Cover

Sommersplitter – Vol. 2

 

Von Biestern und Schlampen

 

Sämtliche Personen, Orte und Begebenheiten sind frei erfunden, Ähnlichkeiten rein zufällig. Der Inhalt dieses Buches sagt nichts über die sexuelle Orientierung des Covermodels aus. Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck oder eine andere Verwertung, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung der Autorin. E-Books sind nicht übertragbar und dürfen nicht weiterveräußert werden. Bitte respektieren Sie die Arbeit der Autorin und erwerben eine legale Kopie. Danke!

Text: Sissi Kaiserlos

Foto von shutterstock – Design Lars Rogmann

Korrektur: Aschure. Danke!

Kontakt: http://www.bookrix.de/-sissisuchtkaiser/


Der Schöne und das Biest

Seit drei Monaten ist Moses unglücklich verliebt. Als ob das nicht Strafe genug wäre, ist der neue Mitbewohner in seiner WG ein ständiger Lärmquell. Unerwartet erhält er von seinem Kumpel Erich das Angebot, in dessen Wohnung unterzukriechen. Damit ist ein Problem vorläufig gelöst. Einmal dabei, beendet er auch gleich die Liaison mit Johannes. Wozu länger auf etwas hoffen, das nie eintreten wird?

~ * ~



1.

Zufrieden betrachtete Johannes die festliche Tafel: Kristallgläser, edles Porzellan, Silberbesteck und Damastservietten. Den Mittelpunkt bildete ein mehrarmiger Kerzenleuchter. Der flackernde Schein der Wachslichter spiegelte sich auf der blank polierten Tischfläche. Eine Flasche Rotwein hatte er vor einer Weile geöffnet, damit der gute Tropfen atmen konnte. Das bestellte Essen war bereits geliefert worden und stand in der Küche. Er warf einen Blick auf seine Patek Phillipe. Drei Minuten vor sieben. Moses müsste also in Kürze erscheinen.

Vor drei Monaten hatten sie sich im Krankenhaus kennengelernt. Normalerweise überließ er es seinen Angestellten, Termine mit Kunden wahrzunehmen. In diesem Fall handelte es sich jedoch um einen Bekannten seines Vaters, mit vielversprechendem finanziellen Hintergrund. Nachdem er dem todgeweihten Mann die wohl kostspieligste Beerdigung seiner beruflichen Laufbahn verkauft hatte, verließ er mit gemischten Gefühlen das Krankenzimmer. Einerseits freute er sich natürlich über das lukrative Geschäft, andererseits holte der Tod mal wieder viel zu früh einen der Guten.

Ganz in Gedanken versunken lief er über den Gang und rannte förmlich in Moses hinein. Der zog gerade rückwärts einen Rollwagen aus einem Raum. Durch ihren Aufprall geriet die Fracht ins Wackeln. Etliche Kartons segelten auf den Boden. Er half selbstverständlich, das Zeug zurück auf den Wagen zu befördern. Dabei fiel ihm Moses‘ ausnehmend hübsches Gesicht und die klasse Figur auf. Jener beäugte ihn ebenfalls und zwar in einer Weise, die auf Interesse hindeutete.

Als der Schaden behoben war, überreichte er seine Visitenkarte und bat, Moses gelegentlich zum Essen ausführen zu dürfen. Eine Woche später trafen sie sich in einem feinen Restaurant seiner Wahl. Er stellte unmissverständlich klar, lediglich an einer körperlichen Beziehung interessiert zu sein. Moses schien einen Moment enttäuscht, erklärte sich dann jedoch schnell einverstanden.

Seitdem pflegten sie ein rein sexuelles Verhältnis. Allerdings ein Stilvolles. Erst speisten sie fürstlich, gewissermaßen eine Art Vorvorspiel. Danach folgten eine kleine Aufwärmphase und der eigentliche Akt. Postkoitales Kuscheln war nicht sein Ding, weshalb er hinterher stets sofort aufstand und einen Morgenmantel überstreifte. Lieber ließ er das Erlebnis mit einem guten Scotch auf Eis ausklingen.

