Eine Anthologie der HomoSchmuddelNudeln
ISBN Print: 978-1986616713
Sämtliche Personen, Orte und Begebenheiten sind frei erfunden, Ähnlichkeiten rein zufällig. Der Inhalt dieses Buches sagt nichts über die sexuelle Orientierung des Covermodels aus. Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck oder eine andere Verwertung, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung der Autoren. E-Books sind nicht übertragbar und dürfen nicht weiterveräußert werden. Bitte respektieren Sie die Arbeit der Autoren und erwerben eine legale Kopie. Danke!
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Satz Print: Kooky Rooster
Korrekturen: Bernd Frielingsdorf, Aschure, Sissi Kaiserlos, Kooky Rooster
Kontakt: http://www.bookrix.de/-sissisuchtkaiser/
Liebe Leserinnen und Leser,
vielen Dank, dass ihr dieses Buch gekauft habt. Ohne euch wären alle Mühen vergebens.
Es ist wieder viel Herzblut und Schweiß bei der Entstehung der Anthologie geflossen. Herausgekommen ist eine Sammlung, die dem ersten Grün huldigt, aber das immer nur am Rande. Im Fokus stehen die Akteure. Das dürfte auch in eurem Sinne sein, denn wer will schon über das Liebesleben von Schneeglöckchen und Co. lesen?
Sämtliche Einnahmen fließen einem gemeinnützigen Verein zu. Aktuell gehen die Spenden an die Schwestern der perpetuellen Indulgenz in Berlin. http://www.indulgenz.de/ Auch ihnen gilt mein Dank für die umsichtige Verwendung der Gelder und die hohe Einsatzbereitschaft, um Menschen in Not zu helfen.
Sissi Kaiserlos im HomoSchmuddelNudeln-Gewand
Hamburg im März 2018
Pascal arbeitet in einem Recyclinghof, wo Markus oft irgendwelchen Schrott ablädt. Man kommt ins Gespräch …
~ * ~
Endlich wurde es abends später dunkel, dafür morgens eher hell. Am letzten Märzwochenende stand allerdings die Zeitumstellung an, womit erst mal wieder beim Aufstehen, um sieben Uhr, Finsternis herrschte.
Pascal hasste diese Regelung. Niemand gewann dadurch einen Vorteil, dennoch behielt man sie stoisch bei. Manchmal kam ihm die ganze Scheiß-Regierung vor wie ein Moloch, der damit beschäftigt war, sich selbst zu verdauen.
Erheitert über solch philosophische Überlegungen am frühen Morgen, grinste er in sich rein. Nur gut, dass Ansgar nicht zugegen war. Ansonsten hätte er seine Gedanken laut ausgesprochen und dafür mal wieder einen verbalen Einlauf kassiert. Ansgars Humor unterschied sich nämlich gründlich von seinem. Überhaupt war sein Lover ein ziemlich nüchterner Typ, der auch in Bezug auf Romantik erhebliche Defizite aufwies.
Seufzend leerte Pascal seine Kaffeetasse, stellte sie ins Spülbecken und sah auf die Uhr. Es wurde Zeit, dass er sich auf den Weg machte. Der Recyclinghof, bei dem er arbeitete, öffnete um acht, also in einer halben Stunde.
Auf der Fahrt wanderten seine Gedanken erneut zu Ansgar. Als sie sich vor ungefähr zwei Jahren auf einer Silvesterparty kennenlernten, war er einsam und frustriert gewesen. Ansgar ging’s genauso. Daraus hatte sich eine Art Zweckgemeinschaft entwickelt. Anfangs glaubte er noch, dass irgendwann daraus mehr entstehen würde, doch mittlerweile war diese Hoffnung erloschen. Immerhin war ihr Sex ganz in Ordnung.
Bei seiner Ankunft, rund fünfzehn Minuten später, entdeckt er ein weißes Fahrzeug vor der Einfahrt zum Hof. Wie so oft in den letzten Jahren parkte dort ein Caddy mit der Aufschrift Klempnerei Leimer. Markus, der Inhaber dieses Handwerksbetriebs, kam ein- bis zweimal pro Woche, um Schrott loszuwerden. Seit einer ganzen Weile duzten sie einander und tranken gelegentlich zusammen, je nach Wetterlage etwas Heißes oder Kaltes, an dem einige Meter entfernten Imbissstand.
Pascal stoppte neben dem Wagen und ließ die Seitenscheibe runterfahren. Markus verfuhr auf die gleiche Weise mit der auf der Fahrerseite.
„Du bist zu viel zu früh dran. Treffen wir uns gleich auf einen Kaffee?“
„Gute Idee. Ich friere mir hier den Arsch ab“, erwiderte Markus mit einem schiefen Grinsen.
Er lächelte zurück und fuhr bis vors Tor, das er mittels des Chips öffnete, der auch für die Zeiterfassung diente. Anschließend lenkte er seinen Wagen zu den Parkplätzen, die Bediensteten vorbehalten waren. Noch herrschte auf dem Gelände gähnende Leere. Die meisten seiner Kollegen kamen erst Punkt acht.
Markus stand bereits vor dem Imbiss, einen Plastikbecher, aus dem Dampf aufstieg, in der Hand. Wortlos reichte ihm Atze, einer der beiden Brüder, die den Stand betrieben, ebenfalls einen Kaffee. Sie verzogen sich mit ihren Getränken an einen der drei Bistrotische.
„Langsam könnte es mal Frühling werden“, brummelte Markus, die Miene verdrießlich verzogen.
„Immerhin sind es keine Minusgrade mehr.“
„Ein schwacher Trost.“
„Was hast du denn heute an Bord? Wieder eine komplette Badeinrichtung?“
„Nö. Bloß zwei Kloschüsseln und einen Spülkasten.“ Markus seufzte abgrundtief und nippte am Kaffee. „Wenn’s nach dem Eigentümer gegangen wäre, hätte ich die Dinger durch Billigware ersetzen müssen. Ich konnte den Geizhals nur schwer überreden, vernünftige Markenprodukte zu kaufen.“
„Ach? Scheißt es sich auf Villeroy & Boch besser als auf No Name?“
„Natürlich nicht.“ Glucksend zwinkerte Markus ihm zu. „Ich muss aber auch von irgendetwas leben.“
„Du hast mein volles Mitgefühl“, spottete Pascal, der diese alte Leier schon kannte.
Sämtliche Gewerbetreibenden, die den Recyclinghof ansteuerten, gaben vor am Hungertuch zu nagen und versuchten auf diese Weise die Gebühren zu umgehen. Markus bildete also absolut keine Ausnahme, nur mit dem Unterschied, das Ganze eher aus sportlichem Aspekt zu betreiben.
„Danke. Da wird mir doch gleich warm ums Herz“, gab Markus in der gleichen Tonlage zurück.
„Gern geschehen.“ Pascal setzte den Becher an seine Lippen und trank einen Schluck. „Und? Wie läuft es sonst so?“
„Geschäftlich ganz gut. Privat allerdings weniger.“
Normalerweise bewegten sich ihre Unterhaltungen an der Oberfläche, schließlich kannten sie einander kaum, bis auf den Umstand, dass sie am gleichen Ufer fischten – diesbezüglich funktionierten sein sowie Markus’ Gaydar hervorragend. Außerdem hatten sie gleich geklärt, in einer festen Beziehung zu stecken, damit die Fronten klar waren.
„Ist dein Partner treu?“, wollte Markus wissen.
„Ähm … davon gehe ich aus.“ Ehrlich gesagt hatte er noch nie darüber nachgedacht.
„Was würdest du tun, wenn er es nicht wäre?“
„Keine Ahnung. Vermutlich Schluss machen.“
„Das hört sich so einfach an.“ Erneut seufzte Markus. „Es ist aber verdammt schwer, selbst wenn solche stichhaltigen Gründe vorliegen, jemandem den Laufpass zu geben.“
Verstohlen warf Pascal einen Blick auf die riesige Uhr, die im Imbissstand hing. Drei Minuten vor acht. „Tut mir leid, ich muss los. Falls du Redebedarf hast: Wir könnten uns in meiner Mittagspause treffen. Die ist von eins bis zwei.“
„Das ist lieb von dir. Vielleicht komme ich darauf zurück.“ In einem Zug stürzte Markus den Rest Kaffee herunter. „Heute jedoch nicht. Keine Zeit.“
Er leerte ebenfalls seinen Becher. Im Weggehen warfen sie ihre Trinkgefäße in den Mülleimer und steuerten den Recyclinghof an. Während Markus weiter geradeaus lief, auf den parkenden Caddy zu, bog er ab und betrat das Gelände.
