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Fucking Christmas

Fucking Christmas

Sämtliche Personen, Orte und Begebenheiten sind frei erfunden, Ähnlichkeiten rein zufällig.


Der Inhalt dieses Buches sagt nichts über die sexuelle Orientierung des Covermodels aus.


Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck oder eine andere Verwertung, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung der Autorin.


Ebooks sind nicht übertragbar und dürfen nicht weiterveräußert werden. Bitte respektieren Sie die Arbeit der Autorin und erwerben eine legale Kopie. Danke!


Text: Sissi Kaiserlos


Foto von shutterstock – Design Lars Rogmann


Korrektur: Aschure. Danke!


Kontakt: http://www.bookrix.de/-sissisuchtkaiser/


After Christmas Love



After-Heiligabend-Party in der Kneipe Seitenstiche. In diesem Jahr befand sich ein Mann unter den Gästen, von dem Pierre geglaubt hatte, ihn nie wiederzusehen: Seinen Ex Justin. So sehr er sich auch dagegen wehrte, übte der Kerl immer noch Anziehungskraft auf ihn aus, der er kaum widerstehen konnte.

~ * ~



1.

Pierre betrat das Seitenstiche und guckte sich aufmerksam auf dem Weg zum Tresen um. Unter den schon zahlreich anwesenden Gästen befanden sich einige bekannte Gesichter. Moritz‘ After-Heiligabend-Partys waren ziemlich beliebt in der Szene und lockten stets einen Haufen Leute an. Insbesondere die Auktion, bei der unerwünschte Weihnachtsgeschenke getauscht werden konnten, war ein absolutes Highlight.

In diesem Jahr war Pierre mit Büchern, die er nicht lesen wollte, sowie der üblichen Socken-Schlips-Unterhosen-Chose beglückt worden. Für letzteres dürfte sich bestimmt ein Liebhaber finden, der auf spießige Klamotten stand. Was jedoch die Bücher betraf glaubte Pierre nicht, dass sich jemand für diese interessierte. Es handelte sich um gebundene Klassiker, die nach der Meinung seiner Eltern in keinem Haushalt fehlen durften. Es war nicht immer das große Los, der Sohn von Pädagogen zu sein.

Er reichte den Jutebeutel mit seinen Geschenken über den Tresen. Moritz, der Wirt, guckte kurz hinein, nickte zufrieden und legte den Beutel zu den anderen. Anschließend reichte er Pierre drei gelbe Plastikkarten.

„Das wird wieder ein Mordsspaß. Ich hab schon allerlei schöne Sachen eingesammelt.“

„Echt? Erzähl mal.“ Pierre warf einen neugierigen Blick auf den Berg aus Tüten und Stoffbeuteln.

„Ich verrate nichts. Wart’s einfach ab.“ Moritz zwinkerte ihm verschmitzt zu. „Was willst du trinken?“

„Alsterwasser.“

„Kommt sofort.“

Pierre kletterte auf einen Barhocker. Im Hintergrund erklang die übliche Musik, kein Weihnachtsgedudel und auch ansonsten sah der Laden wie immer aus. Einziges Zugeständnis an das Fest der Feste war ein Mistelzweig, der über dem Durchgang zu den Toiletten hing. Gerade stand ein Paar darunter und küsste sich. Schnell guckte Pierre woanders hin.

Fünf verdammte Jahre und in bestimmten Momenten tat es immer noch so weh, als hätte Justin ihn erst gestern verlassen. Dabei knüpfte er an diesen Ort nicht einmal gemeinsame Erinnerungen. Ins Seitenstiche war er stets allein gegangen, da Justin die Kneipe nicht mochte. Entsprechend selten hatte er den Laden während ihrer Beziehung aufgesucht. Erst seit ihrer Trennung kam er wieder oft her.

„N’Abend, Pierre“, grüßte Auri, Moritz‘ Aushilfe, gewohnt fröhlich und schob ihm sein Getränk über den Tresen zu.

„Danke.“ Durstig setzte er das Glas an seine Lippen und trank einen großen Schluck.

Bei seinen Eltern hatte es, wie üblich, Rotwein zum Abendessen und danach Kaffee gegeben. Die beiden gaben sich wirklich viel Mühe, das Fest stets schön zu gestalten, waren aber in ihren Gewohnheiten etwas eingefahren. Das betraf sowohl den Ablauf, wie auch die Geschenke. Pierre mochte die Prozedere trotzdem, da er seine Eltern liebte. Er konnte sich auch gar nicht vorstellen, den Heiligabend anders zu verbringen und schauderte bei dem Gedanken, dass seine Altvorderen irgendwann nicht mehr da sein würden.

