Die Band The Pulitzers kündigte das letzte Stück an. Entgegen seinem Freund Peer war Niklas erleichtert. Sie teilten so manche Leidenschaft, einschließlich der Liebe zum eigenen Geschlecht, aber was Musik anging, besaßen sie einen total gegensätzlichen Geschmack. Niklas bevorzugte moderaten Pop, während Peer auf Heavy Metal stand. Gerade himmelte sein Freund den Gitarristen und Sänger der Band an.
„Ist Rodney nicht geil?“, rief Peer über den ohrenbetäubenden Lärm hinweg.
Ziemlich cool war der Typ schon, das musste Niklas zugeben, aber geil? Kritisch musterte er den dünnen Kerl, dem die langen Haare strähnig ins Gesicht fielen, wann immer er eine heftige Bewegung mit dem Kopf vollführte. Das tat der Mann oft, im Takt zu den harten Rhythmen. Nur wenn er ans Mikro trat, schüttelte er die Mähne zurück.
Die Gesichtszüge wirkten wie gemeißelt und zum Lächeln stieg der Kerl bestimmt in den Keller. Jedenfalls hatte Niklas diesen Eindruck. In den ganzen neunzig Minuten, die das Konzert schon dauerte, hatte der gute Rodney nicht ein einziges Mal eine freundliche Miene aufgesetzt. Ganz im Gegensatz zu dem Bassisten, auf dessen Lippen ein Dauergrinsen lag.
„Ich hol uns was zu trinken“, brüllte er seinem Freund, der das mit einem abwesenden Nicken zur Kenntnis nahm, ins Ohr.
Niklas bahnte sich einen Weg durch die Menge. Peer hatte hartnäckig darauf bestanden, in den vordersten Reihen zu stehen, obwohl man dort wie Ölsardinen in der Büchse eingequetscht wurde. Weiter hinten lichtete sich die Gästeschar, was ein Vorwärtskommen leichter machte. Er steuerte auf den Tresen an der linken Wand zu, bestellte zwei Bier und begab sich mit den beiden Flaschen in der Hand auf den Rückweg.
Wie erhofft beendete die Band das letzte Stück, noch bevor er Peer erreichen konnte. Niklas blieb stehen, trank einen Schluck Pils und hörte mit gerunzelter Stirn erste Rufe nach einer Zugabe. Das Publikum tobte und forderte in einem sich immer mehr manifestierenden Sprechchor nach mehr. Dieser Bitte konnte bestimmt kein Vollblutmusiker widerstehen.
Die Bühne, die nach dem Abgang der Bandmitglieder verwaist und dunkel dalag, wurde plötzlich von einem einzelnen Spot angeleuchtet. Rodney, ein Handtuch um den Hals, trat in den Lichtkegel und griff nach dem Mikro. Nach und nach verstummten die Rufe, erwartungsvolle Stille legte sich über den Saal.
„Danke. Auch im Namen meiner Kollegen.“ Der Typ deutete eine Verbeugung an. „Leider ist meine Stimme ziemlich hinüber und braucht etwas Ruhe. Als kleinen Ausgleich werden wir, nachdem wir uns ein bisschen frisch gemacht haben, eine Autogrammstunde abhalten. Also: Bleibt noch ein bisschen.“
Rodney steckte das Mikrophon zurück in die Halterung und verließ erneut die Bühne. Die Menge geriet in Bewegung. Viele strebten dem Ausgang zu, einige gingen zur Bar und der Rest blieb in Grüppchen stehen, wohl um den weiteren Verlauf des Abends zu planen. Niklas entdeckte Peer, der auf ihn zukam. Ihm war klar, dass sein Freund keinesfalls ohne ein Autogramm des verehrten Sängers der The Pulitzers die Markthalle verlassen würde.
„Was für ein geiles Konzert.“ Peer schnappte sich eine der Flaschen und setzte sie an die Lippen.
Die Hälfte des Inhalts gurgelte durch die Kehle seines Freundes. Niklas beobachtete den hüpfenden Adamsapfel und obwohl Peer so gar nicht sein Typ war, fand er den Anblick sexy. Schon komisch, dass sein Freund noch solo war. Immerhin sah er gut aus und hatte keinerlei nennenswerte Macken vorzuweisen. Na ja, bis auf die Tatsache, dass Peer gelegentlich als Callboy arbeitete. Niklas war auch in diesem Gewerbe tätig, allerdings nicht nur ab und zu. Er arbeitete in Teilzeit auf einer Tankstelle, um seinen Pflichtanteil in die Renten- und Krankenkasse einzuzahlen. Den Löwenanteil verdiente er jedoch mit seinem Körper.
