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Knotenpunkt Grabstein

1.

Hans Norbert Klagen, kurz Hanno genannt, brachte seine Gerätschaften zu dem kleinen Firmenfahrzeug, verstaute sie auf der Ladefläche und setzte sich hinters Steuer. Auf dem Weg zur nächsten Grabstelle sah er bloß eine alte Dame, die an der Bushaltestelle wartete, sowie ein Eichhörnchen, das, als er vorbeifuhr, flink einen Baum hochflitzte.

Noch erinnerten die wolkenlosen Tage an den vergehenden Sommer, doch die regnerischen kündeten bereits vom Herbstbeginn. Ebenso das immer früher schwindende Tageslicht. Außerdem nahm die Besucherzahl auf dem Friedhof Ohlsdorf rapide ab.

Während der schönen Jahreszeit bevölkerten weitaus mehr Leute die zahllosen Wege. Manchmal war sogar Kinderlachen zu hören. Natürlich kein Vergleich zu einem Rummelplatz, aber zumindest verlor man den Eindruck, allein unter all den Toten zu weilen.

Seit fast 20 Jahren arbeitete Hanno als Friedhofsgärtner. Die Abläufe beherrschte er aus dem Effeff. Im Frühjahr sammelte er im Akkord die Winterabdeckung, bestehend aus Tannenzweigen, von den Gräbern und pflanzte Stiefmütterchen. Zum Sommeranfang tauschte er diese gegen Begonien aus.

Es folgte eine lange Periode, in der er lediglich Unkraut entfernte und nur Grabneuanlagen eine willkommene Abwechslung boten. Im Herbst gab es nur wenige Hinterbliebene, die eine Neubepflanzung mit Erika bezahlten. Dann kam der Winter und damit schloss sich der Kreis. Er entfernte die alten Pflanzen und deckte die Gräber mit Tannengrün ab.

Damit war seine Arbeit draußen erledigt. Bis nach Weihnachten stand er im Geschäft. Im Januar nahm er stets einen großen Teil seines Jahresurlaubes, weil im Laden Flaute herrschte. Diese Durststrecke zog sich bis Ende März hin. Dann war es Zeit, wieder in den Firmenwagen zu steigen und die Gräber abzuklappern.

Hanno hielt am Straßenrand und starrte einen Moment sinnend ins Leere. Wieso musste er plötzlich an Arnold denken? Ach ja, Stichwort Urlaub. Er hatte in der kommenden Woche frei und ursprünglich geplant, mit Arnold an die Nordsee zu fahren. Da ihre Beziehung seit einigen Monaten Geschichte war, fiel das ins Wasser. Er trauerte seinem Ex nicht sonderlich nach, bedauerte bloß keinen Reisegefährten zu haben, mit dem er sein Vorhaben trotzdem durchführen könnte. Von seinen Freunden kam keiner infrage. Entweder waren sie liiert oder bevorzugten mondänere Reiseziele, wie beispielsweise Ibiza, um den Urlaub in eine einzige Fete ausarten zu lassen.

Das anvisierte Grab war nur per pedes zu erreichen, also schulterte er die nötigen Geräte und stiefelte los. Als er in den Schatten der hohen Bäume eintauchte, entwich ihm ein wohliger Seufzer. Die für September ungewöhnlich hohe Temperatur hatte dafür gesorgt, dass sich im Wagen die Wärme staute. Eine Abkühlung war daher hochwillkommen.

Das kleine Urnengrab war schnell von Unkraut befreit. Nachdem er die Kanten mit einer Harke begradigt hatte, kratzte er oberflächlich einmal drum herum, bevor er seine nächste Wirkungsstätte ansteuerte. Diese befand sich nur wenige Schritte entfernt und war relativ neu. Er dachte an die Beerdigung, die vor ungefähr einem Jahr stattgefunden hatte.

 

Zufällig war er in der Nähe gewesen, als der Trauerzug eintraf. Vorschriftsmäßig hatte er sich unsichtbar gemacht und hinter einem Baum verborgen. Die Bestattung war ihm auf der einen Seite in Erinnerung geblieben, weil es sich bei den Anwesenden fast ausschließlich um Männer handelte, von denen einige händchenhielten. Bis auf eine ältere Dame, wohl die Mutter des Verstorbenen, befanden sich nur zwei weitere weibliche Personen unter den zahlreichen Trauergästen.

Auf der anderen Seite konnte er den Mann nicht vergessen, der neben dem alten Paar am Kopf der Gruft gestanden hatte. Braunes, ungebärdiges Haar, ein attraktives Gesicht. Selbst auf die Entfernung hin strahlte der Typ enorme Anziehungskraft aus.

Als die Trauergemeinde abgezogen war, näherte er sich den Kränzen, die vor der Grube lagen. Er überflog die Beschriftungen der Schleifen an den prächtigsten Gebinden. Eines mit weißen Lilien war bestimmt von den Eltern des Toten. ‚Auf Erden ein Abschied - Im Herzen für immer‘ stand auf der linken Hälfte der Kranzschleife, auf der rechten ‚In Liebe - Magda und Hans‘. An einem Herz aus roten Rosen war eine Schleife mit folgendem Wortlaut befestigt: ‚Deine letzte Fahrt. In Liebe – Lorenz‘. Instinktiv wusste er, dass das Gesteck von dem gutaussehenden Mann stammte und es sich um den Partner des Verstorbenen handelte. Eigentlich hatte er den Typ für den Bruder gehalten.

In der folgenden Woche trudelte ein Auftrag für die Neuanlage und anschließende Pflege der Grabstelle herein. Kein sonderlicher Zufall, denn das Blumenhaus Schaack besaß einen exzellenten Ruf und war, neben der staatlichen Friedhofsgärtnerei, Markführer in diesem Segment.

An einem bewölkten Morgen im August war er also mit einem Kollegen aufgebrochen, um die Bestellung auszuführen. Bei Urnengräbern benötigte er keine Hilfe, doch bei großen Anlagen waren zwei Mann vonnöten, um die Arbeit zu bewältigen.

 

Er erreichte die Grabstelle, legte seine Geräte ab und studierte die Inschrift des Steines.

