Cover

Gutenachtgeschichten 2: Sternzeichen Waage

 

Waagen gelten als harmoniesüchtig und diplomatisch. Tja, da kann doch eigentlich nichts schiefgehen, mit solchen Eigenschaften …

Der übliche Warmhinweis: Mann mit Mann. Bettsport. Kitschsplitter.

~ * ~

Sämtliche Personen, Orte und Begebenheiten sind frei erfunden, Ähnlichkeiten rein zufällig. Der Inhalt dieses Buches sagt nichts über die sexuelle Orientierung des Covermodels aus. Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck oder eine andere Verwertung, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung der Autorin. Ebooks sind nicht übertragbar und dürfen nicht weiterveräußert werden. Bitte respektieren Sie die Arbeit der Autorin und erwerben eine legale Kopie. Danke!

Text: Sissi Kaiserlos

Foto von shutterstock – Design Lars Rogmann

Korrektur: Aschure. Danke!

Kontakt: http://www.bookrix.de/-sissisuchtkaiser/


Unglückliche Waage


Bjarne ist sauer. Sein Freund Liam ist fremdgegangen, nein, eher bekannt. Ausgerechnet mit einem seiner besten Freunde, nämlich Thore, musste der Arsch rummachen. Für ihn ein klares K.O.-Kriterium. Er beendet ihre Beziehung und die Freundschaft mit Thore. Damit ist jedoch noch nicht das letzte Wort gesprochen.

~ * ~


1.

Bjarnes letzter Besuch im Goldenen Hirsch war lange her. Genauer gesagt vier Monate, als sein Ex-Freund Liam das Wochenende für ein Teambuilding-Seminar opfern musste. Er hatte die Gelegenheit genutzt und dabei festgestellt, dass er das Nachtleben nicht vermisste. Vielleicht wurde er allmählich alt oder es lag an der kuschligen Zweisamkeit mit Liam, die ihm weitaus besser als das bunte Treiben gefiel. Tja. Die war nun Geschichte.

Innerlich seufzend schaute er sich vergeblich nach Ruben um. Der Eigner des Clubs, der sonst eigentlich immer hier herumhing, war nirgendwo zu entdecken. Sie waren mal so etwas wie Fuckbuddys gewesen, bevor Liam in sein Leben trat und er die Sache beendete. Seitdem verband sie eine lose Freundschaft.

Plötzlich tauchte Ruben wie aus dem Nichts auf, entdeckte ihn und begann freudig zu grinsen. „Hi. Ewig nicht gesehen. Wie geht’s?“,

„Frag nicht. Ich bin seit zwei Tagen wieder solo.“ Gleich nach Liams Geständnis hatte er den Schlussstrich gezogen. Der doppelte Verrat tat einfach zu weh, als dass er anders handeln konnte.

„Scheiße. Komm, ich gebe dir einen Drink aus.“ Ruben schlang kumpelhaft einen Arm um seine Schultern und führte ihn in Richtung Tresen. „Woran lag’s? Ist er fremdgegangen?“

„Eher bekannt. Er ist mit einem meiner besten Freunde in die Kiste gehüpft.“ Ausgerechnet mit Thore, diesem miesen Schwein.

„Autsch!“

„Das kannst du wohl sagen. Nun bin ich zwei Kerle auf einen Streich los.“ Er bemühte sich um einen gleichgültigen Tonfall. „Ach, was soll’s. Die Sache fing eh an schief zu laufen.“

Das war allerdings nur ein Gefühl. Liam hatte sich wie immer lieb und anschmiegsam verhalten. Dennoch stimmte irgendetwas nicht, ohne dass er den Daumen auf die wunde Stelle legen konnte.

„Bevorzugst du immer noch Wodka-Orange?“

„Mhm. Du hättest nicht zufällig Interesse an einem Mitleidsfick?“, fragte er, lediglich um Ruben in Verlegenheit zu bringen.

Natürlich hatte er keinesfalls vor, den sexuellen Aspekt von damals wiederaufleben zu lassen. Dazu stufte er ihre Verbindung als zu wertvoll ein. Sie sahen einander zwar nur selten, aber wenn es passierte, war sofort die alte Vertrautheit da.