„Ich muss unbedingt ein Autogramm von Rodney haben“, kündigte Peer wie erwartet an.
„Hauptsache, du wirst nicht peinlich und verlangst, dass er es dir mit Edding auf den Schwanz kritzelt.“
„Nette Idee.“
Hatte er seinem Freund gerade eine Grille in den Kopf gesetzt? Hoffentlich nicht. Er folgte Peer aus dem Saal in den Eingangsbereich, in dem sich ein hufeisenförmiger Tresen befand. Anscheinend waren noch mehr Leute scharf auf ein Autogramm. Alle Barhocker waren besetzt und an dem Stand, an dem man Fanartikel kaufen konnte, hatte sich eine Schlange gebildet.
Es wunderte ihn nicht, dass sich Peer sogleich hinter den Kaufwütigen einreihte. Geduldig bezog er neben seinem Freund Aufstellung und musterte die angebotenen Artikel. Hauptsächlich T-Shirts mit Rodneys Konterfei oder dem Bild der gesamten Band. Schwarz herrschte vor, neben einigen roten oder orangen Kleidungstücken. Niklas‘ Blick fiel auf eine Pants, die ihm auf Anhieb gefiel. Nicht wegen des Aufdrucks, sondern weil das Material seidig schimmerte.
Als sie an der Reihe waren, erstand Peer eines der T-Shirts mit Rodney-Motiv. Wenigstens entschied sich sein Freund für ein relativ geschmackvolles Teil in schwarz, anstatt für eines in den grellen Farben. Niklas erntete einen erstaunten Seitenblick für seine Entscheidung, zwei der Unterhosen zu kaufen.
„Willst du mir die Teile zu Weihnachten schenken?“, witzelte Peer.
„Das ist gerade vorbei. Außerdem haben sie nicht deine Größe.“
Sein Freund, ein typischer Twink, verzog gespielt schmerzerfüllt das Gesicht. „Musst du mich ausgerechnet jetzt darauf hinweisen, wie klein mein Schwanz ist?“
Dem Hörensagen nach zu urteilen, war Peer ziemlich gut ausgestattet. Niklas wusste das nicht aus erster Hand, da sie nie etwas miteinander angefangen hatten und ehrlich gesagt interessierte es ihn nicht sonderlich.
„Armer Kerl. Hauptsache, du kannst damit umgehen.“ Er verpasste Peer einen Klaps gegen den Hinterkopf und dirigierte ihn vom Stand weg.
Die Wartezeit, bis die Bandmitglieder der The Pulitzers auftauchten, verbrachten sie auf einer Bank gegenüber dem Tresen. Niklas musste erst mittags seinen Job antreten, Peer hatte sich sogar freigenommen, daher störte es sie beide nicht, dass Mitternacht immer näher rückte.
Endlich, um kurz nach zwölf, kam Unruhe auf. Nacheinander traten Rodney und dessen zwei Kollegen durch eine Seitentür, um hinter dem Merchandisingstand Platz zu nehmen. Noch bevor die drei saßen, bildete sich ein Menschenauflauf vor dem Tisch. Verwundert sah Niklas seinen Freund, der das Treiben gelassen beobachtete, an.
„Willst du nun doch kein Autogramm?“
„Ich warte, bis die da alle weg sind.“ Peer lehnte sich zurück und leerte das dritte Bier seit Konzertende.
Mühsam unterdrückte Niklas ein Gähnen. Er wollte endlich ins Bett und überlegte gerade, ob er Peer allein zurücklassen sollte, als dieser aufsprang.
„Scheiße. Das nimmt ja kein Ende. Komm.“ Energisch packte sein Freund ihn am Ärmel und zerrte ihn rüber zu den Wartenden.
Es war ein merkwürdiges Gefühl, den Mann, den er noch vor rund einer Stunde auf der Bühne angeschaut hatte, nun in dieser nüchternen Umgebung zu sehen. Das grelle Licht, das die Fanartikel und damit auch die Bandmitglieder anstrahlte, ließ keinen Zweifel daran, dass Rodney nicht mehr der Jüngste war. Fältchen nisteten in dessen Augenwinkeln und ein paar silberne Fäden durchzogen die braunen Strähnen an den Schläfen. Die Haare hatte er zu einem Zopf gebunden, was die harten Linien seines Gesichts noch betonte.
Je näher sie auf den Tisch zu rückten, desto mehr nahm Rodneys maskuline Ausstrahlung Niklas gefangen. Ihm kam es so vor, als wenn der Blick des Mannes mehrfach interessiert auf ihm ruhte. Sicher Einbildung, schließlich war Niklas von Leuten umringt und überhaupt nicht sicher, was die sexuelle Ausrichtung des Bandleaders anging. Als es wieder mal geschah, sah er sich nach allen Seiten um, um herauszufinden, wen Rodney anguckte. Ein paar ganz hübsche Mädels kamen infrage, sofern der Kerl auf junges Gemüse stand.
