Cover

Käufliche Liebe Vol. 16

 

Kann man Liebe kaufen? Diese Frage stelle ich das 16te Mal und die Antwort bleibt ein klares Jein.

 

Warnhinweis: Es besteht keinerlei Realitätsbezug. Es sind kitschige Elemente und elementare Kuschelszenen enthalten. Zartbesaitete, die in Ohnmacht fallen, wenn sie die unverblümten Ausdrücke für gewisse Körperteile lesen, sollten die Finger von der Lektüre lassen. Ach ja: Es handelt sich um Liebe zwischen Mann und Mann.

 

Sämtliche Personen, Orte und Begebenheiten sind frei erfunden, Ähnlichkeiten rein zufällig. Der Inhalt dieses Buches sagt nichts über die sexuelle Orientierung des Covermodels aus. Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck oder eine andere Verwertung, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung der Autorin. E-Books sind nicht übertragbar und dürfen nicht weiterveräußert werden. Bitte respektieren Sie die Arbeit der Autorin und erwerben eine legale Kopie. Danke!

 

Text: Sissi Kaiserlos

Foto von shutterstock – Design Lars Rogmann

Korrektur: Aschure. Danke!

Kontakt: http://www.bookrix.de/-sissisuchtkaiser/


Angelo – Nomen est omen

Lucas ist ein typischer Nerd: Völlig auf seine Profession fixiert. Sein Studium hat er erfolgreich, aber ohne nennenswerte soziale Kontakte absolviert. Seit seinem Abschluss arbeitet er auf einem hochdotierten Posten im Labor eines Pharmaunternehmens und besitzt immer noch seine Jungfräulichkeit. Um sie endlich loszuwerden, besucht er einen Callboy: Angelo.

~ * ~


1.

Lucas tauschte den weißen Laborkittel gegen seine Lederjacke, schloss den Spind und verließ den Umkleideraum. Wie immer war er der letzte in der Abteilung, der Feierabend machte. Auf die anderen wartete daheim Familie, eine Lebensgefährtin, irgendjemand, auf ihn bloß die Glotze.

In Foyer nickte ihm die Kollegin, die hinterm Empfangstresen saß, freundlich zu. Die Gesichter in diesem Bereich wechselten häufig, daher lohnte es nicht, sich die Namen der Damen zu merken. Überhaupt kannte er die meisten Mitarbeiter nur vom Sehen, wenn überhaupt. Bei über 1.000 Angestellten kein Wunder. Trotz der Fülle an Angebot befand sich kein Mann unter ihnen, der als Partner infrage kam. Dabei hieß es doch stets in den Medien, dass sich die meisten Beziehungen am Arbeitsplatz entwickelten.

Draußen herrschte typisches Aprilwetter. Mittags hatte noch die Sonne geschienen, nun regnete es Bindfäden. Er schlug den Kragen seiner Jacke hoch und hastete zur nächsten Bushaltestelle. Bis er dort ankam, war sein Haar klitschnass und durch seine Brille konnte er nur noch verschwommen sehen.

Lucas nutzte den öffentlichen Nahverkehr, weil er auf dem Arbeitsweg gern ein bisschen schmökerte. Außerdem gab er die Hoffnung nicht auf, vielleicht in Bus oder Bahn auf seine zweite Hälfte zu stoßen.

Mit einem Taschentuch verschaffte er sich einigermaßen klare Sicht. Natürlich hatte der Regen prompt aufgehört, sobald er das Wartehäuschen erreichte. Verdammter April! Zum Glück trug er Schuhe aus wasserabweisendem Material, sonst hätte er auf dem Heimweg ein kaltes Fußbad genossen.

Wenig später hielt ein Bus, wie üblich überfüllt. Einige Stationen musste Lucas stehen, bevor er einen Platz ergatterte und seine Lektüre, einen Krimi, hervorkramte. Obwohl die Handlung spannend war, sah er, anstatt zu lesen, gedankenverloren aus dem Fenster.