Erneut schaute er auf die Uhr. Inzwischen war es fünf nach sieben. Unruhig tigerte er in die Küche und inspizierte die Speisen, welche in Warmhaltebehältern darauf warteten serviert zu werden. Rehrücken, grüne Bohnen, Salzkartoffeln und Rahmsauce. Zum Nachtisch hatte er Schokoladenmousse geordert, mit dem Hintergedanken, sie vielleicht ins Vorspiel einzubeziehen. In letzter Zeit waren ihm viele frivole Sachen eingefallen, die er gern mal mit Moses tun würde. Bislang hatte er sich noch nicht dazu durchringen können, von seinem alten Muster abzuweichen, doch mit jedem Treffen wurde der Wunsch nach Abwechslung größer. Eventuell schaffte er es ja dieses Mal, über seinen Schatten zu springen.

Er hob die Alufolie an, unter der sich die Mousse befand und nahm eine Kostprobe. Als er seine Fingerkuppe ableckte, ertönte ein akustisches Signal, das eine eingehende SMS verkündete. Lächelnd, in der Annahme, dass Moses gleich läutete und vorab eine Entschuldigung für die Verspätung sandte, fischte er sein Smartphone aus der Hemdtasche.

„Sorry, aber ich kann nicht. Mir ist was dazwischengekommen.“

Fassungslos starrte er aufs Display. Blinder Zorn wallte hoch. Was – bitteschön! – bildete sich diese Schwuchtel ein? Das hier war doch keine wenn-du-Lust-hast-komm-vorbei Veranstaltung! Wozu gab er sich die ganze Mühe, deckte liebevoll den Tisch, machte sich einen Kopf über das Menü, verwandte viel Zeit darauf, seinen Körper in jederlei Hinsicht für den Akt vorzubereiten? Nicht nur, dass er peinlich genau sämtliche Härchen entfernte, verzichtete er vor ihren Dates immer 24 Stunden darauf, sich selbst Erleichterung zu verschaffen. Außerdem cremte er sich nach dem Duschen mit duftender Körperlotion ein, betrieb Nagelpflege und suchte seine Kleidung mit allergrößter Sorgfalt aus. Und wofür das alles?

Wutentbrannt schmetterte er das Gerät gegen die Wand. Es ertönte ein hässliches Geräusch, das von splitterndem Plastik zeugte. Er atmete mehrmals tief durch, bis die roten Kringel vor seinen Augen verschwunden waren, ging in die Hocke und begutachtete den Schaden. Das Display hatte den Aufprall nicht überlebt und bestand nur noch aus Fragmenten. Ein paar der größeren Teile sammelte er auf, ließ sich am Tisch nieder und versuchte, aus den Puzzlesteinen vergeblich die Oberfläche zu rekonstruieren. Eh eine sinnlose Aktion, da das Smartphone wohl völlig hinüber war.

Sein Vorhaben, eine harsche Antwort zu schicken, konnte er also vergessen. Er besaß zwar ein zweites Gerät für berufliche Zwecke, aber nicht Moses‘ Nummer. Die war in dem kaputten Handy gespeichert gewesen.

Mit hängendem Kopf hockte er eine Weile da und stierte ins Leere. Er hatte sich so auf den Abend gefreut. Ihr letztes Treffen war schon eine Woche her, sein Verlangen nach Sex entsprechend groß.

Die Essensgerüche empfand er plötzlich als widerlich und floh vor ihnen aus der Küche. Im Flur hielt er vorm Garderobenspiegel und musterte sich darin. Seine Visage wirkte unfertig, als ob ein Bildhauer irgendwann die Lust am Objekt verloren hätte. Die Züge waren grob, seine große Nase von einem Höcker gekrönt. Unter buschigen Brauen sahen ihm braune Augen unter schweren Lidern entgegen. Das einzige schöne an ihm waren seine Lippen, hinter denen sich makellose Zähne verbargen. Außerdem besaß er volles Haupthaar, allerdings ebenfalls in einem unspektakulären Braun.