Niklas richtete seine Aufmerksamkeit wieder nach vorn. Ganz eindeutig zwinkerte Rodney ihm zu. Neben ihm stieß Peer einen tiefen Seufzer aus.
„Der steht auf dich. Schade, aber sei’s drum. Ich will morgen haarklein von dir wissen, wie er im Bett ist.“
„Träum weiter“, murmelte Niklas.
Kurz darauf erreichten sie den Tisch. Er hätte sich gern ein bisschen im Hintergrund gehalten, was die nachdrängenden Massen jedoch verhinderten. Wieso hatte er nicht einfach abseits gewartet, bis Peer das blöde Autogramm ergatterte?
„Ich bin ein totaler Fan. Du warst heute absolut spitze“, säuselte sein Freund.
„Danke. Irgendeine Widmung?“ Rodneys Stimme klang etwas belegt, als wenn er eine Erkältung ausbrütete.
„Für Peer.“
Der Bandleader hob eine Augenbraue und sah zwischen ihnen hin und her. „Dein Name oder der deines … Freundes?“
Der süffisanten Tonlage nach nahm Rodney anscheinend an, dass sie ein Liebespaar waren. Das Eindringen in ihre Privatsphäre kostete den Kerl in Niklas‘ Achtung ein paar Punkte. Er wünschte, Peer würde den unverschämten Typen in dem Glauben lassen.
„Niklas ist mein bester Kumpel“, beeilte sich sein Freund leider klarzustellen.
„So, so“, murmelte Rodney, kritzelte etwas auf eine Autogrammkarte und reichte sie Peer.
Niklas atmete auf. Selbst der Punktabzug verhinderte nicht, dass der verdammte Kerl ihn beeindruckte. Zuletzt hatte er in seiner Jugend für irgendwelche Stars geschwärmt und keinesfalls vor, erneut in solche sinnlose Anhimmelei zu verfallen. Es war schon schlimm genug, dass Peer nach den zu hoch hängenden Früchten gierte. So etwas führte nur zu Frust und Herzschmerz. Zwei Dinge, auf die er gut verzichten konnte.
„Niklas? Du hast was vergessen“, hielt ihn Rodneys rauer Bass auf, gerade als er dem Kerl den Rücken zuwenden wollte.
Verwirrt guckte er das Kärtchen, das ihm entgegengestreckt wurde, an. Es handelte sich um die gleiche Autogrammkarte, wie auch Peer bekommen hatte. Ganz kurz war er versucht, Rodney die kalte Schulter zu zeigen. Letztendlich überwog seine Gutmütigkeit, schließlich konnte der Mann nicht ahnen, dass er nur wegen Peer auf das Konzert gegangen war. Es wäre fies, ihm das auf die Nase zu binden.
„Danke.“ Mit spitzen Fingern nahm er die Karte und stopfte sie in die Innentasche seiner Jacke.
„Zeig mal“, forderte Peer, gleich nachdem sie durch die Tür in die kalte Nachtluft hinaus getreten waren.
Niklas fischte das Stück Papier aus der Tasche, hielt es seinem Freund hin und meinte: „Behalt es.“
Die anhaltende Stille und Peers aufgerissene Augen veranlassten ihn, selbst einen Blick auf das Gekritzel zu werfen. Mühsam entzifferte er: ‚Ruf mich an.‘ Es folgte eine Handynummer.
„Was für ein …“ Niklas schluckte das ‚Idiot‘ herunter, um seinen Freund nicht zu verletzen.
„Der ist spitz wie Lumpi auf dich. Oh Mann! Ruf ihn gleich an.“ Peer zückte sein Smartphone und begann, eifrig auf dem Display herum zu tippeln.