Ruben bestellte ihre Getränke und versank in grüblerisches Schweigen. Nahm sein Freund die Frage etwa erst? Rasch ruderte er zurück, bevor sich Ruben weiter unnötig den Kopf zerbrach.

„Vergiss es. Das war nur ein Scherz.“

Ein deutlich erleichtertes Lächeln bog Rubens Mundwinkel in die Höhe. „Blödmann! Ich hab schon angefangen mich zu freuen.“ Und an den Barkeeper, der ihre Getränke gebracht hatte, gewandt: „Bjarne ist mein Gast. Schreib seine Getränke auf meine Rechnung.“

Wie immer fanden sie mühelos in eine angeregte Unterhaltung. Immerhin hatte ihr Verhältnis fast ein Jahr gewährt und nicht ausschließlich aus Sex bestanden. Sie mochten das gleiche Filmgenre, waren Fans desselben Fußballvereins und teilten die Leidenschaft für gutes Essen. Allerdings auf verschiedenen Seiten des Kochtresens: Während sich Ruben mit dem Verspeisen begnügte, kochte Bjarne für sein Leben gern.

Ein paar Drinks später spürte er das Vibrieren seines Smartphones. Er fischte es aus der Hosentasche, las die eingegangene Nachricht und hatte urplötzlich ein schrecklich ungutes Gefühl. Thore schrieb, dass sie sich dringend treffen müssten. Die Sache würde keinen Aufschub dulden. Er kannte seinen ehemaligen Freund gut genug, um den Ernst der Lage zu erkennen. Thore gehörte nämlich normalerweise zur Liga der Phlegmatiker, die erst dann in Wallung gerieten, wenn die Kacke richtig am Dampfen war.

„Ich muss los. Melde dich doch mal bei mir. Wir könnten Essen gehen oder so“, verabschiedete er sich geistesabwesend von Ruben und eilte zum Ausgang.

Vor der Tür traf ihn unversehens die Erkenntnis, ganz schön viel getankt zu haben. Das war ihm im miefigen Inneren des Clubs nicht sonderlich aufgefallen. In leichter Schieflage steuerte er eine der am Straßenrand wartenden Taxen an, stieg ein und nannte sein Fahrtziel. Während sich der Fahrer in den spärlichen Verkehr einfädelte, zückte er erneut sein Smartphone.

„Bitte komm möglichst schnell her. Jede Minute zählt. T.“, lautete Thores Message.

„Bin unterwegs“, tippte er, versandte die Nachricht und steckte sein Handy wieder ein.

Eine böse Vorahnung sagte ihm, dass es um Liam ging. Thore würde nach dem Vorfall niemals wagen, ihn in eigener Sache zu behelligen. Noch an dem Abend nach Liams Beichte hatte er seinen Freund angerufen und mit bösen Worten abgekanzelt. Welche genau, wusste er nicht mehr. Dazu war er in jenem Moment zu aufgewühlt gewesen. Nur an ein paar deftige Schimpfworte erinnerte er sich und daran, ihre Freundschaft unwiderruflich gekündigt zu haben.

Thore und er kannten sich seit Studientagen, waren sogar mal miteinander in die Kiste gesprungen, doch bei einem Versuch war’s geblieben. Sexuell passten sie nicht zusammen, dafür umso besser auf kameradschaftlicher Ebene. Tja. Auch das war Vergangenheit. Über zehn Jahre Freundschaft wegen eines einzigen Ficks zum Teufel.



Das Taxi hielt fünf Minuten später am Bordstein. Er zahlte, kletterte aus dem Wagen und eilte auf das Gebäude zu. Trotz der späten Stunde war die Haustür wie so oft nicht abgeschlossen. Bjarne läutete dennoch, bevor er die Stufen in den zweiten Stock erklomm. Thores Wohnungstür stand sperrangelweit offen. Er trat ein, schloss die Tür und ging zielstrebig zur Küche, aus der ihm das Aroma frischgebrühten Kaffees entgegenwehte.