„Hallo Pierre.“ Ansgar, ein Stammgast wie er selbst, schob sich auf den freien Hocker neben ihm. „Dieses Jahr ist es wie verhext. Meine Eltern haben mir so tolle Sachen geschenkt, dass ich nichts zum Tauschen habe.“

„Du armer Kerl“, spottete Pierre. „Erzähl mal.“

„Einen Gutschein fürs Mens Heaven, eine affengeile Gärtnerlatzhose und Tadaaa!“ Ansgar drehte den Kopf und präsentierte einen glitzernden Ohrstecker. „Echt Swarowski.“

„Nicht übel.“ Pierre beäugte das Schmuckstück, konnte ihm aber nichts abgewinnen. Er stand eher auf schlichtes Design, ohne protzige Steine.

„Nicht wahr?“ Ansgar strahlte mit dem Glitzersteinchen um die Wette. „Und selbst?“

„Vergiss es. Lass uns das Thema wechseln. Wie läuft es mit Wolfram?“

„Nenn ihn nicht so! Er mag das nicht!“

„Tschuldige. Wie läuft es mit Wolf?“

„Geht so.“ Ansgar seufzte. „Im Augenblick haben wir mal wieder Funkstille, genau wie letztes Weihnachten.“

Die On- und Off-Beziehung der beiden dauerte schon zwei Jahre und es schien kein Ende in Sicht. Angestrengt dachte Pierre über einen weiteren Themenwechsel nach, aber ihm wollte nichts einfallen. Zwischendurch kam Auri und fragte Ansgar nach dessen Wünschen, um gleich darauf ein Glas Cola auf den Tresen zu stellen. Erstaunt hob Pierre die Augenbrauen.

„Falls Wolf anruft und mich sehen will“, erklärte Ansgar.

Normalerweise ließ er keine Gelegenheit aus tüchtig zu feiern, was mal wieder zeigte, wohin einen Beziehungsstress treiben konnte. Pierre wünschte, seine Probleme wären ähnlich gelagert. Leider gab es in seinem Leben keinen Mann. In letzter Zeit gab es noch nicht einmal mehr Sex. Er hatte es satt, mit x-beliebigen Kerlen herumzumachen, dann doch lieber mit der eigenen Faust. Die kannte wenigstens seine Bedürfnisse … genau wie einst Justin, der gerade auf der gegenüberliegenden Seite des Tresens auftauchte.

„Ach du Sch…“ Im letzten Moment biss er sich auf die Zunge.

Zum Glück schien Ansgar nichts mitbekommen zu haben. Den Blick in die Ferne gerichtet, trank sein Sitznachbar einen Schluck Cola. Pierre senkte seine Wimpern und versuchte, möglichst unauffällig das Geschehen auf der anderen Tresenseite zu verfolgen. Er sah Moritz herbeieilen, die Tüte, die Justin über die Theke reichte, entgegennehmen und im Gegenzug ein paar Plastikkarten rausrücken.

Woher wusste sein Ex von dieser Party? Was wollte der Arsch hier? Und warum – zum Henker! – sah Justin noch besser aus, als in seiner Erinnerung? Drei Fragen, die ihm nur einer beantworten konnte, doch genau den würde er nicht fragen. Pierre hatte sich geschworen, nie wieder ein Wort mit Justin zu wechseln.

Er nahm sein Glas, drehte sich um und ließ den Blick umher schweifen. Gerade küsste sich wieder ein Paar unter dem Mistelzweig, diesmal ein Mann und eine Frau. Das Seitenstiche war keine typische Schwulenkneipe, das Publikum zwar überwiegend männlich, aber es kamen auch oft Frauen her. Er vermutete, weil sich diese unter gleichgeschlechtlich orientierten Männern sicher aufgehoben fühlten.

Pierre leerte sein Glas, wandte sich zurück zum Tresen und schwenkte es in Richtung Auri, der sofort verstand. Wenig später stand ein neues Getränk vor ihm. Auri hieß eigentlich Aurelius, bestand aber auf die Kurzform seines Namens. Dafür hatte Pierre Verständnis und hätte an dessen Stelle genauso gehandelt. Eltern konnten schon grausam sein, was die Vornamen ihrer Sprösslinge anging. Er selbst schätzte sich glücklich, dass seine eigenen diesbezüglich nicht über die Stränge geschlagen hatten.