In knapp zwei Wochen wurde er dreißig. Eigentlich kein Grund, um schon Torschlusspanik zu bekommen, dennoch fürchtete er sich vor diesem Datum. Laut seinen Recherchen in den letzten Wochen zählte er zu der winzigen Gruppe von zwölf Prozent, die mit über zwanzig noch Jungfrau waren. Genauere Studien dazu, wieviel Männer in seinem Alter diesen Status besaßen, existierten nicht. Ehrlich gesagt würde er auch lügen, falls ihn jemand dazu befragte. Es war einfach zu peinlich.

Seit Tagen beschäftigte er sich mit der Frage, wie er seinen Zustand ändern konnte. Na gut, das Thema war schon etwas älter, aber allmählich brannte es ihm unter den Nägeln. Er wollte unbedingt vor seinem Geburtstag in die körperliche Liebe eingeweiht werden.

Eigentlich stellte das kein Problem dar. Schließlich gab es genug Männer, die ihren Körper für Geld anboten. Lucas hatte etliche Anzeigen auf einschlägigen Portalen studiert, doch darunter war keine gewesen, die ihn ansprach. Für seine Zwecke sollte es schon ein besonderer Mann sein, nicht bloß ein Typ mit großer Klappe.

Seufzend versuchte er sich auf sein Buch zu konzentrieren. Der Kommissar wäre ein Kerl nach seinem Geschmack. Ein Naturbursche mit Witz und Charme. Ob es Sinn hatte, wenn er selbst eine Kontaktanzeige aufgab? ‚Jungfrau, 29 Jahre, mittelblond, blaue Augen, 180 cm, schlank, Brillenträger, nicht hässlich, sucht liebevollen Mann, der ihn nach allen Regeln der Kunst verführt.‘ Na, Klasse! Die Typen würden garantiert Schlange stehen!

Vielleicht sollte er seine Schwanzgröße hinzufügen. Mit etwas Schummeln kam er immerhin auf 17x4 Zentimeter. Da er aber den passiven Part innezuhaben gedachte, spielte das wohl keine Rolle.

Erneut lenkte er seine Aufmerksamkeit auf die Lektüre und verpasste darüber fast die Station, an der er in die Bahn wechseln musste. Allerdings nicht weil er las, sondern weiter über sein Dilemma grübelte.

Das Abteil, in das er einstieg, war einigermaßen leer. Lucas setzte sich auf einen Fensterplatz und ließ das Buch gleich in der Tasche. Es hatte keinen Sinn einen weiteren Leseversuch zu unternehmen, dazu war er viel zu abgelenkt.

In Gedanken formulierte er die Anzeige ein paarmal neu, doch das Ergebnis blieb immer dasselbe. ‚Looser sucht zärtlichen Mann, der ihn ganz vorsichtig entjungfert‘ wäre der Klartext, wenn er alle Schnörkel wegließe. ‚Großzügige Entlohnung‘ könnte er noch dazuschreiben, aber das lockte bestimmt einen Haufen Spinner an, die bloß auf die Knete aus waren. Ha, ha! Sehr witzig! Als ob jemand aus einem anderen Grund mit ihm in die Kiste springen würde.

Frustriert strich er sich durchs mittlerweile nur noch feuchte Haar und betrachtete sein Spiegelbild im Fenster. Gewöhnlich. Ohne die Brille wäre er noch nichtssagender. Das dicke Gestell verlieh ihm zumindest den Anschein von Intellektualität. Er war zwar promovierter Chemiker und entwickelte medizinische Produkte, doch sein kulturelles Allgemeinwissen beschränkte sich auf Kinofilme und Bücher.

Zudem hatte er, was menschliche Kontakte betraf, totale Hemmungen. Die einzige Ausnahme bildete Marlon, ein ehemaliger Studienkollege und ebenfalls schwul. Zwischen ihnen hatte von Anfang an die Chemie gestimmt. Bedauerlicherweise nur insoweit, dass es für eine Freundschaft reichte, sonst hätte er ein Problem weniger.