„Mark Krämer. Geboren am 17.05.1974. Viel zu früh von uns gegangen am 10.07.2015. Mögest du die Ruhe finden, die dir im Leben nie vergönnt war“, las er zum x-ten Mal die Gravur.

Schön, schlicht und einfach. Vielleicht hatte er ja das Glück, dass jemand – irgendwann, wenn seine Lebensuhr abgelaufen war – auch so einen ergreifenden Spruch in seinen Grabstein meißeln ließ. Ha, ha! Wer sollte das denn – bitteschön – sein? Arnold jedenfalls nicht mehr und seine Eltern, nein, die durften keinesfalls vor ihm gehen. Wenn schon gestorben wurde, dann bitte der Reihe nach.

Inzwischen war er über die Todesursache von Mark Krämer informiert. Recherchen im Internet hatten ergeben, dass der Verkehrsunfall unter Alkoholeinfluss für drei weitere Menschen ebenfalls tödlich endete. Augenzeugen zufolge war Marks Fahrzeug in den Gegenverkehr geraten und frontal mit einem anderen Wagen zusammengeprallt. Alle Beteiligten starben noch am Unfallort. Dem Zeitungsartikel war ein Foto beigefügt, das die beiden ineinander verkeilten Wracks zeigte. Es wäre einem Wunder gleichgekommen, wenn jemand in diesen Schrotthaufen überlebt hätte.

Eine schreckliche Vorstellung, seinen Partner auf diese Weise zu verlieren. Krankheit mit langem Siechtum war natürlich nicht besser, doch bereitete sie einen zumindest auf das Unvermeidliche vor. Ach, im Grunde hatte er überhaupt keine Ahnung von dem unermesslichen Leid, da ihm bisher solche Schicksalsschläge erspart geblieben waren.

Seufzend musterte er die Grabeinfassung aus Cotoneaster und die Anpflanzung in der Mitte, bestehend aus Begonien in rosa und weiß. Die biedere Gestaltung wollte in seinen Augen weder zu den ergreifenden Worten auf dem Grabstein passen, noch zu dem relativ jung verstorbenen Mann. Stattdessen fände er eine Art Zen-Garten weitaus mehr geeignet, mit weißen Kieseln, niedrigen Gehölzen und einigen Pfaden aus Sand.

Tja. Wer fragte ihn schon nach seiner Meinung? Abermals seufzend begann er seine Pflicht zu erfüllen. Viel war nicht zu tun. Der Bodendecker machte seinem Namen alle Ehre und erstickte jegliche Versuche von Unkräutern, das Tageslicht zu erblicken, im Keim. Leidglich zwischen den Begonien sprossen ein paar Gräser, die er rasch entfernte.

Wenigstens kompensierte der Mangel an Arbeit die Zeit, die er mit Tagträumen vergeudet hatte. Insofern war die Grabanlage doch ein Gewinn, zumal sie, wegen der wechselnden Bepflanzung, mehr Geld einbrachte, als seine Idee.

Erneut sammelte er seine Gerätschaften ein, schulterte sie und warf einen letzten Blick auf den Stein. Totenkult war schon etwas Merkwürdiges. Viele Hinterbliebene schienen zu glauben, dass die Seele des Verstorbenen durch die Erde in den kalten Granit wanderte. Die Geschichte von der alten Zicke, die den Grabstein ihres toten Gatten hatte umdrehen lassen, damit jener die angeblich schlechte Pflege der letzten Ruhestätte nicht bemerkte, war legendär. Als ob die Inschrift Augen besäße.

Bei dem Gedanken schmunzelnd wandte er sich um und sah sich unversehens mit jemandem konfrontiert. Keinem Geringeren als Lorenz. Grinsend einem Angehörigen zu begegnen, war schlicht pietätlos. Schnell brachte er seine Mundwinkel unter Kontrolle.

„Sie sind vom Blumenhaus Schaack?“, sprach Lorenz ihn unerwartet an.

Oh je! Drohte etwa eine Beschwerde wegen seines ungebührlichen Verhaltens? Diesbezüglich kannte sein Chef null Pardon. Schließlich war der Kunde König.

„Ähm ... ja“, gab er nur zögerlich zu.

„Schön, dass ich Sie endlich mal treffe. Marks Eltern zahlen zwar für die Grabpflege, aber ...“

Was kam jetzt? War der Kerl unzufrieden mit seiner Leistung? Hanno begann, nervös in seinen Schuhen mit den Zehen zu wackeln.

„... aber sie kommen nie her. Ich dagegen oft und es tut mir weh, meinen Mann unter dieser– entschuldigen Sie, ich weiß, dass Sie keine Schuld daran tragen – Ansammlung von Scheußlichkeiten liegen zu sehen.“

Fakt eins: Der Typ war verdammt direkt. Fakt zwei: Bezüglich der Bepflanzung rannte der Mann offene Türen bei ihm ein. Fakt drei: Lorenz‘ Wimpern waren verboten dicht und lang. Scheiße! Hatte er das gerade gedacht? Also, das Letztere? Schnell verscheuchte er diesen Eindruck und verlegte sich wieder darauf, professionell zu handeln.

„Was schwebt Ihnen denn vor?“

„Keine Ahnung. Jedenfalls nicht diese Altweiber-Primeln.“

„Begonien“, korrigierte er.

„Haben Sie vielleicht eine Idee? Sie sind doch der Fachmann.“

„Ernsthaft?“

Lorenz nickte und wies mit dem Kinn auf eine verwitterte Bank in der Nähe. „Falls Sie einen Moment Zeit haben, würde ich mir das gern in Ruhe anhören.“

Zusammen steuerten sie die Sitzgelegenheit an.

Hanno legte seine Gerätschaft auf den Boden und nahm neben Lorenz Platz. „Ich könnte mir anstelle der Blumen weiße Kieselsteine und einen Bonsai vorstellen.“

Stirnrunzelnd betrachtete Lorenz die Grabstelle und murmelte schließlich. „Klingt ziemlich gut.“

„Ich finde, das passt zu dem Spruch. Es vermittelte Ruhe.“

„Mein Mann war wirklich ein umtriebiger Geist.“ Lorenz seufzte. „Okay. Was muss ich tun, damit die Umgestaltung vonstattengeht?“

„Die Grabeigner bitten, meinem Chef einen entsprechenden Auftrag zu übermitteln.“

„Können wir das nicht unter der Hand regeln?“

„Keinesfalls. Ich möchte meinen Job behalten.“

„Verständlich. Gibt es dennoch irgendeine Zwischenlösung?“ Flehentlich guckte Lorenz ihn an.