„Bin ich froh, dass du da bist“, begrüßte ihn Thore.

„Was ist denn los?“

„Lies.“ Thore nickte zum Tisch, auf dem ein Kuvert lag und beschäftigte sich weiter damit, Kaffee in zwei Becher zu gießen.

In Liams gestochen scharfer Handschrift stand ‚für Bjarne‘ auf dem Umschlag. Er ließ sich auf einen Stuhl sinken, zog den Briefbogen aus dem aufgerissenen Kuvert und faltete ihn auseinander.

Lieber Bjarne,

die beiden letzten Tage waren die schlimmsten meines Lebens. Ich mache mir schreckliche Vorwürfe, dass ich dir so wehgetan habe. Leider kann man die Zeit nicht zurückdrehen, sonst würde ich es tun. Ich war so dumm und naiv. Jemand wie ich ist mehr als überflüssig auf dieser Welt. Mein größter Wunsch ist, dass du es irgendwann schaffst, ohne Groll an unsere schöne gemeinsame Zeit zu denken.

Ich liebe dich. Leb wohl.

Dein Liam

„Klingt das nach einem Abschiedsbrief oder reagiere ich nur übersensibel?“, fragte Thore, der inzwischen die Kaffeebecher vor ihnen abgestellt und gegenüber Platz genommen hatte.

„Wann hast du den bekommen? Und wieso hast überhaupt du meinen Brief bekommen und auch noch geöffnet?“

„Du solltest Liam inzwischen gut genug kennen. Mein Briefkasten ist frei zugänglich, während deiner in einem Hochsicherheitstrakt hängt. Hättest du ihm deinen Haustürschlüssel nicht abgenommen, wäre der Brief wohl bei dir gelandet.“

„Hast du die Polizei verständigt?“

„Säße ich sonst mit meinem frischernannten Erzfeind hier?“

„Scheiße“, murmelte Bjarne, nippte an seinem Kaffee und führte sich dabei die Zeilen nochmals zu Gemüte. „Klingt tatsächlich ein bisschen wie ein verdammter Abschiedsbrief.“

„Er geht nicht ans Festnetz, sein Handy ist aus und er hat auf mein Läuten hin nicht geöffnet. Soweit ich das sehen konnte, waren seine Fenster dunkel. Ach ja, ich hab den Brief nach Feierabend gefunden und ewig überlegt, ob er dringend ist. Schließlich dachte ich: Guck einfach mal rein.“ Thore seufzte. „Ich weiß, ich hab das Postgeheimnis verletzt. Dennoch bin ich froh es getan zu haben. Liam … ich will nicht, dass ihm etwas zustößt.“

Plötzlich schniefte sein ehemaliger Freund. „Bitte! Hast du einen Schimmer, wo er stecken könnte? Ich hab solche Angst.“

Angesichts dieser Verzweiflung sickerte allmählich in sein Bewusstsein, dass mehr als pure Geilheit hinter dem Fehltritt mit Liam stecken musste. Thores Verhalten hatte ihn sowieso ziemlich verwundert, da zwischen ihnen bisher sexuelle Rivalitäten ausgeschlossen waren. Wenn sich einer von ihnen verliebte, ließ der andere selbstverständlich die Finger von dem Kandidaten, egal wie sehr es juckte.

„Du liebst ihn?“, konstatierte er betroffen.

„Ich hab mich gleich in ihn verliebt, als du ihn angeschleppt hast. Es war die Hölle zuzusehen, wie ihr … Ist das nicht gerade egal? Mein Gott! Bjarne, denk nach! Wo könnte er bloß sein?“

Ehrlich gesagt glaubte er nicht recht daran, dass sich Liam wirklich etwas antun würde, trotzdem färbte Thores Panik etwas auf ihn ab. Während er seinen Becher zur Hälfte leerte, ließ er die vergangenen sieben Monate Revue passieren. Das Frühjahr hatten sie mehr oder minder im Bett verbracht, unterbrochen von Kinobesuchen, Konzerten und Unternehmungen mit der Clique. Als es wärmer wurde, waren sie oft am Großensee … Das musste es sein!

