Sissis Frühlingsquickys Vol.2
Sämtliche Personen, Orte und Begebenheiten sind frei erfunden, Ähnlichkeiten rein zufällig. Der Inhalt dieses Buches sagt nichts über die sexuelle Orientierung des Covermodels aus. Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck oder eine andere Verwertung, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung der Autorin. E-Books sind nicht übertragbar und dürfen nicht weiterveräußert werden. Bitte respektieren Sie die Arbeit der Autorin und erwerben eine legale Kopie. Danke!
Text: Sissi Kaiserlos
Foto von shutterstock – Design Lars Rogmann
Korrektur: Aschure. Danke!
Kontakt: http://www.bookrix.de/-sissisuchtkaiser/
Erich hatte zwei Jahre auf ein sechsmonatiges Sabbatical gespart. Er fühlte sich ausgebrannt und brauchte dringend neue Impulse. Sein Plan bestand darin, auf dem Fahrrad Dänemark zu erkunden. Kaum sonderlich exotisch, aber es ging ja nicht darum auf Großwildjagd zu gehen, sondern zu sich selbst zu finden. Unvermutet geriet dann doch ein Tier in sein Visier, allerdings ein harmloses. Dessen Herrchen hingegen besaß schon gewisse Raubkatzenqualitäten.
~ * ~
Nachdenklich betrachtete Erich sein Fahrrad, das er zum Beladen vom Keller in den Flur seiner Wohnung geschleppt hatte.
Es war einiges an Geld in die Überholung des alten Drahtesels geflossen. Bremsen, Lichtanlage, Sattel und Reifen waren neu. Zudem hatte er über dem Vorderrad einen Gepäckträger, für ein zweites Paar wasserdichter Satteltaschen, montieren lassen. Letztere stammten aus einem Spezialgeschäft für Weltenbummler, genau wie ein paar andere Ausrüstungsgegenstände.
Zwei Jahre hatte er, in Form von Gehaltsverzicht, auf das Sabbatical gespart. Nun lagen sechs arbeitsfreie Monate vor ihm, während derer er die aufgelaufene Summe ratierlich ausgezahlt bekam. Sein Plan bestand darin, radelnder Weise Dänemark zu erkunden und irgendwann den obersten Zipfel zu erreichen. Für die ersten Stopps hatte er Unterkünfte gebucht, danach wollte er spontan entscheiden, wo er als nächstes logierte.
Im Grunde war der Weg sein Ziel. Er erhoffte sich von der Reise neue Impulse. Sowohl sein Privat-, als auch sein Berufsleben stagnierten. Vorhin, als er einem Kollegen sein aktuelles Projekt übertrug, war das mit Erleichterung geschehen. Tagein tagaus am Schreibtisch hocken und Softwarelösungen ersinnen, hatte den Reiz verloren. Das Gleiche galt für sein unstetes Sexualleben. Inzwischen kotzten ihn anonyme Ficks gründlich an. Ein fester Partner war eine Option, allerdings nur, wenn der bereit wäre, sein schmutziges Geheimnis zu bleiben. Außerdem sollte es gefühlsmäßig zwischen ihnen stimmen. Ihm war bewusst, dass sich diese beiden Voraussetzungen kaum miteinander vereinbaren ließen. Vielleicht fand er während der Tour einen anderen Lösungsansatz.
Probeweise schwang er sich auf den Fahrradsattel. Das Teil war mit Gel gefüllt und versprach einen angenehmen Ritt. Für den Anfang hatte er kurze Etappen geplant, um sich ans Radeln zu gewöhnen. Er fuhr praktisch untrainiert los, mal abgesehen von dem gelegentlichen Spinning im Fitnessstudio. Optimistisch ging er davon aus, dass er in spätestens einer Woche genug Kondition besaß, um auch längere Strecken zu bewältigen.
Er stieg wieder ab und lehnte den Drahtesel gegen die Wand. Anschließend schob er in der Küche ein Fertiggericht in die Mikrowelle. Normalerweise kochte er mit frischen Zutaten, aber im Kühlschrank befand sich nur noch der Proviant, den er mitzunehmen gedachte. Während sein Essen allmählich heiß wurde, studierte er die To-Do-Liste, die am Kühlgerät pinnte.