Apropos: Er sollte lieber an der folgenden Haltestelle aussteigen, sonst käme ein neues hinzu, nämlich auf den nächsten Zug in die andere Richtung zu warten. Das dauerte auf dieser Regionalstrecke gut und gerne mal eine halbe Stunde, da sie von der Bundesbahn betrieben wurde.

Mittlerweile hatte erneut Regen eingesetzt. Um nicht erneut durchnässt zu werden, trödelte Lucas im Bahnhofsgebäude herum und betrat schließlich aus Langeweile den dort ansässigen Kiosk. Es handelte sich um einen der größeren Sorte, mit reichhaltigem Angebot an Lektüre, Rauchwaren und Lebensmitteln. Eher aus Neugier denn Kauflust, stöberte er in den Zeitschriften und erstand schließlich, weil der Typ hinter der Kasse so böse guckte, das Magazin, in dem er zuvor geblättert hatte.

Trockenen Fußes daheim angekommen, warf er das Blatt auf die Garderobe. Nachdem er Jacke und Schuhe abgelegt hatte, ging er in die Küche und holte die Reste vom Vortag aus dem Kühlschrank. Kochen war, neben seinem Beruf, sein Steckenpferd. Er experimentierte gern mit Lebensmitteln. Zutaten zu vermengen, ohne vorherige Analyse der Zellstruktur sowie anderer Eigenschaften, besaß für ihn perfekten Entspannungseffekt. Nicht immer kam dabei ein wohlschmeckendes Elaborat zustande, doch zumindest war es stets gesünder als Fertignahrung.

Während die Mikrowelle sein Abendessen erhitzte, tauschte er seine Jeans gegen eine Jogginghose. Anschließend hockte er sich mit dem Teller auf die Couch, um beim Essen ein bisschen in die Glotze zu gucken und blieb bei einer Quizshow hängen. Es war faszinierend, welche Rätsel – deren Lösung im Prinzip niemanden interessierte – die Kandidaten per Multiple-Choice-Verfahren beantworten mussten. Beispielsweise verlangsamten beim Frittieren freigesetzte Moleküle die Erderwärmung. Diese bahnbrechende Erkenntnis beruhigte höchstens das Gewissen sämtlicher Fastfood-Junkies, ansonsten gehörte sie auf den Abfallhaufen unnützen Wissens.

Obwohl ihn die Belanglosigkeit der Sendung nervte, sah er sie bis zum Schluss an. Vermutlich aus dem gleichen Grund, aus dem Schaulustige bei einem Unfall gafften: Es erzeugte ein erregendes Schaudern einer Katastrophe zuzusehen, ohne selbst davon betroffen zu sein.

Er ließ den Fernseher laufen, schaltete aber den Ton leiser und brachte den leeren Teller in die Küche. Auf dem Rückweg fiel ihm das Magazin ins Auge. Dessen Inhalt war zwar fast ebenso banal wie die Quizsendung, aber zumindest sprach es ihn auf gleichgeschlechtlicher Ebene an.

Erneut ließ er sich auf der Couch nieder und schlug die Zeitschrift auf. Die ersten Seiten handelten von irgendwelchen Prominenten, von denen er nicht mal die Hälfte kannte. Es folgten Szenetipps, dann Kleinanzeigen. Gelangweilt überflog er die Inserate, blätterte um und war mit einem Mal wie elektrisiert.

Dunkle Augen in einem attraktiven Gesicht. Leider nur eine schwarzweiß Fotografie, dennoch sehr beeindruckend. Schön geschwungene Lippen, umrahmt von einem Dreitagebart. Der Mann besaß eindeutig südländische Wurzeln, schätzungsweise spanische oder italienische. Letzteres schloss Lucas aus dem Namen: Angelo. Ach, Quatsch. Bestimmt war das ein Pseudonym.