„Kannst du fahren? Ich hab zu viel Promille im Blut.“

„Klar. Wohin?“

„Großensee. Kennst du den Weg?“

„Nein. Aber ich hab ein Navi. Soll ich die Polizei …?“ Thore war bereits aufgesprungen.

„Es ist nur eine Vermutung. Außerdem: Wenn wir die Bullen auf ihn hetzen, landet er anschließend in der Psychiatrie.“

„Dann lass uns los“, drängelte Thore.



Auf der Fahrt wechselten sie kein Wort. Die blecherne Stimme des Navis nahm ihm die Aufgabe ab den Weg zu weisen, daher hing er seinen Gedanken nach. Im Moment fühlte er sich total taub. Wie ein Außenstehender, der von oben das Geschehen unbeteiligt verfolgte. Wahrscheinlich eine Folge des Alkoholgenusses oder aber der Schock, dass Thore in seinen Ex verliebt war. Dabei hatte es nie auch nur das kleinste Anzeichen dafür gegeben.

Im Rückblick und mit dem aktuellen Wissensstand allerdings schon. Bei gemeinsamen Unternehmungen hatte sich Thore stets in Liams Nähe aufgehalten. Zudem erinnerte sich Bjarne, manchmal einen schmerzerfüllten Ausdruck in den Augen seines Freundes … Halt! … ehemaligen Freundes gesehen zu haben. Er war davon ausgegangen, dass Thore anderweitig Probleme wälzte. Zu seiner Beschämung musste er eingestehen, zu sehr mit Liam beschäftigt gewesen zu sein, anstatt das Gespräch mit Thore zu suchen.

Mittlerweile hatten sie das Naturbad erreicht. Thore, der bisher wie ein Henker gerast war, fuhr langsam über den mit Schlaglöchern bedeckten Parkplatz. Sand knirschte unter den Rädern, silbriger Mondschein beleuchtete die Szenerie. Hohe Bäume warfen Schatten und in einem davon stand Liams braunmetallic farbener Flitzer.

Angestrengt spähte Bjarne zu dem Steg, von dem Liam im Sommer mal behauptet hatte, es wäre ein schöner Platz zum Sterben. Nach wahnsinnig schönem nächtlichem Freiluftsex hatten sie dort gesessen, Händchen gehalten und zärtliche Küsse getauscht. Das war erst drei Monate her, dennoch kam es ihm wie eine Ewigkeit vor.

Die Leichtigkeit des Sommers verabschiedete sich mit dem Eintreffen des Herbstes. Er hatte das auf die Länge ihrer Beziehung geschoben. Immerhin waren sie schon über ein halbes Jahr zusammen, womit ein gewisses Maß an Gewöhnung zur Normalität gehörte. Im Nachhinein erkannte er, dass sie, statt zusammenzuwachsen, immer weiter auseinander gedriftet waren.

Thore parkte neben Liams Mazda MX5, sprang aus dem Wagen und klopfte ungeduldig aufs Dach. Inzwischen hatte er Liams Gestalt schemenhaft an der vermuteten Stelle ausgemacht. Einen Moment überlegte er, einfach im Auto sitzen zu bleiben und Thore die Sache allein regeln zu lassen. Dann überwog jedoch sein Stolz. Er war schließlich keine Memme und ja wohl in der Lage, seinem Ex gefasst gegenüberzutreten.

Nachdem er sich zu Thore gesellt hatte, flüsterte der: „Hast du ihn schon entdeckt?“

Stumm wies er mit dem Kinn zum Steg, der von ein paar Büschen halb verdeckt wurde. Sofort lief Thore los und zerrte ihn am Ärmel hinter sich her. Als sie an den Holzplanken ankamen, drehte sich Liam in ihre Richtung, zog die Beine hoch und schlang beide Arme darum. Im kalten Mondlicht wirkte das schmale Gesicht sehr spitz und blass. Zusammen mit den weit aufgerissenen Augen und hell schimmernden Haaren, vermittelte Liam den Eindruck eines Waldgeistes.