Sein Nachbar Wilhelm kümmerte sich um seine Post und Zimmerpflanzen. Für regelmäßige Zahlungen existierten Daueraufträge und sollte wider Erwarten eine Rechnung ins Haus flattern, gab es Online-Banking. Trotz des hohen Alters war Wilhelm internetmäßig fit und durchaus in der Lage, ein Dokument einzuscannen und ihm per Email zu schicken. Als Einbruchschutz hatte Erich Zeitschaltuhren installiert, so dass abends stets irgendein Licht brannte. Seine Eltern waren informiert und ...
Ein akustisches Signal unterbrach seine Bestandsaufnahme. Er holte die Plastikschale aus der Mikrowelle, ließ sich am Tisch nieder und knüpfte an seinem letzten Gedankengang an.
Seine Eltern hatte er am vergangenen Wochenende in seine Pläne eingeweiht. Erwartungsgemäß waren die beiden nicht begeistert gewesen. In ihren Augen galt jemand, der Müßiggang betrieb, als Tagedieb. Das Argument, dass er zwei Jahrzehnte pausenlos an seiner Karriere gebastelt hatte, fand kein Gehör.
Ein bisschen konnte er sie sogar verstehen. Die zwei, ausgeprägte Workaholics, hatten ein Imperium aus Immobilien erschaffen. Urlaub war für seine Eltern ein Fremdwort. Während er die Schulferien in irgendwelchen Freizeiteinrichtungen, an Nord- oder Ostsee, mit anderen Kindern verbrachte, schufteten sie unermüdlich. Inzwischen waren beide über 70 und eine Verwaltungsgesellschaft kümmerte sich um den Bestand.
Vor einigen Monaten, vermutlich ein später Anfall schlechten Gewissens, ihn als Kind vernachlässigt zu haben, hatten seine Eltern ihm ein Viertel der Einheiten überschrieben. Natürlich kam das zur Sprache und eskalierte in einem Streit. Sein Vater drohte, die Übertragung rückgängig zu machen, da die sprudelnden Mieteinnahmen ihn offenbar übermütig stimmten. Erich war das schnuppe. Eher verzichtete er auf das Geld, als sich erpressen zu lassen. Schlussendlich verabschiedeten sie sich jedoch höflich voneinander und seine Mutter wünschte ihm sogar alles Gute. Vielleicht wurde die eiserne Lady auf ihre alten Tage langsam weich.
Er warf die halbleer gegessene Schale in den Mülleimer. Sein Appetit war ihm bei der Rückschau vergangen. Im Wohnzimmer ließ er sich auf die Couch plumpsen und zappte eine Weile durch die Fernsehkanäle, ohne etwas Fesselndes zu finden. Schließlich stellte er die Glotze aus und klappte sein neu erworbenes Netbook auf. Das Schmuckstück hatte er für seine Reise angeschafft, zum Internet-Surfen und um eine Art Tagebuch zu führen. Sein Smartphone war ja gut und schön, doch zumindest für letzteren Zweck ungeeignet.
„Sabbatical Tag 0“, schrieb er nach kurzem Nachdenken in das Dokument, das er bereits für seine täglichen Ergüsse eingerichtet hatte. „Eine blöde Idee, die Fahrradtour im April zu beginnen. Draußen nieselt es bei ungefähr sechs Grad. Hoffentlich ist es morgen zumindest trocken. Meine neuen Regenklamotten sind zwar kampferprobt, hat jedenfalls der Verkäufer behauptet, aber mal ehrlich: Wer hat schon Bock darauf, bei anhaltender Nässe mit dem Drahtesel unterwegs zu sein?“
Beim Tippen begann er zu grinsen. Er war noch nicht mal losgefahren, schon meckerte er rum. Der April war eben launisch, als Starttermin dennoch ideal. Würde er erst im Mai losfahren, geriete er zum Ende des Sabbaticals in die kalte Jahreszeit. Dann doch lieber andersherum: In der Kälte losfahren und im Altweibersommer wieder ankommen.
