Cover

After Christmas Love

After-Heiligabend-Party in der Kneipe Seitenstiche. In diesem Jahr befand sich ein Mann unter den Gästen, von dem Pierre geglaubt hatte, ihn nie wiederzusehen: Seinen Ex Justin. So sehr er sich auch anstrengte, übte der Kerl immer noch Anziehungskraft auf ihn aus, der er kaum widerstehen konnte.

~ * ~



1.

Pierre betrat das Seitenstiche und guckte sich aufmerksam auf dem Weg zum Tresen um. Unter den schon zahlreich anwesenden Gästen befanden sich einige bekannte Gesichter. Moritz‘ After-Heiligabend-Partys waren ziemlich beliebt in der Szene und lockten stets einen Haufen Leute an. Insbesondere die Auktion, bei der unerwünschte Weihnachtsgeschenke getauscht werden konnten, war ein absolutes Highlight.

In diesem Jahr war Pierre mit Büchern, die er nicht lesen wollte, sowie der üblichen Socken-Schlips-Unterhosen-Chose beglückt worden. Für letzteres dürfte sich bestimmt ein Liebhaber finden, der auf spießige Klamotten stand. Was jedoch die Bücher betraf glaubte Pierre nicht, dass sich jemand für diese interessierte. Es handelte sich um gebundene Klassiker, die nach der Meinung seiner Eltern in keinem Haushalt fehlen durften. Es war nicht immer das große Los, der Sohn von Pädagogen zu sein.

Er reichte den Jutebeutel mit seinen Geschenken über den Tresen. Moritz, der Wirt, guckte kurz hinein, nickte zufrieden und legte den Beutel zu den anderen. Anschließend reichte er Pierre drei gelbe Plastikkarten.

„Das wird wieder ein Mordsspaß. Ich hab schon allerlei schöne Sachen eingesammelt.“

„Echt? Erzähl mal.“ Pierre warf einen neugierigen Blick auf den Berg aus Tüten und Stoffbeuteln.

„Ich verrate nichts. Wart’s einfach ab.“ Moritz zwinkerte ihm verschmitzt zu. „Was willst du trinken?“

„Alsterwasser.“

„Kommt sofort.“

Pierre kletterte auf einen Barhocker. Im Hintergrund erklang die übliche Musik, kein Weihnachtsgedudel und auch ansonsten sah der Laden wie immer aus. Einziges Zugeständnis an das Fest der Feste war ein Mistelzweig, der über dem Durchgang zu den Toiletten hing. Gerade stand ein Paar darunter und küsste sich. Schnell guckte Pierre woanders hin.

Fünf verdammte Jahre und in bestimmten Momenten tat es immer noch so weh, als hätte Justin ihn erst gestern verlassen. Dabei knüpfte er an diesen Ort nicht einmal gemeinsame Erinnerungen. Ins Seitenstiche war er stets allein gegangen, da Justin die Kneipe nicht mochte. Entsprechend selten hatte er den Laden während ihrer Beziehung aufgesucht. Erst seit ihrer Trennung kam er wieder oft her.

„N’Abend, Pierre“, grüßte Auri, Moritz‘ Aushilfe, gewohnt fröhlich und schob ihm sein Getränk über den Tresen zu.

„Danke.“ Durstig setzte er das Glas an seine Lippen und trank einen großen Schluck.

Bei seinen Eltern hatte es, wie üblich, Rotwein zum Abendessen und danach Kaffee gegeben. Die beiden gaben sich wirklich viel Mühe, das Fest stets schön zu gestalten, waren aber in ihren Gewohnheiten etwas eingefahren. Das betraf sowohl den Ablauf, wie auch die Geschenke. Pierre mochte die Prozedere trotzdem, da er seine Eltern liebte. Er konnte sich auch gar nicht vorstellen, den Heiligabend anders zu verbringen und schauderte bei dem Gedanken, dass seine Altvorderen irgendwann nicht mehr da sein würden.

„Hallo Pierre.“ Ansgar, ein Stammgast wie er selbst, schob sich auf den freien Hocker neben ihm. „Dieses Jahr ist es wie verhext. Meine Eltern haben mir so tolle Sachen geschenkt, dass ich nichts zum Tauschen habe.“

„Du armer Kerl“, spottete Pierre. „Erzähl mal.“

„Einen Gutschein fürs Mens Heaven, eine affengeile Gärtnerlatzhose und Tadaaa!“ Ansgar drehte den Kopf und präsentierte einen glitzernden Ohrstecker. „Echt Swarowski.“

„Nicht übel.“ Pierre beäugte das Schmuckstück, konnte ihm aber nichts abgewinnen. Er stand eher auf schlichtes Design, ohne protzige Steine.

„Nicht wahr?“ Ansgar strahlte mit dem Glitzersteinchen um die Wette. „Und selbst?“

„Vergiss es. Lass uns das Thema wechseln. Wie läuft es mit Wolfram?“

„Nenn ihn nicht so! Er mag das nicht!“

„Tschuldige. Wie läuft es mit Wolf?“

„Geht so.“ Ansgar seufzte. „Im Augenblick haben wir mal wieder Funkstille, genau wie letztes Weihnachten.“

Die On- und Off-Beziehung der beiden dauerte schon zwei Jahre und es schien kein Ende in Sicht. Angestrengt dachte Pierre über einen weiteren Themenwechsel nach, aber ihm wollte nichts einfallen. Zwischendurch kam Auri und fragte Ansgar nach dessen Wünschen, um gleich darauf ein Glas Cola auf den Tresen zu stellen. Erstaunt hob Pierre die Augenbrauen.

„Falls Wolf anruft und mich sehen will“, erklärte Ansgar.

Normalerweise ließ er keine Gelegenheit aus tüchtig zu feiern, was mal wieder zeigte, wohin einen Beziehungsstress treiben konnte. Pierre wünschte, seine Probleme wären ähnlich gelagert. Leider gab es in seinem Leben keinen Mann. In letzter Zeit gab es noch nicht einmal mehr Sex. Er hatte es satt, mit x-beliebigen Kerlen herumzumachen, dann doch lieber mit der eigenen Faust. Die kannte wenigstens seine Bedürfnisse … genau wie einst Justin, der gerade auf der gegenüberliegenden Seite des Tresens auftauchte.

„Ach du Sch…“ Im letzten Moment biss er sich auf die Zunge.

Zum Glück schien Ansgar nichts mitbekommen zu haben. Den Blick in die Ferne gerichtet, trank sein Sitznachbar einen Schluck Cola. Pierre senkte seine Wimpern und versuchte, möglichst unauffällig das Geschehen auf der anderen Tresenseite zu verfolgen. Er sah Moritz herbeieilen, die Tüte, die Justin über die Theke reichte, entgegennehmen und im Gegenzug ein paar Plastikkarten rausrücken.