„Geh hin und rede mit ihm“, bat Thore leise.

„Wieso ich?“

„Der Brief war an dich gerichtet. Nun mach schon.“

Ein Schubs beförderte ihn einige Schritte vorwärts. Die Holzbalken vibrierten leicht unter seinen Füßen, leise gluckerte Wasser gegen die Stützpfeiler. Irgendwo schrie ein Nachtvogel, eine sanfte Brise kräuselte die Seeoberfläche. Langsam näherte er sich Liam, der ihm mit versteinerter Miene entgegensah. In angemessener Entfernung ging er in die Hocke, um auf Augenhöhe mit seinem Ex zu sein.

„Ich denke gern an unsere gemeinsame Zeit“, formulierte er so vorsichtig, wie er es gegenüber einem potentiell Suizidgefährdeten für angemessen hielt.

„Ich auch. Deshalb bin ich hier.“ Liam seufzte und der strenge Ausdruck wich einem melancholischen. „Der Abend, den wir hier verbracht haben, gehört zu meinen schönsten Erinnerungen.“

„Ich mach mir Sorgen um dich.“

„Ach? So plötzlich?“

„Ich hab Angst, dass du dir was antust.“

„So ein Quatsch.“

Bjarne ließ sich auf den Planken nieder. „Ich bleibe, bis du Vernunft annimmst und mit mir von diesem blöden Steg runterkommst.“

Das Holz war etwas klamm und durch die Ritzen drang kühle Luft an seinen Hosenboden. Seine Lederjacke hielt zwar den Wind ab, doch das T-Shirt, das er darunter trug, bot kaum Schutz gegen die aufsteigende Kälte. Er sah zum Ufer, wo Thore stand und aufmerksam zu ihnen rüber spähte. Als Zeichen, das er mit der Situation etwas überfordert war, zuckte er die Achseln.

„Ihm hast du verziehen, mir nicht“, murmelte Liam undeutlich.

„Bitte?“

„Ich sagte, dass du ihm …“

„Ja, ja. Ich war nur irritiert“, riss er das Wort an sich. „Ich habe Thore nicht verziehen. Wir bilden nur eine Art Zweckgemeinschaft, um nach dir zu suchen.“

„Wusstest du, dass er in mich verliebt ist?“

„Nein. Ich bin vorhin aus allen Wolken gefallen.“

„So ging’s mir vor drei Tagen. Ich wünschte, ich könnte seine Gefühle erwidern.“ Abermals seufzend wandte Liam ihm den Rücken zu. „Schöner Mist, dass man sich nicht aussuchen darf wen man liebt.“



2.

Am liebsten hätte er die Distanz überwunden und Schutz in Bjarnes starken Armen gesucht, doch dieses Recht hatte er verwirkt. Das war auch gut so. Zumindest versuchte sich Liam das einzureden. Es war zu vieles passiert, der Graben zwischen ihnen klaffte zu weit auseinander. Selbst wenn er nicht mit Thore ins Bett gegangen wäre, bliebe die Lage die Gleiche.

Den Blick in die Ferne gerichtet, dachte er an das Geschehen vor drei Tagen. Bjarne war mal wieder zu irgendeinem Geschäftsessen verabredet. Als Inhaber und Geschäftsführer einer Softwareschmiede konnte man sich vor solchen Anlässen eben nicht drücken. Dafür hatte er durchaus Verständnis. Was ihm nur sauer aufstieß war, dass sich derartige Verpflichtungen in den vergangenen Wochen häuften. In den Monaten zuvor hatte es lediglich ein paar dieser Termine gegeben, nun hagelten sie förmlich herab.

Zusätzlich war da der Umstand, dass Bjarne jeglichen Kontakt zu seiner Familie ablehnte. Weder zu sonntäglichen Mittagessen, der Silberhochzeit seiner Eltern, noch dem Geburtstag seiner Schwester hatte er seinen Freund überreden können. Er wusste, dass Bjarne grundsätzlich bezüglich Verwandtschaft einen tiefliegenden Groll hegte, trotzdem fand er dieses Verhalten verletzend.