Gespannt las er den Anzeigentext: „Er für schöne Stunden $$. 190 cm, Muskeln, 19x5, Brusthaar, gepflegt, OV, AV nur aktiv, kein BDSM, Fetisch o.ä., Kontakt unter: angelo.himmelstor@ ...“

Wow! Das hörte sich gut an! Er studierte das Inserat abermals und begann zu lächeln. Blind tastete Lucas nach einem Stift, umrandete die Anzeige und lehnte sich zurück. Da war er also, sein Lebensretter.

Eine Weile starrte er zufrieden grinsend ins Leere, bevor er sein Notebook heranzog, aufklappte und startete. Als erstes tippte er Angelos Kontaktdaten bei Google ein, nur vorsichtshalber, um keinem Scharlatan aufzusitzen. Da keine relevanten Ergebnisse angezeigt wurden, wechselte er zu seinem E-Mail-Account.

Mal wieder quoll sein Postfach über vor Spam. Er löschte den ganzen Scheiß und öffnete eine ungelesene Nachricht von Marlon.

„Hi. Gehen wir am Wochenende zusammen ins Kino zu Black Panther? LG Marlon.“

„Gute Idee. Ich ruf dich Freitag an. LG Lucas“, antwortete er und klickte auf den Button, um eine neue Email zu schreiben.

„Hallo Angelo, mein Name ist Lucas und ich bin noch Jungfrau ...“ Autsch! Das klang eher wie ein Brief an Dr. Sommer vom Bravo-Team. Er löschte die Zeile und fing neu an: „Hallo Angelo, ich möchte einen Termin mit dir vereinbaren. Wie hoch ist dein Stundensatz? Gruß, Lucas.“

Ehe ihm Bedenken kommen konnten, sandte er die Nachricht ab. Im Anschluss checkte er das Kinoprogramm in dem von Marlon und ihm bevorzugten Filmpalast. Black Panther lief am Samstag zu den üblichen Zeiten. Meist gingen sie in die Vorstellung um acht oder halb neun und aßen vorher zusammen etwas.

Zurück in seinem E-Mail-Konto stellte er fest, dass Angelo noch nicht geantwortet hatte. Enttäuscht surfte er ziellos herum und schaute einige Minuten später erneut nach. Weiterhin Fehlanzeige. Bediente der Typ gerade einen Kunden? Kein schöner Gedanke.

Lucas ließ sich gegen die Sofalehne sinken und runzelte die Stirn. Offenbar litt er an akuter Doppelmoral. Angelo war nun mal ein Callboy und was tat ein solcher? Genau! Der bot Sex gegen Geld.

Lebte Angelo von diesem Job oder war das bloß ein Nebenerwerb? Er recherchierte das im Internet. Anscheinend betrieb die überwiegende Anzahl männlicher Prostituierter das Gewerbe bloß nebenberuflich. Allerdings handelten die Berichte von solchen, die sich weiblicher Kundschaft anboten. Über Männer, die für Bares mit Kerlen vögelten, fand er wenig Brauchbares.

Noch immer keine E-Mail von Angelo. Mittlerweile war eine halbe Stunde seit seiner Nachricht vergangen. Genervt stieß Lucas einen Seufzer aus, stellte das Notebook beiseite und schnappte sich die Fernbedienung, um die Glotze lauter zu drehen.

Es lief irgendein Kriminalfilm. Der Plot war interessant genug, um ihn für eine ganze Zeit zu fesseln, zumal es keine Werbeunterbrechungen gab. Erst als der Inspektor den Fall gelöst hatte, besann er sich auf Angelo und checkte wieder seine E-Mails.

Inzwischen war eine Antwort eingetroffen. „Hi Lucas. Je nach dem, was du möchtest, variiert mein Stundensatz zwischen 150 und 400 Euro. Bitte schick mir ein Bild von dir. A.“

Mist! Lucas fand sich absolut unfotogen. Leider hörte es sich nicht danach an, als ob Angelo mit einem Schwanzfoto zufrieden wäre.

