Da keine relevanten Ergebnisse angezeigt wurden, wechselte er zu seinem E-Mail-Account.

Mal wieder quoll sein Postfach über vor Spam. Er löschte den ganzen Scheiß und öffnete eine ungelesene Nachricht von Marlon.

„Hi. Gehen wir am Wochenende zusammen ins Kino zu Black Panther? LG Marlon.“

„Gute Idee. Ich ruf dich Freitag an. LG Lucas“, antwortete er und klickte auf den Button, um eine neue Email zu schreiben.

„Hallo Angelo, mein Name ist Lucas und ich bin noch Jungfrau ...“ Autsch! Das klang eher wie ein Brief an Dr. Sommer vom Bravo-Team. Er löschte die Zeile und fing neu an: „Hallo Angelo, ich möchte einen Termin mit dir vereinbaren. Wie hoch ist dein Stundensatz? Gruß, Lucas.“

Ehe ihm Bedenken kommen konnten, sandte er die Nachricht ab. Im Anschluss checkte er das Kinoprogramm in dem von Marlon und ihm bevorzugten Filmpalast. Black Panther lief am Samstag zu den üblichen Zeiten. Meist gingen sie in die Vorstellung um acht oder halb neun und aßen vorher zusammen etwas.

Zurück in seinem E-Mail-Konto stellte er fest, dass Angelo noch nicht geantwortet hatte. Enttäuscht surfte er ziellos herum und schaute einige Minuten später erneut nach. Weiterhin Fehlanzeige. Bediente der Typ gerade einen Kunden? Kein schöner Gedanke.

Lucas ließ sich gegen die Sofalehne sinken und runzelte die Stirn. Offenbar litt er an akuter Doppelmoral. Angelo war nun mal ein Callboy und was tat ein solcher? Genau! Der bot Sex gegen Geld.

Lebte Angelo von diesem Job oder war das bloß ein Nebenerwerb? Er recherchierte das im Internet. Anscheinend betrieb die überwiegende Anzahl männlicher Prostituierter das Gewerbe bloß nebenberuflich. Allerdings handelten die Berichte von solchen, die sich weiblicher Kundschaft anboten. Über Männer, die für Bares mit Kerlen vögelten, fand er wenig Brauchbares.

Noch immer keine E-Mail von Angelo. Mittlerweile war eine halbe Stunde seit seiner Nachricht vergangen. Genervt stieß Lucas einen Seufzer aus, stellte das Notebook beiseite und schnappte sich die Fernbedienung, um die Glotze lauter zu drehen.

Es lief irgendein Kriminalfilm. Der Plot war interessant genug, um ihn für eine ganze Zeit zu fesseln, zumal es keine Werbeunterbrechungen gab. Erst als der Inspektor den Fall gelöst hatte, besann er sich auf Angelo und checkte wieder seine E-Mails.

Inzwischen war eine Antwort eingetroffen. „Hi Lucas. Je nach dem, was du möchtest, variiert mein Stundensatz zwischen 150 und 400 Euro. Bitte schick mir ein Bild von dir. A.“

Mist! Lucas fand sich absolut unfotogen. Leider hörte es sich nicht danach an, als ob Angelo mit einem Schwanzfoto zufrieden wäre.

Missmutig begab er sich ins Schlafzimmer, vor den bodentiefen Spiegel und probierte eine der Posen, die man tausendfach bei irgendwelchen Trullas im Internet fand: Die Beine überkreuzt, als würde man schreiten, eine Hand in die Seite gestemmt und die Lippen lasziv leicht geöffnet, dazu ein sexy Blick. Gott! Sah das Scheiße aus! So, als ob er dringend aufs Klo musste.

Letztendlich lichtete er sich im Sitzen ab, ein gezwungenes Lächeln auf den Lippen. Wenigstens wirkte er nun nicht mehr so, als wenn seine Blase voll wäre, stattdessen machte er den Eindruck eines verklemmten Nerds. Tja. Irgendwie stimmte das ja auch.

Er lud das Foto aufs Notebook und schrieb dazu: „Hallo Angelo, wann passt es dir denn? Ginge Freitag? Gruß, L.“

Diesmal war der Callboy von der schnellen Sorte. Schon nach kurzem Warten blinkte eine neue Nachricht in seinem Posteingang. Aufgeregt öffnete er sie.