Das zentrale Problem bestand darin, dass die Grabeigentümer den saisonalen Grabschmuck bezahlten. Stornierten sie den Auftrag, stand einer Umsetzung seiner Idee nichts mehr im Wege, bis auf die Kleinigkeit, sich einen Haufen Plackerei aufzuhalsen. Doch eines nach dem anderen.

„Sie müssten auf jeden Fall dafür sorgen, dass die Blumen abbestellt werden. Eine zumindest mündliche Erlaubnis, die gewünschten Veränderungen vorzunehmen, wäre ebenfalls hilfreich.“

„Das dürfte machbar sein. Also sind Sie bereit, unter diesen Voraussetzungen die Arbeit zu erledigen?“

So, wie Lorenz das sagte, klang es nach einem Spaziergang. Vielleicht sollte er langsam mal erwähnen, welcher Aufwand dahinterstand. Schließlich bedeutete die Umgestaltung weitaus mehr, als bloß die Begonien zu entfernen, einen Sack Kies auszustreuen und den eingetopften Bonsai darauf zu stellen.

„Wenn Sie denken, das lässt sich so einfach umsetzen, muss ich Sie leider enttäuschen. Für den Untergrund bedarf es einer Schicht Sand, dann einer wasserdurchlässigen Plastikplane und wieder Sand, auf den man die Kiesel streut. Beides dient dazu, dass die ganze Angelegenheit nicht von Unkraut überwuchert wird oder wegschwimmt.“

Da Lorenz aufmerksam lauschte, fuhr er fort: „Was bedeutet, den Innenbereich ungefähr dreißig Zentimeter tief auszukoffern. Natürlich vorsichtig, um den Cotoneaster möglichst wenig zu beschädigen. Summa summarum: Ohne Hilfskraft kann ich das kaum bewerkstelligen.“

Vor allem das Heranschaffen von Material war eine Hürde. Entweder mietete er ein Fahrzeug oder fuhr etliche Touren mit seinem Kleinwagen. Mal abgesehen davon musste das Zeug auch noch vom Wagen zum Grab transportiert werden.

„Wenn Sie damit etwas anfangen können, bin ich gern bereit meine tatkräftige Unterstützung anzubieten“, erwiderte Lorenz.

„Wunderbar. Dann sind wir schon fast im Geschäft.“ Hanno fischte sein Smartphone aus der Tasche seiner Latzhose und erschrak, als er die fortgeschrittene Uhrzeit registrierte. „Ich muss jetzt echt los. Tauschen wir unsere Handynummern aus oder soll ich Ihnen bloß meine geben?“

Sein Banknachbar hatte ebenfalls ein Mobiltelefon gezückt. „Wie lautet Ihre Nummer?“

Er nannte sie, woraufhin Lorenz auf dem Display herumtippte und das Gerät wieder einsteckte. „Danke. Ich will Sie nicht länger aufhalten.“

Sehr rücksichtsvoll, wenngleich etwas enttäuschend. Er hatte zumindest gehofft, offiziell Lorenz‘ Namen zu erfahren.

„Falls Ihr Interesse an einer Umsetzung weiter anhält, geben Sie bitte bald Bescheid. Ich kalkuliere heute Abend die in etwa benötigte Zeit sowie das Material. Mein Stundensatz beträgt 25 Euro, bar auf die Hand.“

„Ich melde mich morgen im Laufe des Tages.“ Lorenz stand auf, nickte ihm kurz zu und ging zur Grabstelle.

Rasch raffte Hanno seine Ausrüstung zusammen. Während er zurück zum Firmenfahrzeug marschierte, wallten Gewissensbisse auf. Die nächsten Gräber sollte er besser im Akkord pflegen, um die ungeplante Pause wettzumachen. Hoffentlich befand sich kein besonders Verunkrautetes darunter.

2.

 

In den ersten Monaten hatte Lorenz, beim Anblick der letzten Ruhestätte seines Gatten, eine brodelnde Mischung aus Trauer, Schuld und Zorn empfunden. Wut darüber, dass Mark nach ihrem Streit besoffen weggefahren war. Schuldkomplexe, weil er sich verletzt in sein Schneckenhaus verkrochen hatte, anstatt einzulenken und damit den Unfall zu verhindern. Trauer, da die Chance für eine Versöhnung ein für alle Mal vorüber war.

Etlichen Sitzungen bei seinem Therapeuten und einige Monate Arbeitsunfähigkeit lagen hinter ihm. Inzwischen hatte er insoweit Fortschritte gemacht, seine Selbstzweifel zu reduzieren und wieder am Berufsleben teilzunehmen. Ab und zu plagten ihn aber heftige Rückenschmerzen, für die keiner der konsultierten Ärzte eine Ursache fand. Sein Seelenklempner war jedoch der Meinung, dass es sich um ein Stresssymptom handelte und verschrieb ihm in solchen Fällen strikte Ruhe und bunte Pillen. Gerade machte er wieder so eine Phase durch.

„Tja“, begann er eine stumme Unterhaltung mit Mark. „Du hast bestimmt gehört, was der Gärtner vorgeschlagen hat. Wie gefällt dir die Idee?“

Natürlich erhielt er keine Antwort. Das hätte ihn auch ziemlich erschreckt.

Zehn Jahre waren sie ein Paar, fünf davon verheiratet gewesen. Mit Anfang dreißig hatte er Mark kennengelernt und sich auf den ersten Blick verliebt. Wenige Monate später zogen sie in eine gemeinsame Wohnung und lebten den Traum eines perfekten Paares: Ständig heiß aufeinander und ansonsten in vielerlei Hinsicht mit den gleichen Interessen ausgestattet. Sie mochten dasselbe Filmgenre, kochten gern zusammen und lasen ähnliche Lektüre. Nur in Hinsicht auf ihr Temperament waren sie total unterschiedlich gestrickt. Mark besaß einen aufbrausenden Charakter und konnte aus einer Mücke einen Elefanten machen, während ihn kaum etwas aus Fassung brachte.