Er drehte sich erneut herum, setzte das Glas an seine Lippen und hätte sich fast verschluckt, als er Justin unter dem verdammten Mistelzweig entdeckte. Sein Ex sah ihn geradewegs an. Sie hatten einander stets wortlos verstanden, daher erkannte Pierre deutlich die Bitte in Justins Augen, aufzustehen, zu ihm rüberzugehen und in dem Torbogen einen Kuss zu tauschen.

Er unterdrückte den Impuls sich gegen die Stirn zu tippen. Das hätte bedeutet zuzugeben, dass die Verbindung zwischen ihnen noch immer bestand. Wie erbärmlich, sich fünf verfickte Jahre lang nach einem Mann zu verzehren. Justin brauchte nur hereinzuspazieren, schon schrumpfte diese Zeitspanne auf einen Bruchteil zusammen. Pierre konnte sich sogar noch an ihren letzten Sex erinnern.



Pierre? Bist du schon wach?“, hatte Justin frühmorgens in sein Ohr geflüstert.

Das war er nicht, doch die pralle Latte, die sich gegen sein Hinterteil presste, änderte diesen Zustand schlagartig. Hinzu kam Justins schlafheiseres Timbre, das ihm eine Gänsehaut verpasste. Finger glitten träge über seine Brust und hielten an den Brustwarzen, um zärtlich an ihnen zu zupfen. Damit hatte Justin seine vollständige Aufmerksamkeit. Er wälzte sich herum, bereit die Beine zu spreizen und sich gründlich durchvögeln zu lassen.

Justin fickte ihn bedächtig und starrte ihn mit einer Intensität an, als wenn er sich jede einzelne seiner Regungen einprägen wollte. Obwohl ihr Sex immer sehr schön war, haftete diesem eine besonders intime Note an. Nachdem sie beide gekommen waren, küsste Justin ihn derart verzweifelt, dass Pierre eine böse Ahnung überfiel. War das hier etwa gerade ihr Abschiedssex gewesen?

In den vergangenen Jahren hatte er sich oft gefragt, was ein toller Mann wie Justin an ihm fand. Schon äußerlich konnte er Justin nicht das Wasser reichen. Pierre haderte mit seiner Figur, die einer Bohnenstange glich, egal wie viel er aß. Justin hingegen besaß ansehnliche Muskeln und die Statur sowie das Gesicht eines Adonis.

Auch beruflich befanden sie sich auf unterschiedlichen Ebenen. Während Justin morgens im Anzug das Haus verließ, um in einer Bank Devisengeschäfte zu tätigen, ging er selbst in Jeans und Lederjacke zur Arbeit. Pierre leitete eine Kindertagesstätte, was viel Verantwortung bedeutete, aber im Vergleich zu den Millionen, mit denen Justin täglich jonglierte, wie ein Spaziergang aussah. Dennoch hatte es drei Jahre mit ihnen funktioniert.

Als Justin an jenem Morgen beim Frühstück verkündete, dass ihre Beziehung vorüber war, konnte Pierre das anfangs nicht glauben. Sie diskutierten erbittert. Justin war der Meinung, es wäre zu früh, sich auf eine dauerhafte monogame Beziehung einzulassen. Sie hatten sich kennengelernt, als Pierre 24 war. Ein Alter, in dem sich ein Mann eigentlich die Hörner abstoßen sollte, anstatt nur mit einem Partner zu vögeln, jedenfalls nach Justins Ansicht. Diese Freiheit wollte er Pierre nun zurückgeben, damit es später nicht hieß, er hätte etwas verpasst.

Pierre konnte das nicht nachvollziehen. Auch vor Justin hatte er keinerlei Bedürfnis verspürt, wild in der Gegend herumzupimpern. Sein Argument wurde abgeschmettert. Justin behauptete, jeder Mann sollte ausreichend Erfahrungen sammeln, bevor er sich fest band. Er selbst hätte das auch getan. Den Vorschlag, eine offene Beziehung zu führen, lehnte Pierre ab. Wenn er Justin nicht ganz für sich haben konnte, wollte er ihn lieber gar nicht. Allein der Gedanken an seinen Partner in den Armen eines anderen bereitete ihm Übelkeit.