Inzwischen waren alle Kollegen eingetroffen. Der überwiegende Teil gehörte seit vielen Jahren zum Team, genau wie Pascal. Man akzeptierte einander, auch wenn manchmal dumme Sprüche fielen. Gegen Neue nahmen die Männer ihn sogar in Schutz. Im Ganzen hatte er es mit seinem Arbeitsplatz ziemlich gut getroffen.
In den folgenden Stunden ging ihm das Gespräch mit Markus immer mal wieder durch den Kopf. Wäre er in der Lage, würde Ansgar fremdgehen, ihre Beziehung zu beenden? Die Antwort war ein klares Vielleicht, schließlich spielten einige Faktoren bei Treulosigkeit eine Rolle. Zum Beispiel sexueller Frust oder … oder … ehrlich gesagt wollte ihm kein anderer Grund einfallen. Pascal war nicht schwanzfixiert genug, um überhaupt an einem Seitensprung Interesse zu haben.
Gen Feierabend ertönte in seiner Jackentasche ein akustisches Signal, das den Eingang einer SMS verkündete.
Bei nächster Gelegenheit zog er sein Smartphone hervor und las: „Lust auf essen gehen? Ich hab für halb sieben einen Tisch im Steak House bestellt. A.“
So war Ansgar. Erst fragen und gleich die Tatsachen hinterherschicken.
„Dann sehen wir uns nachher“, textete er zurück.
Ansgar saß bereits an einem Tisch, als er pünktlich im Restaurant eintraf. Sie begrüßten sich mit einem Kuss auf die Wange, wie immer in der Öffentlichkeit.
„Ich nehme das Rumpsteak“, verkündete Ansgar, kaum dass er sich hingesetzt und die Speisekarte aufgeschlagen hatte.
Obwohl er das Angebot in- und auswendig kannte, schließlich gingen sie regelmäßig in dieses Lokal, ließ sich Pascal mit der Auswahl Zeit. Schlussendlich wählte er einen Burger mit Pommes als Beilage.
Als er seine Bestellung beim Kellner aufgab, zog Ansgar die Augenbrauen hoch und bemerkte, sobald der Mann davongeeilt war: „Ist das nicht ein bisschen ungesund?“
„Ich hab den ganzen Tag körperlich in der Kälte geschuftet. Da kann ich ja wohl ein paar Kalorien vertragen.“
Beschwichtigend hob Ansgar beide Hände. „Das wollte ich damit nicht sagen.“
„Und wie war dein Arbeitstag?“, lenkte Pascal ein.
Damit war das Gespräch bis zum abschließenden Espresso vorbestimmt. Ansgar liebte es, haarklein aus dem aufregenden Alltag eines Versicherungssachbearbeiters zu berichten. Er brauchte nur ab und zu ein zustimmendes ‚Mhm‘ oder ‚Ach du meine Güte‘ einzuwerfen. Im Grunde störte ihn das nicht sonderlich, blieb ihm somit doch erspart irgendwie anzuecken. Das schaffte er nämlich meist dann, wenn er die Unterhaltung an sich riss.
Gemeinsam verließen sie das Restaurant und gingen in Ansgars Wohnung. Mittwochs, freitags und samstags stand Sex auf dem Programm. Im Schlafzimmer entledigten sie sich ihrer Kleidung. Anschließend wärmten sie sich mit ein paar Küssen auf, bevor es in die Kiste ging. Sie taten es in der üblichen Stellung: Ansgar auf allen vieren, er dahinter. Das bot den Vorteil, beim Bumsen über alles Mögliche zu fantasieren, entweder um seinen Abschuss zu beschleunigen oder hinauszuzögern.
Im Anschluss schmiegte sich Ansgar in seine Arme. Pascal mochte das postkoitale Kuscheln sehr, da es ihm Nähe vermittelte. Etwas, das er beim eigentlichen Akt vermisste. Andererseits hatte er noch nie mit jemandem gevögelt und das als seelische Erfüllung empfunden.
„Sag mal …“ Versonnen streichelte er den weichen Flaum in Ansgars Nacken. „Bist du mir eigentlich treu?“
„Natürlich. Was soll die Frage?“
„Wir haben nie darüber gesprochen, ob unsere Beziehung monogam ist.“
„Rede nicht um den heißen Brei herum. Willst du mit jemand anderem ins Bett?“, verlangte Ansgar typisch direkt zu wissen.
„Nein, will ich nicht.“
„Gut. Dann erübrigt sich ja wohl, weiter darüber zu sprechen.“ Ansgar küsste ihn sanft auf den Mund. „Ich geh mal eben Zähneputzen.“
Sein vernünftiger Schatz. Ansgar hatte selbstverständlich Recht. Was nützte es, sich um hypothetische Geschehnisse Gedanken zu machen? Anscheinend hatte Markus ihm einen Floh ins Ohr gesetzt.
Am Freitag fand dasselbe statt wie am Mittwoch, mit der Ausnahme, dass sie bei Pascal aßen. Außerdem zogen sie nach dem Sex auf die Couch um, um durchs Fernsehprogramm zu zappen. Er mochte diese Abende, zu zweit auf dem Sofa, gemütlich in eine Decke eingekuschelt und ermattet vom Orgasmus.
Während er mit halbem Auge irgendeine Diskussionsrunde, bei der Ansgar hängen geblieben war, verfolgte, dachte er an die Mittagspause mit Markus. Der hatte morgens angerufen, um von seinem Angebot Gebrauch zu machen.
Sie waren in ein nahe gelegenes Bistro gefahren, dessen räumliche Ausstattung ausreichend Privatsphäre für ein Gespräch unter vier Augen ermöglichte. An einem Zweiertisch am Fenster hatte Markus der Zerrissenheit und dem Schmerz Ausdruck verliehen, den die Trennung von dem Fremdgänger verursachte.
Die Sache war weitaus komplizierter als in Pascals Vorstellungen. Anscheinend handelte es sich bei Markus’ Ex um einen dieser Typen, die einfach nicht erwachsen wurden. Unter Tränen hatte besagter Karel geschworen, nie wieder woanders zu naschen. Das alles wäre doch nur geschehen, weil seine Libido ihm die Fehltritte diktiert hätte. Er würde Markus über alles lieben und jedwede Regel akzeptieren, nur damit sie zusammenblieben. Selbst vor Tränen hatte der Kerl nicht zurückgeschreckt.
Es war Markus verdammt schwergefallen, dennoch hart zu bleiben. Der arme Mann machte sich Vorwürfe, eventuell zu wenig einsichtig gewesen zu sein. Vielleicht änderte sich Karel ja wirklich und er verpasste die Chance seines Lebens.
Sie hatten fast die eine Stunde überzogen, so hitzig verlief ihre Diskussion. Am Ende war Markus etwas beruhigt gewesen, zumindest nach Pascals Eindruck. Trotzdem ließ ihn die Sache nicht mehr los. Was geschah, wenn dieser Karel auftauchte und es schaffte, Markus erneut zu umgarnen? Zweifelsohne wäre die nächste Katastrophe vorprogrammiert. Pascal glaubte nicht, dass sich ein notorischer Schürzenjäger jemals änderte. Jedenfalls noch nicht in dem Alter. Karel war nämlich erst Anfang dreißig.
Na gut, kaum sonderlich jünger als er. Pascal hatte im Januar seinen 35. Geburtstag gefeiert, wenn man das steife Kaffeetrinken bei seinen Eltern so nennen konnte. Die beiden standen mit Ansgar auf Kriegsfuß. Er war die ganze Zeit damit beschäftigt gewesen, die Situation unter Kontrolle zu halten, anstatt seinen Ehrentag zu genießen.
„Du schläfst ja schon fast“, neckte Ansgar ihn liebevoll und wuschelte ihm durchs Haar. „Ich bin auch müde. Lass uns ins Bett gehen.“
Am Samstag trennten sich ihre Wege nach dem Frühstück. Ansgar fuhr nach Hause, um zu waschen und was man sonst noch so erst am Wochenende erledigt bekam. Pascal musste ebenfalls dringend seinen Haushalt erledigen. Draußen herrschte eh Schmuddelwetter, daher machte es ihm nichts aus, in seinen eigenen vier Wänden zu bleiben. Den nötigen Einkauf gestaltete er dementsprechend kurz.
Am frühen Nachmittag war alles erledigt. Er telefonierte mit Ansgar, der vorschlug, nach einem gemeinsamen Abendessen ins Kino zu gehen. Es lief ein Drama, das man unbedingt gesehen haben musste. Pascal hätte lieber etwas anderes angeschaut, sagte aber zu. Er war ja schon froh, wenn sie überhaupt mal etwas unternahmen.