„Kommt drauf an. Was genau stellst du dir vor?“

Gute Frage. „AV mit viel Vorspiel. Bin ziemlich unerfahren.“

Erneut erfolgte eine rasche Antwort: „Okay. Ich hätte zwischen 7 und 8 Zeit. Nur Barzahlung. 200 Euro.“

Ganz schön happig, aber Geld spielte für ihn nur eine untergeordnete Rolle. Seine Eltern waren vermögend, außerdem verdiente er selbst jeden Monat ein hübsches Sümmchen. „Alles klar. Wie geht’s jetzt weiter?“

In der nächsten Mail nannte ihm Angelo eine Adresse und Mobilfunknummer, damit er kurz vorher anrief und verabschiedete sich mit: „Bis Freitag.“

Mit vor Nervosität zitternden Fingern tippte Lucas die Daten in sein Smartphone. Nun war es also soweit. Nur noch drei Tage, bis er seinen Makel loswurde.

Colin – kalt wie Eis?

1.

Der Tipp mit dem Goldenen Hirsch erwies sich als Flop. An dem Samstag nach dem Treffen mit Lucas suchte Marlon den Club auf, wurde aber herbe enttäuscht. Die Typen, die Interesse an ihm zeigten, fand er öde und bei denen, die seinem Beuteschema entsprachen, stieß wiederum er auf Granit. Bloß ein Gutes hatte der Abend: Er schnappte den Namen Lila Leguan auf, einer Kneipe, in der es recht locker zugehen sollte.

Am folgenden Wochenende ging er also in besagtes Lokal. Das Ambiente gefiel ihm gleich von Anfang an besser. Das Lila Leguan besaß den Kneipencharakter der Achtziger. Holzbänke, -stühle und Tische, an den Wänden gerahmte Fotografien irgendwelcher alten Stars. Außerdem war die Lautstärke weitaus moderater als im Goldenen Hirsch. Dort konnte man sich fast nur brüllend verständigen. Er war zwar nicht auf eine tiefschürfende Unterhaltung aus, mochte jedoch ein bisschen Smalltalk. Auch das Publikum im Lila Leguan entsprach mehr seinem Geschmack. Die Leute waren, genau wie er, eher bodenständig gekleidet, denn wie Partynutten.

Er nahm an Tresen Platz und kam schnell mit seinem Nachbarn ins Gespräch. Ein Typ, schätzungsweise in den Fünfzigern. Sie unterhielten sich über Sport, schwärmten für den gleichen Verein und waren somit auf einer Wellenlinie.

Nach einer Weile kam einer der Kellner an und flüsterte dem Mann etwas zu, woraufhin sich der bei Marlon mit den Worten „Bin gleich wieder“ da verabschiedete.

Aus dem ‚gleich‘ wurde eine Zeitspanne, die länger dauerte, als man zum Pinkeln benötigte. Auch sprach die Miene des Typen, bei dessen Rückkehr von den Toiletten, eher für einen Orgasmus, als eine Blasenerleichterung. Wobei es durchaus überaus erleichternde Wirkung haben konnte, ein großes Geschäft zu erledigen, nur grinste man hinterher gewöhnlich nicht, wie ein frisch geficktes Eichhörnchen. Na gut, außer, es hatte sich um die Auflösung einer Verstopfung gehandelt.

Ab diesem Moment beobachtete Marlon das Treiben umher genauer. Ab und zu verschwand einer der Bediensteten in Richtung Keramikabteilung. Stets hatte zuvor ein kurzer Kontakt mit einem Gast, der dann ebenfalls die Örtlichkeit anstrebte, stattgefunden. Handelte es sich bei dem Lokal um eine Art illegalen Puff?

„Sag mal...“, wandte er sich an seinen Sitznachbarn, der versonnen ins Bierglas guckte. „Kann es sein, dass man hier gewisse Dienste kaufen kann?“

„Na ja. Betrachte es mal so: Wenn den Jungs ein Gast gefällt, dann genießt man Privilegien.“

„Also prostituieren sie sich“, konstatierte Marlon.