„Hallo? Schon vergessen? Du schwärmst für ihn, nicht ich.“
„Du bist ein Ignorant. Rodney ist ein Star, dazu noch sehr sexy und er will mit dir ficken. Ich gäbe mein Leben dafür, wenn ich an deiner Stelle wäre.“
„Impf mir bloß noch ein schlechtes Gewissen ein, nur weil ich nicht mit deinem Idol in die Kiste springen will. Bestimmt hat der auf…“ Im letzten Moment biss sich Niklas auf die Zunge. Rodney als aufgeblasenen Wichtigtuer zu bezeichnen, würde ihre Freundschaft nur belasten. „Bestimmt hat der arme Kerl nur Stangenfieber.“
„Für mich sah es nach etwas anderem aus.“
„Ach?“
Peer nickte, ohne mit dem Getippe aufzuhören. „Er scheint dich zu mögen. Also, so richtig.“
„Klar. Liebe auf den ersten Blick. Peer? Du bist betrunken.“ Er verpasste seinem Freund einen spielerischen Klaps gegen die Schulter. „Steck das verdammte Handy weg.“
„Moment.“
„Du kannst deine Nachrichten gleich in der Bahn checken.“
„Bin schon fertig.“ Ein listiges Grinsen auf den Lippen, schob Peer das Smartphone in die Jackentasche. „Den Bassisten finde ich übrigens auch ganz niedlich.“
„Wieso auch? Ich dachte, du findest Rodney geil. Das ist ein gewaltiger Unterschied zu niedlich.“
„Sei nicht so spitzfindig. Komm, lass uns abhauen.“ Peer schlang einen Arm um seine Taille und dirigierte ihn zur Treppe.
Den kurzen Weg zum Hauptbahnhof über schwiegen sie. Niklas drängte sich Rodneys Bild auf, ohne dass er etwas dagegen tun konnte. Dunkle Augen in einem schmalen, kantigen Gesicht. Er stellte sich vor, wie es aussah, wenn es vor Ekstase verzerrt war. Im nächsten Moment verbot er sich derartige Gedankenspiele. Schon wegen Peers Vernarrtheit durfte er Rodney nicht treffen, auch wenn sein Freund vorgab, das gelassen zu sehen.
Außerdem hatte Niklas kein Interesse an einem Kerl, der lediglich einen Groupie suchte. Sex bekam er auch so genug, schon von Berufes wegen. Einen weiteren Typen, der nur an seinem Körper interessiert war, brauchte er so dringend wie einen Buckel.
Gemeinsam stiegen sie in einen Waggon der Linie U2. Erneut zückte Peer sein Smartphone und guckte einen Moment aufs Display, bevor er es mit einem zufriedenen Schmunzeln wieder wegsteckte. Niklas nahm an, dass sein Freund Kontakt zu Rodney hergestellt hatte und auf dem besten Wege war, das ersehnte Sexdate zu verabreden. Dafür sprach, dass er die Autogrammkarte behalten hatte.
„Nach reiflicher Überlegung finde ich den Bassisten weitaus geiler als Rodney.“
Das sprach allerdings dagegen. Misstrauisch musterte Niklas seinen Freund, der versonnen aus dem Fenster sah.
„Hör auf damit mir weiszumachen, dass dir dein Rodney plötzlich egal ist.“
Peer wandte sich zu ihm, plötzlich sehr ernst. „Hör mal: Es bedeutet mir sehr viel dich als Freund zu haben. Sehr viel mehr, als mit einem Kerl in der Kiste zu landen. Ich hätte eh nie damit gerechnet, dass Rodney mich überhaupt wahrnimmt und dass er nun auf dich abfährt …“ Nach einem Achselzucken fuhr sein Freund fort: „Ich finde, du solltest die Chance nutzen.“
„Welche Chance? Mich vögeln zu lassen? Schon vergessen, dass ich ein …“ Niklas guckte sich rasch nach allen Seiten im nur schwach besetzten Abteil um. „Dass ich ein Callboy bin?“, setzte er leise hinterher.
„Trotzdem sehnst du dich nach Liebe.“ Peers Miene nahm einen sehnsüchtigen Ausdruck an. „Das fühle ich, weil … weil’s mir genauso geht.“
Dem war nichts hinzuzusetzen. In Niklas‘ Kehle wuchs ein dicker Knoten. Sein Freund kannte ihn verdammt gut, manchmal besser als er selbst. Natürlich sehnte er sich nach echter Zuneigung, war aber inzwischen so abgeklärt zu wissen, dass es für einen Käuflichen doppelt schwer war so etwas zu finden. Selbst wenn einer seiner Kunden an mehr als seinem Körper Interesse hätte, würde sein Job immer gegen eine Beziehung sprechen. Wer wollte schon einen Partner, der es regelmäßig mit anderen trieb? Niklas war so ehrlich zuzugeben, dass er selbst auch nicht damit klarkäme.
Der Zug hielt in der Station Schlump. Er klopfte Peer aufs Bein, stand auf und murmelte: „Gute Nacht.“
„Halt die Ohren steif“, gab sein Freund genauso leise zurück.
„Gehen wir noch was trinken?“ Hardy guckte unternehmungslustig in die Runde.