Entspannt lehnte er sich auf der Couch zurück, sein Notebook auf den Knien, und recherchierte, wovon der Film handelte. Der Plot gefiel ihm gut, auch wenn er traurige Enden hasste. Anschließend surfte er ziellos ein bisschen herum, bis er, einer Eingebung folgend, den Namen von Markus’ Betrieb ins Suchfenster tippte. Eine professionelle Homepage klappte auf. Neugierig klickte er durch sämtliche Spalten, landete schließlich bei den Kontaktinformationen und fand dort eine Notfallnummer.
Unschlüssig zupfte er sich an der Unterlippe. Durfte er Markus anrufen oder wäre das zu aufdringlich? Nach einigem Hin-und-her-Überlegen schnappte er sich sein Smartphone, tippte die Nummer ein und drückte aufs grüne Symbol.
Sofort sprang die Mailbox an: „Sie sind verbunden mit …“ Eine blecherne Stimme ratterte die Telefonnummer herunter. „Leider kann Ihr Anruf derzeit nicht entgegengenommen werden. Bitte hinterlassen Sie nach dem Signalton eine Nachricht.“
Er wartete, bis ein durchdringendes Piepen ertönte, und legte los: „Hi, hier ist Pascal. Du weißt schon, der vom Recyclinghof. Wollte nur fragen, wie’s dir so geht. Melde dich doch mal, bitte.“
Kaum hatte er aufgelegt, schlug er sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. Wie – bitte schön – sollte sich Markus ohne seine Telefonnummer melden? Erneut wählte er und sprach sie nach dem Piepton aufs Band. Anschließend warf er das Smartphone zurück auf den Couchtisch und öffnete ein Online-Spiel.
Pascal war so vertieft in sein Tun, dass er zusammenzuckte, als das Gerät irgendwann zu vibrieren anfing. Mit zitternden Fingern griff er danach und nahm das Gespräch an. „Ja?“
„Hier ist Markus. Das ist aber lieb, dass du angerufen hast.“
„Muss ich mir Sorgen machen oder ist alles in Ordnung?“
„Geht so. Karel war vorhin hier und hat einen Riesenaufstand veranstaltet.“
„Soll ich vorbeikommen?“, bot Pascal spontan an.
„Das wäre schön, aber du hast doch bestimmt was anderes vor.“
Ansgar war garantiert nicht begeistert, wenn er absagte, aber hier ging es um Vordringlicheres als die Laune seines Partners. „Ist nicht so schlimm. Gib mir mal deine Privatadresse.“
Markus nannte Straßennamen und Hausnummer.
„Okay. Ich melde mich gleich noch mal. Ciao.“ Er beendete die Verbindung und rief, bevor ihn sein Mut verlassen konnte, Ansgar an, der nach dem zweiten Rufton ranging.
„Hi. Hast du was vergessen?“
„Das heute Abend … mir ist etwas dazwischengekommen.“
Stille, dann räusperte sich Ansgar umständlich. „Etwas dazwischengekommen? Geht’s genauer?“
Die scharfe Tonlage verursachte ihm einen Anflug von Magenschmerzen. „Ich muss einem Freund helfen, dem es nicht gut geht.“
„So, so. Kenne ich diesen Freund?“ Das letzte Wort betonte Ansgar auf widerlich zweideutige Weise.
„Nein. Es ist jemand von der Arbeit.“
„Tja. Da kann man wohl nichts machen. Viel Spaß!“ Grußlos legte Ansgar auf.
Einerseits dankbar, wie relativ einfach die Sache abgelaufen war, andererseits alarmiert, mit seinem Handeln etwas Unangenehmes ins Rollen gebracht zu haben, beendete er ebenfalls die Verbindung.
Markus war heilfroh über das Hilfsangebot. Ehrlich gesagt fühlte er sich hundeelend und hatte schon überlegt, ob er sich sinnlos besaufen sollte. Als sein Smartphone Pascals Rückruf ankündigte, schnappte er sich das Gerät und presste es ans Ohr.
„Und?“
„Ich mach mich auf den Weg. Ist ja nicht weit. Bis gleich.“
„Ja, bis gleich.“ Er ließ die Hand sinken.
Eigentlich ganz schön armselig, dass er auf das Mitleid eines eigentlich Wildfremden angewiesen war. Leider hatte er seine Freunde seit Langem vernachlässigt und konnte sich schlecht mit solcher Hiobsbotschaft bei einem von ihnen zurückmelden. Die meisten würden ohnehin mit einem ‚Hab ich’s nicht gleich gesagt?‘ auf die Nachricht reagieren. Etwas, was er momentan überhaupt nicht vertrug.
Er liebte Karel trotz allem. Das war ja das Fatale. Der muskulöse und ausnehmend hübsche Mann hatte damals sein Herz im Sturm erobert. Wahrscheinlich vermochte er einfach besser zu gucken als zu denken, das war wohl des Rätsels Lösung, wieso er nicht von Karel loskam. Obwohl … auch charakterlich – bis auf die Promiskuität – gefiel ihm der Mistkerl. Sie besaßen den gleichen Humor, konnten zusammen schweigen und der Sex – ohne Worte!
Schwermütig seufzend rührte er in dem Kräutertee, den er sich nach Karels tränenreichem Auftritt zur Beruhigung aufgebrüht hatte. Es war ein Kampf gewesen, seinem Ex den Schlüssel zu seiner Wohnung abzunehmen. Letztendlich hatte Karel das Teil auf den Boden gepfeffert und war wutschnaubend zur Tür hinaus marschiert.
Das Läuten der Türglocke ließ ihn abermals seufzen, diesmal vor Erleichterung. Er sprang auf, lief in den Flur, drückte den Knopf für die Zentralschließanlage und öffnete im gleichen Zug die Wohnungstür. Sohlen scharrten über die Fliesen im Erdgeschoss, dann eilten Schritte die Stufen ins Hochparterre empor. Pascals brauner Schopf geriet in sein Sichtfeld, dessen breiten Schultern und die besorgte Miene.
Eine gewisse Ähnlichkeit mit Karel bestand und hätten sie sich eher getroffen … Ach, sinnlose Gedankenspiele, außerdem war Pascal in festen Händen.
„Hi. Hatte Glück. Direkt vor dem Haus war eine Parklücke frei. Ansonsten ist ja alles zugeparkt.“ Pascal folgte seiner einladenden Handbewegung, ging an ihm vorbei in den Flur und stoppte vor der Garderobe. „Trotzdem eine nette Gegend.“
„Möchtest du auch einen Kräutertee? Oder lieber was anderes?“
„Tee klingt gut“, erwiderte Pascal, streifte die Jacke ab, drapierte sie auf einen Bügel und folgte ihm in die Küche. „Schön hast du es hier.“
Markus hatte lange nach einer erschwinglichen zentralen Immobilie gemäß seinen Wünschen gesucht. Die Altbauwohnung entsprach in vielerlei Hinsicht seinen Anforderungen, bis auf die maroden Elektro- und Sanitärinstallationen. Letztere hatte er bereits saniert, das andere sollte im Sommer drankommen.
Er stellte den Wasserkocher an und holte einen Becher sowie Tee aus einem der Oberschränke. „Danke. Ich hoffe, du hast dir keinen allzu großen Ärger eingehandelt. Ich meine mit deinem Freund.“
Pascal zuckte die Achseln. „Ansgar wird’s schon verkraften.“
„Was hattet ihr denn vor?“
„Essen gehen und anschließend ins Kino, ein Drama gucken.“
„Ist das Leben nicht dramatisch genug? Ich schaue mir lieber was Lustiges an.“
„Ich eigentlich auch. Ansgar mag aber keine Komödien.“
Das Wasser kochte mittlerweile. Markus goss es über den Teebeutel, den er zwischenzeitlich in den Becher gehängt hatte. „Brauchst du Zucker?“
„Nö.“
„Lass uns ins Wohnzimmer gehen.“ Er trug den Teebecher voran und nahm wieder auf der Couch Platz, Pascal im Sessel gegenüber. „Kommt ihr gut klar, du und dein Freund?“
„Einigermaßen. Wir sind eben verschieden, aber Gegensätze ziehen sich ja bekanntlich an.“
„Anscheinend. Karel ist auch ganz anders als ich. Viel lebenslustiger. Darum liebe ich ihn ja immer noch, obwohl er mir das Herz gebrochen hat.“
„Treulosigkeit ist kein Ausdruck für Lebenslust, sondern Unreife“, wandte Pascal ein.
