Sämtliche Personen, Orte und Begebenheiten sind frei erfunden, Ähnlichkeiten rein zufällig. Der Inhalt dieses Buches sagt nichts über die sexuelle Orientierung des Covermodels aus. Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck oder eine andere Verwertung, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung der Autorin. E-Books sind nicht übertragbar und dürfen nicht weiterveräußert werden. Bitte respektieren Sie die Arbeit der Autorin und erwerben eine legale Kopie. Danke!
Text: Sissi Kaiserlos
Foto von shutterstock – Design Lars Rogmann
Korrektur: Aschure. Danke!
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Nicos Bruder war vor 3 Jahren an Blutkrebs gestorben. Innerhalb weniger Monate hatte es den quirligen Lutz dahingerafft. Um das Andenken zu wahren, betrieb Nico den Blog seines Bruders unter dessen Namen weiter. Lutz hatte sich, mit Kommentaren über Promis und solche, die es gerne wären, eine richtige Fangemeinde aufgebaut. E-Mail-Verkehr folgte. Nico verstrickte sich immer tiefer in ein Netz aus Lügen.
~ * ~
Wie so oft seit drei Jahren, loggte sich Nico abends auf dem Blog seines Bruders ein. Traurig betrachtete er Lutz‘ Foto, das auf der Startseite prangte. Es war ungefähr sechs Monate vor der niederschmetternden Diagnose entstanden. Seinem Bruder sah man die heimtückische Krankheit da noch nicht an. Lutz strotzte förmlich vor Gesundheit, Lebensfreude und Attraktivität. Rund ein Jahr später hatte er am Sarg für immer von seinem geliebten Bruder Abschied nehmen müssen.
Sie waren im Abstand von genau 366 Tagen auf die Welt gekommen. Aus praktischen Motiven legten ihre Eltern die Feier stets auf einen Termin, nämlich auf seinen Geburtstag. Umgekehrt kam das nicht infrage, da es in ihren Augen Unglück brachte, im Voraus das anstehende Ereignis zu begehen.
Als sie älter wurden bestand Lutz auf eine eigene Party. Ab dem Jahr herrschte an dem Ehrentag seines Bruders im Hause Kramer Trubel, an seinem fand lediglich ein Kaffeetrinken in engstem Verwandtenkreis statt. Es sah nämlich so aus: Lutz‘ Freunde waren zwar auch irgendwie seine, doch die gleichen Leute an zwei aufeinanderfolgenden Tagen einzuladen, fand Nico doof. Außerdem stand er nicht gern im Mittelpunkt, ganz entgegen seinem Bruder. Also verlegte er sich darauf, an Lutz‘ Geburtstag insgeheim auch seinen zu feiern. Schließlich war das über Jahre ebenfalls dessen Schicksal gewesen.
Nicht nur durch diesen Umstand waren sie stärker als manche andere Geschwister miteinander verschweißt. Zwischen ihnen bestand, obwohl sie so unterschiedlich waren, eine starke Verbindung. Stets wusste der eine, was der andere gerade dachte. So war es auch Lutz gewesen, der als erster über seine Neigung Bescheid wusste. An ihrem Verhältnis hatte das nichts geändert, eher das Gegenteil bewirkt. Schon vorher war Lutz stets als sein Beschützer aufgetreten, wenn jemand ihn dumm wegen seiner schmächtigen Statur anmachte. Nach der Erkenntnis, einen schwulen Bruder zu haben, schirmte Lutz ihn noch stärker vor irgendwelchen Blödianen ab. Obwohl das eigentlich nicht nottat, da er sich nie offiziell geoutet hatte.
Wehmütig klickte er mit dem Cursor auf Lutz‘ Nase, in Anlehnung daran, wie er als Kind oft mit der Fingerspitze dagegen gestupst hatte. Prompt füllte das Bild den ganzen Monitor aus. Schalk blitzte ihm aus Lutz‘ blauen Augen entgegen und weckte Erinnerungen.