„Ohne mich. Meine Süße wartet.“ Antonio, der Schlagzeuger, strich sich vielsagend über den leichten Bauchansatz. „Ich mag sie so kurz vor der Entbindung nicht allein lassen.“
Die Autogrammstunde war seit wenigen Minuten vorüber und die Crew dabei, den Stand abzubauen. Das Publikum hatte sich weitestgehend auf den Heimweg gemacht, nur wenige Leute hingen noch an der Bar herum. Rodney verspürte keine Lust um die Häuser zu ziehen. Seit der SMS von diesem Peer fieberte er darauf, sie nochmal in Ruhe durchzulesen.
Niklas. Ein schöner Name und zur weihnachtlichen Jahreszeit passend. Schon vorhin, als er auf der Bühne stand und wegen der grellen Scheinwerfer nur die ersten paar Reihen der Konzertbesucher sehen konnte, war ihm der blonde Mann aufgefallen. Schnell hatte er begriffen, dass Niklas nicht wegen der Musik erschienen war. Das hatte dessen gleichgültige Miene und Teilnahmslosigkeit in der Woge der begeisterten Fans deutlich gezeigt.
Er war deswegen nicht beleidigt. Vielleicht war es gerade dieser Umstand, der Niklas‘ Reiz ausmachte. Daran gewöhnt, von männlichen sowie weiblichen Groupies hofiert zu werden, war plötzlich Rodneys verloren geglaubter Jagdinstinkt geweckt. Er wollte diesen Mann, wie noch nie einen zuvor.
„Was ist denn nun?“, drängelte Hardy.
„Ich muss passen. Sorry. Meine Stimme braucht etwas Ruhe.“ Das nächste Konzert stand in zwei Tagen an, womit diese Ausrede durchaus Gewicht besaß.
„Na gut. Dann ziehe ich eben allein um die Häuser.“ Hardy klopfte auf den Tresen, winkte ihm und den anderen zu und eilte in Richtung Ausgang.
„Ich gehe dann auch mal.“ Antonio stand auf. „Du kommst klar?“
„Natürlich. Grüß Vanessa von mir.“
„Das werde ich.“ Auch der Schlagzeuger verabschiedete sich mit einem Winken.
Endlich allein, las Rodney erneut Peers Nachricht. Vorhin hatte er sie nur überflogen und an einer bestimmten Stelle schwer schlucken müssen. „Hi Rodney. Freut mich, dass dir mein Kumpel Niklas gefällt. Er ist etwas spröde, hat aber ein Herz aus Gold. Eines solltest du wissen: Niklas ist …“
Genau an diesem Punkt war ihm beim ersten Lesen die Contenance flöten gegangen. Er sah zum Barkeeper, der emsig den Tresen putzte. Es war offensichtlich, dass der Kerl Feierabend machen wollte.
„Bekomme ich noch eine Cola?“
Der Typ sah hoch, nickte und stellte ein Glas und eine Flasche vor ihm ab. Rodney warf einen grauen Schein mit einem gemurmelten ‚stimmt so‘ auf den Tresen, schenkte sich Cola ein und trank einen Schluck. Anschließend aktivierte er das inzwischen dunkel gewordene Display und las den Rest der SMS.
„Niklas ist ein Callboy. Das solltest du beherzigen, wenn du ihn treffen möchtest. P.S.: War ein geiles Konzert. LG Peer.“ Der gute Peer hatte eine Handynummer an die Nachricht gehängt, mit dem Zusatz ‚Niklas‘ Nummer‘.
Rodney wusste nicht recht, wie er die Nachricht interpretieren sollte. Wollte Peer ihm durch die Blume mitteilen, dass er Niklas bezahlen musste? Oder war das nur ein nett gemeinter Hinweis?
Er schüttete den Rest Cola runter, stand auf und redete ein paar Worte mit dem Leiter seiner Crew. Der Merchandisingstand war mittlerweile eingepackt und wartete nur noch darauf, in den LKW verfrachtet zu werden. Die Instrumente und sonstiges Zubehör befanden sich bereits auf der Ladefläche, somit blieb für ihn nichts mehr zu tun.
Nachdem er die Markthalle verlassen hatte, lenkte er seine Schritte in Richtung seines Wagens. Vor ein paar Jahren hätte er stattdessen den Tourbus angesteuert, doch diese Zeiten waren lange vorbei. The Pulitzers gaben nur noch im nördlichen Deutschland Konzerte und wenn die Strecke mal zu weit war, um nachts nach Hause zu fahren, bevorzugten sie inzwischen Hotelzimmer.
Als Lokalmatadoren verdienten sie zwar weniger als vorher, aber immer noch genug, um gut über die Runden zu kommen. Die meisten Einnahmen stammten ohnehin aus den Verkäufen von Tonträgern und Musikdateien. Live-Auftritte dienten mehr und mehr nur noch der Werbung und brachten kaum etwas ein.