„Wahrscheinlich hast du Recht. Ach, darüber zu diskutieren ändert eh nichts. Lass uns über was anderes reden.“
„Okay.“ Pascal zog den Becher, den er auf dem Couchtisch abgestellt hatte, heran und nippte vorsichtig daran, während der Blick zum Regal unterm Flatscreen wanderte. „Du hast ja ganz schön viele DVDs.“
„Eine Marotte. Heutzutage kann man ja alles im Internet runterladen.“
„Sehe ich richtig? Du bist Monty Python Fan?“
„Zugegeben. Das Zeug findet selbst Karel zu albern, um es sich anzugucken.“
„Frag mal, was Ansgar dazu zu sagen hat.“ Pascal verdrehte die Augen und zitierte in gesenkter Tonlage: „Wie kann man sich bloß so einen Müll ansehen?“
Es entspann sich eine Unterhaltung über ihre Lieblingsfilme. Abwechselnd bewarfen sie einander mit Filmzitaten, wie ‚Zur Kreuzigung links, jeder nur ein Kreuz, bitte‘. Die Zeit verrann im Nu. Ein Magenknurren erinnerte Markus schließlich daran, seit dem Frühstück an Appetitlosigkeit gelitten zu haben. Danach war Karel aufgekreuzt. Mittlerweile herrschte draußen Dunkelheit und in seinem Magen gähnende Leere.
„Darf ich dich zum Essen einladen? Beim dem Griechen gegenüber gibt’s total leckeres Gyros.“
„Okay. Obwohl es mich schmerzt, einen armen Handwerker zu schröpfen“, gab Pascal feixend zurück.
Beim Essen drehte sich ihr Gespräch erst weiter um Filme, dann um Urlaubsreisen und Ländern, die sie gern noch sehen würden. Eine Flasche Rotwein, die sie sich teilten, sowie der Ouzo, der zusammen mit der Speisekarte gebracht worden war, sorgte für zunehmend lockerere Zungen. Sie erzählten einander Anekdoten aus ihrer Jugend, lachten und zogen sich gegenseitig mit den Erlebnissen auf.
Als sie das Lokal verließen, fühlte sich Markus ungewohnt beschwingt. Zusammen mit der Rechnung hatte der Kellner zwei weitere Ouzos serviert. Vermutlich hätte er das Zeug besser nicht getrunken, denn sein Verstand war ziemlich benebelt.
„Ich sollte mir wohl ein Taxi rufen“, meinte Pascal, der an seiner Seite zur nächsten Ampel ging.
„Besser ist das.“
„Oder trinken wir bei dir noch einen Kaffee? Danach bin ich vielleicht nüchtern genug, um nach Hause zu fahren.“
„Das können wir gern tun, aber hinters Steuer setzt du dich heute bitte nicht mehr.“
„Jawohl, Papa.“
„Blödmann.“ Er streckte Pascal die Zunge heraus.
Sie erreichten die Ampel, warteten auf Grün und wechselten auf die andere Straßenseite. Von dort waren es nur wenige Schritte bis zum Hauseingang. Markus schloss auf, ließ Pascal den Vortritt und folgte ihm die Stufen hinauf. Dabei befand sich das perfekt geformte Hinterteil in der abgewetzten Jeans direkt vor seinen Augen. Er wäre ein Heiliger, hätte er darauf nicht mit einer beginnenden Erektion reagiert.
Im Hochparterre angekommen öffnete er die Wohnungstür und bat erneut Pascal mit einer Geste, als Erster einzutreten. „Mach’s dir schon mal im Wohnzimmer gemütlich. Ich kümmere mich um den Kaffee.“
Sein Gast schlüpfte aus der Jacke. „Darf ich mal dein Klo benutzen?“
„Klar. Nächste Tür links.“
„Danke.“ Pascal ging ins Bad und er, nachdem er ebenfalls seine Winterjacke an die Garderobe gehängt hatte, in die Küche.
Während er den Kaffeeautomaten in Betrieb setzte, kehrte in seiner Jeans wieder Ruhe ein. Er kam sich vor wie ein mieses Schwein, auf Pascals Reize derart anzusprechen. Schließlich war der Mann bloß aus selbstlosen Motiven hier, dazu noch vergeben.
Markus holte die benutzten Becher aus dem Wohnzimmer, stellte sie in die Spülmaschine und nahm neue aus dem Schrank. Anschließend schnupperte er kritisch an der geöffneten Milchtüte, die seit wann-auch-immer in seinem Kühlschrank stand. Er trank seinen Kaffee schwarz, nur Karel bevorzugte die verdünnte Variante. Anscheinend war das Zeug noch gut, denn er konnte keine säuerliche Note riechen.
Als er Milch und Becher ins Wohnzimmer brachte, hockte Pascal vor seiner DVD-Sammlung und studierte die Titel. „Möchtest du zum Kaffee ein bisschen Klamauk gucken?“
„Wenn du nichts dagegen hast.“
„Natürlich nicht. Such dir was aus.“ Er ging zurück in die Küche, kehrte mit der Thermoskanne zurück und schenkte Kaffee in ihre Becher.
Unterdessen hatte Pascal eine Auswahl Filme aus dem Regal gezogen und präsentierte ihm nacheinander die Hüllen. Markus schnappte sich die letzte, klappte sie auf und legte die DVD in den Player.
Kurz darauf saßen sie nebeneinander auf der Couch. Über die Mattscheibe flimmerte der Vorspann und aus den Boxen dröhnte Filmmusik. Pascal lehnte sich entspannt zurück, die langen Beine ausgestreckt, den Kaffeebecher in den Händen und vollkommen auf den Bildschirm konzentriert.
Aus dem Augenwinkel betrachtete Markus’ das maskuline Profil. Es war kantiger als Karels, dafür die Wimpern länger und die Lippen wiesen einen sensiblen Schwung auf. Die von seinem Ex wirkten dagegen plump. Innerlich über sich selbst den Kopf schüttelnd, wandte er seine Aufmerksamkeit auf die Glotze. Was sollten diese Vergleiche?
Obwohl er den Inhalt kannte, schaffte es der Film, ihn einigermaßen zu fesseln. Pascal lachte an den gleichen Stellen wie er, was dazu beitrug, sich immer behaglicher zu fühlen. Ebenso die Promille in seinem Blutkreislauf, die sich vom Koffein nicht beeindrucken ließen.
In einem dieser Momente, in dem sie sich gemeinsam über etwas amüsierten, geschah es. Ein Blick aus blauen Augen traf ihn bis ins Mark. Langsam kamen sie näher, bis sie verschwammen, bis Pascals Mund seinen berührte. Danach versank alles in einem Rausch aus sinnlichen Liebkosungen und aufkeimender Lust.
Als sein Verstand wieder einsetzte, lag er mit offener Jeans auf Pascals breiter Brust. Irgendwie waren sie in die Waagerechte gerutscht, nachdem sie sich gegenseitig einen runtergeholt hatten.
Scham regte sich in Markus. Er hatte Pascals Gutmütigkeit ausgenutzt und mochte sich gar nicht vorstellen, was der nun von ihm dachte. Noch weniger, was sich sonst alles in seinem Gast abspielte. Schließlich hatten sie etwas getan, was sie beide verdammten: Fremdgehen. Er, weil sein Herz Karel gehörte, und Pascal steckte in einer Beziehung.
„Ich ruf mir mal ein Taxi“, murmelte Pascal, befreite sich vorsichtig von seinem Gewicht und wandte ihm den Rücken zu.
Mit gesenktem Blick wischte Markus seine Finger in dem ohnehin bekleckerten Sweatshirt ab und schloss die Knöpfe seiner Hose. An Pascals Bewegungen erkannte er, dass jener ebenfalls die Kleidung in Ordnung brachte. Anschließend stand sein Gast auf, zückte ein Smartphone und verdrückte sich in den Flur.
Der Film war inzwischen fast zu Ende. Er schnappte sich die Fernbedienung, schaltete die Glotze aus und hörte, wie Pascal seine Adresse durchgab.
„Okay. Ich warte vorm Haus“, vernahm er gleich darauf.
Stoff raschelte, dann spähte Pascal in den Raum. „Danke für das schöne Essen und … na ja, für alles. Tschüss.“
Leise fiel die Wohnungstür ins Schloss. Sein Zuhause, eben noch warm und heimelig, kühlte schlagartig um einige Grad Celsius ab. Markus starrte ins Leere und begriff nicht, was gerade vorging. Er sollte erleichtert sein, doch stattdessen fühlte er sich um etwas Wunderbares beraubt. Langsam sickerte in seinen Verstand, was im Laufe des Abends geschehen war: Sein Herz hatte sich Pascal zugewandt. Na, großartig! So etwas nannte sich wohl vom Regen in die Traufe kommen.