Woher wusste sein Ex von dieser Party? Was wollte der Arsch hier? Und warum – zum Henker! – sah Justin noch besser aus, als in seiner Erinnerung? Drei Fragen, die ihm nur einer beantworten konnte, doch genau den würde er nicht fragen. Pierre hatte sich geschworen, nie wieder ein Wort mit Justin zu wechseln.

Er nahm sein Glas, drehte sich um und ließ den Blick umher schweifen. Gerade küsste sich wieder ein Paar unter dem Mistelzweig, diesmal ein Mann und eine Frau. Das Seitenstiche war keine typische Schwulenkneipe, das Publikum zwar überwiegend männlich, aber es kamen auch oft Frauen her. Er vermutete, weil sich diese unter gleichgeschlechtlich orientierten Männern sicher aufgehoben fühlten.

Pierre leerte sein Glas, wandte sich zurück zum Tresen und schwenkte es in Richtung Auri, der sofort verstand. Wenig später stand ein neues Getränk vor ihm. Auri hieß eigentlich Aurelius, bestand aber auf die Kurzform seines Namens. Dafür hatte Pierre Verständnis und hätte an dessen Stelle genauso gehandelt. Eltern konnten schon grausam sein, was die Vornamen ihrer Sprösslinge anging. Er selbst schätzte sich glücklich, dass seine eigenen diesbezüglich nicht über die Stränge geschlagen hatten.

Er drehte sich erneut herum, setzte das Glas an seine Lippen und hätte sich fast verschluckt, als er Justin unter dem verdammten Mistelzweig entdeckte. Sein Ex sah ihn geradewegs an. Sie hatten einander stets wortlos verstanden, daher erkannte Pierre deutlich die Bitte in Justins Augen, aufzustehen, zu ihm rüberzugehen und in dem Torbogen einen Kuss zu tauschen.

Er unterdrückte den Impuls sich gegen die Stirn zu tippen. Das hätte bedeutet zuzugeben, dass die Verbindung zwischen ihnen noch immer bestand. Wie erbärmlich, sich fünf verfickte Jahre lang nach einem Mann zu verzehren. Justin brauchte nur hereinzuspazieren, schon schrumpfte diese Zeitspanne auf einen Bruchteil zusammen. Pierre konnte sich sogar noch an ihren letzten Sex erinnern.



Pierre? Bist du schon wach?“, hatte Justin frühmorgens in sein Ohr geflüstert.

Das war er nicht, doch die pralle Latte, die sich gegen sein Hinterteil presste, änderte diesen Zustand schlagartig. Hinzu kam Justins schlafheiseres Timbre, das ihm eine Gänsehaut verpasste. Finger glitten träge über seine Brust und hielten an den Brustwarzen, um zärtlich an ihnen zu zupfen. Damit hatte Justin seine vollständige Aufmerksamkeit. Er wälzte sich herum, bereit die Beine zu spreizen und sich gründlich durchvögeln zu lassen.

Justin fickte ihn bedächtig und starrte ihn mit einer Intensität an, als wenn er sich jede einzelne seiner Regungen einprägen wollte. Obwohl ihr Sex immer sehr schön war, haftete diesem eine besonders intime Note an. Nachdem sie beide gekommen waren, küsste Justin ihn derart verzweifelt, dass Pierre eine böse Ahnung überfiel. War das hier etwa gerade ihr Abschiedssex gewesen?

In den vergangenen Jahren hatte er sich oft gefragt, was ein toller Mann wie Justin an ihm fand. Schon äußerlich konnte er Justin nicht das Wasser reichen. Pierre haderte mit seiner Figur, die einer Bohnenstange glich, egal wie viel er aß. Justin hingegen besaß ansehnliche Muskeln und die Statur sowie das Gesicht eines Adonis.

Auch beruflich befanden sie sich auf unterschiedlichen Ebenen. Während Justin morgens im Anzug das Haus verließ, um in einer Bank Devisengeschäfte zu tätigen, ging er selbst in Jeans und Lederjacke zur Arbeit. Pierre leitete eine Kindertagesstätte, was viel Verantwortung bedeutete, aber im Vergleich zu den Millionen, mit denen Justin täglich jonglierte, wie ein Spaziergang aussah. Dennoch hatte es drei Jahre mit ihnen funktioniert.

Als Justin an jenem Morgen beim Frühstück verkündete, dass ihre Beziehung vorüber war, konnte Pierre das anfangs nicht glauben. Sie diskutierten erbittert. Justin war der Meinung, es wäre zu früh, sich auf eine dauerhafte monogame Beziehung einzulassen. Sie hatten sich kennengelernt, als Pierre 24 war. Ein Alter, in dem sich ein Mann eigentlich die Hörner abstoßen sollte, anstatt nur mit einem Partner zu vögeln, jedenfalls nach Justins Ansicht. Diese Freiheit wollte er Pierre nun zurückgeben, damit es später nicht hieß, er hätte etwas verpasst.

Pierre konnte das nicht nachvollziehen. Auch vor Justin hatte er keinerlei Bedürfnis verspürt, wild in der Gegend herumzupimpern. Sein Argument wurde abgeschmettert. Justin behauptete, jeder Mann sollte ausreichend Erfahrungen sammeln, bevor er sich fest band. Er selbst hätte das auch getan. Den Vorschlag, eine offene Beziehung zu führen, lehnte Pierre ab. Wenn er Justin nicht ganz für sich haben konnte, wollte er ihn lieber gar nicht. Allein der Gedanken an seinen Partner in den Armen eines anderen bereitete ihm Übelkeit.

Offenbar hatte Justin die Trennung bereits länger geplant. Gleich nach dem kaum angerührten Frühstück verließ er die gemeinsame Wohnung mit zwei Koffern, die fertig gepackt im Arbeitszimmer standen. Die restlichen Sachen holte er in den folgenden Tagen ab, zu Zeiten, wenn Pierre im Kindergarten arbeitete. Als letztes warf Justin den Wohnungsschlüssel in den Briefkasten.



Seitdem hatten sie sich weder gesehen, noch gesprochen. Es gab zwar gemeinsame Bekannte, aber die hatte Justin wohl geimpft, sie niemals gleichzeitig einzuladen. Nur so konnte sich Pierre erklären, wie es gelang, einander derart konsequent auszuweichen. Hamburg mochte ja groß sein, dennoch lief man sich in der Szene immer mal über den Weg.