Obwohl die notwendigen monetären Mittel für eine Schönheitsoperation vorhanden waren, lehnte er solche Maßnahme ab. Er könnte sich niemals damit anfreunden, mit einer künstlichen Fassade herumzulaufen. Das käme dem Aufsetzen einer Maske gleich. Seit immerhin fast 40 Jahren lebte er mit diesem Gesicht, das ihm zudem in seiner Branche zugutekam. Als Bestatter war seine grimmige Visage durchaus vorteilhaft. Er strahlte automatisch den nötigen Ernst aus, den es für seinen Beruf brauchte. In dritter Generation führte er das Familienunternehmen, das ihm sein Vater vererbt hatte. Auch seine Fratze verdankte er dessen Genen.

Im Wohnzimmer schnappte er sich die geöffnete Flasche Rotwein, schenkte ein Glas voll und trank den ersten Schluck im Stehen. Wie hatte sein Opa stets so schön gesagt? ‚Gestorben wird immer, mein Junge‘, waren dessen Worte gewesen. Inzwischen bestand sein Unternehmen aus drei Geschäftsstellen und lieferte zuverlässige Umsätze. Das Trauergewerbe hatte sich zwar verändert, wegen der mittlerweile grassierenden anonymen Bestattungen, aber die Zahl der Toten blieb konstant. Insofern hatte sein Großvater Recht behalten.

Er nahm auf der Couch Platz und sah den Kerzen trübsinnig, während der Inhalt der Weinflasche zügig verdunstete, beim Niederbrennen zu. Die nächste erlitt das gleiche Schicksal. Dank des Alkoholpegels, schlief er nach dem Zubettgehen schnell ein.



Am nächsten Morgen erwachte er verkatert. Als er in die Küche schlurfte, empfing ihn abgestandener Essensgeruch. Er riss das Fenster auf, kramte eine Aspirin aus einer der Schubladen und spülte sie mit reichlich Leitungswasser runter. Anschließend setzte er die Kaffeemaschine in Betrieb und verzog sich ins Bad, um ausgiebig zu duschen.

Es brauchte zwei Becher Koffeindröhnung, seinen Verstand in Arbeitsbereitschaft zu versetzen. Einen dritten in der Hand, betrachtete er nachdenklich das kaputte Smartphone. Nur zu gern würde er Moses anrufen und seinen Unmut kundtun. Darauf zu warten, dass sich jener meldete, passte ihm gar nicht in den ... Ähm. Wie sollte das denn gehen? Dazu müsste er die SIM-Karte des Gerätes in das andere stecken und wäre für Kunden nicht mehr erreichbar. Sehr unprofessionell und damit ausgeschlossen. Ein neues Smartphone musste sowieso her, also entschied er, sich umgehend darum zu kümmern.

Sobald er sich ausreichend fit fühlte, fuhr er zum nächsten Elektronik-Discounter. An einem Samstagvormittag eine schlechte Idee. Der Andrang war derart groß, dass er rund eine Stunde in dem Laden zubrachte, bis er, ein funkelnagelneues Mobiltelefon in der Tasche, heimkehren konnte. Dort empfing ihn seine Haushälterin Magda mit vorwurfsvoller Miene.

„Seit wann bestellst du Essen, um es in den Behältern vergammeln zu lassen? Ich hab das Zeug vorsichtshalber weggeworfen“, schimpfte sie.

„Ach? Schade.“

„Nächstes Mal stellst du den Kram bitte in den Kühlschrank.“

Er salutierte zackig. „Aye, aye, Mum!“

Lächelnd schüttelte sie den Kopf. Seit 15 Jahren führte sie seinen Haushalt und hatte ihn praktisch adoptiert. Sie trug das Herz am rechten Fleck und nahm selten ein Blatt vor den Mund. Wenn er über die Stränge schlug, erteilte sie ihm einen Verweis. Ansonsten umgab sie ihn mit warmer Zuneigung.

„Hast du dir ein neues Spielzeug gekauft?“ Milde amüsiert betrachtete sie den Karton, den er aus seiner Jackentasche befreite.

„Mhm. Mein altes Handy ist mir runtergefallen.“ Er ließ Jacke sowie Schuhe an der Garderobe und begab sich auf die Couch im Wohnzimmer.

Versehentlich hatte er vor seinem Aufbruch vergessen, die leeren Buddeln zu entsorgen und den Tisch abzuräumen. Inzwischen hatte Magda das erledigt. Das bedeutete, dass sie von seinem einsamen Saufgelage wusste und garantiert darüber reden wollte. Wie erwartet, kam sie herein, nahm in dem Sessel gegenüber Platz und faltete die Hände im Schoß.