„Was für ein böses Wort.“ Der Mann schüttelte missbilligend den Kopf. „Nennen wir es haushaltsnahe Dienstleistungen.“

„Wie kommst du denn auf diese Umschreibung?“

„Sie kümmern sich um meinen ausgeglichenen Hormonhaushalt“, erklärte der Typ. „Ohne die Jungs sähe der ganz schön übel aus.“

„Redest du dir die Sache damit nicht irgendwie schön?“

„Wieso? Jeder bekommt das, was er braucht.“

Daran war etwas dran, sofern die Kellner wirklich freiwillig diesem Nebenjob nachgingen. „Weiß der Wirt von der Sache?“

„Natürlich. Martin wacht über die Jungs, wie ein treusorgender, allerdings auch strenger Vater. Wenn die in den Toiletten nicht für porentiefe Reinheit sorgen, ist der Teufel los.“

„Das klingt ganz schön abgefahren“, fand Marlon. „Irgendwie doch eher nach Puffvater.“

„Mir soll’s egal sein, so lange ich gut bedient werde“, erwiderte der Mann. „Das Bier schmeckt, die Blowjobs sind erstklassig und das Preis-Leistungs-Verhältnis stimmt.“

„Ähm ... was kostet denn so ein Job?“

„Das darf ich dir nicht verraten. Die Jungs machen wohl die Preise so, wie es ihnen gerade passt. Ich hab mit Pepe eine Art Flatrate vereinbart. Bin ja jede Woche zweimal hier.“

Zu fragen, warum sich der Mann keinen Partner suchte, anstatt für Sex zu bezahlen, erübrigte sich. Marlon wusste ja selbst, wie schwer es war einen zu finden. Für unscheinbare Männer wie sie blieben eben nur Kompromisse. Bei seinem Sitznachbarn kam noch das Alter hinzu.

Er bat den Wirt um ein neues Pils und sah sich im Lokal um. An einigen Tischen wechselten die Gäste ständig, an anderen saßen noch die gleichen, wie bei seinem Eintreffen. Sein Blick wanderte zur Tür, als diese aufschwang. Ein Mann kam herein, hielt direkt auf den Tresen zu und nahm auf der gegenüberliegenden Seite Platz. Blond, groß, breite Schultern, ein attraktives Gesicht.

Der Wirt begrüßte den Neuankömmling mit Handschlag. Wegen der Geräuschkulisse konnte Marlon nicht verstehen, was die beiden redeten. Der Wortwechsel dauerte nur kurz. Rasch wandte sich der Wirt wieder der Zapfanlage zu, füllte einige Gläser und stellte eines davon vor ihm ab.

Heimlich beobachtete Marlon den Typen gegenüber. Der Mann strahlte immenses Selbstbewusstsein aus, richtig zum neidisch werden. Ein paarmal wanderte der Blick des Kerls über ihn hinweg, ohne ihn wahrzunehmen, als wäre er Luft. Das passierte Marlon häufig. Mit seinen straßenköterblonden Haaren, wie er scherzhaft das verwaschene braun bezeichnete, gewöhnlichen Gesichtszügen und der schmalen Statur ging er in der Menge unter.

„Kennst du den da drüben?“, fragte er seinen Sitznachbarn.

„Kennen ist übertrieben. Das ist ein Kumpel von Martin. Du findest sein Profil im Internet.“

Marlon zückte sein Smartphone und ließ sich die Seite zeigen. Neben einem Portraitfoto des Mannes stand: „Colin, 195 cm, 19x6, Escort, nicht nur für sinnliche Stunden, OV, AV ausschließlich aktiv, Massage, kein SM oder Fetische, Stundensatz ab 150 Euro.“

Ganz schön happig. Verstohlen guckte er rüber zu dem Typen. Was hatte Colin drauf, dafür derartig viel Geld zu verlangen? Okay, die Schwanzmaße waren ganz ordentlich, aber mehr als bumsen konnte man damit auch nicht. Zugegeben: Er sah verdammt gut aus, doch rechtfertigte das die Summe?