Mit einem Seufzer tauchte Pierre aus seinen Erinnerungen auf. Justin stand nicht mehr unter dem Mistelzweig, sondern hatte auf einem Hocker am Tresen Platz genommen. Zum Glück ein Stück entfernt. Demonstrativ wandte er seinem Ex den Rücken zu.

Ansgar starrte mit gerunzelter Stirn auf das Display seines Smartphones. Der Miene nach zu urteilen, gab es entweder gar keine oder schlechte Nachrichten.

„Ich hasse diese Warterei“, murmelte Ansgar.

„Schick ihm doch eine SMS.“

„Hab ich schon. Wenn ich noch eine sende, wird’s langsam peinlich.“

„Habt ihr euch gestritten?“

„Nö. Nicht direkt. An Weihnachten bekommt Wolf anscheinend immer seinen Moralischen.“

„Wäre er dann nicht hier besser aufgehoben, als allein in seinen vier Wänden?“ Pierre trank einen Schluck Alsterwasser.

„Er meint, dass er lieber allein sein möchte.“ Ansgar steckte das Smartphone weg. „Manchmal wünschte ich, ich wäre wieder solo. Dann könnte ich mich jetzt volllaufen lassen und irgendeinen Kerl anbaggern. Wie zum Beispiel die Sahneschnitte da hinten.“

Pierre brauchte nicht hinzusehen, um zu wissen, wen Ansgar gerade anglotzte.

„Wow! Anscheinend steht der Typ auf dich. Der frisst dich förmlich mit Blicken auf.“

„Das ist mein Ex. Guck bitte woanders hin.“ Was wollte Justin bloß hier? Pierre konnte sich keinen Reim darauf machen.

„Dein Ex?“ Ansgar stieß einen anerkennenden Pfiff aus. „Du hast einen guten Geschmack.“

„Ist lange her. Ich war jung und naiv.“

„Wie lange genau?“

„Fünf Jahre.“

„Dafür guckt der aber ganz schön verliebt.“

„Hör bitte auf.“ Pierre musste sich zwingen, nicht über die Schulter zu gucken.

„Sorry. Hoffentlich fängt Moritz bald mit der Versteigerung an. Oh, guck mal. Da ist Will. Ich geh mal rüber zu ihm.“ Ansgar rutschte vom Hocker und schlängelte sich durch die Gästeschar.

Am liebsten wäre Pierre seinem Bekannten gefolgt. Er kam sich schrecklich schutzlos vor, so allein mit dem Alsterwasser. Zu flüchten war jedoch keine Option, schließlich war das Seitenstiche sein Revier und sein Ex der Fremdkörper.

„Hallo Pierre. Gut siehst du aus“, erklang Justins Stimme an seinem Ohr.

Gleich darauf belegte sein Ex Ansgars Barhocker mit Beschlag. Ihre Knie berührten sich dabei. Pierre zuckte so stark zusammen, dass sein Getränk schwappte. Schnell stellte er das Glas auf den Tresen, wischte seine plötzlich schwitzenden Handflächen an der Jeans ab und versuchte, möglichst gelassen in Justins Augen zu sehen.

„Was willst du hier?“

„Ich hab auf Facebook von der Party gelesen und gehofft, dass du hier sein wirst.“

„Ach? Hat dein Telefon den Geist aufgegeben? Ein Anruf hätte genügt, um das festzustellen.“ So sehr sich Pierre auch bemühte, konnte er einen leicht zickigen Tonfall nicht unterdrücken.

„Ich hielt es für das Beste, dir auf neutralem Terrain zu begegnen.“

„Das hier ist nicht neutral. Das ist mein Stammladen und du hast hier nichts zu suchen.“

„Wie geht’s deinen Eltern?“, fragte Justin.

„Gut.“ Die beiden mochten Justin und hatten ihre Trennung sehr bedauert.

„Ich vermisse dich.“

Das war gemein und unter die Gürtellinie, Justins trauriger Blick ein zusätzlicher Hieb in seine Magengrube. Pierre presste die Lippen zusammen, um nichts Böses zu sagen, griff nach seinem Glas und leerte es in einem Zug. Anschließend hielt er nach Auri Ausschau.

„Ein Pils“, rief er dem Kellner über den Lärm hinweg zu.

„Für mich auch“, schloss sich Justin an.

„Hör mal …“ Pierre fuhr herum und verschränkte die Arme vor seiner Brust. „Ich hab keine Ahnung, was das hier soll. Sei einfach so nett und lass mich in Frieden. Okay?“

„Kann nicht.“

„Du konntest das fünf verfickte Jahre, dürfte also nicht weiter anstrengend sein, es weiterhin zu tun.“

Justins Blick hätte Steine erweichen können, doch Pierres Herz war dagegen gefeit. Hoffte er jedenfalls. Im Moment spürte er nur Verärgerung und nährte sie, indem er sich an ihr letztes Gespräch erinnerte.

„Ich bin noch lange nicht fertig mit dem …“ Er machte Anführungszeichen in der Luft. „… Hörnerabstoßen. Fange im Prinzip gerade erst damit an.“

„Das stimmt nicht ...“ Justin sagte noch mehr, was aber von Moritz‘ Stimme, die aus einem Mikrophon schallte, übertönt wurde.



2.

„Liebe Gäste. Kommen wir also zu der beliebten Geschenkeauktion. Hier die Regeln: Ich halte die Sachen nacheinander hoch. Wer als erstes eine gelbe Karte zeigt, erhält den Zuschlag. Ich ernenne …“ Der Wirt ließ den Blick über die Anwesenden wandern. „… Pierre zum Schiedsrichter. Pierre? Kommst du bitte nach vorn.“

Justin stieß einen leisen Fluch aus, während sein Ex gar nicht schnell genug von ihm fortkommen konnte. Sogar das frische Pils ließ Pierre in der Eile stehen. Kurz erhaschte er einen Blick auf Pierres knackiges Hinterteil, bevor andere Gäste ihm die Sicht verstellten.

An der Stirnseite des Raumes, gleich neben dem Tresen, stand der Wirt hinter einem langen Tisch. Tüten und Taschen häuften sich unter und auf dem Möbel. Der Menge nach dürfte die Auktion eine ganze Weile dauern. Pierre war auf ein Podest gestiegen, so dass er einen guten Überblick hatte.

Die Gespräche waren schon bei der Ansage des Wirtes verstummt, nun wurde auch die Musik leiser gestellt. Justin schaute sich um und musste, trotz seines Kummers, über die erwartungsvollen Gesichter der Gäste schmunzeln. Einige blickten so andächtig, wie ein Kind bei der Bescherung.

„Es geht los“, verkündete der Wirt, schnappte sich eine der Tüten und leerte sie auf den Tisch.