Die Entscheidung, nicht länger durch die Weltgeschichte zu gondeln, hatten sie zu einem Zeitpunkt getroffen, an dem die Luft einfach raus war. Auf engstem Raum eingepfercht zu sein nervte und ihre Kreativität drohte den Bach runterzugehen. Damit die Gruppe nicht auseinanderbrach, nahmen sie eine längere Auszeit, um ihre Batterien aufzutanken.
Ein weiser Entschluss. Voller frischer Ideen waren sie wieder zusammengetroffen und hatten seitdem etliche gute Songs geschrieben. Antonio war mittlerweile fest liiert und wurde bald Vater, während Hardy und er noch solo waren. Manchmal fragte sich Rodney, wie der stockhetero Antonio es bloß ausgehalten hatte, mit zwei Schwulen durch die Lande zu touren. Im Bus war mehr als einmal die Luzi abgegangen, wenn sie ein paar Groupies eingeladen und Party gemacht hatten. Aus heutiger Sicht konnte er über diese wilden Feten, mit dem damit einhergehenden Genuss verbotener Substanzen, nur noch den Kopf schütteln.
Rodney erreichte sein Auto, setzte sich hinters Lenkrad und las noch einmal die SMS. Eigentlich klar wie Kloßbrühe, dass ein derart attraktiver und sexy Kerl wie Niklas Kapital aus diesen körperlichen Vorzügen schlug. Vielleicht hätte Rodney, wenn er sein musikalisches Talent nicht besäße, eine ähnliche Karriere angestrebt. Er erinnerte sich gut, wie sexbesessen er als Jungspund gewesen war und dafür auch noch Geld zu kassieren, konnte einen Mann schon schwach machen.
Er fragte sich, wie lange man in der Lage war den Job als Callboy auszuüben. Am eigenen Leib hatte er gespürt, wie sich seine Bedürfnisse veränderten. Inzwischen mochte er Sex lieber auf einer weichen Unterlage, als irgendwo im Stehen und mit einem Mann, den er zumindest ansatzweise sympathisch fand. Jemand, der sich Kundenwünschen beugen musste, sollte derartige Ansprüche besser nicht haben, sonst war er schnell ausgebrannt. Diese Überlegungen erinnerten Rodney an die Zeit, in der The Pulitzers unter dem Tourneedruck beinahe auseinandergebrochen waren. Egal welcher Kunst man sich verschrieb und er wertete auch die Verführung als solche, konnte jene nur Früchte tragen, wenn man sie mit Leidenschaft ausführte.
Unschlüssig starrte er auf das dunkle Display. Ach, Scheiß drauf! Notfalls bezahlte er Niklas eben, falls es gar nicht anders ging. Im Moment brauchte Rodney so dringend menschliche Nähe, dass ihm die Mittel egal waren. Niklas‘ schönes Gesicht vor Augen, wählte er dessen Nummer und hielt sich das Smartphone ans Ohr.
„Sternberg.“ Niklas klang müde und etwas genervt.
„Hier ist Rodney.“
„Ich hätte es wissen müssen.“
„Was? Dass ich anrufe?“
„Dass sich Peer einen Scherz auf meine Kosten erlaubt.“ Amüsierte Resignation schwang in Niklas‘ Stimme mit.
Es war das eine, das seine Musik bei dem Kerl nicht ankam, das andere, auf diese Art abgekanzelt zu werden. Rodney fühlte sich beleidigt, so dass seine folgenden Worte härter als gewollt ausfielen. „Ich würde dich gern buchen. Oder lehnst du alternde Rocker als Kunden ab?“
Nach einer kurzen Pause meinte Niklas trocken: „So, so. Hat Peer also aus dem Nähkästchen geplaudert. Mein Nachttarif beträgt 1.000 Euro.“
„Ganz schön happig. Was bekomme ich dafür?“
„Ich küsse nur ohne Zunge. Was den Sex angeht: Natürlich safe und ich stehe nicht auf kinky.“
„Okay. Wo wohnst du?“
Niklas nannte eine Adresse, die gar nicht weit von seiner eigenen Wohnung entfernt lag.
„Ich bin in zwanzig Minuten da.“
„Erster Stock. Bei Sternberg.“ Niklas legte auf.
Darüber, dass er das erste Mal in seinem Leben einen Mann für Sex bezahlte, wollte Rodney lieber nicht nachdenken. Vorhin hatten sich genug Gelegenheiten geboten, auf eindeutige Avancen einzugehen, alle zum Nulltarif. Nun so viel Geld auszugeben, nur weil es unbedingt Niklas sein musste, ließ ihn wie einen dummen Hornochsen dastehen. Apropos Geld: Er hatte nie und nimmer 1.000 Mäuse in seiner Brieftasche.