„Es geht mich zwar nichts an, aber du solltest dir endlich einen netten Mann suchen, der zu dir passt.“

„Nett ist die kleine Schwester von Schei...“ Im letzten Augenblick biss er sich auf die Zunge. „Ich weiß“, setzte er lahm hinterher.

„Ich versteh das nicht. Du bist so eine stattliche Erscheinung, dazu noch vermögend. Die Männer müssen alle blind sein.“

„Stattlich. Ha, ha“, brummelte er.

„Die beiden leeren Flaschen nehme ich auf dem Heimweg mit zum Glascontainer. Muss ich mir um dich Sorgen machen?“

„Unsinn. Ich war gestern nur ziemlich enttäuscht, weil Moses mich versetzt hat.“

„Moses? Ein hübscher Name. Ist er Jude?“

„Keine Ahnung. Wahrscheinlich. Er ist jedenfalls beschni... Öhm. Vergiss das gleich wieder.“

„Hallo? Hältst du mich für rückständig? Ich hatte in meiner Jugend mehr Liebhaber, als du dir vorstellen kannst. Darunter waren auch welche, denen untenrum ein Stück Haut fehlte.“ Verschwörerisch zwinkerte Magda ihm zu. „Ein bisschen mehr Durchhaltevermögen haben die ja schon.“

„Ist mir bisher nicht aufgefallen.“ Mein Gott! Diskutierte er wirklich mit seiner Haushälterin über die Vorzüge beschnittener Schwänze?

„Wie dem auch sei ...“, lenkte Magda aufs eigentliche Thema zurück. „Du brauchst endlich jemanden, der sich um dich kümmert. Ich werde schließlich nicht jünger.“

„Na, hör mal! Du bist nicht mal 60 und wirst garantiert noch 100 werden.“

„So lange möchte ich aber nicht mehr hinter dir herräumen.“

„Ich schaff das auch allein. Dazu brauche ich keinen Mann.“

Magda erhob sich. „Denk über meine Worte nach. Ich meine es doch nur gut.“

Die liebe Seele tätschelte seine Wange und verließ den Raum. Erleichtert darüber, die Inquisition relativ glimpflich überstanden zu haben, atmete er auf. Nachdem er ein zerschlissenes Telefonverzeichnis aus dem Sideboard gekramt hatte, begann er wichtige Nummern ins Smartphone zu speichern. Am Ende waren es nur zehn Einträge: Sechs Ärzte, zwei Ex-Bettpartner, seine Eltern und Magda. Was für eine erbärmliche Bilanz.

Er legte das Gerät auf den Couchtisch, lehnte sich zurück und streckte seine Beine aus. Seine Gedanken wanderten erneut zu Moses. Es war wirklich wenig, was er über den Mann wusste. Bis auf den Nachnamen, nämlich Rosenbaum und die Arbeitsstelle im Krankenhaus keine persönlichen Eckdaten. Beim Essen hatte sich ihre Unterhaltung meist um aktuelle Kinofilme oder das Tagesgeschehen gedreht; daher waren ihm schon Moses‘ Filmgeschmack, politische Ausrichtung und Lieblingsschauspieler bekannt. In Anbetracht der Länge ihres Verhältnisses dennoch eine magere Ausbeute. Das einzige, worüber er sehr genaue intime Kenntnisse besaß, war die Enge von Moses‘ Arsch. Großartig! Outete er sich etwa gerade gedanklich als sexistisches Arschloch?

Seufzend rieb er sich übers Kinn. Auch von Moses‘ Vorgängern hatte er kaum Privates gewusst, bis auf körperliche Details. Einige waren einfach weggeblieben, ohne ihm eine Nachricht zu schicken. Ein paar hatten versucht ihn finanziell auszunehmen, woraufhin er die Sache beendete. Im Grunde war es also ein feiner Zug, ihn zumindest über das Fernbleiben zu unterrichten. Was das andere betraf, hatte Moses oft vorgeschlagen, auf das kostspielige Essen zu verzichten und stattdessen ein paar Eier in die Pfanne zu hauen oder einfach Pommes zu besorgen. Diese bescheidene Art gefiel ihm ausnehmend gut.