Hälse wurden gereckt. Ein amüsiertes Raunen ging durch die Menge, als der Wirt eine Packung klassischer Unterhosen hochhielt. Sofort zückte Justin eine seiner Karten und hielt sie hoch.

„Diese wundervollen Schlüpper gehen an den dunkelhaarigen Herrn am Tresen.“ Der Wirt schleuderte das Paket in seine Richtung.

Justin störte sich nicht an den spöttischen Blicken. Seelenruhig nahm er die Packung entgegen, von der er vermutete, dass sie von Pierres Eltern stammte. Die beiden kannten seinen Geschmack und schienen ihn auf ihren Sohn projiziert zu haben. Auch die Bücher, die er in Folge ergatterte, entsprachen seinem Interesse.

Nachdem er seine Karten gleich zu Anfang der Versteigerung losgeworden war, verfolgte er den Fortgang der Veranstaltung nur noch mit halbem Auge. Erst als der Wirt mit einer roten Pants herumwedelte, nahm seine Aufmerksamkeit schlagartig zu. Sein Blick huschte zu Pierre, der wie erhofft das Teil anstarrte. Leider zückte ein anderer Gast schneller als sein Ex eine Karte.

Bei dem nächsten Objekt, einem grünen Jockstrap, sowie auch den beiden folgenden Modellen, erhielt Pierre den Zuschlag. Ihre Blicke trafen sich über die Köpf der Gäste hinweg. Pierre hob fragend eine Augenbraue und Justin nickte, wobei er schief grinste. Der Anfang war gemacht. Er wusste, dass noch ein langer steiniger Weg vor ihm lag, aber für Pierre würde er auch über glühende Kohlen laufen.

Mittlerweile nannten ihn seine Freunde gern mal ‚Langzeit-Stalker‘. Vor allem dann, wenn er um Fotos oder irgendwelche Berichte über Pierre bat. Anfangs waren viele seiner Bitte nachgekommen, doch allmählich versiegten seine Quellen. Justin hatte es eh satt länger zu warten.

Entgegen seiner Annahme war Pierre all die Jahre nur verhalten sexuell aktiv gewesen. Immer, wenn sein Ex öfter als einmal mit demselben Mann gesehen wurde, hatte sich ein stumpfes Messer in seiner Brust gedreht. Waren ihm Zweifel gekommen, das Richtige getan zu haben.

Aus heutiger Sicht stand er jedoch zu seiner Entscheidung. Wenn er damals anders gehandelt hätte, wären sie über kurz oder lang sowieso auseinandergegangen. Pierre hatte die Zeit gebraucht, um zu einem gestandenen Mann zu reifen und er selbst, um die Tiefe seiner Gefühle auszuloten. Inzwischen war Justin absolut sicher, mit Pierre die Liebe seines Lebens gefunden zu haben. Wie sonst ließe sich erklären, dass er nach den langen Jahren immer noch derart starke Emotionen hegte?

Justin trank seinen Rest Bier und da Justins inzwischen abgestanden war, orderte er gleich zwei neue Getränke. Die Auktion näherte sich dem Ende. Der Wirt kündigte das letzte Stück an, einen gestrickten Pullover mit Elchmotiv. Es wunderte Justin nicht, dass Pierre das Teil begehrlich musterte. So gut kannte er seinen Ex immer noch. Darum hatte er auch die farbenfrohen und qualitativ hochwertigen Unterhosen besorgt, in dem Wissen, dass Pierre unter den Öko-Klamotten gern sexy Wäsche trug.

Die Erinnerung stimmte ihn wehmütig. Um sich abzulenken, nahm er eines der Bücher und fuhr mit seinen Fingerspitzen über den edlen Einband. Es handelte sich um eine Biografie, ein Genre, dass er sehr mochte. Hinter seinem Rücken löste sich die Menge allmählich auf, das Stimmengewirr nahm zu, zugleich wurde die Musik lauter gestellt. Justin legte das Buch wieder hin, griff nach seinem Bier und kippte die Hälfte in einem Zug runter. Anschließend wischte er sich mit dem Handrücken den Schaum von seiner Oberlippe. Pierre hatte ihn dafür oft als Bauarbeiter verspottet.

Trübe starrte er ins Glas und überlegte, ob er es für heute gut sein lassen sollte. Immerhin hatte er Pierre gesehen, dieser tatsächlich fast alle von ihm gespendeten Unterhosen ergattert und mehr war im Moment wohl nicht drin. Nicht nach so langer Zeit. Außerdem spürte er die Wirkung des Alkohols und befürchtete, irgendwelche Dummheiten anzustellen, wenn er noch länger blieb und weiter trank. Aus dem Augenwinkel bemerkte er eine sehr schlanke Gestalt, die sich auf den freien Hocker neben seinem schob.

„Ich nehme an, die tollen Schlüpper stammen von dir.“ Pierres leise Stimme enthielt eine Prise Ironie.

„Richtig. Und ich gehe davon aus, dass diese Reizwäsche …“ Er wies auf das Paket mit der Feinripp-Markenwäsche. „… Anna ausgesucht hat.“

So hieß Pierres Mutter. Sie und Fred, Pierres Vater, hatten ihn wie einen Sohn aufgenommen. Justins eigene Eltern waren vor 15 Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen, daher bedeutete der Bruch mit Pierre zugleich den Verlust der neu gewonnenen Familie. Etwas, was ihn lange hatte zögern lassen, doch letztendlich überwog die Vernunft.

„Genau. Manchmal glaube ich, die beiden kaufen die Geschenke für dich, nicht für mich.“ Pierre seufzte. „Moritz hat mir den Pulli geschenkt. Verstehe nicht, dass keiner den haben wollte.“

Justin betrachtete die Scheußlichkeit, die Pierre mit ausgestreckten Armen hochhielt und bewundernd anglotzte.

„Begreife ich auch nicht.“ Einer seiner Mundwinkel zuckte hoch, wohl eine Folge des Bierkonsums, denn nach Lachen war ihm gar nicht zumute.

„Wäre es okay, wenn wir einfach Frieden schließen? Mir ist heute nicht nach Stress“, fragte Pierre, faltete den Pullover zusammen und drückte ihn gegen die Brust, als handelte es sich um ein Kuscheltier.

„Wollte keinen Stress machen. Es ist nur so …“ Justin merkte, wie schwer seine Zunge war und es wäre sicher besser, den Mund zu halten und zu gehen. Doch einmal in Fahrt, konnte er nicht aufhören zu reden. „Hab dich über all die Jahre beobachtet. Beobachten lassen. Wenn du dich für einen anderen entschieden hättest, wäre ich irgendwie damit klargekommen. Hast du aber nicht. Also …“ Hektisch befeuchtete er seine trockenen Lippen. „Also musste ich einfach herkommen und rausfinden, ob zwischen uns noch was ist.“

Einen Augenblick sah Pierre ihn starr an. „Du bist betrunken.“

„Ein bisschen“, gestand er ein.