Betrübt brachte er Becher, Milch und Thermoskanne in die Küche. Die Flasche Jack Daniels, die auf der Arbeitsfläche stand und ihm bereits vor Pascals Anruf vertraulich zugezwinkert hatte, tat es erneut. Diesmal erlag er der Aufforderung. Mit seinem neuen Kumpel verzog er sich auf die Couch und wärmte sein Inneres mit Hochprozentigem, bis er betrunken wegduselte.
Trübsinnig sah Pascal durch die Seitenscheibe erleuchtete Fenster vorbeihuschen. Es zog ihn so wenig nach Hause, wie an den Nordpol. Am liebsten hätte er dem Taxifahrer gebeten umzukehren, aber wozu? Schließlich war Markus immer noch in diesen Karel verliebt.
Wie hatte ihr Rumgemache auf der Couch bloß passieren können? Von einem Moment auf den nächsten war bei ihm eine Sicherung durchgeknallt. Allerdings hatte sich Markus null gewehrt, sogar im Gegenteil aktiv mitgemacht. Warum eigentlich? Um sich an Karel zu rächen? Oh Mann! Natürlich! Wieso war er nicht gleich darauf gekommen?
Seine Laune sank endgültig in den Keller. Als er sein Smartphone hervorholte, um die verpassten Nachrichten abzurufen, sackte sie weitere Stockwerke tiefer.
Ansgar hatte eine SMS geschickt: „Melde dich doch bitte, wenn du mit der Trösterei fertig bist. A.“
Mit seinem Partner zu telefonieren stand auf seinem Wunschzettel derzeit ganz unten. Die Nachricht war vor einer Stunde eingegangen. Er hatte das Gerät auf stumm gestellt, um nicht gestört zu werden. Wohl oder übel musste er Ansgars Bitte folgen, wenn er sich keinen Anschiss einfangen wollte.
Bevor er dazu kam zurückzurufen, hielt das Taxi am Bordstein und das Licht über der Mittelkonsole flammte auf. Der Fahrer wandte sich zu ihm.
„Macht vierzehn Euro.“
Er zahlte, stieg aus und trottete aufs Haus zu. In seiner Wohnung angekommen, streifte er Schuhe und Jacke ab und ließ sich im Wohnzimmer auf die Couch plumpsen. Während er Ansgars Nummer wählte, stieg sein Puls an und in seinem Magen sammelten sich Steine. Ihm war klar geworden, dass ihm ein unerfreuliches Gespräch bevorstand, denn er konnte ihre Beziehung unter den gegebenen Umständen nicht aufrechterhalten. So lange es niemanden gegeben hatte, der tiefere Gefühle in ihm weckte, war die Sache mit Ansgar okay gewesen. Nun aber gab es Markus …
„Da bist du ja endlich. Wie sieht’s aus? Kommst du vorbei?“, fiel Ansgar gleich mit der Tür ins Haus.
„Nein. Ich bin müde.“ ‚Feigling‘, flüsterte eine Stimme in seinem Kopf.
„Es ist doch erst elf. Oder soll ich zu dir kommen?“
„Ähm. Nein. Ich … ich fürchte, das mit uns hat keinen Sinn mehr.“
„Hängt das mit diesem Arbeitskollegen zusammen?“, verlangte Ansgar zu wissen.
„Indirekt. Ja, ich mag ihn sehr, aber er ist anderweitig gebunden.“
„Tja, was soll ich sagen? Irgendwie hab ich es geahnt. Tut mir leid, aber ich kann dir im Moment nicht alles Gute wünschen. Dazu bin ich zu …“ Ein Schniefen drang aus dem Gerät. „Zu traurig.“
Die Verbindung wurde beendet. Erschüttert darüber, dass Ansgar eine verletzliche Seite besaß, glotzte Pascal ein Weilchen das schwarze Display an. Da war man fast zwei Jahre zusammen und erst am Ende bekam er mal einen Einblick in das Gefühlsleben seines Partners. ‚Ex-Partners‘, korrigierte er sich in Gedanken.
Nun war er also wieder allein. Er begriff, dass er im Grunde schon lange diesen Schritt hätte tun sollen und bloß aus Angst gekniffen hatte. Sonderlich helfen tat das momentan nicht, aber die Augen weiter davor zu verschließen war ebenfalls keine Option.
Nach einer schrecklichen Nacht, immer wieder von Albträumen und langen Wachphasen heimgesucht, schlurfte er in die Küche. Beim ersten Kaffee fiel ihm ein, dass sein Wagen noch vor Markus’ Wohnhaus stand. Abschätzend guckte er aus dem Fenster. Der Himmel war zwar bewölkt, doch vereinzelt blitzte etwas blau hervor, außerdem regnete es nicht. Bis zu Markus dauerte es zu Fuß schätzungsweise eine halbe Stunde. Also eine gute Gelegenheit, seinen Kopf bei einem ausgedehnten Spaziergang durchpusten zu lassen.
Pascal duschte, zwang zwei Scheiben Toast runter und machte sich auf den Weg; die Wollmütze tief in die Stirn gezogen, seine Hände in den Jackentaschen vergraben. Ein Hauch von Frühling hing in der Luft, vereinzelt brach Grün aus der Erde hervor. Dafür hatte er jedoch keinen Blick übrig. In seinem Inneren herrschte Ödnis, die selbst die Vorboten des nahenden Frühjahrs nicht aufhellen konnten.
Rund fünfzig Minuten später – er hatte getrödelt – erreichte er seinen Wagen. Die Erinnerung an den schönen Abend mit Markus trieb ihm wehmütige Tränen in die Augen. Er guckte an dem Gebäude hoch und schaffte es nicht, einzusteigen und einfach wegzufahren. Zumindest ein paar Worte musste er unbedingt vorher mit Markus wechseln … rausfinden, ob er mit seinem bösen Verdacht richtig lag.
Auf sein Läuten hin geschah nichts. Markus’ Caddy stand in der Seitenstraße, das hatte er eben gesehen. Erneut drückte er auf den Klingelknopf, diesmal mehrmals hintereinander. Endlich knackte die Gegensprechanlage.
„Ja?“, drang blechern an sein Ohr.
„Ich bin’s, Pascal. Kann ich kurz raufkommen?“
„Keine gute Idee. Ich stinke wie ein Schnapsladen.“
„Mir egal. Bitte!“
Der Türöffner summte. Er ging ins Treppenhaus und stieg die Stufen hinauf, wobei sein Herzschlag einen schnellen Takt aufnahm, als hätte er sich bei einem Sprint völlig verausgabt.
Markus stand im Bademantel in der offenen Tür, die Arme vor der Brust verschränkt und offensichtlich frisch geduscht, da die Haare nass an Schläfen und Stirn klebten. „Was kann ich für dich tun?“
„Warum hast du … Ähm, können wir das drinnen besprechen?“
„Okay, aber fass dich kurz“, brummelte Markus, trat beiseite und schloss die Tür hinter ihm.
Es roch wirklich streng in der Bude. Anscheinend hatte Markus nach seinem Abflug einiges an Hochprozentigem vernichtet, was seinen Verdacht erhärtete.
„Wieso hast du mich gestern nicht aufgehalten? Ich meine, wie kannst du mit mir rummachen, wo du doch … oder war es eine Art Racheakt und ich nur das Werkzeug?“, polterte es aus ihm hervor.
„Wie kannst du so was von mir denken? Hältst du mich etwa für ein gewissenloses Arschloch?“
Völlig aus dem Konzept gebracht, fehlten ihm erst mal die Worte.
Offenbar interpretierte Markus das falsch, setzte eine gekränkte Miene auf und wies zur Tür. „Raus! Sofort!“
„Ich möchte doch nur verstehen …“ „Raus!“, fuhr Markus ihm dazwischen, griff nach seinem Arm und versuchte ihn in die gewünschte Richtung zu bugsieren.
Sowohl kräftetechnisch als auch bekleidungsmäßig war er Markus überlegen. Er bewegte sich kein Stück von der Stelle, dafür aber dessen Bademantelgürtel. Plötzlich klaffte der Frotteestoff auseinander und gab nackte Haut preis. Sofort ließ Markus ihn los, um die Blöße zu bedecken.
Diese Pause nutzte er für einen weiteren Vorstoß: „Ich wollte dich nicht verletzen. Tut mir leid. Ich möchte nur gerne begreifen, warum es passiert ist, um es besser verarbeiten zu können.“
„Verarbeiten? Was gibt es denn – bitte schön – an einem gegenseitigen Gefallen zu verarbeiten?“, höhnte Markus, mittlerweile wieder manierlich bedeckt und in Abwehrhaltung.