Der Blog Lutz‘ Promi-Flash existierte seit 7 Jahren. Er war entstanden, um Lutz‘ überbordender Kreativität ein Ventil zu bieten. Das Lernen müde, hatte sich sein Bruder nach dem Abi gegen ein Studium und für eine Ausbildung in der Marketingbranche entschieden. Ein Fehler. Anstatt tolle Slogans zu entwickeln, musste Lutz bloß Werbung in den Medien unterbringen. Vor der Diagnose hatten sie oft über eine berufliche Weiterqualifikation gesprochen. Tja, zu spät.
Nico verkleinerte das Foto und machte sich daran, das Andenken seines Bruders zu pflegen. Etliche Male hatte er neben Lutz gesessen und staunend zugesehen, wie dem Texte förmlich aus den Fingern flossen. Meist reichte ein kurzer Ausflug in die Welt der Promis, um seinen Bruder zu inspirieren. Inzwischen hatte er sich ziemlich gut eingefuchst, brauchte für eine zündende Idee aber immer noch wesentlich länger als Lutz. Da seit dessen Tod sein soziales Leben eh mehr oder minder brachlag, stellte das keinen großartigen Verlust dar.
Er hatte gerade einen hinlänglich interessanten Promi-Clip gefunden, als Flügelschlagen Gunnar2 ankündigte. Der Sittich landete auf seiner Schulter und rieb das Köpfchen an seinem Hals.
Ganz auf den Monitor konzentriert, streichelte er das weiche Gefieder und murmelte: „Wehe du kackst mir auf mein neues Hemd.“
Gunnar2 buhlte weiter um Aufmerksamkeit, bis er sich eine Weile dem anlehnungsbedürftigen Tierchen widmete. Der erste Gunnar hatte in seiner Gesellschaft nur eine Woche überlebt. Aus unbekannten Gründen war der Vogel gestorben und sogleich von ihm durch einen neuen ersetzt worden. Gunnar2 bereitete ihm nun schon viele Monate Freude und schien ihn, weitaus mehr als dessen Vorgänger, ins Herz geschlossen zu haben. So wertete er jedenfalls das Ausbleiben eines weiteren Todesfalls.
„Herrchen muss jetzt arbeiten“, verkündete er schließlich und brachte Gunnar2 in den Käfig in der Küche, wo sich sein Piepmatz sogleich zum Schmollen auf eine der Stangen verzog.
Zurück vorm Monitor, startete er erneut den zuvor angeschauten Clip. Vor einer Werbewand, die das neue Duftwässerchen eines bekannten Designers ankündigte, lächelte ein Typ in die Kameras. Perfektes Gebiss, blaue Augen und die blonden Haare im aktuellen just out of bed Look gestylt.
„Hallo, Yannik Ungethüm. Sie sind mit ihrem Freund hier?“, sprach ein Reporter, untermalt von Stimmgewirr, ins Mikro und hielt es anschließend dem Mann hin.
Hinter dem Typ stand ein ebensolches Retortenbaby. Mittlerweile kam es Nico vor, als ob diese Leute irgendwo von Rassenfanatikern gezüchtet wurden: Äußerlich perfekt, mit einem Gehirn in Erbsengröße ausgestattet. Vermutlich war ersteres eher der Verdienst geschickter Schönheitschirurgen und versierter Zahnärzte, letzteres eine Gottesgabe.
„Bloß ein guter Kumpel von mir.“ Breit grinsend beförderte Ungethüm den Kerl ins Blitzlichtgewitter. „Karel und ich sind Sandkastenfreunde.“
Selbstvergessen kaute Nico auf seinem Daumennagel herum. Zumindest die gute Beobachtungsgabe hatte er mit Lutz gemein. Ihm fiel sehr wohl auf, dass zwischen den beiden Männern ein gewisses Knistern bestand. Entweder hatten die zwei aktuell was am Laufen oder in der Vergangenheit miteinander gevögelt. Anscheinend war das nur für schwule Männer ersichtlich oder der Reporter zu taktvoll, um weiter zu bohren.
Jedenfalls handelte das folgende Geplänkel ausschließlich von der Fernsehserie, in der Ungethüm offenbar den Liebhaber des Hauptdarstellers mimte. Mit einem gequälten Lächeln stand dieser Karel daneben, augenscheinlich ungeduldig dem Scheinwerferlicht zu entkommen.