„Und verrückt. Glaubst du, fünf Jahre lassen sich so einfach wegwischen?“

Justin schüttelte den Kopf und senkte seinen Blick in die Hopfenkaltschale.

„Hast du dich je gefragt, wie ich mit diesem Mist klargekommen bin? Wie ich mich damit gefühlt habe?“

Er erwiderte lieber nichts. So, wie sich Pierre anhörte, geriet dieser langsam in Fahrt.

„Für mich sieht es so aus: Du hast mich nie geliebt. Die drei Jahre unserer Beziehung haben aus einer einzigen Lüge bestanden.“

Dazu hätte er vieles zu sagen, unterließ es aber. Eine Kneipe war nicht der richtige Ort für eine Aussprache. Trotz seines Alkoholpegels merkte er sehr wohl, wie gespitzt die Ohren seines Nebenmannes inzwischen waren.

„Möchtest du mir deinen Ex nicht vorstellen?“, erklang plötzlich eine Stimme in seinem Rücken.

Justin guckte über seine Schulter, erkannte den Kerl, der vorhin neben Pierre gesessen hatte und drehte sich ganz herum. Neugierig und mit vagem Interesse guckte der Mann ihn an. Eifersucht zu erzeugen stellte im Moment keine Verbesserung der Situation dar, daher erwiderte er den Blick kühl.

„Hi, ich bin Justin.“

„Freut mich. Ansgar.“

„Hallo, Ansgar. Du störst gerade.“

„Ups. So direkt?“ Lachend stupste dieser Ansgar einen Ellbogen in Pierres Rippen. „Und? Kommt ihr klar?“

Sein Ex nuschelte etwas, was sich nach einem ‚geht so‘ anhörte.

„Dann lass ich euch Turteltauben mal wieder allein. Ach ja, Wolf hat sich gemeldet. Ich bin dann mal weg.“ Ansgar zwinkerte Pierre vertraulich zu, schenkte Justin ein breites Grinsen und huschte davon.

Justin wandte sich zurück zum Tresen und bestellte einen Kaffee. Dass Pierre neben ihm ausharrte, dabei den Pulli kraulte und ins Leere starrte, war doch ein gutes Zeichen, oder? Nun hieß es, schnell wieder etwas klarer im Kopf zu werden und noch etwas Land zu gewinnen, so lange die Möglichkeit bestand.

Er war eine wahre Kämpfernatur. Das hatte er schon in der Schulzeit bewiesen, indem er sämtlichen Vollpfosten, die ihn nach seinem Outing Demütigungen aussetzten, Paroli bot. Nicht immer mit Erfolg. Manchmal traten die Arschlöcher in der Überzahl auf und er musste einiges einstecken. Das hatte ihn nur härter gemacht. Er war es gewohnt, seine Ziele hartnäckig zu verfolgen, was ihm im Beruf schnellen Erfolg verschafft hatte. Inzwischen trat er etwas kürzer und war in eine andere Abteilung gewechselt. Die hochspekulativen Börsengeschäfte überließ er lieber anderen.

Nachdenklich rührte Justin in seinem Kaffee herum. Ließ sich zwischen ihnen überhaupt noch etwas kitten? Wenn ja: Lohnte es Scherben zusammenzufügen, nur um am Ende festzustellen, dass entscheidende Puzzleteile fehlten? Solche wie Vertrauen, zum Beispiel. Er linste zu Pierre, der den Pullover auf die Theke gelegt und nach dem Pils gegriffen hatte.

„Willst du wissen, wie es mir in der Zwischenzeit ergangen ist?“ Vorsichtig nippte Justin an dem heißen Kaffee.

„Nein. Nein danke. Will ich nicht.“

„Schade.“ Das Koffein wirkte belebend. Mit jedem Schluck fühlte sich Justin etwas munterer. Eine Weile herrschte Schweigen.

„Doch. Will ich doch“, murmelte sein Ex schließlich.

„Erst dachte ich, ich komme damit klar. Hab mir immer vor Augen geführt, was passiert wäre, wenn wie einfach weitergemacht hätten und du irgendwann bereut hättest, deine Jugend nicht ausgekostet zu haben.“ Justin seufzte und drehte den Becher in seinen Händen. „Es hat nichts geholfen. Ich hab dich vermisst. Jeden einzelnen verschissenen Tag. Mich gefragt, ob ich richtig gehandelt habe. Immer, wenn ich erfuhr, dass du …“ Er atmete tief durch. „… dass du mit jemandem öfter zusammen gesehen wurdest, hat’s mich zerrissen.“

„Ja. Schon klar.“ Pierre grinste unfroh, den Blick gesenkt.

„Tut mir leid. Ich hab einen Fehler begangen. Allerdings nicht, indem ich unsere Beziehung beendet habe, sondern damit, zu lange gewartet zu haben dich zurückzugewinnen.“ Justin stürzte den Rest Kaffee runter. Sein Seelenstriptease zeigte nicht die erhoffte Wirkung, sondern schien auf taube Ohren zu stoßen. Mit einem Mal war ihm so kreuzelend zumute, dass er dringend an die frische Luft musste.

„Ich wünsche dir alles Gute“, verabschiedete er sich weitaus theatralischer als eigentlich gewollt. Er hatte keinesfalls vor aufzugeben, nur für den Augenblick genug.

Pierre murmelte: „Ich dir auch.“

Justin rutschte vom Hocker, zog seine Jacke, die er darüber gehängt hatte, an und verließ fluchtartig die Kneipe.



Draußen lehnte er sich gegen die Hauswand und richtete den Blick zum Himmel. Weiße Flocken sanken herab. Die Temperatur musste drastisch gesunken sein, da der Schnee liegenblieb und bereits eine dünne Schicht gebildet hatte. Justin fröstelte in seiner ungefütterten Lederjacke. Die Aussicht, in seine leere Wohnung zurückzukehren, verstärkte das Zittern noch.

In den vergangenen Jahren hatte er keineswegs zölibatär gelebt, aber keinen gefunden, der Pierre auch nur annähernd das Wasser reichen konnte. Seit einigen Monaten war ihm die Lust nach anonymem Sex ganz vergangen. Genauer gesagt seit dem Moment, in dem er beschloss, dass er Pierre zurückgewinnen musste. Er wollte die Sache sauber anfangen, unbelastet von schlechtem Gewissen. Dazu gehörten für ihn ein negativer HIV-Test sowie genug Abstand zum letzten Fickpartner. Das war er Pierre schuldig, jedenfalls nach seinem Empfinden.