Offenbar hatte Justin die Trennung bereits länger geplant. Gleich nach dem kaum angerührten Frühstück verließ er die gemeinsame Wohnung mit zwei Koffern, die fertig gepackt im Arbeitszimmer standen. Die restlichen Sachen holte er in den folgenden Tagen ab, zu Zeiten, wenn Pierre im Kindergarten arbeitete. Als letztes warf Justin den Wohnungsschlüssel in den Briefkasten.



Seitdem hatten sie sich weder gesehen, noch gesprochen. Es gab zwar gemeinsame Bekannte, aber die hatte Justin wohl geimpft, sie niemals gleichzeitig einzuladen. Nur so konnte sich Pierre erklären, wie es gelang, einander derart konsequent auszuweichen. Hamburg mochte ja groß sein, dennoch lief man sich in der Szene immer mal über den Weg.

Mit einem Seufzer tauchte Pierre aus seinen Erinnerungen auf. Justin stand nicht mehr unter dem Mistelzweig, sondern hatte auf einem Hocker am Tresen Platz genommen. Zum Glück ein Stück entfernt. Demonstrativ wandte er seinem Ex den Rücken zu.

Ansgar starrte mit gerunzelter Stirn auf das Display seines Smartphones. Der Miene nach zu urteilen, gab es entweder gar keine oder schlechte Nachrichten.

„Ich hasse diese Warterei“, murmelte Ansgar.

„Schick ihm doch eine SMS.“

„Hab ich schon. Wenn ich noch eine sende, wird’s langsam peinlich.“

„Habt ihr euch gestritten?“

„Nö. Nicht direkt. An Weihnachten bekommt Wolf anscheinend immer seinen Moralischen.“

„Wäre er dann nicht hier besser aufgehoben, als allein in seinen vier Wänden?“ Pierre trank einen Schluck Alsterwasser.

„Er meint, dass er lieber allein sein möchte.“ Ansgar steckte das Smartphone weg. „Manchmal wünschte ich, ich wäre wieder solo. Dann könnte ich mich jetzt volllaufen lassen und irgendeinen Kerl anbaggern. Wie zum Beispiel die Sahneschnitte da hinten.“

Pierre brauchte nicht hinzusehen, um zu wissen, wen Ansgar gerade anglotzte.

„Wow! Anscheinend steht der Typ auf dich. Der frisst dich förmlich mit Blicken auf.“

„Das ist mein Ex. Guck bitte woanders hin.“ Was wollte Justin bloß hier? Pierre konnte sich keinen Reim darauf machen.

„Dein Ex?“ Ansgar stieß einen anerkennenden Pfiff aus. „Du hast einen guten Geschmack.“

„Ist lange her. Ich war jung und naiv.“

„Wie lange genau?“

„Fünf Jahre.“

„Dafür guckt der aber ganz schön verliebt.“

„Hör bitte auf.“ Pierre musste sich zwingen, nicht über die Schulter zu gucken.

„Sorry. Hoffentlich fängt Moritz bald mit der Versteigerung an. Oh, guck mal. Da ist Will. Ich geh mal rüber zu ihm.“ Ansgar rutschte vom Hocker und schlängelte sich durch die Gästeschar.

Am liebsten wäre Pierre seinem Bekannten gefolgt. Er kam sich schrecklich schutzlos vor, so allein mit dem Alsterwasser. Zu flüchten war jedoch keine Option, schließlich war das Seitenstiche sein Revier und sein Ex der Fremdkörper.

„Hallo Pierre. Gut siehst du aus“, erklang Justins Stimme an seinem Ohr.

Gleich darauf belegte sein Ex Ansgars Barhocker mit Beschlag. Ihre Knie berührten sich dabei. Pierre zuckte so stark zusammen, dass sein Getränk schwappte. Schnell stellte er das Glas auf den Tresen, wischte seine plötzlich schwitzenden Handflächen an der Jeans ab und versuchte, möglichst gelassen in Justins Augen zu sehen.

„Was willst du hier?“

„Ich hab auf Facebook von der Party gelesen und gehofft, dass du hier sein wirst.“

„Ach? Hat dein Telefon den Geist aufgegeben? Ein Anruf hätte genügt, um das festzustellen.“ So sehr sich Pierre auch bemühte, konnte er einen leicht zickigen Tonfall nicht unterdrücken.