Viel zu schnell für seinen Geschmack, stahl eine halbnackte Diva den beiden die Show. Viel lieber hätte er noch ein bisschen Ungethüm zugehört. Der Mann besaß eine angenehme Stimme und Humor. Außerdem hatte ihn das nervöse Gebaren von Ungethüms Begleiter amüsiert. Ihm war es ein Rätsel, wieso der Typ einer Veranstaltung beiwohnte, obwohl sie so offenkundiges Unbehagen auslöste.
Nachdenklich ging er in die Küche. Gunnar2 hatte sich aufgeplustert und den Schnabel ins Federkleid gesteckt. Er deckte den Käfig zu, holte ein Bier aus dem Kühlschrank und kehrte zum Notebook zurück.
Zwangsläufig, um den Blog überhaupt betreiben zu können, hielt er sich fernsehtechnisch auf dem Laufenden. Dementsprechend kannte er schon die Serie, in der dieser Ungethüm mitspielte, hatte dessen Auftauchen aber verpasst. Kein Beinbruch, schließlich bot das Internet unbegrenzte Möglichkeiten.
Einige Zeit später war Nico im Bilde. In den versäumten Folgen hatte man Ungethüm als alten Freund der Ehefrau eingeführt. (Sehr einfallsreich!) In einer Nacht, in der die Gattin wegen eines Streits zu ihren Eltern geflüchtet war, kam es zur ersten Annäherung. (Natürlich ging die Initiative von Ungethüm aus. Schließlich wollten sich die Serienmacher die Sympathien für den Hauptprotagonisten nicht verscherzen.) In den nächsten Sequenzen durfte Ungethüm allerdings ein bisschen punkten, indem der Fokus auf dessen unerwiderter Liebe lag.
Zweifelsohne würden die Drehbuchschreiber irgendwann wieder umschwenken. Trotzdem Privatsender theoretisch unabhängig waren, mussten auch sie gnadenlos dem Mainstream folgen, der reichhaltige Einkünfte versprach. Das schloss ein Zusammenkommen der Schwuchtel mit dem ehrbaren Gatten selbstverständlich aus. Fernsehpublikum war eben überwiegend auf Hetero gepolt und teilweise sogar homophob. Mit der Rolle tat sich Ungethüm also im Grunde keinen Gefallen, bis auf die Begeisterung bei Randgruppen.
All diese Überlegungen führten dazu, dass Nicos Urteil wohlmeinend ausfiel.
„Bei der Präsentation des neuen Duftes von Alemani am vergangenen Wochenende befand sich ein Yannik Ungethüm unter den Gästen. Erst dachte ich, es handele sich um eine Art It-Boy, die männliche Variante einer Paris Hilton, doch weit gefehlt. Ungethüm spielt in der Serie ‚Ein Unfall kommt selten allein‘ den Liebhaber des, mit einer Frau verheirateten, Hauptdarstellers Thomas. In meinen Augen ist der Mann die ideale Besetzung für die Rolle. Für jemanden wie Ungethüm würde selbst ich, als konsequent straighter Vertreter, über eine Konvertierung zum gleichen Geschlecht nachdenken. Wobei der Schauspieler behauptet, bi zu sein und eher zu Frauen zu tendieren. Somit erübrigt sich mein Gedankenspiel.
Eines muss ich Ungethüm echt lassen: Der Mann besitzt Mut. Nach dieser Rolle wird er für die Zuschauer immer der sein, der doch mal einen Schwulen gemimt hat. Insofern wird man ihm zukünftig Heten-Romanzen kaum abkaufen. Angebote in diese Richtung dürfte es dementsprechend nicht gerade hageln. Andererseits gibt es viele Schauspieler, die mit einem festgelegten Typ großen Erfolg haben. Ich bin jedenfalls gespannt, welchen Part Ungethüm als nächstes spielen wird.“
Nico kopierte ein Foto von Ungethüms Instagram-Profil, fügte es in Lutz‘ Blog ein und postete darunter den Text. Anschließend beendete er die Session, klappte das Notebook zu, lehnte sich zurück und trank seinen Rest Bier.