Neun Jahre bewiesen sie, dass sich Gegensätze anzogen. Im zehnten, statt wie üblich im siebten, begann es kriseln. Immer öfter kam es wegen Kleinigkeiten zu Streit, zog Mark am Wochenende allein los, um in angesagten Clubs zu feiern. Das hatte sein Mann zuvor nur sporadisch getan und ansonsten gemütliche Abende mit ihm oder im Freundeskreis bevorzugt. Trotz all dem blieb Mark ihm jedoch treu.

Anscheinend war das jedoch mehr und mehr bloß ihrem Ehegelübde geschuldet, als freiem Willen. An dem Abend, an dem der Unfall passierte, bat Mark von der Monogamie eine Auszeit nehmen zu dürfen. Kategorisch hatte Lorenz das abgelehnt und sich, nach einem erbitterten Streit, in sein Arbeitszimmer verzogen. Als er, ungefähr zwei Stunden später, etwas besänftigt durch das Hören seiner Lieblingsmusik, nach Mark suchte, war der verschwunden. Eine halbleere Wodkaflasche auf der Arbeitsfläche in der Küche wies darauf hin, auf welche Weise sich sein Mann zwischenzeitlich abgelenkt hatte. Außerdem lagen Marks Wagenschlüssel nicht auf der Kommode.

Banges Warten folgte. Er ahnte, dass eine entscheidende Wende bevorstand. Entweder würde Mark erstmals die ganze Nacht weggebleiben, bei der Heimkehr ihre Trennung verlangen oder erneut eine Diskussion vom Zaun brechen. Mit jeder verstreichenden Minute war er bereiter, unter gewissen Bedingungen Zugeständnisse zu machen. Mit jeder vergehenden Stunde nahm die Strenge seiner Auflagen ab.

Als es kurz nach zwei an der Tür läutete, schreckte er von der Couch, auf der er vor sich hingedämmert hatte, hoch. Statt Mark standen jedoch zwei Bullen im Treppenhaus und überbrachten die traurige Nachricht. Es zog ihm den Boden untern den Füßen weg. Er musste die Hilfe eines Notfallseelsorgers beanspruchen, um seine plötzliche Todessehnsucht zu bekämpfen.

„Mein Therapeut sagt, dass ich dich endlich loslassen soll“, nahm er das Gespräch mit Mark wieder auf. „Aber wie kann ich das, wenn es doch so viele offene Fragen gibt? Wolltest du mich mit deiner Bitte darauf vorbereiten, bald von dir verlassen zu werden? Oder brauchtest du bloß eine gewisse Zeit zum Austoben, um hinterher wieder mit unserem bisherigen Zusammenleben zufrieden zu sein?“

Selbst wenn Mark zu einer Erwiderung fähig wäre, würde ihm das kaum etwas nützen. Schließlich hatte sich, zumindest in diesem Leben, eine gemeinsame Zukunft erledigt. Dennoch nagte die Ungewissheit beharrlich an ihm.

Zudem fragte er sich, ob Mark den Unfall absichtlich herbeigeführt hatte. Also, nicht um dabei zu sterben, sondern bloß, um ihm einen Schreck einzujagen und seinen Starrsinn vor Augen zu führen. Oder hatte Mark versehentlich die Kontrolle über den Wagen verloren? Der hohe Promillegehalt in Marks Blut sprach für Letzteres, der wahrscheinlich sehr aufgewühlte Zustand auch. Augenzeugenberichte untermauerten ebenfalls diese Theorie. Dessen ungeachtet, mangelte es ihm an Überzeugung.

Bedrückt kehrte er zu seinem Auto zurück, klemmte sich hinters Lenkrad und rollte die Schultern, bis die Anspannung in seinem Rücken erträglich war. Erfahrungsgemäß dauerte es drei Tage, bevor Dr. Hubers Pillen vernünftig wirkten. Es handelte sich um Psychopharmaka, aber Scheiß drauf. Solange sie ihn nicht in einen sabbernden Trottel verwandelten, schluckte er das Zeug und gut.

Während er den Motor startete, tauchte plötzlich das Gesicht des Gärtners vor seinem inneren Auge auf. Er hatte den Mann nicht mal nach dem Namen gefragt. Wohl ein weiteres Zeichen, wie nahe er am sozialen Abgrund stand.

Mit Marks Tod war sein gesellschaftliches Ich den Bach runtergegangen. Alle Versuche seiner Freunde, ihn zu Unternehmungen zu überreden, hatte er abgeblockt. Ein Jahr Verweigerung war selbst für die Geduld der Hartnäckigsten unter ihnen zu viel. Mittlerweile läutete sein Telefon nur noch sporadisch. Zumeist war die Sprechstundenhilfe seines Therapeuten in der Leitung, um eine Terminänderung abzusprechen. Ansonsten meldeten sich noch irgendwelche Callcenter mit Befragungsaktionen, die er sofort abwürgte.

 

Daheim angekommen, erhitzte er ein Tiefkühlgericht, aß es lustlos und verpasste sich anschließend seine Pillenration.

Erneut war er dankbar, von seiner Großmutter vor einigen Monaten das Häuschen geerbt zu haben. Weniger froh stimmte ihn, dass er die einzige Verwandte, die seine Neigung akzeptierte, verloren hatte. Nicht mal an ihrer Beerdigung durfte er teilnehmen. Diesbezüglich waren die Fronten gegenüber seinen Eltern verhärtet. Die hassten ihn nun umso mehr, weil er ihr angeblich rechtmäßiges Erbe angetreten hatte. Nach über zwanzig Jahren kaltem Krieg tangierte ihn das nicht mehr sonderlich.

Oma Maries Geschenk hatte ihn ermuntert, aus der alten Wohnung auszuziehen, in der ihn alles an Mark erinnerte. Dafür lebte er nun in Räumen, die er von Kindesbeinen an kannte. In vielen hatte er das altbackene Ambiente weitestgehend gelassen, nur das Schlafzimmer grundsaniert. Blümchentapete und gediegene Holzmöbel waren einem schlichten Design, das etwas kalt wirkte, gewichen. Schwarz, weiß und grau dominierten den Raum. Ein kompletter Gegensatz zu dem Zimmer, in dem er mit Mark so viele zärtliche Liebesstunden genossen hatte.