Er hoffte wirklich, dass ihr Verhältnis noch lange währte. Die Vorstellung, in absehbarer Zeit auf Moses zu verzichten, bereitete ihm Unbehagen. Obwohl er bisher immer einen Nachfolger gefunden hatte, schwante ihm, das nächste Mal vor einem echten Problem zu stehen. Zum einen wurde er nicht jünger, zum anderen waren seine Ansprüche gewachsen. Mit einem weniger reizvollen, umgänglichen und klugen Mann als Moses würde er sich niemals zufrieden geben.

„Johannes? Komm mal und hilf mir dein Bett zu beziehen“, erlöste ihn Magdas Hilferuf aus seinen Grübeleien.



Bis um vier hielt ihn die agile Frau auf Trab. Gardinen abnehmen, nach erfolgter Wäsche wieder aufhängen. Dazwischen die Fensterbänke leerräumen, damit sie Fenster putzen konnte, Möbel rücken, um dahinter zu staubsaugen und so weiter ...

Völlig erledigt verabschiedete er sich von ihr, heilfroh, am folgenden Tag Ruhe vor dem Putzteufel zu haben. Sonntags, mittwochs und freitags hatte Magda stets frei. Unter der Woche war sie eine Art unsichtbarer guter Geist, nur am Samstag bekamen sie einander zu Gesicht.

Als er später vor der Glotze hockte, sah er nur mit halbem Auge hin. Gedanklich beschäftigte ihn erneut Moses. Im Laufe des Tages war ihm klargeworden, dass ein Ende ihrer Liaison ihn ganz schön treffen würde. Nicht unbedingt in sexueller Hinsicht, denn wozu besaß er zwei gesunde Hände, sondern auf anderer Ebene. Er hatte sich eben an Moses gewöhnt. Daran, den hübschen Kerl anzugucken, der melodischen Stimme zu lauschen und das ansteckende Lachen zu hören. Vielleicht könnten sie Freunde werden, anstelle von Sexpartnern.

Über die Mattscheibe begann Werbung zu flimmern, was ihn automatisch veranlasste, in die Küche zu gehen. In einem der Oberschränke fand er eine angebrochene Packung Salzstangen. Bereits auf dem Rückweg schob er sich eine in den Mund. Kauend ließ er sich wieder auf die Couch plumpsen und versuchte, Anschluss an die Handlung des laufenden Krimis zu finden.

„Boah, Alter! Deine Fresse schreit ja förmlich nach meiner Faust“, verkündete einer der jugendlichen Protagonisten, die um einen Obdachlosen herumstanden.

Obwohl es über 20 Jahre her war, wallte die Rückblende an eine ähnliche Äußerung auf. Einmal angestoßen, ließ sich sein Kopfkino nicht mehr stoppen. Als wäre es erst gestern geschehen, sah er deutlich Marks angeekelte Miene.

„Boah, Alter! Mit deiner Fresse solltest du dir beim Abspritzen irgendwas übers Gesicht legen. Das ist ja voll horrormäßig.“

Zuvor hatte Mark ihn bis zum Orgasmus geritten. Die Ansage traf ihn mitten in seinen seligen Nachwehen. Sein jungfräulich in Liebe zu Mark entbranntes Herz war damals versteinert. Der Typ, ein Mitschüler und schon lange sein heimlicher Schwarm, schwang sich von ihm runter und verpasste ihm einen Schubs.

„Zieh Leine. Meine Mutter müsste jede Minute nach Hause kommen.“

So schnell er konnte, stieg er in seine Klamotten und flüchtete aus der Wohnung. Auf dem Hinweg hatte er vor angespannter Erwartung gezittert, nun schüttelte ihn Selbstekel. Sein erster richtiger Sex war für ihn zu einer Katastrophe biblischen Ausmaßes verkommen.

Monatelang litt er unter Alpträumen und war unfähig, selbst Hand anzulegen. Mark hielt die Erinnerung wach und stichelte bei jeder Gelegenheit, wenn sie einander allein begegneten. Erst nach seinem Schulabschluss begannen die schlimmsten Wunden zu heilen.