„Ich hielt es für das Beste, dir auf neutralem Terrain zu begegnen.“

„Das hier ist nicht neutral. Das ist mein Stammladen und du hast hier nichts zu suchen.“

„Wie geht’s deinen Eltern?“, fragte Justin.

„Gut.“ Die beiden mochten Justin und hatten ihre Trennung sehr bedauert.

„Ich vermisse dich.“

Das war gemein und unter die Gürtellinie, Justins trauriger Blick ein zusätzlicher Hieb in seine Magengrube. Pierre presste die Lippen zusammen, um nichts Böses zu sagen, griff nach seinem Glas und leerte es in einem Zug. Anschließend hielt er nach Auri Ausschau.

„Ein Pils“, rief er dem Kellner über den Lärm hinweg zu.

„Für mich auch“, schloss sich Justin an.

„Hör mal …“ Pierre fuhr herum und verschränkte die Arme vor seiner Brust. „Ich hab keine Ahnung, was das hier soll. Sei einfach so nett und lass mich in Frieden. Okay?“

„Kann nicht.“

„Du konntest das fünf verfickte Jahre, dürfte also nicht weiter anstrengend sein, es weiterhin zu tun.“

Justins Blick hätte Steine erweichen können, doch Pierres Herz war dagegen gefeit. Hoffte er jedenfalls. Im Moment spürte er nur Verärgerung und nährte sie, indem er sich an ihr letztes Gespräch erinnerte.

„Ich bin noch lange nicht fertig mit dem …“ Er machte Anführungszeichen in der Luft. „… Hörnerabstoßen. Fange im Prinzip gerade erst damit an.“

„Das stimmt nicht ...“ Justin sagte noch mehr, was aber von Moritz‘ Stimme, die aus einem Mikrophon schallte, übertönt wurde.



2.

„Liebe Gäste. Kommen wir also zu der beliebten Geschenkeauktion. Hier die Regeln: Ich halte die Sachen nacheinander hoch. Wer als erstes eine gelbe Karte zeigt, erhält den Zuschlag. Ich ernenne …“ Der Wirt ließ den Blick über die Anwesenden wandern. „… Pierre zum Schiedsrichter. Pierre? Kommst du bitte nach vorn.“

Justin stieß einen leisen Fluch aus, während sein Ex gar nicht schnell genug von ihm fortkommen konnte. Sogar das frische Pils ließ Pierre in der Eile stehen. Kurz erhaschte er einen Blick auf Pierres knackiges Hinterteil, bevor andere Gäste ihm die Sicht verstellten.

An der Stirnseite des Raumes, gleich neben dem Tresen, stand der Wirt hinter einem langen Tisch. Tüten und Taschen häuften sich unter und auf dem Möbel. Der Menge nach dürfte die Auktion eine ganze Weile dauern. Pierre war auf ein Podest gestiegen, so dass er einen guten Überblick hatte.

Die Gespräche waren schon bei der Ansage des Wirtes verstummt, nun wurde auch die Musik leiser gestellt. Justin schaute sich um und musste, trotz seines Kummers, über die erwartungsvollen Gesichter der Gäste schmunzeln. Einige blickten so andächtig, wie ein Kind bei der Bescherung.

„Es geht los“, verkündete der Wirt, schnappte sich eine der Tüten und leerte sie auf den Tisch.

Hälse wurden gereckt. Ein amüsiertes Raunen ging durch die Menge, als der Wirt eine Packung klassischer Unterhosen hochhielt. Sofort zückte Justin eine seiner Karten und hielt sie hoch.

„Diese wundervollen Schlüpper gehen an den dunkelhaarigen Herrn am Tresen.“ Der Wirt schleuderte das Paket in seine Richtung.

Justin störte sich nicht an den spöttischen Blicken. Seelenruhig nahm er die Packung entgegen, von der er vermutete, dass sie von Pierres Eltern stammte. Die beiden kannten seinen Geschmack und schienen ihn auf ihren Sohn projiziert zu haben. Auch die Bücher, die er in Folge ergatterte, entsprachen seinem Interesse.

Nachdem er seine Karten gleich zu Anfang der Versteigerung losgeworden war, verfolgte er den Fortgang der Veranstaltung nur noch mit halbem Auge. Erst als der Wirt mit einer roten Pants herumwedelte, nahm seine Aufmerksamkeit schlagartig zu. Sein Blick huschte zu Pierre, der wie erhofft das Teil anstarrte. Leider zückte ein anderer Gast schneller als sein Ex eine Karte.