Anfangs hatte er geplant, den Blog nur ein paar Monate fortzuführen. Bloß so lange, bis er sich mit Lutz‘ Tod abgefunden hatte. Darüber waren nun schon Jahre ins Land gegangen. Vermutlich wäre es das Beste, den Kram konsequent zu löschen. Schließlich riss es seine Wunden jedes Mal aufs Neue auf, mit Lutz‘ Internetpräsenz konfrontiert zu werden. Trotzdem konnte er seinen Bruder einfach noch nicht ganz gehen lassen. Solange Lutz‘ Profil existierte, weilte für ihn dessen Seele weiterhin auf Erden.
Nico machte sich bettfertig und las noch eine Weile, bevor er das Licht löschte und nach langem Starren ins Dunkel endlich einschlief.
Am nächsten Abend checkte er gewohnheitsmäßig Lutz‘ Email-Account, der im Impressum des Blogs, neben einer Fantasieanschrift, angegeben war. Nach einem Posting kamen manchmal Nachrichten von Lesern, die er stets sofort löschte, wenn ihm schon die Betreffzeile nicht gefiel. Wer Lutz‘ Beiträge nicht mochte, hatte bei ihm konsequent verschissen.
Diesmal war neben einigen, die diesem Kriterium entsprachen, eine Mail eingetroffen, die er am liebsten ebenfalls ungelesen in den Mülleimer verschieben würde. Der Betreff lautete ‚dein Blogeintrag‘ und sie stammte von Yannik Ungethüm.
Bisher war er von solchen Kontaktversuchen verschont geblieben. Dabei hatte er in Ungethüms Fall nicht mal Beleidigendes geschrieben. Oder etwa doch? Rasch wechselte er zum Blog und kaute jede einzelne Zeile durch. Lediglich der Satz mit dem ‚konvertieren‘ wirkte beim zweiten Hinsehen etwas schlüpfrig. Der Rest war in seinen Augen völlig okay. Dennoch klopfte ihm das Herz bis zum Hals, als er die Mail öffnete.
„Hallo Lutz. Ich bin total geflasht. Noch nie hat mich jemand so positiv in den Medien erwähnt. Eigentlich bin ich es eher gewohnt, Hasstiraden über meine Rolle zu lesen. Mein Postfach quillt teilweise über von Schmähungen, dass ich doch gefälligst meine dreckigen Finger von Thomas lassen soll. Ich wundere mich immer wieder, wie ernst Leute Fernsehen nehmen. Lange Rede, kurzer Sinn: Danke. LG Yannik.“
Erleichtert seufzend fuhr sich Nico mit beiden Händen übers Gesicht und atmete ein paarmal tief durch. Erneut las er die Nachricht. Euphorie kam auf. Yannik hatte sein Eintrag gefallen!
Was hätte sein Bruder an dieser Stelle getan? Soweit er wusste, war Lutz nie in diese Lage geraten. Die Nachricht zu ignorieren wäre unhöflich, bewiese aber Understatement. Schließlich bettelte er nicht um die Aufmerksamkeit der Promis, sondern äußerte bloß seine Meinung.
Aufgewühlt sprang er auf und lief in die Küche. Bei seiner Heimkehr hatte er als erstes Gunnar2 versorgt und ein bisschen mit seinem Vögelchen gekuschelt. Nun brauchte er unbedingt Nachschlag, um seine vibrierenden Nerven zu beruhigen.
Kaum hatte er die Tür des Käfigs aufgeklappt, kletterte sein Mitbewohner auf die Stäbe und hüpfte in seine einladend hingehaltene Handfläche. Er ließ sich auf dem nächstbesten Stuhl nieder.
„Mensch zu sein ist ganz schön schwer“, klagte er Gunnar2 sein Leid.
Der Vogel legte das Köpfchen schief und blinzelte zu ihm hoch.