Die kühle Schlafumgebung spiegelte seine Libido wieder. Seit Marks Tod schwieg diese beharrlich. Jucken tat es natürlich trotzdem ab und zu, doch wenn er sich dann einen runterholte war das eher wie kratzen, denn ein sinnlicher Akt. Sein Therapeut lag ihm ständig in den Ohren, sich zumindest einen neuen Sexpartner zu suchen. Dr. Huber war der Meinung, dass Bettsport zu seiner Genesung beitragen würde. Manchmal hatte Lorenz den Eindruck, der liebe Herr Doktor wäre nicht abgeneigt, sich selbst dafür zur Verfügung zu stellen. Bestimmt Einbildung.

Während er auf der Couch hockte und halbherzig eine Dokumentation in der Glotze verfolgte, fielen ihm die Vorgaben des Gärtners ein. Er sollte die Angelegenheit besser gleich regeln. In den vergangenen Monaten hatte er sich etliche Male vorgenommen, mit seinen Schwiegereltern über das Grab zu sprechen, aber nie den Mut dazu gefunden. Im Moment fühlte er sich stark genug, die Konfrontation zu suchen.

Ihr früher herzliches Verhältnis schwächelte, seitdem die beiden über die Vorkommnisse an besagtem Abend im Bilde waren. Sie standen ihm nicht feindselig gegenüber, nur mit höflicher Distanz. Ein erster Schritt in diese Richtung hatte sich abgezeichnet, als sie darauf bestanden, die Grabstelle für ihren toten Sohn auszusuchen und zu bezahlen. Damals war er in seiner Trauer dankbar dafür gewesen, dass sie ihm die Sache abnahmen. Inzwischen bereute er seine Zustimmung, außerdem herrschte weitestgehend Funkstille. Zuletzt hatte Magda an seinem Geburtstag vor einem halben Jahr angerufen, um ihm zu gratulieren.

Er griff zum Telefon und wählte die vertraute Nummer. Beinahe umgehend nahm seine Schwiegermutter ab.

„Hallo Lorenz. Was für ein Zufall. Wir haben gerade über dich gesprochen. Wie geht’s dir?“

„Soweit ganz gut. Und euch?“, ging er auf den versöhnlichen Tonfall ein.

Magda seufzte. „Hans hat einen Gichtanfall und lässt seine miese Laune an mir aus. Also das übliche.“

„Du Arme. Grüß ihn von mir.“

„Das mache ich gern. Sei nicht böse, aber magst du dich kurz fassen? Gleich kommen die Nachbarn auf ein Glas Wein vorbei. Wir können gern ein anderes Mal länger plaudern.“

„Natürlich“, erwiderte er und verkniff sich die Frage, ob der letzte Satz bloß eine Phrase war. „Es geht nur um eine Kleinigkeit. Kannst du bitte die Bepflanzung für Marks Grab abbestellen?“

„Warum das denn?“

„Ähm. Also ... es ist so: Ich weiß es sehr zu schätzen, dass ihr sein Andenken pflegt, aber ... aber Mark mag die Blumen nicht. Du kennst ihn doch. Wahrscheinlich hätte er sich als Deckplatte für die Grabstätte eine Carrera-Bahn oder ähnliche Spielerei gewünscht.“

Stille, dann seufzte Magda erneut. „Stimmt. Du willst aber nicht tatsächlich so eine Rennbahn dort installieren?“

„Oh nein, auf keinen Fall. Ich hab vorhin den Gärtner getroffen und besprochen, wie die Fläche anders zu gestalten wäre. Euer Einverständnis vorausgesetzte, würde ich das gern umsetzen. Selbstverständlich auf meine Kosten.

Magda erteilte ihm die Erlaubnis und versprach, am nächsten Tag die Gärtnerei zu kontaktieren. „Wir sollten uns unbedingt mal wieder auf einen Kaffee verabreden. Weißt du ... Hans und ich brauchten erstmal Abstand, um das Ganze zu verdauen. Anfangs war es für uns einfacher mit der Trauer fertigzuwerden, indem wir dir eine Mitschuld an dem Unfall gaben. Das ließ Marks fahrlässiges Verhalten in einem anderen Licht erscheinen. Mittlerweile kommen wir einigermaßen damit klar, dass unser Sohn allein für das Unglück verantwortlich ist. Es war seine eigene Entscheidung, sich betrunken hinters Steuer zu setzen. Ich hoffe, du bist uns nicht böse. Ach, ich muss jetzt aber wirklich auflegen. Es läutet bestimmt jeden Moment. Fühl dich umarmt.“

„Du dich auch“, gab er mit einem warmen Gefühl im Bauch zurück. „Bis bald.“

Das Gespräch hatte ihn derart euphorisch gestimmt, dass er eine Weile lächelnd Löcher in die Luft starrte. Innerhalb der letzten zehn Jahre waren ihm Hans und Magda ans Herz gewachsen. Sie ebenfalls zu verlieren, hatte ihn ganz schön runtergezogen. Vielleicht gab es Hoffnung, ihr altes Verhältnis wiederherzustellen.

Einmal dabei, tätigte er als nächstes seinen Anruf bei dem Gärtner.

„Klagen“, meldete sich der.

„Hier ist Lorenz Seifert. Wir haben uns vorhin auf dem Friedhof unterhalten.“

„Das ging ja fix. Ich bin noch nicht mal dazu gekommen, das Gesamtpaket zu berechnen.“

Im Grunde war ihm der Preis egal, so lange sie nicht über Beträge im vierstelligen Bereich redeten. „Soll ich später nochmal anrufen?“

„Bitte ja. In einer halben Stunde. Ich heiße übrigens Hanno Klagen.“

„Angenehm. Dann bis gleich.“ Er beendete die Verbindung und legte den Hörer auf den Couchtisch.

Die Wartezeit nutzte er dazu, sich ein Glas Orangensaft aus der Küche zu besorgen und durchs Fernsehprogramm zu zappen. Wie üblich lief überall nur Mist. Bei einer Talkrunde blieb er schließlich hängen und schüttelte ein ums andere Mal über die hitzige Diskussion den Kopf. Thema war mal wieder Jugendkriminalität. Was der anwesende Pfarrer dazu zu sagen hatte, empfand er als haarsträubend. Die frömmelnden Beiträge des Typen wurden von allen Seiten torpediert, dennoch hielt der Mann hartnäckig an der These fest, die Jugendlichen mit einer Gehirnwäsche auf göttlicher Basis heilen zu können.