Seine Seele erholte sich jedoch nie ganz von dem Erlebnis. Die frontale Stellung schied für ihn fortan an aus. Stattdessen fand er einen Kick darin, Typen im Vierfüßlerstand zu ficken. Dank seines Astralleibes und wohldimensionierten Kolbens mangelte es nicht an Kerlen, die sich willig für ihn auf die Knie begaben. Insbesondere bei attraktiven Männern verschaffte es ihm ein berauschendes Gefühl des Triumphes, diese trotz seiner Frankenstein-Visage zum Sabbern zu bringen. Im Laufe der Jahre steigerte er sich immer mehr in diese Sucht nach einem Hype hinein; aber wie alles, was man übertrieb, besaß auch diese Sache ein Verfallsdatum. Bereits vor einiger Zeit hatte er festgestellt, dass sich der Rausch abnutzte.

Ein Vibrieren des neuen Smartphones beendete seinen gedanklichen Ausflug. Die Nummer auf dem Display könnte Moses‘ sein. Dereinst hatte er sie schnell durch dessen Namen ersetzt, daher war er nicht sicher. Rasch angelte er nach einem Stift und kritzelte sie auf den unteren Rand einer Zeitschrift.

„Ja?“, meldete er sich.

„Hi. Hier Moses. Es tut mir echt leid, dass ich gestern absagen musste.“



2.

Der Anruf kostete ihn einiges an Überwindung. Schließlich interessierte sich Johannes null für sein Leben und hatte private Themen stets abgeblockt. Dennoch wollte er zumindest für klare Verhältnisse sorgen, damit Johannes nicht glaubte, er wäre ohne einen Anlass weggeblieben. Das war ihm aus irgendeinem Grund wichtig.

„Ich bin gestern Abend in eine neue Bleibe gezogen. Nachdem ich mein Zeug hergeschafft und mich eingerichtet hatte, war ich völlig platt. Ich konnte wirklich keinen Finger mehr rühren. Den ganzen Tag arbeiten, dann die Schlepperei.“

„Warum hast du denn nicht eher Bescheid gesagt?“, brummelte Johannes.

„Anfangs dachte ich, ich packe nur einen Koffer und hole den Rest später. Als einer meiner Mitbewohner erwähnte, dass mein Zimmer praktisch nahtlos an einen Interessenten vermietet werden kann, hab ich gleich alles zusammengerafft. Das spart eine halbe Monatsmiete.“

„Wenn’s nur um das Geld gegangen ist: Ich hätte dir die Miete spendiert.“

„Ich lass mich nicht von dir bezahlen. Ach, was soll’s. Reden wir Tacheles. Das mit dir und mir führt eh in eine Sackgasse. Lass es uns lieber gleich beenden.“

Johannes schwieg. Er sah dessen gemeißelte Gesichtszüge förmlich vor seinen Augen. Auf andere mochten sie abstoßend wirken, ihn zogen sie an. Auch der Rest von Johannes faszinierte ihn. Die tiefe Stimme, der kräftige Körper und natürlich die 20 Zentimeter zwischen den Beinen. Doch so schön das alles auch war, fehlte etwas Entscheidendes: Gefühle. Er hatte gehofft, dass sich zwischen ihnen mehr entwickelte, aber leider blieben seine Emotionen einseitig. Also: Lieber ein Ende mit Schrecken, als ein Schrecken ohne Ende.

Momentan hatte er wirklich genug andere Probleme. Na gut, das mit dem lärmenden Mitbewohner war nun gelöst. Der Typ arbeitete als DJ und schien die WG mit einer Disco zu verwechseln. Andauernd lief Mucke in ohrenbetäubender Lautstärke. Wahrscheinlich empfand nur er das so, denn die anderen beschwerten sich nicht. Allerdings schliefen die nachts, während er oft tagsüber Ruhe brauchte. Außerdem lag sein Zimmer neben dem des Störfaktors. Somit hatte es ihn oft frühmorgens aus unruhigen Träumen gerissen, wenn der Kerl irgendwelche Groupies anschleppte. Inzwischen konnte er deren Begattungsrufe fast mitsingen und schauderte immer noch, als er an die grelle Tonleiter dachte, die so manchen weiblichen Höhepunkt begleitete.