Das wirkte ein bisschen ratlos, weshalb er sich genötigt sah zu präzisieren: „Ständig muss man sich Gedanken darum machen, wie man sich anderen gegenüber verhält. Das ist ein bisschen wie Schachspielen: Da grübelt man ewig über einen Zug, tut ihn schließlich, stellt fest, dass es der Falsche war und verliert womöglich eine wichtige Figur. Beim nächsten muss man dann noch länger nachdenken.“
Leise schnatternd schmiegte sich Gunnar2 tiefer in seine Hand. Während er die weichen Federn streichelte fiel ihm auf, welch traurigen Wahrheitsgehalt seine Worte besaßen. Nicht nur auf die gegenwärtige Situation bezogen, sondern auf ihn im Allgemeinen. Spontanität war für ihn ein Fremdwort. Stets überlegte er jeden Schritt so lange, dass er darüber letztendlich meist keinen unternahm.
Es grenzte an ein Wunder, dass er überhaupt sexuelle Erfahrungen vorweisen konnte. Allerdings verdankte er die nur Matthis, Lutz‘ bestem und bekennend bisexuellem Freund. Der hatte ihm so lange in den Ohren gelegen, bis er nachgab und dem Besuch eines einschlägigen Clubs zustimmte. Dank reichlich strömenden Alkohols war er seine Jungfräulichkeit im Darkroom losgeworden.
Ein erhebendes Gefühl, wenn auch nach dem ersten Mal damit verbunden, eine Weile kaum sitzen zu können. Also im wahrsten Sinne erhebend: Er hatte zwei Tage liegend oder im Stehen verbracht. Dennoch war er angefixt und noch etliche Male mit Matthis unterwegs gewesen, bis zu Lutz‘ Tod.
Dieser Schicksalsschlag hatte einiges bewirkt. Zum einen verschwanden ihre ehemals gemeinsamen Freunde, bis auf Matthis, in der Versenkung, zum anderen sah er sein Rumgevögele in einem anderen Licht. Er hatte es nicht aus Vergnügen getan, sondern bloß, um seinen Marktwert zu erkunden. Gefühle und Zärtlichkeit waren dabei komplett auf der Strecke geblieben.
In den ersten Monaten nach der Beerdigung herrschte auch bei Matthis derart große Trauer, dass sie sich nur trafen, um über Lutz zu reden. Späteren Versuchen, ihn wieder zu Clubbesuchen zu überreden, widersetzte er sich beharrlich. Inzwischen beschränkten sich ihre Kontakte auf vierteljährliche Telefonate. Er rechnete Matthis hoch an so hartnäckig zu sein, da die Initiative nie von seiner Seite kam.
Apropos: „Was meinst du? Soll ich ihm antworten?“, fragte er Gunnar2.
Niedergeschmust kauerte der Piepmatz in seiner Hand und gab keinen Mucks von sich.
„Du hast Recht. Ich sollte es lassen.“ Er beförderte Gunnar2 sanft zurück in den Käfig, schloss die Klappe und ging ins Wohnzimmer.
Die Sache ließ ihm dennoch keine Ruhe. Sinnend ließ er sich vorm Notebook nieder, kratzte sich am Kinn und wackelte mit der Maus, um den dunklen Monitor zu aktivieren.
Schließlich tippte er: „Hallo Yannik, es gibt wirklich viel zu viele Verrückte auf der Welt. Verrätst du mir, wie sich deine Rolle in der Serie entwickelt? Gibt es für dich ein Happy End mit Thomas? LG N.“
Der Cursor schwebte schon über ‚Senden‘, als Nico sein Fauxpas auffiel. Rasch änderte er das ‚N‘ in ein ‚L‘ um und schickte die Mail ab.
Yannik grinste amüsiert beim Lesen von Lutz‘ Nachricht. Als ob es nicht klar wie Kloßbrühe wäre, dass der Schwule am Ende leer ausging.
„Sorry, meine Lippen sind vertraglich versiegelt. LG Y.“, sendete er als Antwort.
Anschließend überflog er die restlichen Emails, darunter eine Ermahnung seines Agenten, das Fotoshooting am nächsten Tag nicht zu vergessen. Hatte er je irgendeinen Termin versäumt? Trotzdem schickte er brav ein Dankeschön zurück.