Davon mal abgesehen, überstieg der Preis Marlons Budget bei weitem. Nach Abzug aller laufenden Kosten blieben ihm im Monat gerade mal 600 Euro, womit er nahe dem Regelsatz laut Hartz IV lag. Zum einen war da die Rate für sein erhaltenes BAFÖG, zum anderen für die Rückzahlung eines Kredites. Letzteren hatte er aufgenommen, um sich in eine Wohnungsbaugenossenschaft einzukaufen und sein erstes eigenes Heim einzurichten. Beide Tilgungen waren sehr hoch angesetzt, um die Schulden schnellstmöglich loszuwerden. Bis dahin galt es, die Arschbacken zusammenzukneifen, also denkbar ungünstige Voraussetzungen für sein Vorhaben.

„Wenn du mich fragst, lohnt sich das nicht. Für den Preis müsste er mir mindestens drei Orgasmen innerhalb einer Stunde verschaffen und dafür bin ich zu alt. Am Ende erleide ich noch einen Herzkasper.“ Sein Gesprächspartner schüttelte grinsend den Kopf. „Ich kann es mir zwar ganz nett vorstellen, in seinen Armen zu sterben, doch dafür bin ich wiederum zu jung.“

„Vielleicht kann er irgendwelche besonderen Dinge, wie beim Vögeln jodeln, oder so.“

„Möge ich davon verschont bleiben. Ich hab mit solchen Sperenzchen nix am Hut. Für mich reicht Vanilla völlig aus.“

Marlon besaß auch keinerlei abgefahrene Kinks. Oder zählte ein gewisser Hang zum Exhibitionismus dazu? Natürlich rannte er nicht in der Gegend herum, um irgendwelchen Passanten seinen Pipimann zu zeigen, sondern tat das nur im privaten Bereich. Er genoss es eben, wenn jemand ihn angaffte. Etliche Männer empfanden bestimmt genauso, weshalb diese Neigung wohl als normal gelten konnte.

„Wie heißt du überhaupt?“, erkundigte er sich, etwas verlegen, weil ihm dieser Fauxpas erst so spät auffiel.

„Anton. Und du?“

„Marlon. Angenehm.“

„Ganz meinerseits.“

„Seit wann kommst du denn regelmäßig her, wenn ich fragen darf.“

Anton trank einen Schluck Bier und wischte sich mit dem Handrücken den Schaum von der Oberlippe. „Etwas über zwei Jahre.“

„Ist das nicht ein bisschen ... wie soll ich sagen?“

„Abgefuckt“, vervollständigte Anton seinen Satz. „Klar ist es total daneben, sich hier ein bisschen Befriedigung zu holen und ansonsten den Blues zu schieben, aber was bleibt einem sonst über? Ich bin nicht der Typ für Clubs und Partnervermittlungen sind doch alle Halsabschneider.“

„Und was war vor den zwei Jahren?“, hakte Marlon nach.

„Eine langjährige Beziehung. Dann war ich plötzlich zu alt und das war’s auch schon.“ Anton seufzte resigniert. „Egal. Es hätte so oder so irgendwann geknallt. Wir passten eben nicht zusammen.“

Marlon bemühte sich die schwermütige Anwandlung abzuwehren, die ihn bei dieser Erklärung überfiel. Schließlich war er nicht hergekommen, um Trübsal zu blasen, sondern einen Typen aufzureißen, was ihn zurück auf Colin brachte. Erneut betrachtete er das Profil und anschließend den Mann gegenüber. In Natura sah Colin noch besser aus. Ach, Scheiß drauf. Dann würde er eben einen Monat nur trockenes Brot essen und auch sonst auf jeglichen Luxus verzichten, um sich einmal diesen Callboy zu leisten.

Anton hatte den Blick auf den Monitor über der Bar gerichtet, wo stumm irgendeine Musiksendung lief. Das nutzte Marlon, um rasch seinen Kontostand zu checken und zu überschlagen, ob eine Sonderausgabe in diesem Monat dir war. Dank einer Heizkostenrückzahlung befand er sich einigermaßen im Plus, womit ein bisschen Etat drin wäre. Vielleicht sogar zwei Stunden, wenn er seinen Gürtel enger schnallte.