Justin warf einen Blick auf die Gruppe Raucher, die einige Meter entfernt standen und verbissen an ihren Glimmstängeln sogen. Obwohl er schon vor langer Zeit dieses Laster abgelegt hatte, spürte er plötzlich unbändige Lust auf eine Zigarette. Außerdem musste er dringend pissen. In der klirrenden Kälte seinen Schwanz auszupacken kam nicht infrage, also blieb ihm nur die Rückkehr ins Seitenstiche.

Nach der klaren Nachtluft erschlug ihn der Mief im Inneren der Kneipe förmlich. Auf dem Weg zu den Toiletten ließ Justin die Jacke von seinen Schultern gleiten, wobei er zum Tresen schielte, Pierre aber nicht entdecken konnte. Der Platz, an dem sein Ex gesessen hatte, war von jemand anderem belegt.

Die vier Kabinen waren besetzt, daher stellte sich Justin vor ein Pissoir. Eigentlich bevorzugte er beim Urinieren etwas Privatsphäre, aber der Druck war zu groß, als dass er hätte warten können. Die Lederjacke unter den Arm geklemmt, befreite er seinen Schwanz. Es dauerte einen Moment, bis der erleichternde Strahl daraus hervorschoss. Erst brannte es wie Nadelstiche, dann breitete sich wohltuende Wärme in Justins Becken aus.

Während er das Teil wieder einpackte, wurden drei der Kabinen frei. Kurz herrschte Gedränge vor den Waschbecken, dann verließen die Männer den Raum. Justin wusch seine Hände, musterte sich im Spiegel und strich ein paar Strähnen aus seiner Stirn. Normalerweise war er mit seinem Aussehen ganz zufrieden, doch im Moment kotzte er sich selbst an. Sein Blick war stumpf und die Mundwinkel nach unten gebogen.

Er trocknete sich die Finger mit einem Papierhandtuch ab und wollte den Raum schon verlassen, als sein Blick auf die letzte geschlossene Zellentür fiel. Entweder tätigte da jemand ein großes Geschäft – wogegen die fehlende Geruchsnote sprach – oder jemand brauchte einen Rückzugsort. Es war mucksmäuschenstill, womit Sex ausschied.

„Pierre?“, fragte er leise, einer Eingebung folgend.

„Wieso bist du noch immer hier?“, kam ebenso leise zurück.

„Musste pinkeln.“

Schuhsohlen scharrten über Fliesen, die Türverriegelung klackte. Die Kabinentür schwang auf und Pierre kam mit gesenktem Kopf heraus. Bevor sie ein Wort wechseln konnten, erschien ein Gast und bezog Stellung vor den Pissoirs. Enttäuscht, erneut der Chance auf ein Gespräch unter vier Augen beraubt zu sein, verließ Justin, dicht gefolgt von Pierre, den Raum. Sie gingen hintereinander durch den nur notdürftig beleuchteten Flur, der zum Schankraum führte. Im Torbogen stoppte Justin und wandte sich um.

„Ich …“ Was er sagen wollte, wurde durch warme Lippen erstickt.

Perplex ließ er den unerwarteten Kuss einen Wimpernschlag einfach nur geschehen. Unzählige Erinnerungen prasselten auf ihn herab. Pierre schmeckte noch genauso wie damals. Nein. Besser. Mit einer fahrigen Bewegung schlang er einen Arm um Pierres Hals, den anderen um dessen Taille. Dass seine Jacke dabei auf den Boden fiel, war ihm gerade so was von scheißegal. Sehnsüchtig kostete er den viel zu lange vermissten Lippenkontakt.

„Genug“, stieß Pierre hervor, beide Hände gegen seine Brust gelegt und das Gesicht abgewandt.

Justins Stimme gehorchte nicht. Er brauchte ein paar Atemzüge, bis er wieder klar gucken konnte. Die Geräuschkulisse drang allmählich zu ihm durch und damit auch das Bewusstsein, dass sie hier gerade eine astreine Soap-Opera vor Publikum boten. Verlegen bückte er sich nach seiner Lederjacke, klemmte sie sich wieder unter den Arm und warf Pierre einen um Verzeihung heischenden Blick zu.

„Tut mir leid.“

Dabei tat es ihm gar nicht leid. Es war so schön gewesen, endlich wieder Pierres feste Lippen zu spüren, dass er für eine Wiederholung alles getan hätte. Sein Ex blinzelte mehrfach, als wenn auch er von dem Erlebnis überwältigt wäre. Pierre sah zum Auffressen aus. Einige blonde Strähnen hingen ihm ins Gesicht, die blauen Augen funkelten und eine Spur Unsicherheit lag auf seinen Zügen.

„Ich wollte dir nur schöne Weihnachten wünschen.“ Ein zaghaftes Lächeln spielte um Pierres geschwungene Lippen.

„Danke. Das wünsche ich dir auch.“

„Darf ich mal vorbei?“, maulte ein Gast in Pierres Rücken.

Ohne den Blick voneinander zu lösen, wichen sie rückwärts aus, bis sie in einer Ecke des Gastraumes standen. Für Justin existierte nur noch Pierre. Sämtliche Geräusche gerieten in den Hintergrund und es schien, als senkte sich eine Glasglocke über sie.

„Es ist sicher ein Fehler, aber ich würde gern … würde gern mit dir vögeln“, murmelte Pierre. „Nur so. Keine Verpflichtungen. Einfach nur Sex.“



Im Nachhinein wusste Justin nicht, wie sie so schnell aus der Kneipe und in seine Wohnung gekommen waren. Ab ‚mit dir vögeln‘ war sein Verstand ausgefallen. Ein plötzlich auftauchendes Taxi und weitere Küsse konnte er noch knapp erinnern, aber wie hatten sie die ganzen Stufen bis in den 3ten Stock geschafft? Egal! Allein das Ergebnis zählte.

Seine Jacke landete auf dem Boden, gleich darauf auch Pierres. Justin sank auf die Knie, fummelte fahrig an dem verdammten Jeansverschluss herum und fluchte laut, weil es ihm nicht schnell genug ging. Endlich gab der Scheißknopf nach, der Reißverschluss war dagegen ein Kinderspiel. Er riss den derben Stoff über Pierres Hintern und schob ihn bis zu den Knöcheln.

Einen winzigen Augenblick starrte er die verführerische Unterwäsche in der Farbe von Pierres Augen an. Die hauchdünne Seide ließ keinen Zweifel daran, was sich für ein Hammer dahinter verbarg. Halbsteif zeichnete sich Pierres Schwanz deutlich unter dem Hauch edlen Stoffes ab.