Als nächstes besuchte er Lutz‘ Blog, neugierig darauf, ob es etwas Neues gab. Leider Fehlanzeige. Lange betrachtete er die Startseite. Wenn das auf dem Foto wirklich Lutz war bedauerte er sehr, es mit einem Hetero zu tun zu haben. Der Typ sah heiß aus, dazu noch wie jemand, der ansteckenden Humor besaß.
Am folgenden Tag war eine neue Mail von Lutz eingetroffen: „Verständlich. War auch nur ein Versuch. Ich drück dir die Daumen, dass du bald eine Hauptrolle angeboten bekommst. LG L.“
Ziemlich erschossen hing Yannik auf der Couch, das Notebook auf den Knien und eine Flasche Bio-Limo in der Hand. Manchmal wusste er nicht, was anstrengender war: In wechselnden Outfits in der Hitze von Schweinwerfern zu posieren, ständig lächelnd und unter den Argusaugen eines kritischen Fotografen, oder wieder und wieder dieselbe Szene spielen zu müssen, weil dem Regisseur ein Detail nicht gefiel.
Thomas, im realen Leben Moritz Eschenbaum, war ein echtes Arschloch. Allein dafür, in der Serie eine Hauptrolle ergattert zu haben, glaubte der Typ gottähnlichen Status zu besitzen. Permanent ließ Thomas ihn spüren, bloß die Schwuchtel in einer Nebenrolle zu sein. Zum Glück war sein Part bald beendet. Noch drei Folgen, dann konnte der Idiot ihm den Buckel runterrutschen.
Yannik trank einen Schluck und las erneut Lutz‘ Nachricht. Sollte er damit prahlen, demnächst in einer Tatortfolge einen Junkie zu mimen? Leider war sein Auftritt nur sehr kurz und endete als Leiche, aber immerhin hatte er damit erstmals den Sprung vom Vorabend- ins Hauptprogramm geschafft.
Er stellte die Flasche beiseite und begann zu tippen: „Hi Lutz. Danke fürs Daumendrücken. Es hat bereits Wirkung gezeigt. Beim nächsten Tatort bin ich dabei, wenn auch nur kurz in lebendiger Form. Ich behaupte aber einfach mal, dass das Mordopfer in einem Krimi ein Aufstieg ist. Vielleicht bin ich ja so gut darin, dass ich nächstes Mal den Täter spielen darf. Die Rolle des Bösewichts reizt mich ungemein. LG Y.“
Nachdem er die Mail abgesandt hatte, googelte er seinen Namen. Auf diese Weise war er über Lutz‘ Blog gestolpert. Gelangweilt klickte er sich durch ein paar neue Einträge im Netz. Seine Fangemeinde bestand zum größten Teil aus Teenagern, die davon träumten, ihn mittels weiblichen Reizen ein für alle Mal zum Hetero zu bekehren. Obwohl er dem schönen Geschlecht generell nicht abgeneigt war, tendierte er eher zu Männern. Er fand Schwänze eben geiler als Muschis.
Er war gerade wieder auf Lutz‘ Blog gelandet, als sein Smartphone vibrierte. Auf dem Display erschien Karels Konterfei. Seit ihrem gemeinsamen Besuch der Alemani-Präsentation hatte er nichts von seinem Freund gehört. Yannik schnappte sich das Gerät und nahm das Gespräch an.
„Oh Mann! Ich lass mich nie wieder von dir zu so einer dämlichen Promi-Veranstaltung schleppen“, polterte sein Freund gleich los. „Seitdem herrscht in der Firma um mich eine Art Starrummel. ‚Der Chef ist mit einem Schauspieler befreundet‘, tuschelt man auf den Fluren.“
„Nun lass mal die Kuh im Dorf. So schlimm wird es wohl nicht sein.“
Karel seufzte. „Okay. Ich übertreibe. Trotzdem nervt es ziemlich.“
„Das Fingerfood war aber ziemlich lecker und du hast drei Flakons des Duftwässerchens gekauft.“
„Das Zeug riecht eben verdammt gut. Gehen wir am Wochenende zusammen essen?“
„Gern. Am Samstag um acht im Tre Scalini? Hinterher könnten wir ein paar Clubs unsicher machen.“ Grinsend, da er Karels Grimasse förmlich sehen konnte, nippte er an seiner Limo.