„Hauptsache, ich habe keine Panne. Schon ein merkwürdiges Gefühl, dass meine ärgsten Feinde nun spitze Gegenstände sein werden, anstatt doofer Vorgesetzter und Arbeitsdruck. Ich kann es noch gar nicht fassen. Wahrscheinlich realisiere ich es erst richtig, wenn ich unterwegs bin.“
Erich entschied, es für heute gut sein zu lassen. Morgen um sieben klingelte der Wecker, sein Aufbruch war für neun geplant. Er klappte das Netbook zu und lag wenig später im Bett. Vor Aufregung wälzte er sich hin und her und konnte lange nicht einschlafen.
Am nächsten Tag war der Himmel bedeckt bei ungefähr 15 Grad. Laut den Vorhersagen sollte es trocken bleiben. Wilhelm gab ihm etliche gute Wünsche mit auf den Weg und nahm ihm das Versprechen ab, abends wenigstens eine kurze Nachricht zu schicken.
Im Stadtgebiet kam Erich nur langsam voran. Andauernd musste er an roten Ampeln halten, um bei grün sein schwerbeladenes Vehikel wieder in Bewegung zu setzen. Außerdem zwangen ihn Fußgänger und parkende Autos oft zum Bremsen oder Absteigen. Im Außenbezirk wurde es besser und als er die Stadtgrenze passierte, lag wunderbar hindernisfrei und glatt der asphaltierte Fahrradweg vor ihm.
Während er in die Pedalen trat, geriet er endlich in Urlaubslaune. Rechts wechselten sich Felder, Waldstücke und Wiesen ab, links lag die Segeberger Chaussee. Ein beständiger Strom von Fahrzeugen rauschte an ihm vorbei. Dank des breiten Grünstreifens, der Radweg und Straße trennte, störte ihn das nicht sonderlich. Natürlich wäre es schöner, weitab der Verkehrsader durch die Natur zu radeln, aber auch weitaus anstrengender.
Er hatte schätzungsweise die Hälfte der Etappe zurückgelegt, als Nieselregen einsetzte. Anfangs fand er das sogar erfrischend, da er ziemlich schwitzte. Nach einer Weile wandelte sich das Nieseln zu strömendem Regen. Ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, an dem er sich auf freier Strecke befand. Kein Bushäuschen, kein anderer Unterstand weit und breit. Verbissen fuhr er weiter und war, als er endlich in einem Tannenhain Unterschlupf fand, bis auf die Haut durchnässt.
Die dichten Zweige der hohen Bäume hielten das Unwetter ab. Kein Tropfen drang bis zu dem von Nadeln bedeckten Boden. Erich lehnte sein Fahrrad gegen einen Stamm und wischte sich die nassen Haare aus der Stirn. Obwohl er mit so einem Ereignis hatte rechnen müssen, empfand er Frust. In seinen Träumen war eine Situation wie diese, durchnässt und frierend in der Einöde zu hocken, nicht vorgekommen.
Je länger der blöde Schauer andauerte, desto stärker bibberte er. Schließlich blieb ihm gar nichts anderes übrig, als sich komplett auszuziehen und mit einem Handtuch trocken zu rubbeln. Er schlüpfte in frische Sachen, legte Regenkleidung an und verstaute die nassen Klamotten in den Satteltaschen. Auf einen umgekippten Baumstamm gekauert, knabberte er einen Müsliriegel und leerte dazu schlückchenweise eine Wasserflasche. Allmählich kehrte Wärme in seinen Körper und damit auch Zuversicht zurück.
Da ein Ende der Schlechtwetterphase nicht in Sicht war, schwang er sich auf seinen Drahtesel und fuhr wieder los. Die Hightech-Regensachen hielten, was der Verkäufer versprochen hatte: Sie verhinderten, dass von außen etwas eindrang und absorbierten seinen Schweiß. Dank des Schirms an der Kapuze waren auch seine Augen geschützt, somit lediglich die untere Gesichtshälfte dem Regen ausgesetzt.