Jedenfalls war er bereits tendenziell arg frustriert gewesen, als Bjarne ihre Verabredung wegen eines Abendessens mit wichtigen Leuten absagte. Danach hatte er, ganz entgegen seiner sonstigen besonnenen Art, sein Telefon auf den Boden geschmettert. Zum Glück bewahrte dicker Teppich das Gerät vor Schäden.

Normalerweise war ihm seine eigene Gesellschaft genug. Er pflegte viele Hobbys, für die man keinen Partner benötigte, wie zum Beispiel lesen, puzzeln und Computerspiele. Bjarnes Absage hatte ihn jedoch so aufgewühlt, dass er sich unmöglich allein beschäftigen konnte. Alles, was ihm sonst Freude bereitete, erschien ihm schal und öde.

In seiner Verzweiflung begann er durch seine Telefonliste zu scrollen. Besonders lang war die nicht. Bevor er Bjarne bei einer Softwareschulung kennenlernte, war sie allerdings noch kürzer. Inzwischen hatte er von einigen aus ihrer Clique die Nummern gespeichert. Bei Thores Namen blieb er hängen. Den mochte er von allen am liebsten.

Auf seinen Anruf reagierte Thore erfreut und schlug vor, gemeinsam einen Film zu gucken. Im Grunde war es Liam egal was sie taten, Hauptsache, es lenkte ihn von seinem Trübsinn ab. Er fuhr zu Thore, der eine reichhaltige DVD-Sammlung bevorratete. Sie einigten sich auf einen Actionthriller, bestellten Pizza und verspeisten diese vor der Glotze.

Trotz der spannenden Handlung konnte ihn das Geschehen auf dem Bildschirm nicht sonderlich fesseln. Auch Thore wirkte abgelenkt und rückte irgendwann mit dem überraschenden Liebesgeständnis raus. Im ersten Moment war Liam erschüttert, im nächsten überwog Anteilnahme. Er ließ sich von Thore sogar zu Mitleidssex überreden. Hinterher war ihm sauelend zumute und er verstand nicht mehr, wie er bloß seine Zustimmung hatte geben können. Mit diesem Bärendienst war weder Thore, noch ihm geholfen.

„Kommt ihr klar?“, ertönte in diesem Augenblick dessen Stimme vom Ende des Stegs her.

„Bist du so lieb und schaffst mir Bjarne vom Hals?“, gab er zurück.

„Ich gehe ohne dich hier nicht weg.“ Bjarne begegnete seinem bösen Blick mit eiserner Entschiedenheit.

„Oh Mann! Ihr habt gewonnen. Ich fahre nach Hause.“ Schwerfällig rappelte er sich hoch, streckte seine vom langen Sitzen starren Glieder und spürte die Kälte, die sich unbemerkt in seine Knochen geschlichen hatte.

Bjarne stand ebenfalls auf und hielt ihm eine Hand hin. Die unerwartete Geste wirkte derart anziehend, dass er in einem Anfall von Schwäche zugriff. Außerdem war er nicht sicher, ob seine steifen Beine ihn überhaupt zuverlässig trugen. Neben Bjarne stakste er zum Stegende, wobei ihm die Planken plötzlich gefährlich schmal vorkamen. Instinktiv umschlang er Bjarnes Finger fester und atmete auf, als sie festen Boden unter den Füßen hatten.

„Geht’s dir gut?“, fragte Thore, die Augen auf ihre verschlungenen Hände gerichtet.

„Den Umständen entsprechend.“ Sein schlechtes Gewissen, angesichts der Trauer in Thores Blick, konkurrierte mit seinem gebrochenen Herzen.

„Kannst du fahren? Du siehst total durchgefroren aus.

„Bestimmt. Ich stell die Heizung auf volle Pulle.“

„Bjarne fährt vorsichtshalber mit dir“, entschied Thore.

„Tut der nicht“, begehrte Bjarne auf.

„Tust du wohl!“

„Wäre mir auch lieber“, gab Liam zu. „Ein bisschen klapprig fühle ich mich schon.“

„Siehst du?“ Nach einem verärgerten Blick in Bjarnes Richtung, wandte sich Thore um und ging voraus zu den Fahrzeugen.

Vorhin, bei Liams Ankunft, hatten noch drei Wagen neben seinem gestanden, nun parkte dort lediglich Thores BMW. Wie lange war das überhaupt her? Sein Zeitgefühl hatte ihn vollkommen im Stich gelassen, während er auf dem Steg hockte und seine Gedanken ziellos umherschweiften. Er hatte tatsächlich ein paarmal erwogen, sich in die dunklen Fluten gleiten zu lassen. Das waren jedoch nur morbide Augenblicke gewesen. Im Grunde hing er am Leben, auch wenn das zurzeit nicht sonderlich rosig aussah.

Sie erreichten seinen Mazda. Thore hatte sich bereits hinters Lenkrad geschwungen, startete den Motor und setzte zurück. Langsam fuhr der schwere SUV davon. Er war überzeugt, dass Thore dabei in den Rückspiegel guckte und winkte zum Abschied. Einmal mehr tat ihm leid, sich wie ein gewissenloses Schwein benommen zu haben.

Kaum waren die Rücklichter des BMWs aus seinem Sichtfeld verschwunden, löste Bjarne ihre Verbindung. Fröstelnd zog er seine Schultern hoch, fischte den Autoschlüssel aus seiner Jackentasche und entriegelte die Türen.

„Ich gehe zu Fuß“, verkündete Bjarne grimmig.

Irgendwie hatte er damit gerechnet. Einen kurzen Moment liebäugelte er mit dem Gedanken, erneut den Steg aufzusuchen und Bjarne damit unter Druck zu setzen. Allerdings wirklich nur kurz, dafür war ihm zu kalt. Er verkroch sich im Inneren seines Wangens, steckte den Zündschlüssel ins Schloss und drehte ihn halb, so dass die Elektrik betriebsbereit war. Augenblicklich begann das Radio zu plärren. Rasch stellte er es aus und betätigte den Schalter für die Sitzheizung.

Tief in den Fahrersitz geschmiegt, beobachtete er durchs Fenster die davontrottende Gestalt. Bjarne hatte sich gleich, noch bevor er eingestiegen war, in Bewegung gesetzt. Schätzungsweise dauerte es zwei bis drei Stunden, die etlichen Kilometer bis zum Hamburger Stadtgebiet per pedes zurückzulegen. Sollte ihm das egal sein? Ja, das sollte es. Schließlich hatte Bjarne ihre Beziehung wie wertlosen Müll einfach weggeworfen, ihr nicht mal den Hauch einer Chance eingeräumt.

Nachdem die Heizung den schlimmsten Frost aus seinen Gliedern vertrieben hatte, ließ er den Motor an und lenkte seinen tiefliegenden Wagen vorsichtig um die Schlaglöcher herum. Als er die asphaltierte Zuwegung erreichte, gab er Gas und entdeckte gleich darauf Bjarne am Wegesrand. Weit war der Kerl ja nicht gekommen.

Er bremste auf Bjarnes Höhe ab, ließ die Seitenscheibe runterfahren und rief: „Sicher, dass du die halbe Nacht zu Fuß unterwegs sein willst?“

Unbeirrt ging der Sturkopf weiter und zeigte ihm den Stinkefinger.

„Arschloch“, murmelte er halblaut, trat aufs Gaspedal und raste bis zu der Stelle, an welcher der schmale Weg in die Hauptstraße mündete.

Im Eifer des Gefechts hatte er das Fenster nicht wieder geschlossen, eisiger Fahrtwind die Wärme aus dem Wageninneren vertrieben. Er holte das nach, setzte den Blinker und guckte, anstatt in die Straße einzubiegen, in den Rückspiegel. Natürlich konnte er Bjarne nicht sehen, da mehrere Kurven zwischen ihnen lagen.

Unbehaglich musterte er die Umgebung. Weit und breit kein Auto. In einiger Entfernung stand eine Reihe Häuser, deren Fenster allesamt dunkel waren. Ein Bürgersteig existierte nicht oder man hatte ihn hochgeklappt. Bei dem Gedanken, in dieser Einöde ohne fahrbaren Untersatz unterwegs zu sein, überlief ihn ein kalter Schauer. Egal, was zwischen ihnen passiert war, er durfte Bjarne nicht zurücklassen.

Liam wendete und fuhr langsam die Strecke zurück. Inzwischen verdeckten dichte Wolken den Mond. In großen Abständen spendeten Straßenlaternen etwas Helligkeit. Am Wegesrand stehende Büsche warfen im Scheinwerferlicht gespenstische Schatten. Als endlich Bjarne in den Lichtkegel geriet, seufzte er erleichtert, stoppte und ließ die Scheibe auf seiner Seite runterfahren.

„Bitte, steig ein.“

Stumm trottete die große Gestalt, ohne ihn eines Blickes zu würdigen, an ihm vorbei. Vielleicht täuschte das im Halbdunkel, doch er glaubte nasse Spuren auf Bjarnes Wangen zu erkennen. Entschlossen, sich nicht so einfach abspeisen zu lassen, zog er die Handbremse an, löste den Gurt und kletterte aus seinem Mazda. Mit langen Schritten holte er Bjarne ein und blockierte den Weg, indem er sich vor dem Kerl aufbaute.

„Nun steig schon ein. Ich bringe dich nach Hause.“

Beharrlich hielt Bjarne den Kopf gesenkt und murmelte verschnupft: „Ich möchte lieber gehen.“

„Was ist los? Ekle ich dich so sehr an, dass du nicht mal ein paar Minuten neben mir im Wagen sitzen kannst?“

„Bitte, lass mich.“

„Sag mal, heulst du?“, unterstellte er absichtlich grob, um Bjarne aus der Reserve zu locken.

„Geht dich nichts an.“

„Stimmt. Wir sind ja geschiedene Leute. Aber weißt du was, du Arschloch? Ich liebe dich immer noch. Also geht es mich sehr wohl etwas an.“

Ein gequälter Laut, wie ein Wimmern, gefolgt von einem bebenden Schluchzer, dann riss Bjarne ihn in eine erdrückende Umarmung. Seine Sohlen verloren, ihrem Größenunterschied geschuldet, den Bodenkontakt. Instinktiv schlang er seine Arme um Bjarnes Hals, wobei sich seine Vermutung bestätigte. Dicke Tränen flossen und der breite Brustkorb erzitterte unter krampfartigen Atemzügen.

„Es tut mir so leid. Wirklich. Ich wünschte, ich könnte alles ungeschehen machen“, flüsterte er.

Bjarne erwiderte schniefend: „Das geht aber nicht und es tut so weh.“

Dem war nichts hinzuzufügen. Nach all den Heulattacken der vergangenen beiden Tage sollten seine Tränendrüsen eigentlich leer sein, dennoch lieferten sie neues Nass. Seine Nase an Bjarnes Hals gepresst, ließ er es laufen. Die gemeinsame Trauer bewirkte, dass er sich seinem Ex weitaus näher fühlte, als in den ganzen letzten Wochen.

Unversehens setzte Regen ein. Erst waren es nur ein paar Tropfen, die sich jedoch rasch zu einem Guss steigerten. Da Bjarne keinerlei Anstalten machte die Umklammerung zu lockern, begann er zu zappeln, bis er Boden unter seinen Sohlen spürte und von den muskulösen Armen in Freiheit entlassen wurde.

Das Wasser prasselte so laut hernieder, dass es seine tränenheisere Stimme fast verschluckte. „Muss ich dich zwingen oder steigst du

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Sissi Kaiserlos
Bildmaterialien: shutterstock design Lars Rogmann
Lektorat: Aschure - danke
Tag der Veröffentlichung: 15.11.2016
ISBN: 978-3-7396-8347-8

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