„Vorschlag eins ist sofort angenommen. Das mit dem Hinterher ... Ehrlich? Ich glaube, ich werde zu alt für den Mist.“
„Wann bist du eigentlich das letzte Mal flachgelegt worden?“
„Hallo? Was geht dich das an?“
„Ich bin immerhin dein bester Freund.“ Sie waren sogar mal zusammen in die Kiste gesprungen. Leider harmonierten sie auf sexueller Basis null miteinander und hatten daher beschlossen, es bei ihrer Freundschaft zu belassen.
„Ich komm klar“, brummelte Karel.
„Na gut. Dann bis Samstag.“ Yannik beendete die Verbindung und legte das Smartphone zurück auf den Couchtisch.
Eigentlich war er bereits bettschwer, dennoch trieb ihn Neugier dazu erneut seinen Email-Account zu checken. Lutz hatte inzwischen geantwortet.
„Wow! Du hast es also geschafft. Sag mir bitte Bescheid, wann der Tatort gesendet wird. Das will ich keinesfalls verpassen. LG L.“
Dieser Lutz war total süß. Lächelnd klappte er sein Notebook zu und sah einen Moment ins Leere, bevor er das abendliche Ritual im Bad einläutete und todmüde in sein Bett fiel.
Am folgenden Tag standen Dreharbeiten an. Er schaffte es ganz gut Thomas‘ Sticheleien auszublenden. Abends sah er vergeblich in seine Postfach: Keine Nachricht von Lutz. Klar, er war am Zug, doch was sollte er schreiben? Auf die letzte Mail gab es nicht zu erwidern, bis auf die Bekanntgabe des Termins.
Was sprach eigentlich dagegen, sich mit Lutz zu verabreden? Der Typ schien ziemlich intelligent und humorvoll zu sein. Für den Fall, dass er sich irrte, musste der Treffpunkt allerdings einen Fluchtweg bieten. Oder er bat Karel an dem Treffen teilzunehmen. Das war wohl die beste Lösung. Wenn sich Lutz unterhaltungstechnisch als Niete entpuppte, rettete sein Freund die Situation mit der Gabe, oberflächliche Konversation zu betreiben. Deshalb hatte er Karel auch auf die Veranstaltung mitgenommen.
Yannik erwärmte sich immer mehr für diese Idee. Sie bot die Gelegenheit, eine unverbindliche Einladung auszusprechen. Angenommen Lutz sagte erst zu und überlegte es sich im letzten Moment anders, wahrten sie beide ihr Gesicht.
Er schrieb: „Ich treffe mich am Samstag mit einem Kumpel (dem, der mich auf die Alemani-Duft-Vorstellung begleitet hat) zum Essen. Vielleicht hast du ja Lust dich dazuzugesellen? Ich würde mich echt freuen, dich persönlich kennenzulernen. Die Eckdaten: Acht Uhr im Restaurant Tre Scalini, hier der link zur Homepage: www.tre-scalini.de. Selbstverständlich bist du eingeladen. Ich reserviere einfach mal einen Tisch für drei. LG Y.“
Letzteres tat er als nächstes. Am Wochenende war das Restaurant stets stark frequentiert, eine Reservierung also unumgänglich. Danach rief er Karel an, um jenen vorzubereiten.
„Willst du etwa absagen?“, fragte sein Freund anstelle einer Begrüßung.
„Quatsch. Ich hab bloß noch jemanden dazu geladen.“
„Ach? Reicht dir meine Gesellschaft nicht mehr?“
„Nun werde nicht komisch. Du bist gewissermaßen mein Trumpf, wenn sich dieser Lutz als merkwürdiger Typ herausstellt.“
„Welcher Lutz?“
Mit knappen Worten klärte er Karel über die Geschehnisse auf. Anscheinend hatte sein Freund gleich, als er Lutz‘ Blog erwähnte, dessen Seite aufgerufen.
„Der ist nie im Leben schwul“, meinte Karel nämlich überzeugt und fügte hinzu: „Das wäre zu schön um wahr zu sein.“
„Ja, er sieht wirklich ziemlich heiß aus“, stimmte Yannik zu.