„Für mich war’s kein gegenseitiger Gefallen. Ach, scheiß drauf. Hat doch eh keinen Sinn.“ Er ließ den Kopf hängen, ging zur Tür und legte seine Hand auf die Klinke. „Ach ja, nur damit du es weißt: Zwischen Ansgar und mir ist es aus.“
Als er die Wohnungstür öffnete, wehte ihm kalte Luft entgegen. Sein Herz krampfte sich schmerzhaft zusammen. Entgegen jeder Vernunft hatte er gehofft, dass es doch eine Chance gab.
„Wieso das denn?“, hielt Markus ihn auf.
„Ich hab mich verliebt. Damit war unsere Art Zweckgemeinschaft hinfällig.“
Stille in seinem Rücken. Obwohl er sich dafür hasste, keimte erneut Hoffnung auf. Schließlich wagte er einen Blick über die Schulter. Aus aufgerissenen Augen sah Markus ihn an, beide Hände auf die linke Brusthälfte gepresst.
Alarmiert, da er befürchtete, der Alkoholexzess könnte einen Herzkasper ausgelöst haben, drehte er sich um und fischte sein Smartphone aus der Hosentasche. „Was ist? Soll ich einen Arzt rufen?“
„Bist du …“, stieß Markus hervor, fuhr sich fahrig mit der Zunge über die Lippen und setzte neu an: „Bist du in mich …? Oder in einen anderen?“
„Verliebt? Tja, dummerweise in dich.“ Betont gelassen zuckte er mit den Achseln. „Schlechtes Timing.“
Markus’ einer Mundwinkel zuckte hoch, gefolgt von dem zweiten, und Hände streckten sich ihm entgegen. „Könntest du mich bitte in den Arm nehmen?“
„Aber … was ist mit diesem Karel?“
„Du hast gestern mein Herz recycelt. Nun ist es wieder heil und gehört dir.“
Der Spruch entlockte ihm ein Lächeln. Mit der Ferse kickte er die Tür ins Schloss und riss Markus in seine Arme.
„Bitte, küss mich nicht. Ich stinke.“
Er tat es dennoch. Es stimmte schon: Markus stank aus dem Hals wie eine Spritdrossel, dennoch war es der schönste Kuss seines Lebens. Außerdem roch der Rest verdammt gut und fühlte sich unter seinen Fingerspitzen noch besser an.
„Hey!“, schimpfte Markus zwar leise, ließ aber weiterhin zu, dass seine Hände unter dem Bademantel auf Erkundungstour gingen.
Seine Sehnsucht brach mit aller Macht durch. Viel zu lange hatte er auf echte Gefühle, auf dieses Kribbeln in seinem Bauch verzichten müssen. Unter Küssen dirigierte er Markus tiefer in die Wohnung und stieß mit dem Fuß eine angelehnte Tür gegenüber dem Bad auf, hinter der er ein Bett vermutete. Richtig gedacht. Aus dem Augenwinkel entdeckte er eine breite Schlafstatt.
Irgendwie wurde er seine Klamotten los und landete mit Markus, in einem Knäuel aus Armen und Beinen, auf dem Bett. Gelegentlich unterbrachen sie ihre Knutscherei, um Atem zu schöpfen und einander verliebten Unsinn zuzuflüstern. Auf diese Weise sowie mit ihren neugierigen Händen machten sie sich gegenseitig immer schärfer, bis der Siedepunkt fast erreicht war. Gleichzeitig packten sie fester zu und begannen das Ziel anzuvisieren.
Diesmal kamen sie von Angesicht zu Angesicht. Markus’ lustverschleierten Blick zu sehen, die in Ekstase angespannte Miene, löste in ihm einen Glückstaumel aus. Sein Orgasmus geriet zur Nebensache – allerdings zu einer sehr schönen.
Atemlos schmiegte sich Markus anschließend an ihn und schnurrte: „Mhm … mehr davon.“
Ebenfalls aus der Puste, hauchte er einen Kuss auf Markus’ Nasenspitze. „So viel du willst. Lass mich nur kurz ausruhen, dann machen wir weiter.“
„Ich liege übrigens gern unten.“
Als hätte sein Schwanz das gehört, begann sich unten erneut Härte zu materialisieren. Was Schmetterlinge im Bauch doch so ausrichten konnten. Da wuchs man doch glatt über sich hinaus.
ENDE
Keiner konnte sagen, dass er nicht der King wäre. Er sah gut aus, war unter den Mitschülern beliebt, hatte einen wachen Verstand, den er, zugegebenermaßen, nützlicher einsetzen könnte, wie die Lehrer zu sagen pflegten. Sein Charme bewirkte Ohnmachtsanfälle bei den Mädchen und selbst gestandene Lehrerinnen schauten ihm manchmal gedankenverloren hinterher. Die Nerds hassten ihn, die Jungen bewunderten ihn und die Schüler der unteren Jahrgänge beteten den Boden unter seinen Füßen an. Er war eindeutig der King!
So stolzierte Ray einmal mehr über den Schulhof, im Schlepptau die besten Freunde. Sie überschlugen sich ihm Zigaretten anzubieten, Feuer zu geben. Jeder wollte ein klein wenig von Rays Glanz abhaben. Als sie an einer Gruppe kichernder Mädchen vorbeikamen, griff sich Ray wahllos eine von ihnen heraus, legte seine starken Arme um sie und schenkte ihr einen Teil seiner Aufmerksamkeit, bis er sie wieder, mit einem flüchtigen Kuss, zu ihrer Gruppe entließ.
Von der anderen Seite des Schulhofes, halb im Schatten einer Platane verborgen, beobachtete Oliver Rays Hofstaat. Er neidete den Mitschülern den Kontakt, den er sich so sehr wünschte. Ray, der King! Er hasste ihn dafür, ein Angeber, ein Miststück, so schön und begehrenswert zu sein. Mit seinem Außenseiterdasein hatte sich Oliver schon lange abgefunden, mit der Erkenntnis, nicht so zu sein wie die anderen gleichaltrigen Jungs, weniger. Und dann verguckte er sich auch noch ausgerechnet in den King. Wenn es ein beispielhaftes Exemplar eines Heteros gab, dann wohl Ray.
Endlich wandte Oliver seinen Blick von dem Jungen, den er nicht haben konnte, ab. Mit gesenktem Kopf, die Hände in den Hosentaschen, ging er ins Schulgebäude zurück. Noch eine Woche, dann war die Schulzeit zu Ende. Er würde Ray niemals mehr aus der Ferne bewundern können, niemals mehr seine Stimme hören. Es würde ihn aber auch niemals mehr sein Sarkasmus treffen, die Verachtung, die er für jeden Außenseiter übrig hatte. Andere Schüler strebten gleichfalls dem Eingang zu, rempelten ihn an, schubsten ihn weg. Gerüchte verbreiteten sich schnell. Dass er schwul war, ging wie ein Lauffeuer um. Noch eine Woche, dann war er hier weg und erlöst.
Oliver hörte Rays Stimme hinter sich. Dieser war mit seinen Begleitern nur noch wenige Meter entfernt. Mädchen überholten die Gruppe lachend und ignorierten Oliver, während sie noch einmal zurückschauten. „Gott, der ist so süß!“, hörte er sie schwärmen.
Oliver spürte den beschleunigten Herzschlag. Seine Nackenhaare stellten sich auf und ein wohliger Schauer lief über seinen Rücken. Rays Nähe hatte immer diese Wirkung auf ihn. Dann war der King genau auf seiner Höhe, drängte sich in der Enge des Flurs an ihm vorbei. Olivers Finger streckten sich ein wenig, gerade genug, um Ray, als der ihn überholte, zu berühren. Eine flüchtige Geste, nicht mehr als die Fingerspitze, die den Stoff der Hose streifte, aber für Oliver war es ein kleiner stiller Sieg. Schon mehrfach hatte er sich die eine oder andere Berührung erschlichen. Mehr blieb ihm nicht von seinen farbigen Tagträumen. War das Liebe? Nicht zum ersten Mal stellte sich Oliver diese Frage.
Er ließ sich absichtlich zurückfallen, um den kostbaren Moment so lange wie möglich nachwirken zu lassen. Vor ihm leerte sich der Flur und auch Ray war mit seinem Gefolge bereits in einen der Klassenräume verschwunden. Nachzügler überholten Oliver, bis der sich endlich zusammenriss und seinen Unterrichtsraum aufsuchte.