Rodney fand - oh Wunder um diese Zeit – einen Parkplatz direkt vor Niklas‘ Wohnhaus. Rasch checkte er den Inhalt seiner Börse und stellte, wie erwartet, fest, dass er lediglich hundert Euro bei sich trug. Tja, damit war das Date wohl hinfällig. Wo war er bloß mit seinen Gedanken gewesen? Erneut wählte er Niklas‘ Nummer.
Dieser meldete sich nach dem ersten Rufton: „Ja?“
„Ich hab nicht genug Geld dabei. Denke, wir verschieben das besser.“
„Wo bist du?“
„Schätze …“ Rodney guckte aus der Seitenscheibe. „… ungefähr zehn Meter von dir entfernt.“
„Dann komm her. Das Finanzielle regeln wir schon.“
Nahm Niklas Visa? Das konnte er sich nur schwer vorstellen, aber wenigstens erheiterte ihn diese Idee. Langsam kam Vorfreude auf, während er die Straße überquerte und bei Niklas läutete. Sofort ertönte das Summen des Türöffners. Im Treppenhaus roch es nach starkem Reinigungsmittel und gutsituiertem Mittelstand. Die Stufen blitzten vor Sauberkeit, genau wie die schneeweißen Wände. Auf dem Treppenabsatz stand ein Gesteck aus Tannenzweigen, in dem bunte Kugeln funkelten.
Im ersten Stock wartete Niklas, lässig in den Türrahmen gelehnt. Der Mann trug noch die gleichen Klamotten wie vorhin: Eine fadenscheinige Jeans und ein weißes T-Shirt, unter dem sich definierte Muskeln abzeichneten. Rodney, sonst nicht auf den Mund gefallen, hatte absolut keinen Schimmer, was er sagen sollte.
„Lust auf Tee? Hab gerade welchen gekocht.“ Niklas wartete seine Antwort nicht ab und verschwand im Inneren der Wohnung.
Zögernd trat Rodney in den Flur, schloss die Tür und guckte sich neugierig um. Auf den polierten Dielen stand ein alter mehrarmiger Kleiderständer, daneben hing ein Spiegel mit Holzrahmen. Etwas weiter hinten lehnte ein chromglänzendes Mountainbike an der Wand. Irgendwie hatte Rodney erwartet, irgendwelche Anzeichen für Niklas‘ Gewerbe vorzufinden. Natürlich dumm von ihm, schließlich bekamen Callboys keine Urkunden für einen besonders guten Fick oder Ähnliches, was man zur Schau stellen konnte. Jedenfalls nach seinem Wissensstand.
„Rodney?“ Niklas tauchte in einem Türrahmen zu seiner linken auf. „Was ist nun mit Tee?“
„Öhm. Okay, so lange es kein Pfefferminztee ist.“ Er ließ seine Jacke von den Schultern gleiten, hängte sie an die Garderobe und folgte, da er keine Schuhe herumstehen sah, Niklas in Stiefeln.
Die Küche war so groß, dass ein runder Tisch mit sechs Stühlen Platz darin fand. Auch hier bestand der Boden aus Holzdielen. Die rechte Wand wurde komplett von einer Küchenzeile, die ihre besten Tage hinter sich hatte, eingenommen. Bunte Gardinen verdeckten die beiden Fenster, Kissen aus dem gleichen Stoff lagen auf den Sitzflächen. Da war eindeutig eine weibliche Hand im Spiel. Rodney kannte keinen Mann, der auf solche Harmonie bei der Wohnungsausstattung Wert legte, ihn eingeschlossen.
„Setz dich.“ Niklas, einen Wasserkessel in der Hand, nickte zum Esstisch.
„Bietest du all deinen Kunden Tee an?“ Mit Bedacht wählte Rodney den Stuhl, von dem aus er den besten Ausblick auf Niklas‘ knackige Kehrseite hatte.
„Nein. Nur denen, die sich um ihre Stimme sorgen.“
Wollte Niklas damit andeuten, dass er schon mit anderen Sängern in die Kiste gehüpft war? Rodneys Selbstbewusstsein funktionierte nur auf der Bühne perfekt. Im Privatleben war er eher dünnhäutig und neigte dazu, seine Person infrage zu stellen. Wohl eine Folge seiner Kindheit, in der er, dank des Berufes seines Vaters, häufig umziehen musste. Immer neue Schulkameraden führten dazu, dass er keine echten Freundschaften schließen konnte. Er vergrub sich in der Musik, sein einziger Halt in dieser unruhigen Zeit.