Dennoch war radeln bei diesem Wetter alles andere als ein Spaziergang. Mit jeder vergehenden Minute sehnte er das Ortsschild von Bad Segeberg mehr herbei und war, als er es endlich passierte, so fertig, dass er kurz dahinter abstieg. In einem Buswartehäuschen suchte er Unterschlupf, um sein Smartphone zu zücken und den Standort des Hotels rauszufinden.
Seine Beine waren bleischwer und jeder Muskel protestierte, als er seinen Weg fortsetzte. Nach einer halben Stunde erreichte er seine Unterkunft, stellte das Fahrrad ab und betrat die Lobby. Hinter der Rezeption stand eine ältere Dame, die angesichts seines tropfnassen Zustandes eine gezupfte Braue hob. Er füllte das notwendige Formular aus und fragte nach einer Unterbringungsmöglichkeit für sein Fahrrad.
„Am besten schieben Sie es zum Hintereingang. Dort können Sie es unter dem Vordach abstellen. Mit dieser Karte gelangen Sie ins Gebäude.“ Die Frau händigte ihm eine Keycard aus. „Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Aufenthalt.“
Er tat wie geheißen, schleppte das Gepäck auf sein Zimmer und kämpfte sich aus der Regenmontur. Anschließend fiel er aufs Bett und blinzelte an die Decke. Vom Gefühl her war es bereits Abend, in der Realität jedoch erst drei. Das wusste er, weil er in der Eingangshalle auf die Uhr gesehen hatte. Er rollte sich auf die Seite und schlief erschöpft ein.
Irgendwann weckte ihn ein nerviges Summen. Es stammte aus dem Kleiderhaufen am Boden. Bis er sich vom Bett bequemt und sein Smartphone gefunden hatte, dauerte es zu lange. Ihm blinkte ein entgangener Anruf vom Display entgegen. Laut der digitalen Anzeige war es sieben. Himmel! Hatte er wirklich vier Stunden gepennt? Er rief Wilhelm zurück.
„Junge, wie geht’s dir?“, drang dessen besorgte Stimme an sein Ohr.
„Ich bin alle“, gab er zu.
„Übernimm dich nicht. Mach einen Tag Pause“, mahnte Wilhelm.
„Quatsch! Ich fahre morgen weiter.“
„Sturer Kerl. Pass gut auf dich auf. Bis morgen.“ Sein Nachbar beendete die Verbindung.
Lächelnd legte er das Gerät beiseite. Wilhelms Fürsorge tat gut. In den letzten Jahren war der Nachbar zu einem engen Vertrauten geworden und sogar in seinen Status eingeweiht. Als er gestand, auf Männer zu stehen, hatte sein Nachbar nur die Achseln gezuckt und ‚wo die Liebe eben hinfällt‘ gemurmelt.
Neben seinen Eltern war Wilhelm der einzige aus seinem Bekanntenkreis, der von dem Sabbatical wusste. Gegenüber seinen anderen Freunden hatte er die Auszeit verschwiegen. Vielleicht war das idiotisch, aber er glaubte, dass sie versuchen würden, ihn von seinem Plan abzubringen. Er hatte keine Lust, sich für sein Vorhaben rechtfertigen zu müssen.
Sein Blick fiel auf die Satteltaschen. Verdammt! Er hatte ganz vergessen, die nassen Klamotten zum Trocknen aufzuhängen. Rasch holte er dieses Versäumnis nach und kümmerte sich auch um die Regensachen. Anschließend googlte er nach einem Restaurant in der Nähe.
Rund anderthalb Stunden später kehrte er von seinem Ausflug in ein Steakhouse zurück. Dank Handy und Co. war allein Essengehen kein Spießrutenlauf mehr. Früher hatte man dagesessen und dumm in die Gegend geguckt, von anderen Gästen mitleidig beobachtet. Heutzutage war das Smartphone ein unterhaltsamer Begleiter. Erich hatte die Zeit genutzt, um die Route für den folgenden Tag zu checken. Glücklicherweise betrug sie nur ein Drittel der heute zurückgelegten Strecke. Trotz des Gelsattels schmerzte sein Hintern, genau wie etliche andere Körperpartien.
Er ließ sich auf dem Bett nieder, öffnete das Netbook und seine Tagebuchdatei.