In der hintersten Reihe ließ er sich nieder, schaute zum Fenster hinaus und träumte. Was würde ihn da draußen erwarten? Mit seinem Abschlusszeugnis war es leicht gewesen, einen Studienplatz zu bekommen. Kunst sollte es sein. Keiner würde ihn dort kennen und er wäre dieses verdammte Getuschel los. Doch davor gab es noch den großen Abschlussball. Wenn seine Mitschüler nicht gerade über Ray schwärmten, dann vom Abschlussball. Es hieß, bisher hätte nahezu jedes Mädchen Ray gefragt, ob er mit ihr dort hinginge. Ray ließ sich mit der Antwort Zeit. Es wurde sogar gewettet, welche Auserwählte die ungekrönte Ballkönigin sein würde. Oliver interessierte es nicht. Den Abschlussball hatte er für sich gestrichen. Seine einzige Verpflichtung war es, zum Festakt der Zeugnisverleihung aufzuschlagen, seine Papiere in die Hand zu nehmen und anschließend so unauffällig wie möglich zu verschwinden.
Es gäbe nur einen einzigen Grund für Oliver, das Fest zu besuchen: Wenn Ray mit ihm dort hinginge. Er stellte sich eine Szene wie in seiner Lieblingsserie Queer as Folk vor. Während er verstoßen von allen am Rande der Tanzfläche stand, ignoriert und verspottet, würde Ray in den Raum kommen, und wie einst Moses das Meer teilte, würde er die Tanzpaare trennen, die ihm eine Gasse frei machten. Die Jungen nickten neidvoll, aber anerkennend dem King zu, die Mädchen schauten erwartungsvoll und mit strahlendem Lächeln Ray entgegen, in der Hoffnung, die Auserwählte zu sein.
Doch er ignorierte sie alle.
Ray überquerte die Tanzfläche und blieb zum Erstaunen der Anwesenden vor ihm, Oliver, stehen. Und sie würden tanzen, als einziges Paar, während die anderen entgeistert zuschauten.
Oliver lächelte bei dem Gedanken. Jedes Mädchen, an dem sie vorbeitanzten, fiel in Ohnmacht und die Jungs hatten damit zu tun, sie aufzufangen. Dann verließen sie gemeinsam das Fest. Was für ein grandioser Abgang wäre das für ihn!
Tagträume, Nachtgespinste, elende Ersatzbefriedigung unerfüllter Wünsche.
Oliver wischte sich die Augen. Nach der Schulzeit sollte alles anders werden, denn er würde Ray nie wiedersehen.
Während des Kunststudiums entdeckte Oliver seine Liebe zur Fotografie. Er spezialisierte sich darauf und eröffnete nach dem Abschluss ein eigenes Studio. Um sich der Kunstfotografie widmen zu können, musste er auch kommerzielle Aufträge annehmen, um damit seine Kunst zu finanzieren. Er lichtete Familien ab, Verlobungspartys, Trauerfeiern, verliebte Paare und machte Bilder für Geschäftskunden.
Eines Tages kam ein neuer Kunde ins Studio. Oliver trat aus dem hinteren Bereich seines Studios und auf den Mann zu, der ihm den Rücken zugekehrt hatte. Der Kunde begutachtete die gerahmten Fotos an der Wand. Oliver wusste sofort, wer vor ihm stand. Die Erscheinung hatte sich seit der Schulzeit in ihn eingebrannt. Jedes noch so kleine Detail war ihm vertraut. Da stand Ray, der King. Sein Körper reagierte darauf, als hätte es die letzten acht Jahre nicht gegeben. Das Kribbeln auf der Haut, der erhöhte Herzschlag: Alles war wieder da. Instinktiv wollte er ihn erneut heimlich berühren, wie in der Schule. Inzwischen war Oliver jedoch erwachsen geworden und hatte gelernt, seine Gefühle hinter einer professionellen Maske zu verbergen. Trotzdem kratzte seine Stimme, als er den Kunden auf sich aufmerksam machte: „Hallo Ray!“
Ray schaute sich um, betrachtete ihn einen Moment, als müsste er sich an das Gesicht erinnern.
„Hallo Oliver. Ich wusste nicht, dass dir dieses Studio gehört. Schön dich zu sehen“, fügte er mit ehrlicher Freude hinzu.
Er reichte Oliver die Hand, der fast nicht eingeschlagen hätte, so sehr war er noch in seinen Erinnerungen gefangen. Doch dann fasste er sich wieder, erwiderte Rays Handschlag und deutete zur Sitzecke.
„Was kann ich für dich tun?“, fragte er, ganz der erfahrene Geschäftsmann.
„Hochzeitsbilder. Wir feiern ganz groß auf dem Land in einer Scheune und suchen einen Fotografen, der die Sache vernünftig dokumentieren kann. Ich habe genug von Amateuraufnahmen, die nur halbe Köpfe zeigen, verwackelte Menschen und überbelichtete Gesichter.“
„Verstehe.“ Oliver nickte.
Innerlich zerriss sein Herz. Er hatte wirklich gedacht, es wäre vorbei, aber mit Ray in einem Raum zu sein, seine Nähe mit niemandem teilen zu müssen, wühlte alles wieder auf. Nun musste er hören, dass Ray heiraten wollte und er das junge Glück auch noch fotografieren sollte. Warum berührte ihn das so? Dabei hatte es nie eine gemeinsame Zukunft für sie gegeben.
Oliver schnappte sich ein Album vom Tisch. „Ich zeige dir gern einige Arbeiten von mir. Dann kannst du einschätzen, ob es das ist, was du suchst. Die Kosten setzen sich aus den Stunden vor Ort und der Kilometerpauschale zusammen. Abzüge gehen extra.“
Ray blätterte im Album herum und nickte zustimmend. „Das schaut gut aus. Gefällt mir.“
„Und wann soll der große Tag sein?“, fragte Oliver. Es gelang ihm nicht, Ray in die Augen zu schauen.
„Genau das ist das Problem.“ Ray beugte sich vor, sodass Oliver gezwungen war, den Kopf zu heben. Sein Blick traf auf grüne Augen mit kleinen Lachfalten in den Winkeln. Waren die schon immer da gewesen?
„Problem?“, wiederholte Oliver. Er legte seine Hände in den Schoß, um das Zittern zu verbergen.
„Wir brauchen dich bereits für Freitag.“
„Da habt ihr euch ja ziemlich kurzfristig entschieden.“
„Der Termin ist lange bekannt, aber ich konnte mich erst jetzt durchsetzen, was den Fotografen angeht. Hör mal!“ Ray nahm Olivers Hände in die seinen. „Du bist meine letzte Hoffnung. Ehrlich. Ich habe schon alle möglichen Fotografen abgeklappert, aber keiner hat so kurzfristig Zeit. Bitte, sag ja und rette mir diese verdammte Feier.“
Wie angenehm seine Hände sich um die seinen schlossen. Wie warm und beschützend fühlte es sich an. In der Schulzeit musste er sich die kleinen Berührungen stehlen, nun hielt Ray seine Hände ungefragt. Fühlte dieser, wie aufgeregt er war? Wie nervös? Sein ganzer Körper schrie nach mehr, doch Oliver löste sich aus dem sanften Griff und stand auf. Er versteckte seine Hände hinter dem Rücken.
„Ich schau in meinen Kalender, was Freitag anliegt. Warte einen Moment.“
Er eilte in sein Büro. Am Freitag hatte er keine Termine, das wusste er auch so, aber er brauchte einen Moment Abstand zu Ray. Sein Verstand sagte, er sollte den Auftrag ablehnen. Er war auf das Geld nicht dringend angewiesen. Sein Herz bettelte aber um jede Sekunde in der Nähe seiner Jugendliebe, auch wenn das bedeutete, dass es am Ende zerrissen und blutend am Boden lag, zertrampelt von den Füßen des Hochzeitspaares. Die Entscheidung fiel ihm schwer, doch schließlich rang er sich zu einer durch. Nachdem er mehrfach durchgeatmet hatte, kehrte er in den Vorraum zurück.
„Ich habe bereits einen Termin eingetragen“, erklärte er und sah Rays Enttäuschung, die ihm flammend ins Gesicht geschrieben stand. ‚Verdammt‘, durchfuhr es Oliver und er wurde schwach. „Aber“, hörte er sich weitersprechen, „den kann ich verschieben. Das ist kein Thema. Also, du hast deinen Fotografen gefunden.“
Ray hielt es nicht mehr auf seinem Platz. Er kam auf Oliver zu und drückte ihn an sich. „Mann, danke, du rettest mir das Leben. Soll ich irgendeinen Vertrag unterschreiben?“
Vor zwei Stunden war Ray gegangen, aber Oliver saß noch immer in der Sitzecke, vor sich die Unterlagen mit Rays Unterschrift. Wie konnte er sich das nur antun? Wie sollte er es schaffen, Ray einen ganzen Abend glücklich mit der Braut zu sehen, während er sich mit jeder Faser seines Seins nach ihm sehnte?