Bei dem nächsten Objekt, einem grünen Jockstrap, sowie auch den beiden folgenden Modellen, erhielt Pierre den Zuschlag. Ihre Blicke trafen sich über die Köpf der Gäste hinweg. Pierre hob fragend eine Augenbraue und Justin nickte, wobei er schief grinste. Der Anfang war gemacht. Er wusste, dass noch ein langer steiniger Weg vor ihm lag, aber für Pierre würde er auch über glühende Kohlen laufen.

Mittlerweile nannten ihn seine Freunde gern mal ‚Langzeit-Stalker‘. Vor allem dann, wenn er um Fotos oder irgendwelche Berichte über Pierre bat. Anfangs waren viele seiner Bitte nachgekommen, doch allmählich versiegten seine Quellen. Justin hatte es eh satt länger zu warten.

Entgegen seiner Annahme war Pierre all die Jahre nur verhalten sexuell aktiv gewesen. Immer, wenn sein Ex öfter als einmal mit demselben Mann gesehen wurde, hatte sich ein stumpfes Messer in seiner Brust gedreht. Waren ihm Zweifel gekommen, das Richtige getan zu haben.

Aus heutiger Sicht stand er jedoch zu seiner Entscheidung. Wenn er damals anders gehandelt hätte, wären sie über kurz oder lang sowieso auseinandergegangen. Pierre hatte die Zeit gebraucht, um zu einem gestandenen Mann zu reifen und er selbst, um die Tiefe seiner Gefühle auszuloten. Inzwischen war Justin absolut sicher, mit Pierre die Liebe seines Lebens gefunden zu haben. Wie sonst ließe sich erklären, dass er nach den langen Jahren immer noch derart starke Emotionen hegte?

Justin trank seinen Rest Bier und da Justins inzwischen abgestanden war, orderte er gleich zwei neue Getränke. Die Auktion näherte sich dem Ende. Der Wirt kündigte das letzte Stück an, einen gestrickten Pullover mit Elchmotiv. Es wunderte Justin nicht, dass Pierre das Teil begehrlich musterte. So gut kannte er seinen Ex immer noch. Darum hatte er auch die farbenfrohen und qualitativ hochwertigen Unterhosen besorgt, in dem Wissen, dass Pierre unter den Öko-Klamotten gern sexy Wäsche trug.

Die Erinnerung stimmte ihn wehmütig. Um sich abzulenken, nahm er eines der Bücher und fuhr mit seinen Fingerspitzen über den edlen Einband. Es handelte sich um eine Biografie, ein Genre, dass er sehr mochte. Hinter seinem Rücken löste sich die Menge allmählich auf, das Stimmengewirr nahm zu, zugleich wurde die Musik lauter gestellt. Justin legte das Buch wieder hin, griff nach seinem Bier und kippte die Hälfte in einem Zug runter. Anschließend wischte er sich mit dem Handrücken den Schaum von seiner Oberlippe. Pierre hatte ihn dafür oft als Bauarbeiter verspottet.

Trübe starrte er ins Glas und überlegte, ob er es für heute gut sein lassen sollte. Immerhin hatte er Pierre gesehen, dieser tatsächlich fast alle von ihm gespendeten Unterhosen ergattert und mehr war im Moment wohl nicht drin. Nicht nach so langer Zeit. Außerdem spürte er die Wirkung des Alkohols und befürchtete, irgendwelche Dummheiten anzustellen, wenn er noch länger blieb und weiter trank. Aus dem Augenwinkel bemerkte er eine sehr schlanke Gestalt, die sich auf den freien Hocker neben seinem schob.

„Ich nehme an, die tollen Schlüpper stammen von dir.“ Pierres leise Stimme enthielt eine Prise Ironie.

„Richtig. Und ich gehe davon aus, dass diese Reizwäsche …“ Er wies auf das Paket mit der Feinripp-Markenwäsche. „… Anna ausgesucht hat.“

So hieß Pierres Mutter. Sie und Fred, Pierres Vater, hatten ihn wie einen Sohn aufgenommen. Justins eigene Eltern waren vor 15 Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen, daher bedeutete der Bruch mit Pierre zugleich den Verlust der neu gewonnenen Familie. Etwas, was ihn lange hatte zögern lassen, doch letztendlich überwog die Vernunft.