„Tag 1: Alles tut weh. Anmerkung: Unter Regenklamotten zukünftig keine Jeans, sondern lieber eine lange Unterhose tragen. Ich hab mir anscheinend den Schritt aufgescheuert. Jedenfalls brennt es ganz schön, also ist wohl für lange Zeit Ruhe im Glied. Vielleicht sollte ich einen Ratgeber für Leute, die vom Sesselfurzer spontan zum Weltenbummler per Fahrrad werden wollen, schreiben. Na ja, wer liest schon solchen Kram? Ich hab ja selbst keine anständige Recherche betrieben. Und jetzt geh ich schlafen. An dem zusammenhanglosem Geschreibsel hier erkennt man eindeutig, dass ich ein Fall fürs Matratzenhorchen bin.“
Gähnend klappte er das Netbook zu, beförderte es auf den Nachtschrank und trottete ins Bad. Unter der Dusche begutachtete er seine Blessuren, cremte anschließend die wunden Stellen mit Heilsalbe ein und kroch ins Bett. Mit letzter Kraft programmierte er den Wecker, dann kuschelte er sich in seine Decke und fiel übergangslos in Schlaf.
„Tag 8: Heute hat die ganze Zeit die Sonne geschienen. Nach dem durchwachsenen Wetter der vergangenen Woche eine Wohltat. Aber ich will dich nicht schon wieder mit derartigen Belanglosigkeiten zumüllen. Wenn ich die letzten Einträge lese, bekomme ich das Gefühl, ein notorischer Meckerfritze zu sein. Oder ein hypochondrischer Tattergreis. Unglaublich, wie viel man sich mit den eigenen körperlichen Befindlichkeiten beschäftigen kann. Apropos: Aktuell tut mir nichts weh, nur fürs Protokoll.
Was mir heute im Laufe des Tages jedoch aufgefallen ist: Irgendwie scheine ich innerlich auf Durchzug gestellt zu haben. Eigentlich hatte ich erwartet, dass die fremden Eindrücke etwas in mir in Bewegung setzen, doch Fehlanzeige. Natürlich genieße ich die schöne Landschaft und kann mich an hübschen Ortschaften erfreuen, aber das bleibt rein oberflächlich. Ach, was labere ich hier? Es ist schwierig, mein Empfinden zu beschreiben. Vielleicht bin ich einfach zu ungeduldig und sollte der Sache mehr Zeit geben. Schließlich liegen noch fünf Monate und drei Wochen vor mir.
Übrigens: Ich befinde mich in Blavand. Ein netter Ort, für meinen Geschmack allerdings zu touristisch angehaucht. An jeder Ecke Imbissbuden und Souvenirläden. Morgen habe ich vor, weiter gen Norden zu radeln und mir ein nettes Plätzchen für einen längeren Aufenthalt auszusuchen. Bei meinem Tempo bin ich sonst schneller am Ziel, als mir lieb ist.“
Erich schloss den Deckel des Netbooks, schnappte sich sein Smartphone und wählte Wilhelms Nummer. Die regelmäßigen Telefonate mit seinem Nachbarn waren ein Lichtblick. Wenigstens einmal am Tag ein paar Worte wechseln, bei denen es sich nicht um Banalitäten handelte. Gewissermaßen waren der alte Herr und Netti, wie er seinen Computer liebevoll nannte, seine einzigen sozialen Kontakte. Das Schicksal eines rastlos Umherreisenden.
„Na, Junge? Alles im Lot?“, ertönte der gewohnte Bass aus dem Gerät.
„Geht so. Ich hab wohl eine kleine Krise.“
„Erzähl.“
„Na ja. Ich dachte, ich gurke los und in meinem Schädel beginnt es zu rattern. Frische Ideen, neue Einsichten, irgendetwas. Stattdessen herrscht da gähnende Leere.“
„Da braucht wohl jemand einen Klaps gegen den Hinterkopf“, brummelte Wilhelm. „Gerade mal sieben Tage unterwegs und du erwartest Wunder.“
„Kein Wunder, nur ein klitzekleines bisschen Erleuchtung.“
„Sag ich doch. Weißt du was? Geh ein bisschen feiern, dann sieht die Welt gleich ganz anders aus.“
„Hier feiern gehen? Ich könnte mir aber ein paar Bier aus dem Supermarkt besorgen und auf meinem Hotelzimmer die Sau rauslassen.“
„Na also. Das klingt doch schon viel besser. Halt die Ohren steif. Bis morgen.“
„Bis morgen“, erwiderte er, steckte das Smartphone ein, schlüpfte in Sneakers und zog seine Jacke an.