„Heißt das ...“ Johannes räusperte sich umständlich. „Heiß das, wir sehen uns nicht mehr?“

„Wahrscheinlich. Vielleicht, wenn ich wieder besser drauf bin. Nein. Ich denke nicht.“

„Dann ... dann wünsche ich dir alles Gute.“

„Ich dir auch“, erwiderte er, beendete das Gespräch und legte sein Smartphone auf den Nachtschrank.

Vor drei Monaten hatte er sich in Johannes verliebt und gleich darauf, bei ihrem ersten Date, einen Kübel Eiswürfel über den Kopf gekippt bekommen. Erloschen waren seine Gefühle dadurch nicht. Doch wie sagte man so schön? Steter Tropfen höhlte den Stein. Johannes hatte ihm einen Großteil seiner Verliebtheit praktisch rausgevögelt. Anfangs fand er es ja ziemlich geil, dauerhaft aber ziemlich demütigend, auf die Rolle eines knienden Lochs reduziert zu werden. Das hatte sein Herz zunehmend abgekühlt. Weh tat es dennoch, diesen Schlussstrich zu ziehen.

Seufzend sah er sich im Zimmer um. Der Raum war annähernd so groß wie seine vorherige Unterkunft. Die Einrichtung bestand aus einem französischen Bett, zweitürigen Kleiderschrank, Schreibtisch mit Stuhl und Nachtschränkchen. Vor dem Fenster hingen bunte Gardinen, an den weißen Wänden einige Kunstdrucke mit abstrakten Motiven. Der Boden war mit beigem Teppich ausgelegt. Es handelte sich um das Gästezimmer seines Kumpels Erich. Noch immer konnte er sein Glück kaum fassen.

Am Vortag war ihm endgültig klargeworden, dass die Sache zu eskalieren drohte. Völlig übermüdet, hatte er im Dienst einen groben Fehler begangen. Zum Glück war ihm rechtzeitig aufgefallen, den falschen Infusionsbeutel in seinen Händen zu halten. Beim nächsten Mal hatte er Fortuna vielleicht nicht auf seiner Seite. Er musste unbedingt an seiner Wohnsituation etwas ändern, bevor er aus Versehen jemanden abmurkste.

Sobald sich eine Gelegenheit bot, huschte er in eine Abstellkammer und checkte sein Telefonverzeichnis. Falls er bei keinem seiner Freunde unterkriechen konnte, musste er in eine billige Pension. Dort hätte er wahrscheinlich mit dem gleichen Problem zu kämpfen, also bevorzugte er die erste Variante.

Nacheinander ging er sämtliche Namen seiner Clique durch, schüttelte immer wieder den Kopf und kehrte schließlich zu einem zurück: Murat. Er mochte den Mann sehr und es tat ihm total leid, dessen legendäre Hilfsbereitschaft auszunutzen, aber er wusste echt nicht, an wen er sich sonst wenden sollte.

Als Murat das Gespräch annahm, kam er gleich zur Sache: „Kann ich heute Nacht bei dir pennen? Okay, ich bin lieber ehrlich: Ich brauche wohl für längere Zeit einen Schlafplatz, bis ich eine neue Bleibe gefunden habe.“

„Was ist denn los?“

Kurz schilderte er die Situation, wobei ein trockener Schluchzer in seiner Kehle hochstieg. Angespannt horchte er ins Gerät und hörte Murat mit jemandem reden, dessen Stimme ihm bekannt vorkam.

„Mit wem sprichst du?“

Gleich darauf drang das andere Organ an sein Ohr: „Hi, hier Erich. Hört sich verdammt Scheiße an.“

Mit jenem hatte er schon ein paarmal über seinen Job gesprochen. Nun nutzte er die Gelegenheit, sich seinen Kummer von der Seele zu reden. Erich lauschte seinem Monolog und gab gelegentlich einsilbige Kommentare.