Missmutig begab er sich ins Schlafzimmer, vor den bodentiefen Spiegel und probierte eine der Posen, die man tausendfach bei irgendwelchen Trullas im Internet fand: Die Beine überkreuzt, als würde man schreiten, eine Hand in die Seite gestemmt und die Lippen lasziv leicht geöffnet, dazu ein sexy Blick. Gott! Sah das Scheiße aus! So, als ob er dringend aufs Klo musste.

Letztendlich lichtete er sich im Sitzen ab, ein gezwungenes Lächeln auf den Lippen. Wenigstens wirkte er nun nicht mehr so, als wenn seine Blase voll wäre, stattdessen machte er den Eindruck eines verklemmten Nerds. Tja. Irgendwie stimmte das ja auch.

Er lud das Foto aufs Notebook und schrieb dazu: „Hallo Angelo, wann passt es dir denn? Ginge Freitag? Gruß, L.“

Diesmal war der Callboy von der schnellen Sorte. Schon nach kurzem Warten blinkte eine neue Nachricht in seinem Posteingang. Aufgeregt öffnete er sie.

„Kommt drauf an. Was genau stellst du dir vor?“

Gute Frage. „AV mit viel Vorspiel. Bin ziemlich unerfahren.“

Erneut erfolgte eine rasche Antwort: „Okay. Ich hätte zwischen 7 und 8 Zeit. Nur Barzahlung. 200 Euro.“

Ganz schön happig, aber Geld spielte für ihn nur eine untergeordnete Rolle. Seine Eltern waren vermögend, außerdem verdiente er selbst jeden Monat ein hübsches Sümmchen. „Alles klar. Wie geht’s jetzt weiter?“

In der nächsten Mail nannte ihm Angelo eine Adresse und Mobilfunknummer, damit er kurz vorher anrief und verabschiedete sich mit: „Bis Freitag.“

Mit vor Nervosität zitternden Fingern tippte Lucas die Daten in sein Smartphone. Nun war es also soweit. Nur noch drei Tage, bis er seinen Makel loswurde.



2.

Schmunzelnd betrachtete Angelo das Foto, das ihm dieser Lucas geschickt hatte. Ohne Brille war der Typ bestimmt ziemlich sexy. Er schätzte den Mann auf Ende zwanzig. Ziemlich jung, gemessen an seiner übrigen Kundschaft, die größtenteils die vierzig überschritten hatte.

Nach einem Blick auf die Zeitanzeige am unteren Monitorrand klappte er das Notebook zu und streckte gähnend seine Arme über den Kopf. Morgens klingelte der Wecker um sechs, also Zeit ins Bett zu gehen.

Auf dem Weg ins Bad musste Angelo abermals grinsen. Ziemlich unerfahren? Ihn würde es nicht wundern, wenn Lucas in schwuler Hinsicht noch Jungfrau wäre. Es gab erstaunlich viele Männer, die erst in späteren Jahren ihre gleichgeschlechtliche Ader auslebten. Unter seinen Kunden befanden sich einige davon. Für manche mit Familie war er ein schmutziges Geheimnis. Andere kamen zu ihm, weil sie sich in Clubs keine Chance ausrechneten oder zu Schüchternheit neigten.

Er war mit seinem Leben eigentlich recht zufrieden. Dafür, dass er nach seinem Hauptschulabschluss erstmal eine Drogenkarriere hingelegt hatte, ging’s ihm heutzutage glänzend.

Bis in die tiefsten Gefilde war er abgerutscht, bevor er ihm klarwurde, dass er aus dem Sumpf rausmusste. Darauf folgten sein Entzug und ein Quereinstieg bei der Hamburger Stadtreinigung. Mittlerweile hatte er nachträglich eine Ausbildung absolviert und trug den hochtrabenden Titel Fachkraft für Kreislauf- und Abfallwirtschaft. Das änderte nichts daran, dass er Mülltonnen leerte, brachte aber ein bisschen mehr Euros ein. Außerdem konnte er, wenn er den Knochenjob satt hatte, eine Versetzung auf eine weniger anstrengende Stelle beantragen.

Seine Einkünfte aus dem Hauptjob reichten, um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Das, was er nebenher einnahm, verwendete er zum Teil, um sich Luxuswünsche zu erfüllen. Beispielsweise Fernreisen, wie im vergangenen Jahr auf die Malediven oder ab und zu eine Markenklamotte. Den anderen Teil sparte er eisern für schlechte Zeiten, wie er es von seinen Eltern gelernt hatte. Es konnte eben niemand aus seiner Haut heraus.

Während sich Angelo vorm Waschbecken die Zähne putzte, musterte er sein Gesicht. Auch diesbezüglich hatte er Glück gehabt. Dank guter Gene war der Drogenkonsum, jedenfalls äußerlich, nahezu spurlos an ihm vorübergegangen.

Innen sah es schon anders aus. Gelegentlich suchten ihn Alpträume heim, in denen er die damalige Zeit wieder erlebte. Die verzweifelte Jagd nach Geld, um sich den nächsten Schuss zu besorgen. Er hatte Autos aufgebrochen, Leute beklaut und auf dem Straßenstrich seine Dienste angeboten. Wenn er alles zusammenrechnen würde, was für Heroin und andere bewusstseinserweiternde Substanzen draufgegangen war, käme er auf eine schwindelerregende Summe, also zog er das gar nicht erst in Erwägung.

Er beendete seine Abendtoilette, streifte im Schlafzimmer, bis auf Shorts und T-Shirt, seine Klamotten ab und kroch ins Bett. Nachdem er den Wecker gestellt hatte, kuschelte er sich unter die Decke. Wie jeden Abend sagte er in Gedanken ein kurzes Gebet auf, dass ihn bitte böse Träume verschonen mögen.



Am nächsten Morgen war die Welt weiß überzuckert. Über Nacht hatte es ein bisschen geschneit und dazu Minusgrade geherrscht. Als Angelo die übliche Abkürzung über den Rasen nahm, knirschte unter seinen Sohlen das gefrorene Gras. Auf dem weiteren Weg zum Bahnhof geriet er ein paarmal ins Rutschen und sah sich schließlich gezwungen, sein Schritttempo zu reduzieren, damit er nicht auf die Schnauze fiel.

Etwa später als sonst erreichte er sein Ziel. Kein Beinbruch, da er stets überpünktlich losging. Zuverlässig brachte die U-Bahn ihn zum Hauptbahnhof, wo er in die S-Bahn umstieg und nur noch zwei Stationen fahren brauchte. Von der Haltestelle Rothenburgsort waren es nur noch wenige Minuten zu Fuß bis zum Betriebsgelände.

Im Umkleideraum herrschte bereits Trubel. Während Angelo seine Schutzkleidung anlegte, lauschte er dem Geplauder der anderen. Die meisten unterhielten sich über das Fernsehprogramm des Vorabends, von dem er mal wieder nichts mitbekommen hatte. In der relevanten Zeit war nämlich ein Stammkunde bei ihm gewesen.

Ansonsten guckte er auch wenig in die Glotze. Lieber spielte er irgendetwas am Computer, las oder traf sich mit Freunden. Aufgrund seiner Mitgliedschaft in einem schwul/lesbischen Fußballverein gab es zahlreiche Kumpels, mit denen er oft unterwegs war.

Um kurz nach sieben verließ er, mit drei Kollegen in der Fahrerkabine eines Müllwagens, den Hof. Es handelte sich um relativ sympathische Typen, die ihn mit homophoben Sprüchen weitestgehend verschonten. Selbst wenn mal einer fiel, war das nie direkt auf ihn gemünzt. Die Männer nahmen eben einfach keine Rücksicht auf ihn, wodurch er sich als Teil des Teams fühlte.

Die Stunden vergingen schnell. Wegen der Osterfeiertage mussten sie einiges aufholen und funktionierten wie eine gut geölte Maschinerie. Im Nu war der Feierabend da. Erneut ging’s in den Umkleideraum und anschließend nach Hause.

Angelo freute sich darauf, den Abend entspannt auf der Couch zu verbringen. Seinen Nebenerwerb hatte er auf maximal drei Kunden pro Woche beschränkt, um zwischendurch genug Zeit zum Regenerieren zu haben. Ehrlich gesagt überlegte er ernsthaft, seinen Einsatz noch weiter zu reduzieren, da ihn die Sache zunehmend zermürbte. Seine Besucher waren zwar gepflegte Männer und er mochte Sex, aber auf Dauer empfand er die anonymen Nummern als schal. Vielleicht wurde er langsam zu alt für den Job.



Freitagmorgen fiel ihm beim Kaffeetrinken der Termin mit diesem Lucas ein. Bei Erstkunden schickte er seinem Freund Bastian, der einzige, der von seinem Nebenjob wusste, eine E-Mail mit den Kontaktdaten, für den Fall, dass ihm etwas zustieß. Das musste er nachher noch erledigen, außerdem den Raum, der Kundenbesuch vorbehalten war, entsprechend vorbereiten.



Auf dem Rückweg von der Arbeit suchte er einen Supermarkt auf und besorgte bei der Gelegenheit auch neue Kondome sowie Gleitgel. Zu Hause angekommen verstaute er seine Einkäufe, bezog das Bett im besagten Zimmer neu und wischte dort sämtliche Flächen mit einem Desinfektionstuch ab. Hygiene war für ihn das A und O in dem Gewerbe.

Anschließend kümmerte er sich um sein leibliches Wohl. Kochtechnisch war Angelo eine absolute Niete, weshalb er oft Fertiggerichte aß. Seit seine Eltern wieder in ihrer Heimat, Sizilien, lebten, hatte sich das leider als Dauerlösung herauskristallisiert. Davor war er regelmäßig von seiner Mutter mit Selbstgekochtem versorgt worden. Vielleicht sollte er allmählich seine Aversion gegen Küchenarbeit ablegen, sonst erkrankte er irgendwann an Skorbut.

Nach einer Portion Tortellini in Rahmspinat, war Körperpflege dran. Auch dafür galt: Je mehr, desto besser. Entsprechend entfernte er akribisch jedes Härchen, das es wagte an falscher Stelle zu sprießen. Zu seinem Brusttoupet stand er jedoch. Es gehörte zu seinem südländischen Flair. Zum Schluss cremte er sich von Kopf bis Fuß mit duftender Körperlotion ein und stylte seine Locken mit etwas Gel.

In eine braune Leinenhose mit Kordelzug und ein weißes Hemd aus dem gleichen Material gekleidet, setzte er sich vors Notebook. Als erstes leerte er den Spamordner seines E-Mail-Postfachs, als nächstes leitete er Lucas‘ Mail an Bastian weiter, mit dem Vermerk ‚Nur im Notfall öffnen‘.

Da es noch eine Viertelstunde bis sieben dauerte, besorgte er aus der Küche ein Glas Cola und rief eine Partie Mah-Jongg auf den Monitor. Konzentriert begann er die Reihen abzuarbeiten und vergaß darüber die Zeit. Als sein Smartphone vibrierte zuckte er erschrocken zusammen, griff danach und hätte es dabei fast vom Tisch katapultiert.

„Ja?“, meldete er sich.

Eine sympathische Stimme erwiderte: „Hier ist Lucas. Ich bin in wenigen Minuten da. Wo muss ich klingeln?“

„Bei Benedetti. Dritter Stock. Bis gleich.“ Er beendete die Verbindung, legte das Gerät zurück und klappte den Deckel des Notebooks zu.

Plötzlich erfasste ihn Nervosität. Das ging ihm immer so. Kurz vor dem Eintreffen eines neuen Kunden breitete sich stets Lampenfieber aus, das ebenso zuverlässig innerhalb der ersten Minuten verschwand.

Unruhig sprang er auf, lief in den Z.B.V.-Raum – die Abkürzung für zur besonderen Verwendung – und ließ dort die Jalousie halb herunter. Auf diese Weise waren die Strahlen der Abendsonne etwas abgeschottet und das Zimmer in heimeliges Licht getaucht. Perfekt für schüchterne Kundschaft, denn so wirkte die Ausstattung weniger nüchtern.

Angelo rückte den Stuhl, der zur Ablage von Klamotten gedacht war, in einen rechten Winkel zum Bett. Das Bild überm Kopfende, ein männlicher Akt in Öl, zog seinen Blick an. Es stellte ihn dar, das Geschenk eines ehemaligen Freiers. Sein Gesicht blieb dem Betrachter verborgen, dafür sah man umso mehr von seinem Intimbereich. Der Maler hatte etwas übertrieben und sowohl seinem Schwanz einige Zentimeter hinzugedichtet, als auch den Umfang seines Sackes vergrößert. Sehr schmeichelhaft.

Das Läuten der Türglocke ließ ihn erneut zusammenfahren. Lucas war überpünktlich. Die digitalen Ziffern des Weckers, den er aus praktischen Gründen auf dem Nachtschrank positioniert hatte, wechselten gerade auf 18:59.

Bevor er die Tür öffnete, atmete er einmal tief durch. Im Treppenhaus stand ein sehr schlanker Mann, etwas kleiner als er und mit einem gezwungenen Lächeln auf den Lippen.

„Hi.“ Angelo gab den Weg frei. „Komm rein. Gut hergefunden?“

„Öhm ... ja“, murmelte Lucas, ging an ihm vorbei, blieb inmitten des Flures stehen und guckte sich verstohlen um.

Er schloss die Tür. „Möchtest du was trinken?“

„Darf ich ein Glas Wasser haben?“

„Du kannst auch eine ganze Flasche davon bekommen. Softdrinks sind inklusive. Ich habe auch Cola, Apfelsaft oder Bitter Lemon.“

„Wasser ist völlig okay.“ Lucas versenkte die Hände in den Hosentaschen und mied beharrlich Blickkontakt.

Das würde keine leichte Nummer werden. Innerlich seufzend ging er in die Küche, wo er sich ein Glas sowie eine Flasche Mineralwasser schnappte. Wie erwartet, war seine Nervosität Gelassenheit gewichen. Als Faustregel galt: Je unsicherer der Kunde, desto ruhiger wurde Angelo.

„Folge mir bitte unauffällig“, bat er, als er wieder in den Flur trat und das Z.B.V.-Zimmer ansteuerte.

Er lud seine Fracht auf dem Nachtschrank ab. Hinter sich hörte er zögernde Schritte auf dem pflegeleichten Laminat. Als er sich umwandte, war Lucas‘ Aufmerksamkeit auf das Ölgemälde gerichtet. Durch die dicken Brillengläser wirkten die blauen Augen etwas vergrößert und spiegelten offensichtliche Verlegenheit.

„Soll ich das Bild lieber abdecken?“ Obwohl er versuchte es zu unterdrücken, schmuggelte sich ein Hauch Spott in seine Stimme.

„Nein! Es ist nur ... Sind Sie das?“ Lucas‘ Blick huschte von dem Kunstwerk zu seinem Schritt und wieder zurück.

Du. Bist du das“, korrigierte er. „Nennen wir es mal ein abstraktes Abbild von mir. Die Proportionen sind etwas verzerrt dargestellt.“

„Wie ... wie meinen Sie ... meinst du das?“

„Der Künstler hatte wohl eher einen Zuchtbullen vor Augen, als er

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Sissi Kaiserlos
Bildmaterialien: shutterstock design Lars Rogmann
Cover: Lars Rogmann
Lektorat: Aschure - danke
Tag der Veröffentlichung: 22.04.2018
ISBN: 978-3-7438-6684-3

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