Als sich sein Vater, ein amerikanischer Soldat, endlich dazu entschloss, in Hamburg sesshaft zu werden und bei einem Sicherheitsdienstleistungsunternehmen anzuheuern, hatte Rodney die Schule so gut wie beendet. Es war pures Glück, dass er eines Tages zufällig eine Anzeige las: ‚Schlagzeuger und Bassist suchen Gitarristen und Sänger‘. So fand er Hardy und Antonio und der Rest war Geschichte.
„Bist du immer so schweigsam nach einem Konzert?“ Niklas stellte zwei Becher auf den Tisch, setzte sich gegenüber hin und streckte die langen Beine aus.
„Ja. Das Singen beansprucht die Stimmbänder enorm.“
„Wieso eigentlich ausgerechnet Metal?“
Rodney zuckte die Achseln, zog seinen Becher näher heran und blies hinein. Aromatischer Duft stieg ihm in die Nase. Er war absolut kein Teekenner und trank bei seltenen Gelegenheiten mal einen Darjeeling, doch das Zeug hier sah nicht schwarz, sondern grün aus.
„Ich hab schon immer Hardrock gemocht. Mit Antonio und Hardy kam ich dann zum Heavy Metal. Es liegt uns einfach im Blut.“
Niklas verschränkte die Arme vor der Brust, was die Bizepse deutlich hervortreten ließ. Das hatte eindeutiges Sabberpotential, genau wie der Rest des Kerls. Rodney nippte an dem Tee, der wohltuend seine beanspruchte Kehle hinunterrann. Es fühlte sich an, als würde Honig über die leicht kratzigen Stellen laufen. Nach einem weiteren Schluck stellte er den Becher ab und strich eine verirrte Strähne aus seinem Gesicht. Das Zopfgummi hatte sich gelöst und drohte, ganz aus seinen aalglatten Haaren zu gleiten. Nach dem Waschen waren sie besonders weich und widersetzten sich jedem Versuch, sie irgendwie zusammenzuhalten. Da Niklas keinen Versuch machte, das Gespräch wiederzubeleben, ergriff er das Wort.
„Auf was für Musik stehst du denn so?“ Er zupfte das Gummi aus seinem Haar und stopfte es in die Hosentasche.
„Simplen Pop. Mucke, zu der man tanzen und sich gut fühlen kann.“
„Ach? Etwa Madonna?“ Rodney lachte kurz auf und sang, so hoch er vermochte: „Like a virgin, touched for the very first time, like a v-i-r-g-i-n, when your heart beats next to mine.”
„Ja und?” Grinsend zeigte Niklas ihm den Stinkefinger. „Immer noch besser, als von stinkenden Gruften und verrottenden Gebeinen zu singen.“
Tat er sich gerade wirklich nachts um halb zwei eine Diskussion um seinen Musikgeschmack an? Rodney setzte den Becher erneut an seine Lippen. Der Tee besänftigte die von den hohen Tönen gereizten Stimmbänder. Er sollte für heute das Singen lassen, sonst krächzte er bald nur noch.
Inzwischen sah er nicht mehr bloß den blonden sexy Kerl in Niklas. Dieser besaß einen eigenwilligen Charakter, war eindeutig nicht dumm und es fiel Rodney immer schwerer zu glauben, dass so ein Mann es nötig hatte … Halt! ‚Jetzt bitte nicht mit irgendwelchen Vorurteilen aufwarten‘, ermahnte er sich selbst im Geiste. ‚Callboys sind ganz normale Menschen und keine Dumpfbacken, die sonst keine Möglichkeiten haben Geld zu verdienen.‘
„Sorry. Wollte dich nicht verletzen. Peer liebt deinen Stil“, lenkte Niklas ein.
„Na klasse“, murmelte Rodney.
Niklas war ihm sympathisch, womit die Voraussetzung für Sex erfüllt war. Im Moment spürte er zwar keine überbordende Lust, aber das würde sich schon noch ändern, wenn’s erstmal zur Sache ging. Unverrichteter Dinge wollte er jedenfalls nicht wieder abziehen. Er sah zu der Uhr, die zwischen den beiden Fenstern hing. Es war bereits kurz vor zwei und er zunehmend müde, also sollte er langsam auf den Punkt kommen.
Rodney zog seine Börse, plünderte sie und warf zwei braune Scheine auf den Küchentisch. „Was bekomme ich für 100 Euro?“
Texte: Sissi Kaiserlos
Bildmaterialien: shutterstock desgin Lars Rogmann
Tag der Veröffentlichung: 26.12.2015
Alle Rechte vorbehalten