Trotz der recht fesselnden Unterhaltung, behielt er die Uhr im Blick. Als die dreißig Minuten verronnen waren, griff er nach dem Telefon und drückte auf Wahlwiederholung. Zugleich stellte er die Glotze leiser.

Offenbar hatte sich Klagen seine Nummer gemerkt und verkündete gleich: „Hi. Ich bin gerade fertig geworden.“

„Und? Macht mich die Aktion arm?“

Ein leises Lachen erklang. „Kommt drauf an. Meine Arbeit hab ich mit etwa zehn Stunden einkalkuliert. Die Kosten für das Material belaufen sich auf ungefähr 50 Euro, wobei der Bonsai noch nicht einberechnet ist. Im Nachhinein ist mir eingefallen, dass Buchsbaum die bessere Lösung ist. Zum einen besteht kein Diebstahlrisiko, zum anderen ist das günstiger.“

Rasch überschlug er, wieviel die Sache insgesamt kostete. Klagen plus sonstige Ausgaben machten zusammen rund 300 Euro. Damit konnte er gut leben.

„Einverstanden.“

„Wunderbar. Ich schlage vor, dass wir uns am Wochenende am Grab treffen und den Ablauf besprechen. Ich benötige noch die genauen Maße des Innenraumes.“

„Wieso erst am Wochenende?“

Einen Moment war es still in der Leitung, dann hörte er ein leises Glucksen. „Sorry. Anscheinend hab ich vergessen Ihnen mitzuteilen, dass ich solche Arbeiten nicht nach Feierabend erledige. Nächste Woche hab ich aber Urlaub. Ihre Hilfe benötige ich schätzungsweise an zwei halben Tagen, um Material und Geräte zu transportieren.“

Schlechtes Gewissen wallte hoch. „Sie opfern Ihren Urlaub für mein Projekt?“

„Es ist kein großes Opfer. Wollte eh nicht wegfahren.“

Das klang ehrlich, wenn auch etwas resigniert. Da Lorenz genug eigene Probleme wälzte, ging er nicht näher darauf ein.

„Passt Ihnen Sonntag gegen halb zwölf? Dann könnten wir anschließend bei einem Imbiss alles Nötige besprechen.“

„Das passt. Also: Bis Sonntag. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Abend.“

„Ebenfalls“, verabschiedete er sich.

 

3.

 

Die letzten zwei Tage bis zum ersehnten Wochenende waren anstrengend. Neben der Grabpflege musste Hanno drei Neuanlagen herstellen, zudem fiel ein Kollege wegen Krankheit aus. Als loyaler Arbeitnehmer bemühte er sich redlich, sein übliches Pensum trotzdem zu erledigen.

Am Freitag fühlte er sich total erschossen und ging sehr früh ins Bett. Auch den ganzen Samstag merkte er deutlich, seine Kräfte überstrapaziert zu haben. Umso froher war er im Hinblick auf die freie Woche.

Er erledigte nur das Notwendigste, wie die Wäsche und den Einkauf. Den Rest des Tages gammelte er auf der Couch herum. Oft dachte er an Lorenz und das bevorstehende Treffen. Große Hoffnungen, dass sich aus ihrer Zusammenarbeit mehr ergab, hegte er nicht. Lorenz schien völlig auf den Toten fixiert. Mit einem Lebenden zu konkurrieren war schon schwer, gegen eine glorifizierte Erinnerung anzukämpfen ein fast aussichtloses Unterfangen.

Sonntagmorgen erfasste ihn dennoch kribbelnde Erwartung. Zumindest versprach das Projekt, einige Zeit in Lorenz‘ Nähe zu verbringen. Vielleicht sprang sogar, wenn er es geschickt anstellte, ein Schäferstündchen für ihn dabei heraus. Schließlich war Lorenz auch nur ein Mann mit Bedürfnissen, wie jeder andere auch. Sex ohne Gefühle besaß zwar weniger Reiz, als es mit zu tun, aber diesbezüglich buk Hanno schon ewig kleine Brötchen.

Pünktlich um halb zwölf traf er am Grab ein. Um vernünftig arbeiten zu können, entfernte er als erstes die wuchernden Begonien. Das kostete ihn, wegen der fehlenden Schubkarre, etliche Ausflüge zum nächsten Mülleimer. Anschließend deponierte er seine aufgeschlagene Kladde auf dem Stein, steckte sich einen Bleistift hinters Ohr und zückte seinen Zollstock. Er wollte gerade mit dem Messen beginnen, als Lorenz auftauchte, in beiden Händen einen Pappbecher.

„Es hat länger als angenommen gedauert, auf der Herfahrt einen Kaffee Togo zu beschaffen. Als Entschuldigung für mein Zuspätkommen hab ich für Sie auch einen besorgt.“

Das ‚Togo‘ anstelle des ‚to go‘ entlockte ihm ein kurzes Grinsen. „Der kommt genau richtig. Dankeschön.“

Er nahm eines der Getränke entgegen und nippte daran, während er Lorenz, der die Grabstätte betrachtete, ausführlich musterte. Die braunen Haare waren zerzaust, der Gesichtsausdruck sehr ernst. Wie schon beim letzten Mal trug Lorenz Jeans, dazu ein weißes T-Shirt und darüber eine schwarze Lederjacke. Schlanke, gepflegte Finger, die den Becher umschlossen, lösten schmutzige Fantasien aus. Rasch verdrängte Hanno die Vorstellung, wie sie um seinen Schwanz aussehen würden.

„Sie waren schon fleißig“, stellte Lorenz fest und bedachte ihn mit einem vorwurfsvollen Blick. „Das hätte ich doch erledigen können.“

„Tja. Zu spät.“ Achselzuckend ging er zum Grabstein, stellte den Kaffee neben die Kladde und nahm seine Arbeit auf.

Innerhalb weniger Minuten hatte er sämtliche Maße genommen, notiert und Büchlein, Zollstock sowie Bleistift wieder eingesteckt. Mit dem Kaffeebecher in der Hand, schlenderte er zurück zu Lorenz. Jener hatte sein Treiben interessiert verfolgt.