Justin beugte sich vor, hauchte seinen Atem durch das Gewebe der sexy Pants. Pierres einzigartiger Duft schlug ihm entgegen und flutete sein Gehirn mit schönen Erinnerungen. Ihre ineinander verschlungenen Gliedmaßen, ihre Lippen, die voller Sehnsucht aufeinandertrafen. Verschlingende Küsse, während sie auch an anderer Stelle eine innige Verbindung eingingen.

Sex mit Pierre war immer anders gewesen. So, als wenn sich ihm ein Universum aus Vertrauen und Hingabe eröffnete. Justin überwältigte eine derart tiefe Sehnsucht, dass er glaubte von Innen zu verbrennen. Hastig streifte er seine Klamotten ab, wobei er die Augen fest auf die sündige Pants gerichtet hielt.

„Willst du mich gleich hier ficken?“ Pierre klang etwas konsterniert.

Verwirrt sah er hoch und begriff einen Moment nicht, wie sie in diese Lage geraten waren. Sein Plan bestand doch darin, es langsam angehen zu lassen. Davon konnte gerade keine Rede sein. Nackt im Flur zu kauern und an der Unterhose des noch halbangezogenen Pierre zu schnüffeln, entbehrte jeglicher Romantik.

Behände stand Justin auf. „Ich will dich gar nicht ficken, sondern nach Strich und Faden verwöhnen.“



3.

Vorsichtig, um Justin nicht zu wecken, krabbelte Pierre aus dem Bett und suchte im Halbdunkel nach seinen Klamotten. Er fand seine Pants, stieg hinein, warf noch einen Blick auf den schlafenden Justin und verließ den Raum. Während er seine restlichen Sachen anzog, ging er im Geiste mit sich selbst ins Gericht.

Es war pure Dummheit, nur wegen Sex seinen Seelenfrieden aufs Spiel zu setzen. Na gut, wegen sehr schönen Bettsports, dennoch war es ein Fehler. Pierre kannte sich selbst gut genug, um zu wissen, dass er für seine unbesonnene Tat leiden würde. Schon in diesem Moment spürte er, wie es ihn zurück zu Justin zog. Am liebsten hätte er sich wieder ausgezogen und ins Bett begeben.

Geistesgegenwärtig schnappte er sich den Beutel mit den ergatterten Geschenken, zog leise die Wohnungstür ins Schloss und lief die Stufen hinunter. Vor der Haustür atmete er tief die kristallklare Nachtluft ein. Nur noch vereinzelt schwebten Flocken vom Himmel. Eine weiße, nahezu unberührte Decke lag auf dem Bürgersteig und glitzerte im Mondschein.

Langsam ging er an den hochaufragenden Häusern vorbei und fragte sich, wieso Justin ausgerechnet in diesem dichtbesiedelten Viertel wohnte. Damals hatte sein Ex oft davon geschwärmt, irgendwann in ein Häuschen in einem von Hamburgs Randgebieten zu ziehen. Wahrscheinlich war das genau so ein Lügengebilde, wie ihre ganze Beziehung.

Das leuchtend blaue Symbol einer Bahnstation geriet in sein Blickfeld. Die Züge fuhren die ganze Nacht, was ihm die Suche nach einem Taxi ersparte. Wieso ausgerechnet vorhin, als Justin und er aus dem Seitenstechen kamen, eine dieser an Heiligabend so seltenen Mietdroschken bereitstand, würde er seinen Lebtag nicht verstehen. Vielleicht hätte er es sich doch noch überlegt, wenn die Fahrt zu Justin länger gedauert hätte.

War das Karma gewesen? Hatte eine höhere Macht gewollt, dass sie miteinander ins Bett stiegen? Pierre schüttelte, in Anbetracht dieses schrägen Gedankens, über sich selbst den Kopf. Er allein war schuld an dem Mist. Ein schwacher Moment, Justins Kuss und schon – schwupps! – warf er sich freiwillig auf die Knie und ließ sich bumsen.

Während der Zugfahrt starrte er blind durchs Fenster. Ein paar Nachtschwärmer dösten auf den Bänken, ganz hinten im Waggon grölte eine Gruppe Jugendlicher. In seinem Kopf geisterten die Bilder der vergangenen Stunden herum. Justin hatte ihn wirklich, wie versprochen, gründlich verwöhnt. Unter bewundernden Worten war er ausgezogen und am ganzen Körper mit Küssen überschüttet worden. Pierre überlief eine Gänsehaut, als er an die erregenden Liebkosungen zurückdachte. An Justins geflüsterte Liebesschwüre.

Natürlich hatte das Eindruck bei ihm hinterlassen, so sehr er sich auch dagegen wehrte. Justins Emotionen wirkten so überzeugend, manchmal nahezu verzweifelt. Pierre hatte frontalen Sex verweigert, was Justin nur zögernd akzeptierte. Doch was nützte es, seinem Ex beim Vögeln nicht in die Augen zu sehen, wenn Pierre ihn doch überdeutlich spürte, hörte und roch? Alles hatte sich so vertraut angefühlt, als lägen nicht Jahre zwischen diesem und dem letzten Mal.

Der Zug erreichte seinen Zielbahnhof. Pierre stieg aus, stopfte seine Hände in die Taschen seiner Jeans und marschierte den Bahnsteig hinunter. Um diese Zeit fuhren keine Busse mehr, weshalb er den restlichen Weg zu Fuß zurücklegen musste.

Er benötigte eine halbe Stunde, bis er sein Zuhause erreichte. Der Schnee knirschte unter seinen Sohlen, als er den Gartenweg heraufging. Friedliche Ruhe hing über der Siedlung, wie immer um diese Zeit. Gerade im Winter hatte Pierre oft den Eindruck, nachts stünde die Welt für eine Weile in diesem Viertel still.

Im Inneren seines Häuschens herrschte wohlige Wärme. Nach einer kurzen Dusche, um den Sexgeruch von seiner Haut zu waschen, legte er sich ins Bett. An Schlaf war jedoch lange nicht zu denken, zu viel schwirrte ihm im Kopf herum.



Die Türglocke riss ihn am nächsten Tag aus unruhigen Träumen. Verschlafen guckte er zum Wecker, stellte fest, dass es bereits elf war und kroch aus den Federn. Der ungebetene Besucher klingelte erneut, was Pierre einen Fluch entlockte. Ihm schwante, wer vor der Tür stand und auch, dass derjenige nicht aufgeben würde, bis er öffnete.

Er schlüpfte in eine Jogginghose, dicke Socken und den Elchpullover. Gähnend schlurfte er zur Haustür, um seine Vermutung bestätigt zu sehen: Justin, ein zaghaftes Lächeln auf den Lippen und eine Tüte in der Hand, stand auf der Fußmatte.