Als er aus dem Hotel trat, empfing ihn eine kühle Brise. Die Sonne stand bereits tief, so dass die Häuserfronten lange Schatten warfen. Vorhin hatte er, gleich nach seiner Ankunft, ein Lokal aufgesucht, zu Abend gegessen und dabei das Treiben auf der Straße beobachtet. Inzwischen lag diese nahezu menschenleer da, bis auf ein paar Jugendliche, die vor dem Supermarkt herumlungerten.
Er klappte den Kragen seiner Jacke hoch und schlenderte in Richtung Strand. Je näher er dem Meer kam, desto salziger schmeckte die Luft. Genüsslich sog er sie ein und spürte, wie sich seine Laune hob. Leider war es zu kalt, um die Schuhe auszuziehen, also stapfte er notgedrungen mit ihnen durch den weichen Sand bis zum Meeressaum.
Unendlich weit erstreckte sich die Nordsee vor seinen Augen. In der Ferne fuhr ein Tanker vorbei. Erstmals seit seinem Aufbruch empfand er tiefe Ruhe, die nicht aus Erschöpfung geboren war. Langsam wanderte er am Saum entlang, bückte sich gelegentlich nach einer Muschel oder anderen Fundstücken. Möwengekreisch tönte über das Meeresrauschen hinweg. Das Szenario weckte Erinnerungen an die Ferienlager in seiner Kindheit.
Anfangs hatte er bitterlich geweint und unter Heimweh gelitten, wenn seine Eltern ihn allein in die Fremde schickten. Mit zunehmendem Alter hörte das auf und es gefiel ihm sogar, sofern das Wetter mitspielte und er unter den Mitreisenden gute Kumpel fand. Das änderte sich jedoch mit der Erkenntnis, aufs gleiche Geschlecht zu stehen.
Im nächsten Jahr verweigerte er die Teilnahme an der Ferienfahrt. Es war schon schwer genug, im Schulalltag zwischen all den Idioten seine Andersartigkeit zu verbergen. Da brauchte er drei Wochen, zusammengepfercht mit fünf Jungen in einem Zimmer und mit Gemeinschaftsduschen, so dringend, wie ein Loch im Kopf.
In Gedanken versunken, kickte er einen Stein ins Wasser.
Seine Eltern verdonnerten ihn trotzdem dazu ins Camp zu fahren. Kurz bevor es losgehen sollte, büxte er aus. Er lebte von dem, was er aus dem elterlichen Kühlschrank entwendet hatte und versteckte sich nachts in Laubenkolonien. Eine Woche ging das gut, dann griffen ihn die Bullen auf und lieferten ihn bei seinen Eltern ab. Selbstverständlich gab’s Riesenärger, aber das Thema Ferienlager war gestorben.
Im folgenden Jahr erlaubten seine Eltern, dass er mit einem Freund nach Mallorca flog. Zu dem Zeitpunkt war er fast 18 und mit einem Typen aus seiner Parallelklasse liiert. Sie verbrachten drei geile Wochen, die alle bisherigen Urlaube in Vergessenheit geraten ließen.
Bis zum Studienbeginn hatte er noch ein paar geheime Affären, dann lernte er im ersten Semester Anna kennen. Sie studierte das gleiche Fach und wirkte ziemlich maskulin: Flachbrüstig, stets in Jeans gekleidet und mit einem tiefen Organ ausgestattet. Ungeachtet des Geschlechts fühlte er sich zu ihr hingezogen. Sie harmonierten intellektuell und es klappte sogar im Bett ganz gut, da Anna Analsex nicht abgeneigt war.