„Genau. Manchmal glaube ich, die beiden kaufen die Geschenke für dich, nicht für mich.“ Pierre seufzte. „Moritz hat mir den Pulli geschenkt. Verstehe nicht, dass keiner den haben wollte.“

Justin betrachtete die Scheußlichkeit, die Pierre mit ausgestreckten Armen hochhielt und bewundernd anglotzte.

„Begreife ich auch nicht.“ Einer seiner Mundwinkel zuckte hoch, wohl eine Folge des Bierkonsums, denn nach Lachen war ihm gar nicht zumute.

„Wäre es okay, wenn wir einfach Frieden schließen? Mir ist heute nicht nach Stress“, fragte Pierre, faltete den Pullover zusammen und drückte ihn gegen die Brust, als handelte es sich um ein Kuscheltier.

„Wollte keinen Stress machen. Es ist nur so …“ Justin merkte, wie schwer seine Zunge war und es wäre sicher besser, den Mund zu halten und zu gehen. Doch einmal in Fahrt, konnte er nicht aufhören zu reden. „Hab dich über all die Jahre beobachtet. Beobachten lassen. Wenn du dich für einen anderen entschieden hättest, wäre ich irgendwie damit klargekommen. Hast du aber nicht. Also …“ Hektisch befeuchtete er seine trockenen Lippen. „Also musste ich einfach herkommen und rausfinden, ob zwischen uns noch was ist.“

Einen Augenblick sah Pierre ihn starr an. „Du bist betrunken.“

„Ein bisschen“, gestand er ein.

„Und verrückt. Glaubst du, fünf Jahre lassen sich so einfach wegwischen?“

Justin schüttelte den Kopf und senkte seinen Blick in die Hopfenkaltschale.

„Hast du dich je gefragt, wie ich mit diesem Mist klargekommen bin? Wie ich mich damit gefühlt habe?“

Er erwiderte lieber nichts. So, wie sich Pierre anhörte, geriet dieser langsam in Fahrt.

„Für mich sieht es so aus: Du hast mich nie geliebt. Die drei Jahre unserer Beziehung haben aus einer einzigen Lüge bestanden.“

Dazu hätte er vieles zu sagen, unterließ es aber. Eine Kneipe war nicht der richtige Ort für eine Aussprache. Trotz seines Alkoholpegels merkte er sehr wohl, wie gespitzt die Ohren seines Nebenmannes inzwischen waren.

„Möchtest du mir deinen Ex nicht vorstellen?“, erklang plötzlich eine Stimme in seinem Rücken.

Justin guckte über seine Schulter, erkannte den Kerl, der vorhin neben Pierre gesessen hatte und drehte sich ganz herum. Neugierig und mit vagem Interesse guckte der Mann ihn an. Eifersucht zu erzeugen stellte im Moment keine Verbesserung der Situation dar, daher erwiderte er den Blick kühl.

„Hi, ich bin Justin.“

„Freut mich. Ansgar.“

„Hallo, Ansgar. Du störst gerade.“

„Ups. So direkt?“ Lachend stupste dieser Ansgar einen Ellbogen in Pierres Rippen. „Und? Kommt ihr klar?“

Sein Ex nuschelte etwas, was sich nach einem ‚geht so‘ anhörte.

„Dann lass ich euch Turteltauben mal wieder allein. Ach ja, Wolf hat sich gemeldet. Ich bin dann mal weg.“ Ansgar zwinkerte Pierre vertraulich zu, schenkte Justin ein breites Grinsen und huschte davon.

Justin wandte sich zurück zum Tresen und bestellte einen Kaffee. Dass Pierre neben ihm ausharrte, dabei den Pulli kraulte und ins Leere starrte, war doch ein gutes Zeichen, oder? Nun hieß es, schnell wieder etwas klarer im Kopf zu werden und noch etwas Land zu gewinnen, so lange die Möglichkeit bestand.

Er war eine wahre Kämpfernatur. Das hatte er schon in der Schulzeit bewiesen, indem er sämtlichen Vollpfosten, die ihn nach seinem Outing Demütigungen aussetzten, Paroli bot. Nicht immer mit Erfolg. Manchmal traten die Arschlöcher in der Überzahl auf und er musste einiges einstecken. Das hatte ihn nur härter gemacht. Er war es gewohnt, seine Ziele hartnäckig zu verfolgen, was ihm im Beruf schnellen Erfolg verschafft hatte. Inzwischen trat er etwas kürzer und war in eine andere Abteilung gewechselt. Die hochspekulativen Börsengeschäfte überließ er lieber anderen.