Als alles raus war, folgten eine kurze Pause und dann das überraschende Angebot: „Ich denke mal, ich kann dir eine vorläufige Lösung anbieten. Meine Wohnung steht leer. Klingele beim Nachbarn, der hat einen Schlüssel. Ich ruf ihn gleich an, damit er Bescheid weiß. Näheres besprechen wir später. Okay?“

Vor Erleichterung wurden seine Knie butterweich. Er lehnte sich gegen einen Rollwagen und wäre fast hingeknallt, da das Ding in Bewegung geriet. Im letzten Moment bekam er die Türklinke zu fassen.

„Das ist ... ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Danke! Ich ... Oh Mann! Ich kann gerade gar keinen klaren Gedanken fassen. Damit hätte ich nie gerechnet. Du bist ein Riesenschatz.“

„Das war gerade total spontan. Gib mir ein paar Stunden, um über die Bedingungen nachzudenken. Selbstverständlich erwarte ich, dass du meine Privatsphäre achtest. Ich rufe dich heute Abend wieder an. Tschüss.“

Voll neuer Energie verließ er die Kammer. Der Rest seiner Schicht verging wie im Fluge. Erst beim Umziehen fiel ihm ein, dass er den Namen von Erichs Nachbarn nicht wusste. Eventuell gab es mehr als einen.

Auf dem Weg zu Erichs Wohnung bemühte er erneut sein Smartphone. Er erfuhr sowohl, wie der Nachbar hieß, als auch, dass es sich um einen älteren Herrn mit ausgeprägtem Starrsinn handelte. Dafür, gegen kleines Entgelt Erichs Gästezimmer zu bewohnen, musste er lediglich ein Auge auf den besagten Wilhelm Kutscher haben.

Auf diese Weise war er zu seiner neuen Bleibe gekommen und sehr zufrieden mit der Lösung. Erichs Worten zufolge, könnte es ein längerfristiges Arrangement werden. Apropos: Es hatte ihn bass erstaunt zu erfahren, dass sein Kumpel bereits einige Wochen in Dänemark weilte. Nähere Umstände waren ihm nicht bekannt. Erich hatte bloß erwähnt, auf einer Reise hängengeblieben zu sein und über einen generellen Kurswechsel nachzudenken. Wirklich beneidenswert.

Gähnend spähte er zum Wecker. Es war erst halb zehn, dennoch fühlte er sich hundemüde; und das, obwohl er in der letzten Nacht über 12 Stunden Schlaf bekommen hatte. Ein kleiner Funke schlechten Gewissens regte sich nun doch. So ganz ehrlich war er gegenüber Johannes nämlich nicht gewesen. Statt des Umzugs, hatte ihn vielmehr Wilhelms nach einem Geheimrezept gebrauter Punsch hinweggerafft. Das Willkommensgetränk, wie der Nachbar es bezeichnete, schien zu 50 Prozent aus stark Alkoholischem zu bestehen. Ihm hatten sich beim Trinken die Zehennägel gekräuselt. Danach war er ins Bett gefallen und heute Morgen gegen elf wieder aufgewacht.

Erneut gähnte er, bis sein Kiefer knackte. Am folgenden Tag hatte er noch frei, dann ging’s wieder in die Tretmühle. Zu allem Überfluss begann er mit einer Frühschicht. Die Stationsleitung schien es darauf anzulegen, das Personal vorzeitig zu verschleißen. Ständig wechselten die Schichten, so dass man überhaupt keine Chance bekam, sich an irgendeinen Rhythmus zu gewöhnen. Mittlerweile schlauchte ihn das tüchtig. Seit 15 Jahren arbeitete er als Krankenpfleger und liebte seinen Beruf, dennoch schleppte er sich zusehends mühsamer zur Arbeit. Viele der Kollegen in seinem Alter wiesen eine hohe Anzahl an Krankheitstagen auf, nur er Idiot tat pflichtschuldigst auch mit Wehwehchen seinen Dienst. Vermutlich würde sich das irgendwann rächen und ihn richtig aus der Bahn werfen.

Er machte sich bettfertig und versuchte noch ein bisschen

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Sissi Kaiserlos
Bildmaterialien: shutterstock design Lars Rogmann
Lektorat: Aschure - danke
Tag der Veröffentlichung: 01.06.2017
ISBN: 978-3-7438-1665-7

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /