Cover

Gutenacht Geschichten: Sternzeichen Jungfrau

 

 

Kaum ein Sternzeichen wird so oft und gern für doppeldeutige flache Scherze genutzt. Man sagt den Menschen, die unter diesem Stern geboren sind, unbedingte Treue, Fleiß und Pedanterie nach. Manche neigen zu Scheu, andere sind echte Rampensäue. Eines haben sie alle gemein: Sie sind fehlbar.

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Sämtliche Personen, Orte und Begebenheiten sind frei erfunden, Ähnlichkeiten rein zufällig. Der Inhalt dieses Buches sagt nichts über die sexuelle Orientierung des Covermodels aus. Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck oder eine andere Verwertung, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung der Autorin. Ebooks sind nicht übertragbar und dürfen nicht weiterveräußert werden. Bitte respektieren Sie die Arbeit der Autorin und erwerben eine legale Kopie. Danke!

Text: Sissi Kaiserlos

Foto von shutterstock – Design Lars Rogmann

Korrektur: Aschure. Danke!

Kontakt: http://www.bookrix.de/-sissisuchtkaiser/

 

Schüchterne Jungfrau

Sascha hat ein Problem: Gegenüber Geschlechtsgenossen im begattungsfähigen Alter kriegt er die Zähne nicht auseinander. Seine paar Erfahrungen hat er lediglich besonders hartnäckigen Typen oder Anfällen von Verzweiflung zu verdanken. An seinem 35. Geburtstag hat das Schicksal endlich ein Einsehen …

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1.

Es war Donnerstag. Sascha Behring, 34 Jahre alt und sexuell unterfordert, seines Zeichens Sachbearbeiter in der Kreditabteilung und vom Sternzeichen Jungfrau, stieg in den Fahrstuhl und drückte die Taste für die 4te untere Ebene. Die Tiefgarage, in der sein schmucker BMW auf ihn wartete.

Während der Lift abwärts glitt, wälzte er trübe Gedanken. Mit seinem Äußeren war er ganz zufrieden, doch seine soziale Kompetenz wies erhebliche Mängel auf. Wann immer ein potentieller Sexpartner in seine Nähe kam, verkroch er sich in sein Schneckenhaus. Dementsprechend mager war sein Liebesleben oder, eher gesagt, nicht vorhanden. Ein Zustand, der ihn mehr und mehr frustrierte.

Auf dem Heimweg legte er einen Zwischenstopp bei seinem Lieblingsitaliener ein, dem Tres Scalini, einem Familienbetrieb. Als er das Lokal betrat, befand sich lediglich Rico, der Sohn des Hauses, im Schankraum.

„N’Abend. Ich hätte gern die Nummer 25 zum Mitnehmen“, gab er seine gewohnte Bestellung auf.

Einmal in der Woche gönnte er sich frische Tagliatelle mit Lammfiletspitzen. Ansonsten bestanden seine Mahlzeiten meist aus Fertiggerichten, außer er war am Wochenende bei seinen Eltern zum Essen eingeladen. Danach konnte er sich einige Tage von den Resten ernähren, die seine Mutter ihm einpackte.

„Hallo Herr Behring. Wollen Sie etwas trinken, während Sie warten?“, erwiderte Rico freundlich.

Sascha war seit zwei Jahren Stammgast, zahlte stets mit Visa-Karte und hatte sich schon mal etwas liefern lassen, daher war sein Name dem Mann geläufig. „Danke, nein.“

Rico verschwand durch eine Tür hinter dem Tresen. Ein Schwall italienischer Worte drang aus der Küche. Gleich darauf erschien die alte Corraini und begrüßte ihn wie einen verlorengegangenen Sohn. Er ließ ihre Umarmung und geäußerte Besorgnis über seinen angeblichen Gewichtsverlust nachsichtig über sich ergehen. Nachdem sie ihm in die Wange gekniffen und ermahnt hatte, bloß nicht noch dünner zu werden, eilte sie in die Küche zurück.

„Mama ist eine echte Urgewalt“, meinte Rico grinsend.

Darauf wusste er nichts Gescheites zu sagen, murmelte ‚öhm ja‘ und griff nach einer Speisekarte, obwohl er die in und auswendig kannte. Angeblich interessiert blätterte er darin herum, bis Rico das eingepackte Essen vor ihm auf dem Tresen abstellte.

„Zahlen Sie wie immer?“

Wortlos zückte Sascha seine Börse, zog die Visakarte heraus und reichte sie Rico. Mit spitzen Fingern nahm jener sie entgegen, schob sie ins Lesegerät und tippte Zahlen in das Bedienfeld. Anschließend zeigte Rico ihm das Display, hob fragend die Brauen und bestätigte auf sein Nicken hin den Betrag.



Als er wieder in seinem Wagen saß, ärgerte er sich maßlos über sein steifes Verhalten. Rico war ein ausnehmend schnuckliges Exemplar und fischte am gleichen Ufer wie er. Das hatte er sofort an der Art, in der die dunklen Augen ihn mit eindeutig sexuellem Interesse musterten bemerkt. Mittlerweile war das allerdings in Gleichgültigkeit umgeschlagen.

Zu Hause angekommen, tauschte er seinen Anzug gegen Freizeitklamotten aus. Noch dabei sich das T-Shirt über den Kopf zu ziehen, ging er in die Küche, wo er sein Essen abgestellt hatte. Er packte es aus und schüttelte angesichts der riesigen Portion den Kopf. Das war mindestens doppelt so viel wie sonst. Offenbar plante Donata ihn zu mästen.

Nachdem er die Hälfte des Gerichts im Kühlschrank verstaut hatte, brachte er die andere auf seine Terrasse. Der Platz war durch den darüber liegenden Balkon vor Regen und Sonne geschützt. Nur wenn jene tief stand, so wie gerade jetzt, erreichten ein paar Strahlen den Bereich, sofern sie nicht von den hohen Bäumen am Ufer des Goldbekkanals geschluckt wurden.

Sascha ließ sich am Tisch nieder und begann zu essen. Ab und zu erklangen Stimmen vom Kanal her, wenn Kanuten vorbei paddelten. Nur selten erinnerte ein Hupen oder Martinshorn daran, inmitten einer Großstadt zu wohnen. Die Immobilie war ein absoluter Glücksgriff. Eine Kollegin aus der Abteilung, die den Maklerauftrag für die gesamte Anlage abwickelte, hatte ihm den Tipp gegeben. Das Preis-Leistungs-Verhältnis stimmte und die Lage war einfach der Knüller: Ruhig, dabei zentral.

Er schob sich die letzte Gabel voll Nudeln in den Mund, legte das Besteck auf den Teller und lehnte sich gemütlich zurück. In zwei Wochen war sein Geburtstag. Das traditionelle Kaffeetrinken bei seinen Eltern stand bereits fest und normalerweise reichte ihm das auch, aber für seinen 35ten schwebte ihm etwas Besonderes vor. Immerhin markierte diese Jahreszahl die Mitte seines Lebens. Sascha ging davon aus, dass er, genau wie alle seine Großeltern, das Zeitliche mit Anfang siebzig segnen würde.

An liebsten würde er seinen Jubeltag mit großartigem Sex begehen. Na ja, das großartig klammerte er wohl besser aus und beließ es bei schlichtem Sex. Sein letzter lag etliche Monate zurück. Eine Verzweiflungstat mit einem Stricher in einer stinkenden Klappe. Hinterher hatte er unter akutem Waschzwang gelitten und sich vorgenommen, nie wieder mit Junkies und noch weniger in verdreckten Klohäusern zu vögeln. Das schied als Happening an seinem Geburtstag also schon mal aus, erkannte er ironisch.

Sein Freund Marcel wusste zum Glück nichts von seinem Wunsch. Andernfalls hätte der Spaßvogel ihm bestimmt wieder Mitleidssex angeboten. An seinem 30ten war er aus Verzweiflung darauf eingegangen. Besonders schön war’s für ihn nicht gewesen, obwohl sich sein Freund redlich Mühe gegeben hatte. Danach brauchte er ziemlich lange, bis er erneut unbefangen mit Marcel umgehen konnte. Ein weiteres Mal wollte er ihre Freundschaft keinesfalls aufs Spiel setzen. Er pflegte nur diese eine und obwohl Marcel manchmal ein ganz schöner Spinner war, hatte er den Kerl ins Herz geschlossen.

Im Grunde könnte er sich locker einen Edelcallboy leisten. Leider reichte schon der Gedanke, um ihm Minderwertigkeitskomplexe zu implizieren. Neben einem sonnenstudiogebräunten und fitnessgestählten Typen käme er sich wie eine graue Maus vor. Vielleicht gab es unter diesen Leuten auch Normalos, aber bisher hatte er nur Anzeigen von derartigen Strahlemännern gefunden.

Sascha verfrachtete sein Geschirr in die Küche, stellte es in die Spüle und nahm eine Flasche Pils aus dem Kühlschrank. Zurück auf der Terrasse, spulte er die Lieblingsfantasie einer Geburtstagsfeier vor seinem inneren Auge ab: Dinner mit dem süßen Rico, danach schmusen bei Kerzenlicht und zärtlicher Sex. Die Bilder entlockten ihm ein sehsüchtiges Seufzen und sein sämtliches Blut rauschte in die untere Etage.



Zwei Wochen später war er bezüglich irgendwelcher Pläne keinen Schritt vorangekommen. Wie jeden Donnerstag legte er nach Feierabend am Tres Scalini einen Zwischenstopp ein und traf diesmal im Schankraum auf Michelle, Ricos Schwester.

„Die 25 zum Mitnehmen?“, fragte sie, noch bevor er den Mund aufmachen konnte.

„Genau. Und einen Cappuccino, bitte.“

„Kommt sofort.“ Sie steckte den Kopf durch die Küchentür, gab seine Bestellung weiter und begann, am Kaffeeautomaten herumzuhantieren.

Sascha nahm am Tresen Platz, wobei er seinen Blick durch den Raum schweifen ließ. In einer Ecke entdeckte er an einem Tisch sechs Gäste. Das erklärte das Ausbleiben von Donatas Begrüßung und bedeutete zugleich, dass er länger auf sein Essen warten durfte als sonst.

„Du müsstest bald Geburtstag haben oder hattest bereits“, meinte Michelle im Plauderton, stellte das Getränk vor ihm ab und stützte ihre verschränkten Unterarme auf die Theke.

Genau wie die alten Corrainis war sie schnell ins vertrauliche ‚Du‘ verfallen, während Rico und dessen Bruder Nicolai beharrlich bei ‚Herr Behring‘ blieben.

„Wie kommst du darauf?“

„Erinnerst du dich nicht? Du warst mit deinen Eltern zum Essen hier und dein Vater hat meinem gesteckt, dass du Geburtstag hast. Daraufhin haben wir dir ein Ständchen gebracht. Ich hab mir das gemerkt, weil ich auch Jungfrau bin.“

Das hatte er wirklich total verdrängt. Dabei war es total niedlich gewesen, wie die anwesenden Mitglieder der Familie Corraini schrecklich laut und falsch ‚Happy Birthday‘ geschmettert hatten.

„Den Tag weiß ich nicht mehr genau, aber es war im September“, ließ Michelle nicht locker.

„Am 17ten.“

„Oh! Das ist ja Samstag. Feierst du?“

„Nur das obligatorische Kaffeetrinken bei meinen Eltern. Ich wollte sie zum Mittag hierher einladen, aber sie meinten, das wäre ihnen zu viel.“

„Ich bin am 28ten dreißig geworden. Meine lieben Brüder haben mir einen Nacktputzer geschenkt.“ Sie schüttelte lachend den Kopf. „Der hat mehr Dreck gemacht, als geputzt. Aber süß war der schon.“

Ein Kerl, der nackig in seiner Wohnung mit dem Staubsauger herumlief, würde Sascha auch gefallen. „Glückwunsch nachträglich.“

„Dankeschön. Ups! Mein Typ wird verlangt.“ Michelle kam hinter dem Tresen hervor und eilte in Richtung des besetzten Tisches.

Ein Nacktputzer … Schmunzelnd nippte er an seinem Cappuccino. Anscheinend waren die Brüder ziemlich locker drauf, wenn sie ihrer Schwester so etwas Frivoles schenkten. Woher die Assoziation von locker zu Lieferservice kam, wusste er im Nachhinein nicht mehr. Vielleicht daher, dass beides mit einem ‚l‘ anfing. Jedenfalls reifte allmählich eine Idee, die verwegener nicht sein könnte.

Als Michelle zurückkehrte, fragte er möglichst nebensächlich: „Sag mal, arbeitet Rico eigentlich am Samstag?“

„Keine Ahnung. Wieso?“, antwortete sie, ohne ihre Tätigkeit zu unterbrechen. Flink baute sie Gläser nebeneinander auf und füllte eines nach dem anderen mit verschiedenen Softdrinks.

„Könntest du das rausfinden?“

„Klar.“ Geschickt verstaute sie die Getränke auf einem Tablett und ließ ihn wieder allein.

Sein Plan war total irrwitzig und völlig unausgegoren. Bisher hatte er nur bis zu der Stelle gedacht, an der Rico mit zwei bestellten Gerichten vor seiner Tür stand. Für ihn war das schon eine Glanzleistung, schließlich begab er sich damit erstmals in die Offensive. Wie er es anstellen sollte Rico dazu zu bewegen, wenigstens zum Essen zu bleiben, war ihm schleierhaft. Marcel hätte mit so etwas kein Problem. Erst neulich hatte sein Freund einen Pizzaboten vernascht. Jedenfalls behauptete er das. Doch selbst wenn es ihm gelänge Ricos Bleiben zu bewirken, wäre da immer noch seine Sprachlosigkeit in Gegenwart eines derart attraktiven Kerls. Ach, auch bei weniger schönen Kerlen bekam er seine Zähne nicht auseinander.

Michelle lief an ihm vorbei, warf schwungvoll das leere Tablett auf die Theke und verschwand durch die Küchentür. Bei ihrer Rückkehr trug sie ein listiges Grinsen auf den Lippen.

„Und?“, hakte er nach.

Erneut lehnte sie sich mit den Unterarmen auf den Tresen. „Warum willst du das denn wissen?“

„Ich würde mir Samstag gern etwas liefern lassen.“

„Am Wochenende liefern wir nur per Kurier aus. Hier ist zu viel los, als dass einer abkömmlich ist.“

Enttäuscht sackten seine Mundwinkel runter. „Schade.“

„Nun red nicht länger um den heißen Brei herum“, verlangte Michelle energisch. „Worum geht’s genau?“

„Vergiss es. War eh eine Schnapsidee.“

Sie schnalzte mit der Zunge, genau wie Vitello, wenn der ungeduldig wurde. „Okay. Ich bin ja nicht blöd und hab sehr wohl bemerkt, dass du ihm bei jeder Gelegenheit auf den Hintern glotzt. Rico soll dir also Essen liefern und dann? Willst du ihn dir als Nachtisch einverleiben, oder was?“

Entsetzt schüttelte er den Kopf. „Nein! Ich würde nur gern Gesellschaft beim Abendessen haben.“

„Sagte der Wolf und wetzte sich die Zähne.“ Michelle grinste breit. „Kann ich verstehen. Mein Bruder ist ein süßes Schäfchen.“

Ein beharrliches Läuten aus der Küche beendete ihr Geplänkel. Zweimal hastete sie mit gefüllten Tellern an ihm vorbei, dann stellte sie seine eingepackte Nummer 25 vor ihm ab. Im nächsten Moment erschien die Herrin des Hauses und drückte ihn an ihren wogenden Busen.

„Sascha, mio figlio. Du siehst immer noch so dünn aus. Pass besser auf dich auf.“ Sie tätschelte seine Wange und trippelte davon, um den Gästen guten Appetit zu wünschen.

„Für Mama sind Männer erst wohlgenährt, wenn sie so eine Murmel wie Papa vor sich herschieben“, lästerte Michelle liebevoll. „Her mit deiner Visa!“

Während des Zahlvorganges traf ein Schwung weiterer Gäste ein. Donata kümmerte sich um die Neuankömmlinge, was ihm Gelegenheit bot, noch ein paar Worte mit Michelle zu wechseln.

„Bitte! Es ist doch mein Geburtstag.“ Solche Beharrlichkeit kannte er gar nicht von sich, was ihm klar vor Augen führte, wie verzweifelt er war.

„Also gut. Rico hat keinen Dienst, aber Rufbereitschaft bis neun. Es liegt daher im Bereich des Möglichen, ihn zu einer Lieferung zu überreden.“ Michelle reichte ihm einen Kuli und den Abschnitt aus dem Kartenlesegerät. „Welche Uhrzeit schwebt dir vor?“

„Sieben? Wenn das okay ist.“ Er kritzelte sein Autogramm auf das Thermopapier, froh, dass seine zitternden Finger gehorchten. Nun, wo sein Plan tatsächlich Form annahm, bekam er Angst vor seiner eigenen Courage.

Routiniert händigte sie seine Karte wieder aus, zusammen mit dem Kundenbeleg. „In Ordnung. Für dich soll’s bestimmt die 25 sein, richtig?“

„Öhm. Ja. Was ist denn Ricos Leibgericht?“ Die Visakarte war erstaunlich sperrig und wollte einfach nicht mehr ins vorgesehene Fach seiner Börse passen. Schlussendlich stopfte er sie ins Banknotenfach.

„Du wirst lachen. Er liebt Mamas Pasta Asciutta über alles.“

„Bitte, was?“

Michelle beugte sich vor, um ihm vertraulich zu verraten: „Ich nenne es heimlich Nudeln mit Matsche. Es besteht aus Spaghetti, unter die Tomatenmark, gebratenes Hackfleisch und Zwiebelstückchen gemengt werden.“

Seine Anspannung wich ein bisschen zugunsten eines angeekelten Schüttelns. „Oh Gott! Aber egal. Meinst du, deine Mutter würde so etwas für mich zaubern?“

„Mio figlio. Für dich würde ich das natürlich tun, ist doch schließlich dein Geburtstag“, imitierte sie Donatas Stimme und fügte in ihrer normalen Tonlage hinzu: „Erklär mir mal, wie ich ihr glaubhaft machen soll, dass das Zeug für dich ist, wenn du zusätzlich deine heißgeliebte 25 bestellst?“

„Na gut. Dann bitte zweimal die Nudeln mit Matsche“, gab er sich geschlagen.



2.

Rico latschte auf den Hauseingang zu, betätigte die Klingel und nahm neugierig eine Geruchsprobe aus der Tüte, die Michelle ihm vor einer Viertelstunde grinsend in die Hand gedrückt hatte. Seine Schwester konnte manchmal ein richtiges Biest sein. Auf seine Frage hin, was das hier solle, hatte sie lediglich die Achseln gezuckt und etwas von ‚SOKO Sascha‘ gemurmelt.

Tres Scalini lieferte nie am Wochenende via eigenen Angestellten aus. Warum ausgerechnet Sascha Behring, der ihn geflissentlich mit Nichtachtung strafte, es wert war, eine Ausnahme zu machen, entzog sich seinem Verständnis. Na gut, der Typ war von seiner Mutter adoptiert worden und sein Vater mochte den Stammkunden, der jede Woche verlässlich Geld in die Kasse brachte. Nur deswegen hatte er sich überhaupt breitschlagen lassen, seine Couch für diesen Botengang zu verlassen. Schließlich tat er es für die Familie, deren Wertschätzung ihm schon mit der Muttermilch eingeflößt worden war.

Der Türöffner summte. Mit der Schulter stemmte er sich gegens Türblatt, in der einen Hand das Essen, in der anderen den Beleg. Den hatte er eben aus der Tüte gefischt und war bass erstaunt, dass die Endsumme auf ‚0‘ lautete. Statt irgendwelcher Speisen a la Carte, stand zweimal ‚Mittagstisch‘ auf dem Papier, etwas, das sie nur unter der Woche anboten. Merkwürdig.

Im Treppenhaus stank es förmlich nach Geld. Der Boden bestand aus Marmor, die Wände waren zur Hälfte mit Fliesen aus gleichem Material bestückt.

Vor einiger Zeit war er schon mal hier gewesen, um eine Lieferung auszuhändigen. Behring hatte ihn auf der Schwelle abgefertigt, einen Schein gereicht, sich das Essen geschnappt und ihm die Wohnungstür vor der Nase zugeschlagen. Wenn das heute wieder passierte, würde er dem Kerl ein paar Takte erzählen. Ein Mindestmaß an Höflichkeit war ja wohl nicht zu viel verlangt.

Rico wollte gerade läuten, als die Tür von innen geöffnet wurde. Behring, in Jeans und weißem T-Shirt, sah ihm entgegen. Der Typ war barfuß und trug die sonst ordentlich gescheitelten Haare sexy zerstrubbelt. Er kannte Behring nur businessmäßig gestylt oder in einem Zustand, den Anzugträger wohl als lässig empfanden: Der oberste Hemdsknopf geöffnet, die Krawatte gelockert und das Jackett über den Arm drapiert. Selbst bei der letzten Auslieferung hatte Behring, soweit er erinnerte, Oberhemd und Anzughose getragen.

„Hi. Nett, dass Sie es einrichten konnten. Ich weiß, Tre Scalini-Mitarbeiter liefern nicht am Wochenende, aber …“ Seine Aufmerksamkeit wurde von einem heftig hüpfenden Adamsapfel angezogen. Offenbar war Behring ziemlich aufgeregt. „… aber ich hab Geburtstag. Da hat Ihre Schwester ein Auge zugedrückt.“

Das erklärte immer noch nicht, warum Michelle ihn anstelle eines Taxis geschickt hatte.

„Herzlichen Glückwunsch. Laut Beleg schulden Sie mir nichts.“ Er hielt Behring die Tüte hin, doch der machte keinerlei Anstalten sie anzunehmen.

„Ich … würde es Ihnen etwas ausmachen … mein Gast ist abgesprungen und es wäre doch schade, das Essen wegzuwerfen.“

„Ja. Wirklich jammerschade“, stimmte er scheinheilig zu.

Zuzusehen, wie Behring vor Verlegenheit die Finger verknotete und rosa anlief, bereitete ihm eine gewisse Genugtuung.

„Ehrlich gesagt … ehrlich gesagt ist das gelogen. Ich hatte gehofft, dass Sie … dass Sie mir vielleicht ein bisschen Gesellschaft leisten mögen“, flüsterte Behring.

„Warum sollte ich das wollen?“

Sein Gegenüber zuckte zusammen. Aus braunen Augen traf ihn ein zutiefst verletzter Blick. Schneller als er gucken konnte, hatte Behring die Tüte aus seiner Hand gerissen und die Tür zugeknallt. Perplex starrte er das Türblatt an. Was war bloß in den Typen gefahren? Sonst redete der kaum ein Wort mit ihm und erwartete nun doch glatt, dass er die Einladung mit Freuden annehmen würde. Rico schüttelte verständnislos den Kopf, machte kehrt und durchquerte das Treppenhaus. Die Klinke schon in der Hand, überlegte er es sich anders. Behring hatte Geburtstag. Es war gemein, einen Menschen an dessen Freudentag so mies zu behandeln. Zumindest musste er sich für seine letzte Bemerkung entschuldigen.

Er ging zurück zur Wohnungstür und presste seinen Finger auf den Klingelknopf. Drinnen erklang ein Dauerschrillen. Beharrlich hielt er den Knopf gedrückt, bis die Tür einen Spalt aufging. Behring spähte stirnrunzelnd hindurch.

„Es tut mir leid. Das ist mir so rausgerutscht.“

„Schon gut. Danke für das Essen.“

Wieder fiel die Wohnungstür ins Schloss. Eigentlich war alles gesagt, dennoch brachte Rico es nicht über sich zu gehen. Die Vorstellung, wie Behring allein am Tisch hockte, weckte sein Mitleid. Hatte der Typ denn keine Freunde? Niemand sollte an seinem Geburtstag einsam herumsitzen, selbst ein schnöseliger Sascha Behring nicht. Wobei … der schien wohl eher unter Schüchternheit, als Standesdünkel zu leiden.

Entschlossen betätigte er erneut die Glocke. Diesmal dauerte es wesentlich länger als beim ersten Mal, bis Behring öffnete.

„Bitte, hören Sie mit dem Terror auf.“

„Darf ich fragen, welche Gerichte Sie bestellt haben?“

„Zweimal Pasta Asciutta.“

Sein Leibgericht? Woher wusste Behring …? Hatte Michelle etwa …? Wahrscheinlich, wer auch sonst? Blieb die Frage, was das Ganze sollte. Behring war seit zwei Jahren Stammkunde und hatte nie irgendwelches Interesse gezeigt. Ging’s wirklich nur um ein gemeinsames Essen? Quatsch! Welcher Kerl lud einen denn nur zum Zweck der Nahrungsaufnahme ein? Da steckte immer etwas anderes dahinter. Abschätzend musterte er Behring und entschied, dass von jenem keine Gefahr drohte.

„Die wollen Sie doch bestimmt nicht allein aufessen. Darf ich reinkommen?“

Nach kurzem Zögern ließ Behring ihn eintreten. Der Flur war geräumig, der Boden mit gemütlichen Holzdielen ausgelegt. Links von Rico wies ein Schild an der Tür den dahinterliegenden Raum als Gäste-WC aus. Auf der anderen Seite befand sich eine Garderobe, an der eine Leder- und eine Jeansjacke hingen.

„Ich glaube, das hier ist eine blöde Idee. Sie sollten besser gehen“, meinte Behring leise.

„Und das schöne Essen verkommen lassen? Das wäre doch schade.“

„Ist das nicht egal?“

„Sie haben Geburtstag“, erinnerte er.

„Scheiß drauf.“

„Oh nein! Ich hab extra für Ihre Lieferung meine Couch verlassen, nun möchte ich auch einen Lohn“, versuchte er Behring ein schlechtes Gewissen einzubläuen.

„Ich bin kein interessanter Gesprächspartner.“

„Von mir aus können wir schweigend essen.“

Einer von Behrings Mundwinkeln zuckte in der Andeutung eines Lächelns hoch. Die Wirkung war überwältigend. Im ernsten Modus war der Typ schon attraktiv, doch das halbe Grinsen gab ihm zusätzlich etwas unwiderstehlich Lausbubenhaftes.

„Also: Wo ist die leckere Pasta?“, fragte Rico betont aufgeräumt.

„In der Küche. Ich wollte sie eigentlich wegwerfen.“

„Bitte?“ Er folgte Behring in die Küche und entdeckte das eingepackte Essen auf der Arbeitsfläche. „Wieso wollen Sie die Pasta wegschmeißen?“

„Ich glaube nicht, dass ich die mag.“

Über so viel Voreingenommenheit konnte er nur den Kopf schütteln. „Geben Sie mir bitte

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Sissi Kaiserlos
Bildmaterialien: shutterstock desgin Lars Rogmann
Lektorat: Aschure - danke
Tag der Veröffentlichung: 07.10.2016
ISBN: 978-3-7396-7745-3

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