Nachdenklich rührte Justin in seinem Kaffee herum. Ließ sich zwischen ihnen überhaupt noch etwas kitten? Wenn ja: Lohnte es Scherben zusammenzufügen, nur um am Ende festzustellen, dass entscheidende Puzzleteile fehlten? Solche wie Vertrauen, zum Beispiel. Er linste zu Pierre, der den Pullover auf die Theke gelegt und nach dem Pils gegriffen hatte.

„Willst du wissen, wie es mir in der Zwischenzeit ergangen ist?“ Vorsichtig nippte Justin an dem heißen Kaffee.

„Nein. Nein danke. Will ich nicht.“

„Schade.“ Das Koffein wirkte belebend. Mit jedem Schluck fühlte sich Justin etwas munterer. Eine Weile herrschte Schweigen.

„Doch. Will ich doch“, murmelte sein Ex schließlich.

„Erst dachte ich, ich komme damit klar. Hab mir immer vor Augen geführt, was passiert wäre, wenn wir einfach weitergemacht hätten und du irgendwann bereut hättest, deine Jugend nicht ausgekostet zu haben.“ Justin seufzte und drehte den Becher in seinen Händen. „Es hat nichts geholfen. Ich hab dich vermisst. Jeden einzelnen verschissenen Tag. Mich gefragt, ob ich richtig gehandelt habe. Immer, wenn ich erfuhr, dass du …“ Er atmete tief durch. „… dass du mit jemandem öfter zusammen gesehen wurdest, hat’s mich zerrissen.“

„Ja. Schon klar.“ Pierre grinste unfroh, den Blick gesenkt.

„Tut mir leid. Ich hab einen Fehler begangen. Allerdings nicht, indem ich unsere Beziehung beendet habe, sondern damit, zu lange gewartet zu haben dich zurückzugewinnen.“ Justin stürzte den Rest Kaffee runter. Sein Seelenstriptease zeigte nicht die erhoffte Wirkung, sondern schien auf taube Ohren zu stoßen. Mit einem Mal war ihm so kreuzelend zumute, dass er dringend an die frische Luft musste.

„Ich wünsche dir alles Gute“, verabschiedete er sich weitaus theatralischer als eigentlich gewollt. Er hatte keinesfalls vor aufzugeben, nur für den Augenblick genug.

Pierre murmelte: „Ich dir auch.“

Justin rutschte vom Hocker, zog seine Jacke, die er darüber gehängt hatte, an und verließ fluchtartig die Kneipe.



Draußen lehnte er sich gegen die Hauswand und richtete den Blick zum Himmel. Weiße Flocken sanken herab. Die Temperatur musste drastisch gesunken sein, da der Schnee liegenblieb und bereits eine dünne Schicht gebildet hatte. Justin fröstelte in seiner ungefütterten Lederjacke. Die Aussicht, in seine leere Wohnung zurückzukehren, verstärkte das Zittern noch.

In den vergangenen Jahren hatte er keineswegs zölibatär gelebt, aber keinen gefunden, der Pierre auch nur annähernd das Wasser reichen konnte. Seit einigen Monaten war ihm die Lust nach anonymem Sex ganz vergangen. Genauer gesagt seit dem Moment, in dem er beschloss, dass er Pierre zurückgewinnen musste. Er wollte die Sache sauber anfangen, unbelastet von schlechtem Gewissen. Dazu gehörten für ihn ein negativer HIV-Test sowie genug Abstand zum letzten Fickpartner. Das war er Pierre schuldig, jedenfalls nach seinem Empfinden.

Justin warf einen Blick auf die Gruppe Raucher, die einige Meter entfernt standen und verbissen an ihren Glimmstängeln sogen. Obwohl er schon vor langer Zeit dieses Laster abgelegt hatte, spürte er plötzlich unbändige Lust auf eine Zigarette. Außerdem musste er dringend pissen. In der klirrenden Kälte seinen Schwanz auszupacken kam nicht infrage, also blieb ihm nur die

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Sissi Kaiserlos
Bildmaterialien: shutterstock Design Lars Rogmann
Lektorat: Aschure
Tag der Veröffentlichung: 08.12.2015
ISBN: 978-3-7396-2712-0

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