Am Freitagmittag lenkte Oliver seinen Wagen auf den Bauernhof, der in Gänze festlich geschmückt war. Eine junge Frau, sehr attraktiv und mit einem strahlenden Lächeln im Gesicht, hieß ihn willkommen und zeigte ihm die Lokalität.
„Ich bin froh, dass Ray Sie gefunden hat. Jetzt wird es eine perfekte Feier mit perfekten Bildern“, plauderte sie unbekümmert und in sichtlicher Vorfreude auf das Ereignis.
Das konnte also nur die Braut sein, sagte sich Oliver und neidete ihr den zukünftigen Mann an ihrer Seite.
„Toben Sie sich aus, machen Sie, was Sie wollen, und seien Sie auch mutig. Je verrückter, umso besser. Ah, da kommt Ray. Hey Ray, du hast mir nicht gesagt, dass der Fotograf so gut ausschaut. Wir müssen auf die Mädchen aufpassen, vor allem die unverheirateten.“
Die beiden lachten und Ray gab der Braut einen Kuss aufs Haar. Oliver lächelte höflich.
„Dann mach ich mich wohl besser an die Arbeit“, erklärte er ganz professionell und verließ das strahlende Paar, um sich geschäftig seiner Ausrüstung zu widmen.
Die Vorbereitungen liefen auf Hochtouren. Der Beamte vom Standesamt traf ein, ebenso die letzten Gäste. Oliver suchte die besten Blickwinkel aus, von denen er Fotos machen wollte. Er sah in dieser Zeitspanne weder Braut noch Bräutigam und war deswegen erleichtert.
Pünktlich um 15:00 Uhr, alle Gäste hatten sich in der Festscheune versammelt, trat Ray mit der Braut durch das Tor. Oliver, zwangsläufig immer nah am Geschehen, knipste seine Bilder, während sein Herz sich mehr und mehr zu verkrampfen begann. Er lächelte die aufkommenden Tränen weg. Ray und seine Braut gaben wirklich ein schönes Paar ab.
Die beiden schritten durch die Gasse, die die Besucher für sie gebildet hatten. Bevor sie den Mann vom Standesamt, der ihnen feierlich entgegenlächelte, erreichten, trat ein Mann aus der Reihe der Zuschauer heraus. Er bot der Braut seinen Arm, die sich nun von Ray trennte und mit leuchtenden Augen an ihn schmiegte.
„Als ältestes Familienoberhaupt und Bruder der Braut übergebe ich dir meine Schwester“, erklärte Ray feierlich und applaudierte dem jungen Paar.
Oliver war wie versteinert, doch glücklicherweise erinnerte er sich seiner Aufgabe noch rechtzeitig, um den wichtigen Moment festzuhalten.
Es war nicht Ray, der heiratete? Aber wie konnte das sein? Gedanklich rekapitulierte Oliver ihre Unterhaltung im Studio und musste feststellen, dass von Rays Hochzeit nie die Rede gewesen war, sondern immer nur von einer Hochzeitsfeier. Er hatte dummerweise angenommen, dass Ray vorhatte zu heiraten.
Die anfängliche Euphorie verschwand jedoch schnell wieder, denn auch wenn Ray nicht verheiratet war, so konnte sich Oliver kaum vorstellen, dass dieser auch nur einen Gedanken an eine Verbindung mit einem Mann verschwenden würde. So zog er sich innerlich zurück, um ganz der Fotograf zu sein. Die beste Methode, sich abzulenken.
Am späten Abend gab es für Oliver nichts mehr zu tun. Er setzte sich etwas abseits auf einen Strohballen und begann seine Kameras einzupacken und die Objektive zu verstauen. Einen Fotoapparat behielt er noch draußen und schaute sich die Fotos an. Er bemerkte erst, dass er beobachtet wurde, als er fast fertig war. Sein Blick schweifte durch den Raum und traf am anderen Ende auf Ray. Der stand mit nachdenklichem Gesicht an die Wand gelehnt da und sah zu ihm herüber. Der Blickkontakt wurde nur unterbrochen, wenn ein vereinzeltes Pärchen an ihnen vorbeitanzte oder die eine oder andere Gruppe vorüber ging. Die älteren Gäste hatten sich bereits zurückgezogen. Auch das frisch verheiratete Pärchen ward nicht mehr gesehen. Nur die Jugend hielt noch die Stellung.
Irgendjemand legte Rock-Balladen auf. Titel zum Schmusen und um eng umschlungen zu tanzen. Oliver bekam das nur am Rande mit, denn in dem flackernden bunten Licht der Discokugel über der Tanzfläche sah er, wie Ray sich von der Wand abstieß und langsam auf ihn zukam. Unauffällig schaute er sich um, ob hinter ihm jemand stand, den Ray meinen könnte, doch dieser hielt den Blickkontakt zu ihm, bis er direkt vor ihm stand. Oliver musste von seiner sitzenden Position zu ihm aufschauen.
Ray hatte die Hände in den Hosentaschen vergraben und beugte sich leicht vor. „Du bist damals nicht zum Abschlussball gekommen.“
„Ich hatte keine Veranlassung“, gab Oliver mürrisch zurück.
„Du könntest es jetzt nachholen. Tanz mit mir!“
Olivers Blick verfinsterte sich. „Solchen Spielchen solltest du langsam entwachsen sein. Hattest du in der Schule nicht genug Spaß daran?“
„Ich habe dich nie beschimpft oder Spielchen mit dir getrieben“, gab Ray ruhig zurück.
Oliver wollte etwas darauf erwidern, aber er blieb stumm. Es entsprach der Wahrheit. Ray hatte selbst nie etwas gesagt oder getan, aber, verdammt noch mal, hatte es auch nie verhindert. Für ihn wäre es doch ein Leichtes gewesen, die anderen aus der Clique in die Schranken zu weisen. Er war schließlich der King!
„Tanz mit mir!“, forderte Ray ihn noch einmal auf. „Dann ist das mehr als nur eine flüchtige Berührung auf dem Flur.“
„Du hast es bemerkt?“ Oliver legte seine Kamera zur Seite, damit er sie nicht versehentlich fallen ließ.
„Wäre ich sonst immer so nah an dir vorbeigegangen?“ Ray setzte sich neben ihn und nahm die Kamera in die Hand. Das Gerät war noch an. Seelenruhig schaute er sich die Bilder des Abends an. Oliver versuchte die Kamera wieder in seinen Besitz zu bringen, aber Ray wich ihm geschickt aus.
„Das war also Absicht?“
„Genau wie das hier.“ Ray betrachtete ein Bild nach dem anderen, ohne Oliver anzuschauen. Nahezu jedes dritte oder vierte Bild zeigte Ray: mit der Braut, mit Freunden, an der Bar, tanzend.
Oliver fühlte sich ertappt. Er hatte nicht widerstehen können und ständig sein Lieblingsmotiv fotografiert. Wahrscheinlich öfter als das Hochzeitspaar. Ihm schoss Röte ins Gesicht.
Ray stand auf und legte die Kamera vorsichtig wieder zurück. Einmal mehr hielt er Oliver die Hand hin. „Tanz mit mir!“
Endlich traute sich Oliver sie zu nehmen und ließ sich mitten auf die Tanzfläche ziehen.
Keiner der Anwesenden schaute empört. Es gab keine spitzen Kommentare. Oliver sah sich verwundert um und dann fragend zu Ray auf.
„Bleib entspannt.“ Ray lächelte. „Es ist alles in Ordnung.“
Natürlich führte Ray, denn er war schließlich der King. Oliver lehnte sich gegen seinen Tanzpartner, schmiegte sein Gesicht an dessen Brust und schloss die Augen. Er erinnerte sich, wie sehr er gewünscht hatte, zum Abschlussball mit Ray zu tanzen, wie einst Brian und Justin in seiner Lieblingsserie. Nun wurde sein größter Traum endlich wahr. In diesem Moment gab es kein Gestern und kein Morgen. Nur das
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: bei den Autoren
Bildmaterialien: shutterstock
Cover: Lars Rogmann
Lektorat: Aschure, Bernd Frielingsdorf, Sissi Kaiserlos, Kooky Rooster
Satz: Kooky Rooster Print und Print Cover
Tag der Veröffentlichung: 04.03.2018
ISBN: 978-3-7438-6159-6
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für alle, die in dieser kalten Welt ein bisschen Wärme suchen.