„Ich wäre dann soweit. Wo soll’s für den Imbiss hingehen? Falls Sie keine Idee haben: Ich kenne ein nettes, günstiges Restaurant in Bramfeld. Die bieten sonntags Brunch an.“

„Ich hab zwar einen Tisch in dem Bistro dieses Hotels am Ohlsdorfer Bahnhof reserviert, doch Ihr Vorschlag hört sich besser an. Fahren Sie voraus?“

„Können wir das Gesieze bitte lassen? Ich bin Hans Norbert, aber alle nennen mich Hanno.“

„Angenehm. Ich heiße Lorenz und niemand nennt mich anders.“ Erstmals erschien der Abklatsch eines Lächelns auf der Miene seines Gegenübers. „Also: Lotst du mich zu dem Lokal?“

 

Wenig später saßen sie an einem der rustikalen Holztische in dem gut besuchten Restaurant. Der Lärmpegel war entsprechend hoch, genau die richtige Geräuschkulisse, um peinliche Gesprächspausen zu kaschieren.

Nachdem sie beim Kellner Getränke bestellt hatten, trat schon die erste ein. Schweigend spielte Lorenz mit einem Bierdeckel und fixierte die Tischplatte.

„Ich geh zum Buffet“, verkündete Hanno, stand auf und begab sich zu der langen Tafel.

Neben Aufschnitt und Brot aller Art, waren drei warme Speisen im Angebot. Ersteres hatte er bereits morgens gegessen, daher lud er Spätzle und etwas in heller Sauce, das als Geschnetzeltes nach Züricher Art angepriesen wurde, auf seinen Teller.

Bei seiner Rückkehr erhob sich Lorenz und steuerte ebenfalls das Buffet an. Entgegen seiner Beute bestand dessen aus einer Scheibe Schwarzbrot, einem Croissant und Päckchen Butter sowie zwei Sorten Käseaufschnitt.

„Ich bin die ganze nächste Woche krankgeschrieben. Wir könnten also die Arbeit zusammen erledigen.“ Lorenz, gerade dabei Butter auf der Brotscheibe zu verteilen, sah kurz zu ihm rüber. „Wenn dir das recht ist.“

„Klar. Zu zweit sind wir im Nu mit der Sache durch.“ Krankgeschrieben? Dafür sah Lorenz ziemlich munter aus, bis auf die traurigen Augen. „Öhm ... darf ich fragen, warum du arbeitsunfähig bist?“

„Rücken“, erwiderte Lorenz knapp und biss in das Käsebrot.

„Dann solltest du dich aber lieber ausruhen, anstatt ...“

„Quatsch!“, fuhr sein Gegenüber ihm nuschelnd über den Mund, kaute zu Ende, schluckte und fügte hinzu: „Es ist bloß was psychisches.“

„‘Tschuldige. Geht mich auch gar nichts an.“ Stumm aß Hanno zu Ende und spähte zum Buffet. Dort herrschte gerade starker Andrang. „Mit dem Nachtisch warte ich wohl besser.“

„Wann willst du eigentlich loslegen? Gleich morgen?“

„Sobald die logistischen Probleme gelöst sind.“ Er zog seine Kladde hervor und legte sie auf den Tisch. „Ich hab meinen Chef gefragt, ob ich einen der Wagen leihen kann, doch die sind alle im Einsatz. Wenigstens darf ich mir die nötigen Geräte borgen.“

„Brauchst du nicht. Mein Schuppen ist voll von dem Kram“, gab Lorenz, der inzwischen das Croissant zerpflückte und sich stückchenweise in den Mund steckte, bekannt. „Außerdem ist in meinem Kombi reichlich Platz, wenn wir die Rückbank umklappen.“

Ersteres eröffnete neue Perspektiven. Ein Schuppen stand gewöhnlich auf einem Grundstück, was Lagermöglichkeiten bedeutete. Das zweite hatte er auf der Herfahrt erfreut zur Kenntnis genommen.

„Du besitzt nicht zufällig auch eine Garage, in der wir das ganze Zeug erstmal unterstellen können?“

„Sogar zwei davon. Mein Opa war passionierter Bastler und hatte dort ständig irgendein Autowrack stehen, um daran herumzuschrauben.“

„Damit wären fast alle Engpässe beseitigt.“ Erneut linste Hanno in Richtung Buffet. „Ich hol mir schnell ein Dessert.“

Diesmal folgte Lorenz ihm auf dem Fuße. Nacheinander bedienten sie sich am Vanillepudding sowie Obstsalat und krönten das Ganze mit einem Berg Sahne. Aus dem Augenwinkel sah er, dass Lorenz seine üppige Portion mit einem angedeuteten Grinsen musterte. Falls der Typ irgendwann mal richtig lachte, war’s garantiert völlig um sein Herz geschehen.

Zurück an ihrem Tisch genoss er ein paar Löffel der köstlichen Nachspeise, bevor er sein Büchlein aufschlug und den Bleistift zückte. „Vorsichtshalber gehe ich mal die Liste der wichtigsten Gerätschaften durch. Ist eine Schubkarre vorhanden?“

Lorenz nickte kauend. „Mhm.“

Das Gleiche geschah bei allen weiteren Stichworten. Somit blieb nur noch eine Frage offen, zumindest bezüglich ihres Geschäfts, nämlich Treffpunkt und Uhrzeit am nächsten Tag.