Aus einer Laune heraus, heirateten sie schon bald. Während des Studiums tauchten keine Probleme auf. Sie waren mit Lernen beschäftigt und trieben sich gegenseitig zu Höchstleistungen. Nach ihrem Abschluss fing Anna in einer kreativen Softwareschmiede für Spiele an zu arbeiten, er in einem Unternehmen, das ERP-Systeme optimierte.
Damit waren ihre Diskrepanzen gewissermaßen vorprogrammiert. Anna kam stets spät nach Hause und schlief dafür morgens länger als er. Gesprächstechnisch fanden sie kaum noch gemeinsame Themen, im Bett herrschte immer öfter tote Hose. Drei Jahre hielten sie dennoch an ihrer Ehe fest, bis Anna einen Schlussstrich zog.
„Lass es uns beenden, bevor wir daran zugrunde gehen. Ich will so nicht weitermachen.“
Obwohl er ihr insgeheim Recht gab, schmerzte es den offenen Bruch zu vollziehen. Insbesondere, weil er Anna weitaus mehr Gefühle entgegenbrachte, als je einem Menschen zuvor. Ihre Scheidung verlief sauber und danach lehnte er es ab, weiterhin mit ihr befreundet zu sein. Dafür tat es einfach zu weh. Monatelang vögelte er durch die Gegend wie ein Bekloppter, bis ein Sexunfall ihn zur Räson brachte. Bange Stunden in der Notfallambulanz, anschließend grenzenlose Erleichterung, dass der Gral an ihm vorbeigegangen war.
Erich schüttelte den Kopf, um die bedrückenden Erinnerungen zu vertreiben und machte kehrt. Der Wind hatte zugenommen, die Sonnenstrahlen im gleichen Maße an Kraft verloren. Fröstelnd beschleunigte er seine Schritte. Am Hotel angekommen, lief er die Treppe in den ersten Stock hinauf und betrat sein Zimmer.
Mit einer Dose Pils aus der Minibar, stellte er sich ans Fenster und sah dem Sonnenuntergang zu. Der Rückblick hatte ihn ziemlich aufgewühlt. Wenn ihn jemand nach den glücklichsten Momenten seines bisherigen Lebens fragen würde, wäre die überraschende Antwort: Die Sommercamps zwischen seinem 10ten und 16ten Geburtstag. Unbeschwerte Tage unter Gleichaltrigen an der See. Seine einzige Sorge galt damals dem Mittagessen, das manchmal gar nicht seinem Geschmack entsprach. Aus heutiger Sicht paradiesische Zustände.
Er ging zum Bett, ließ sich darauf nieder und setzte die Dose an seine Lippen. Prickelnd floss das kühle Nass durch seine Kehle.
Alles, was nach der Entdeckung seiner Sexualität passierte, war von Ängsten geprägt. Furcht vor Aufdeckung seines Geheimnisses, Prüfungen, körperlichem Versagen im Bett, davor, im Job einen Fehler zu machen. Er hatte sich so sehr daran gewöhnt, unter ständigem Druck zu stehen, dass er es gar nicht mehr wahrgenommen hatte. Es fiel ihm auch jetzt nur auf, weil er seine unbefangenen Kindertage mit der aktuellen Situation verglich. Bedeutete Erwachsensein zwangsläufig, zum Opfer seiner Ängste zu werden?
Schmunzelnd über die philosophische Anwandlung, trank er sein restliches Bier.
Am nächsten Morgen ignorierte er den Wecker, eine Premiere in seinem eine Woche währenden Sabbatical. Beinahe verschlief er sogar das Frühstücksbuffet. Auf den letzten Drücker erwischte er einen Becher Kaffee und zwei halbe belegte Brötchen.
Nachdem er sich im Supermarkt mit Proviant eingedeckt hatte, bestieg er sein Fahrrad und verließ Blavand in nördlicher Richtung. Die Sonne strahlte vom wolkenlosen Himmel und bescherte erstmalig sommerliche Temperaturen.
Auf einem Hügel hielt er an, breitete seine Jacke im Gras aus und ließ sich darauf nieder. Seelenruhig verspeiste er sein zweites Frühstück, bestehend aus einem Thunfischsandwich und leerte eine Flasche Eistee dazu. Anschließend aß er einen Apfel und genoss noch eine Weile den Ausblick, bevor er sich wieder auf seinen Drahtesel schwang.