„Falls das Unmögliche eintrifft und er mehr auf mich als auf dich steht: Sei nicht traurig.“
„Als ob du neben mir eine Chance hättest.“
„Immerhin hab ich Geld wie Heu.“
„Stimmt. Geld macht sexy.“ Yannik feixte.
Auf diese Weise flachsten sie noch eine Weile, bevor sie das Gespräch beendeten.
Von Lutz kam keine Antwort. Yannik war ein bisschen enttäuscht, da er insgeheim mit einer gerechnet hatte. Zumindest einer vagen Ansage, sich das Ganze zu überlegen. Sowohl den ganzen Freitag als auch Samstag sah er oft vergeblich in sein Postfach.
Um halb acht brach er auf und traf pünktlich im Restaurant ein. Kurz nach ihm trat Karel durch die Tür, guckte sich suchend um und kam auf seinen Tisch zu.
„Und? Kommt dieser Lutz auch?“
„Sieht nicht so aus. Er hat weder eine Absage, noch eine Zusage geschickt.“
„Schade.“ Seufzend ließ sich Karel ihm gegenüber nieder. „Ich war ziemlich gespannt auf den Typen.“
„Ich auch. Egal. Du bist eingeladen. Es gibt einen Grund zu Feiern.“
„Welchen?“ Fragend zog Karel die Brauen hoch.
„Ich hab eine Rolle im Tatort. Bloß das Mordopfer, doch vielleicht entdeckt mich endlich jemand als Charakterdarsteller.“
„Wieviel Charakter kann man als Leiche aufweisen?“
„Vorher bin ich ein paar Minuten lebendig.“
„Auf welche Weise stirbst du denn?“
„Das verrate ich lieber nicht, sonst vergeht dir der Appetit.“ Er zwinkerte Karel zu und nahm die Speisekarte an, die der just aufgetauchte Ober ihm hinhielt.
„Möchten die Herren schon etwas zu trinken bestellen?“
Karel griff ebenfalls nach einer der Karten. „Für mich bitte ein kleines Alsterwasser.“
„Ich hätte gern ein großes Pils“, bat Yannik.
Der Ober deutete einen Diener an, ließ eine Speisekarte neben dem dritten Gedeck liegen und verschwand.
„Was meinst du? Hat dein Internet-Kumpel kalte Füße bekommen?“, fragte Karel leise.
„Keine Ahnung. Vielleicht ist der Typ ein grottenhässlicher Fettwanst, der das Foto eines Fremden für seinen Blog verwendet.“
„Tückisches WWW.“ Kopfschüttelnd widmete sich Karel dem Studium des Speisenangebots.
Wahre Worte. Im Grunde konnte sich jede beliebige Person hinter dem Profil verbergen. Die Anonymität des Internets zog ja so manche Spinner an, wie man neulich mal wieder gesehen hatte, als ein riesiger Kinderpornoring aufflog.
Yannik schlug die Karte auf. Da er schon wusste, was er essen wollte, sah er nur kurz hinein und behielt dann die Eingangstür im Auge. Auf ein Pärchen, das von einem Ober zu einem Fensterplatz geführt wurde, folgte ein einzelner Mann. Unsicher schaute der Typ sich um, entdeckte ihn und kam zögerlich näher.
„Ich denke, ich nehme das Lammfilet. Wenn du schon mal zahlst, soll es sich wenigstens lohnen“, murmelte Karel, guckte hoch, folgte seinem Blick und fügte trocken hinzu: „Grottenhässlich ist der jedenfalls nicht.“
Im Geiste gab er seinem Freund Recht. Der Mann war zwar keine auffällige Schönheit, aber ausnehmend apart. Braune, ungebärdige Haare umrahmten ein feines Gesicht mit ausdrucksvollen Augen. Die schlanke Figur steckte in
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Sissi Kaiserlos
Bildmaterialien: shutterstock design Lars Rogmann
Lektorat: Aschure - danke
Tag der Veröffentlichung: 23.09.2017
ISBN: 978-3-7438-3379-1
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