Als nächstes studierte er Colins Kontaktdaten. Es war sowohl eine E-Mail-Adresse, als auch eine Handynummer angegeben. Kurz liebäugelte er mit dem Gedanken, Colin anzurufen. Das hätte doch was: Vis-à-vis sitzen und telefonieren, ohne dass sein Gegenüber wusste, dass er ... na ja, die Geräuschkulisse würde ihn verraten.

Da Anton weiterhin auf den Bildschirm starrte, öffnete Marlon sein Email-Account und tippte Colins Adresse ein. Als Betreff schrieb er: Bitte um ein Date. Das klang doch schon mal ganz gut.

„Hallo Colin, ich möchte dich gern buchen. Da ich noch nie mit einem Callboy zu tun hatte, habe ich einige Fragen: Kann ich mit EC-Karte bezahlen oder nimmst du nur Bargeld? Wo würde ein Treffen stattfinden? Bei dir oder bei mir? Was ist, wenn die vorgegebene Zeit überzogen wird? Zahle ich dann eine volle Stunde oder gilt in solchem Fall ein Minutentakt? Muss ich irgendetwas Besonderes beachten, wie beispielsweise kein Rasierwasser zu benutzen? (Wegen irgendwelcher Allergien oder so) Danke schon mal vorab für deine Antworten. Bis bald. Marlon.“ Er überflog den Text zweimal, bevor er die Nachricht abschickte. Anschließend legte er sein Smartphone, mit dem Display nach unten, auf die Theke und griff nach seinem Bier.

„Ich komm mit der modernen Musikszene nicht zurecht“, meinte Anton, löste den Blick vom Monitor und winkte dem Wirt zu. „Zahlen, bitte.“

„Wie meinst du das?“

„Diese Leute, die die ganze Zeit irgendwelchen Kram zu monotonen Rhythmen brabbeln. Da klingt ein Song wie der andere. Sorry, nicht meine Welt.“

„Das nennt sich Rap und stellt einen Protest gegen die bestehenden politischen Verhältnisse dar“, dozierte Marlon. „Ich mag das Zeug auch nicht sonderlich, bewundere aber die, die sich das den ganzen Tag reinziehen können.“

„Tja. Meine Eltern fanden meinen Musikgeschmack damals auch abscheulich. So etwas nennt sich wohl Generationenkonflikt.“ Anton reichte dem Wirt einen Schein. „Stimmt so.“ Anschließend an ihn gerichtet: „Dann mach’s gut. Vielleicht sieht man sich mal wieder.“

„Ich wünsch dir noch einen schönen Abend“, verabschiedete sich Marlon ebenfalls.

Bedauernd sah er seinem Gesprächspartner, der zügig das Lokal verließ, hinterher. Leider war kein Ersatz in Aussicht. Die übrigen Gäste, die am Tresen saßen, außer diesem Colin, unterhielten sich untereinander. Oder sollte er versuchen, mit dem Callboy ins Gespräch zu kommen? Eigentlich war Marlon nicht auf den Mund gefallen, aber ihm fiel nichts Gescheites ein, womit er Kontakt knüpfen könnte. Mit Anton war es total einfach gewesen. Ein dahingeworfener Spruch über die letzten Bundesligaergebnisse und schon hatten sie geplaudert. Vermutlich würde er von Colin bloß einen kühlen Blick ernten, wenn er mit Fußball ankam.

Marlon leerte sein Glas, gab dem Wirt ein Zeichen und zahlte seine Zeche. Bevor er sein Smartphone einsteckte, checkte er das Display. Es war noch keine Antwort eingetroffen. Nach einem letzten Blick auf Colin, steuerte er den Ausgang an und trat ins Freie. Vor dem Lila Leguan stand ein Pulk aus Rauchern, über dem eine Dampfwolke hing. Lachen und Gesprächsfetzen drangen zu ihm herüber. Offenbar amüsierte man sich prächtig. Was hatte er neulich als Zigarettenwerbung gelesen? Drinnen wird gefeiert, aber die Party findet draußen statt, oder so ähnlich.

Impressum

Texte: Sissi Kaiserlos
Bildmaterialien: shutterstock design Lars Rogmann
Cover: Lars Rogmann
Lektorat: Aschure - dankeschön!
Tag der Veröffentlichung: 17.04.2018

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