Wenig später passierte er das Ortsschild von Vejers Strand. Die Straße führte an einem Campingplatz vorbei und mündete in einer Aneinanderreihung bunter Häuser. Soweit das Auge reichte, standen teils mit Reet, teils mit Ziegeln gedeckte Behausungen im umliegenden Dünengelände. Eine davon befand sich, neben zwei kleineren Gebäuden, in exponierter Lage auf einer Kuppe.
Neugierig näherte er sich dem Objekt, wofür er auf halber Strecke absteigen und sein Fahrrad schieben musste. Es ging bergauf, außerdem war der Weg schmal und steinig. ‚Pension Jessen‘ verkündeten schmiedeeiserne Lettern am Giebel. Die Fassadenfarbe bröckelte an einigen Stellen, auch diverse Sprossenfenster schrien förmlich nach einem neuen Anstrich.
Als Erich die Anhöhe erklommen hatte, lehnte er sein Fahrrad an ein Nebengebäude, von der Größe her eine Art Garage und sah sich um. Was für ein schönes Plätzchen. Vor ihm erstreckte sich die Nordsee, hinter ihm ein großflächiges Dünengelände, aus dem die besagten Dächer aufragten. Auf der von Gras bewachsenen Grundstücksfläche waren ein paar Strandkörbe aufgestellt. Ideal, um darin die Sonne zu genießen.
Er ging zu der Haustür, die an der dem Meer abgewandten Seite des Hauses lag. Auf sein Läuten hin erklang ein Kläffen, gefolgt von einer dunklen Stimme.
„Spock! Shut up!“
Die Tür wurde geöffnet. Ein blonder Mann mit einem Hund auf dem Arm musterte ihn, wobei die grauen Augen, einen Tick zu lange für einen Hetero, in seiner unteren Region verweilten.
„Hello. I am looking for a room.“
„Fine. I have some available. Do you need one to sleep in or for other opportunities?” Dem breiten Grinsen seines Gegenübers haftete etwas Schalkhaftes an.
„Ähm. Zum Übernachten“, verfiel er verlegen ins Deutsche.
„Sorry. Ich hab heute einen Clown gefrühstückt.“ Der Typ setzte den Spaniel ab und gab dem Hund einen liebevollen Klaps. „Spock, ab in die Küche.“
Brav trottete das Tier davon.
„Sind Sie Deutscher?“, wollte Erich, verwundert wegen der akzentfreien Aussprache, wissen.
„Ich sehe mich als Weltenbürger: Überall und nirgends zuhause. Wollen Sie reinkommen und sich die Zimmer anschauen?“ Der Blonde gab den Weg frei.
Im Flur roch es nach Reinigungsmitteln. Eine Wand war nackt und offenbar mit Gips bearbeitet worden. Das verwendete Werkzeug stand gesäubert neben einem Sack Spachtelmasse.
Während sie hintereinander eine Treppe hochstiegen, erklärte der Mann: „Ich bin noch am Renovieren. Es ist wie verhext: Sobald ich in einer Ecke fertig bin, tut sich die nächste Baustelle auf.“
„Haben die Zimmer Internetanschluss?“
„Natürlich. Im ganzen Haus gibt es drahtlosen Netzempfang.“
Sie erreichten das obere Stockwerk, von dem sechs Türen abgingen. Der Vermieter öffnete vier davon und lud ihn mit einer Geste dazu ein sich umzuschauen.
Nacheinander guckte er in die Räume und entschied sich für den, durch dessen Fenster er aufs Meer rausblicken konnte. Die Einrichtung war zweckmäßig: Ein zweitüriger Kleiderschrank, ein altmodisches Doppelbett, beidseitig davon Nachtschränke, ein quadratischer Tisch mit zwei Stühlen. Der Boden bestand aus Dielen, auf denen
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Sissi Kaiserlos
Bildmaterialien: shutterstock design Lars Rogmann
Lektorat: Aschure - danke
Tag der Veröffentlichung: 31.03.2017
ISBN: 978-3-7438-0564-4
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