„Ich gehe mal davon aus, dass du auch keine Lust hast im Morgengrauen aufzustehen. Wir könnten uns um zehn beim Baumarkt treffen oder wieder am Grab. Je nachdem, was dir lieber ist.“

Mit gekrauster Stirn kratzte Lorenz die Schüssel leer, leckte den Löffel ab und legte ihn beiseite. „Wäre es nicht sinnvoller, wenn du zu mir kommst und wir von dort aus gemeinsam starten? Sonst wären wir ständig mit zwei Autos unterwegs. In meinen Augen ziemlich schwachsinnig.“

Das sah er genauso, hatte sich aber nicht getraut solchen Vorschlag zu unterbreiten. „Okay. Dann benötige ich deine Adresse.“

Lorenz diktierte Straßennamen und Hausnummer. „Wundere dich nicht, dass es dort etwas wild aussieht. Ich bin erst vor einem halben Jahr eingezogen und keine Koryphäe in Sachen Gartenpflege. Lediglich Rasenmähen habe ich bisher hinbekommen. Die Hecken benötigen dringend einen Schnitt und... ach, egal. Darum kümmere ich mich, sobald Marks Grab im neuen Gewand glänzt. Das ist wichtiger.“

Die letzten Worte bestätigten, was er ohnehin schon wusste: Für Lorenz rangierte der Verstorbene an erster Stelle. Er schlug die Kladde zu, griff nach dem Löffel und widmete sich seinem Dessert. Der Pudding schmeckte so gut wie der seiner Mutter. Genau wie sie, hatte der Koch steif geschlagenes Eiweiß unter die fertige Masse gemischt. Ein echter Gaumenschmaus.

Im Anschluss übernahm Lorenz die gesamte Zeche, ohne auf seinen Protest zu achten. Gemeinsam verließen sie das Lokal und gingen zu seinem Wagen, der unmittelbar vor dem Restaurant stand.

„Ich wünsch dir einen schönen Restsonntag“, verabschiedete sich Lorenz.

„Ebenfalls. Bis morgen.“ Er schwang sich hinters Lenkrad und guckte dem Davongehenden hinterher.

Einige Meter entfernt stieg Lorenz in den grauen Passatkombi. Gleich darauf scherte der Wagen aus der Lücke und entschwand rasch aus seinem Sichtfeld. Er startete den Motor und fuhr in entgegengesetzter Richtung davon. Seine Eltern wohnten in einem kleinen Häuschen in Sasel und freuten sich stets, wenn er spontan auf einen Kaffee vorbeischaute. Im Moment war ihm nach familiärer Wärme, da Lorenz‘ depressive Grundstimmung ein wenig auf ihn abgefärbt hatte. Wahrscheinlich konnten sich seine Eltern in den folgenden Tagen auf häufige Besuche gefasst machen.

 

Am nächsten Morgen parkte er um kurz nach zehn vor Lorenz‘ Grundstück. Wie angekündigt, wucherte die Hecke und verbarg alles Dahinterliegende vollständig. Als er den Garten durch die Pforte betrat, eröffnete sich der Blick auf ein großzügiges Areal. Schätzungsweise 1.000 Quadratmeter, vorwiegend von Rasen bedeckt. Die Seiten waren von Beeten voller Rabatten gesäumt. Unkraut spross in Hülle und Fülle zwischen den Pflanzen. Sofort regte sich seine Gärtnerseele. Es juckte ihm in den Fingern, dem Zeug zu Leibe zu rücken.

Während er den Weg hinunterschritt, der zu dem im hinteren Bereich stehenden Haus führte, guckte er sich aufmerksam um. Beide Nachbargrundstücke waren mit je zwei Doppelhaushälften bestückt. Insofern bildete das von Lorenz eine Art grüne Oase inmitten verdichteter Bebauung.

Er brauchte nicht zu läuten. Lorenz hatte ihn offenbar herannahen sehen und öffnete die Tür, noch bevor er sie erreichte. Nasse Haare zeugten von einer vor kurzem erfolgten Dusche.

„Ich hab meinen Wecker wohl im Halbschlaf ausgestellt“, erklärte Lorenz. „Bin erst vor einer Viertelstunde aufgewacht. Magst du auf einen Kaffee reinkommen? Ich beeil mich auch.“

„Kein Problem. Lass dir Zeit.“

Im Flur zeugte die altbackene Tapete von den Vorbesitzern. Zusammen mit den abgenutzten Dielen und einer Garderobe, bestehend aus einer antiken Kommode und an der Wand montierten Messing-Kleiderhaken, empfand er das Ambiente jedoch als anheimelnd. Es erinnerte ihn an die Wohnung seiner verstorbenen Großmutter.

Die Küche strahlte ebenfalls den Charme vergangener Generationen aus. Ein altmodisches Buffet stand an der einen Wand. Die Scheiben der oberen Schranktüren waren innen mit selbstgehäkelten Gardienen verziert. Auf der anderen Seite befand sich die klassische Anordnung von Herd, Spüle und Kühlschrank, deutlich neuerem Datums. Vermutlich aus den Siebzigern. Zwischenzeitlich hatte man einige Teile durch moderne ersetzt, wie das Ceran-Kochfeld und die Arbeitsfläche aus Granit. In der Mitte des quadratischen Raumes stand ein runder Holztisch, auf dem ein spärliches Frühstück angerichtet war.

„Gemütlich“, lobte Hanno, als er auf einem der Stühle Platz nahm.

„Spar dir die Ironie.“ Lorenz stellte einen Becher Kaffee vor ihm ab und ließ sich gegenüber nieder. „Ich weiß sehr wohl, dass ich unbedingt renovieren sollte.“

„Ich meine das ernst. Mir gefällt’s.“

Ein misstrauischer Blick streifte ihn. „Ehrlich?“

„Warum sollte ich dich anlügen?“

„Aus Höflichkeit?“

Genervt davon angezweifelt zu werden, verkündete Hanno kühl: „Damit zwischen uns eines von vornherein klar ist: Ich hasse Lügen und noch mehr Leute, die sich auf diese Weise anbiedern wollen.“

Einen Augenblick starrte Lorenz ihn mit schmalen Augen an, nickte dann und schnappte sich den zweiten Kaffeebecher. Offenbar hatte er mit seiner Ansage das Gespräch im Keim erstickt. Wortlos verspeiste Lorenz eine angebissene Scheibe Toast, verschwand danach irgendwo im Haus und kehrte nach einigen Minuten zurück, um den Rest Koffeinbrühe zu trinken.

„Ich wäre dann soweit. Aufräumen erledige ich nachher“, meinte Lorenz, im Hinblick auf den vollgestellten Tisch.

In einem Zug leerte er seinen Becher, stellte ihn in die Spüle und folgte Lorenz zu den Garagen. Kurz darauf saßen sie im Passat und waren unterwegs.

Impressum

Texte: Sissi Kaiserlos
Bildmaterialien: shutterstock design Lars Rogmann
Lektorat: Aschure - danke
Tag der Veröffentlichung: 27.11.2017

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