„Hab ich dich geweckt?“

„Mhm. Was willst du?“

„Dachte, wir könnten zusammen frühstücken. Hab Tiefkühlcroissants mitgebracht. Die mochtest du doch früher so gern.“ Justin schwenkte die Plastiktüte.

„Nur, weil wir gevögelt haben, gibt dir das kein Recht einfach hier aufzutauchen.“

„Ich weiß. Deswegen bin ich auch nicht hier, sondern weil ich dich gern sehen wollte.“

Diese Argumentation hinkte, aber Pierre wusste nicht so recht an welcher Stelle. Im Prinzip war das auch egal, da er sich – wider besseres Wissen – unbändig freute Justin zu sehen. Seine Haut kribbelte und sein Herz schlug verdächtig schnell. Heimlich musterte er seinen Ex von Kopf bis Fuß. Justin trug schwere Stiefel, ausgeblichene Jeans und eine dicke Daunenjacke. Die Wangen waren von der Kälte leicht gerötet, das Haar etwas zerzaust. Braune Augen unter dichten Wimpern guckten ihn bittend an.

„Na gut. Komm rein.“ Er gab den Weg frei, schloss die Tür hinter Justin und nickte in Richtung Küche. „Da lang.“

„Nette Bude“, meinte sein Ex anerkennend, während sich Pierre an der Kaffeemaschine zu schaffen machte.

„Danke.“

„Gemietet oder gekauft?“

„Finanziert.“ Er stellte den Automaten an, zeigte auf den Herd und fügte hinzu: „Da ist der Backofen. Ich muss kurz ins Bad. Denke, du kommst klar.“

Absichtlich trödelte er etwas herum. Er brauchte ein bisschen Zeit, um seine Gedanken zu sortieren. Beim Zähneputzen guckte er in den Spiegel und beriet sich stumm mit seinem Gegenüber. Wie sollte er sich verhalten? Offene Feindseligkeit zeigen, obwohl er die gar nicht mehr empfand? Vielleicht war es das Beste, wenn er kühle Distanz wahrte. Eine gute Idee, aber in der Praxis schwer zu meistern. Dafür mochte er Justin viel zu sehr.

Als er in die Küche zurückkehrte, saß sein Gast brav am Tisch. Justin hatte Jacke und Stiefel ausgezogen und die Croissants in den Ofen geschoben. Der Duft von Kaffee vermischte sich mit dem frischer Backwaren, was Pierre an vergangene Zeiten erinnerte. So hatte es morgens oft bei ihnen gerochen und Justins Anblick trug noch dazu bei, verschüttet geglaubte Bilder heraufzubeschwören.

Sie beide lachend, Küsse tauschend und manchmal waren sie noch vor dem ersten Kaffee wieder im Bett gelandet. Mühsam verdrängte er die allzu lebhaften Visionen. Das, was sie miteinander geteilt hatten, gehörte der Vergangenheit an. Es war zu viel kaputtgegangen, als dass ein Wiederaufleben möglich wäre.

„Der Pullover steht dir.“ Justin sprang auf. „Darf ich den Tisch decken?“

„Nur zu.“ Pierre öffnete eine Schranktür und holte zwei Teller heraus. „Wenn man sich schon selbst einlädt, muss man dafür auch was tun.“

Schlafwandlerisch fand Justin Besteck und Becher, was nicht verwunderlich war. Die Sachen befanden sich an den gleichen Stellen, wie einst in ihrer gemeinsamen Küche. Anschließend holte er Butter, Marmelade, Käse und Wurst aus dem Kühlschrank. Vertrautheit, die Pierre so dringend hatte vermeiden wollen, stellte sich ein. Von wegen kühle Distanz! Justin brauchte ihn nur begehrlich anzusehen, schon begann er innerlich zu zittern. Sein Ex war der einzige Mann, der es schaffte, allein mit Blicken seine Libido anzufeuern.

Inzwischen waren Kaffee und Croissants fertig. Während sich Justin um letztere kümmerte, füllte Pierre die Becher. Fast zeitgleich nahmen sie am gedeckten Tisch Platz. Entgegen seiner Befürchtung, keinen Bissen herunterzubekommen, schaffte er sogar vier der luftigen Gebäckteile. Mit einem Batzen Butter und ebenso viel Marmelade gekrönt, verschlang er sie heißhungrig. Selbstvergessen leckte er sich hinterher die Finger ab, griff nach seinem Becher und spülte die letzten Krümel herunter.

„Frage mich echt, wo du das ganze Zeug hinsteckst“, murmelte Justin, der schon nach dem zweiten Croissant aufgegeben hatte.

„In meine Füße.“ Pierres Schuhgröße war oft ein Grund für Scherze gewesen. Justin hatte sie im Spaß gern als Kindersärge betitelt.

„Ich mag deine Füße. Vor allem die süßen Zehen.“

Damit betrat Justin gefährliches Terrain. Krampfhaft suchte Pierre nach einem anderen Thema, aber sein Gehirn war blank. Deutlich sah er sie beide im Bett, wobei einer seiner Zehen zwischen Justins Lippen steckte. Diesen Fetisch teilten sie, wie so vieles. Stopp! Das war Geschichte.

„Kann ich abräumen, oder isst du noch was?“ Milder Spott lag in Justins Stimme und die braunen Augen blitzten amüsiert.

„Du darfst. Danach musst du gehen, weil … weil ich noch ganz viel … ich hab keine Zeit.“ Oh Mann! Eine rhetorische Glanzleistung für seinen brachliegenden Verstand, doch nüchtern betrachtet eine absolut blöde Ausrede.

„Ooookay“, erwiderte Justin gedehnt, stand auf, sammelte ihre Teller ein und brachte sie zur Spüle. „Darf ich dich heute Abend zum Essen ausführen, oder hast du da auch keine Zeit?“

Eine Spur Bitterkeit schwang in der Frage mit und ließ einen Funken schlechten Gewissens in Pierre aufblitzen. Justin warb offensiv um ihn. Das fühlte sich schmeichelhaft, zugleich bedrohlich an. Er durfte-durfte-durfte sich nicht darauf einlassen. Wenn er es tat und anschließend erneut einen Tritt in den Arsch bekam, würde er sich nie wieder davon erholen. Das letzte Mal hatte er kaum überstanden und mehr als einmal Selbstmordgedanken gehegt.

„Ich … ich denke, das ist keine gute Idee.“

Justin stellte das letzte Lebensmittel in den Kühlschrank, warf die Tür zu und lehnte sich mit vor der Brust verschränkten Armen dagegen. Aus zu Schlitzen verengten Augen sah er Pierre an.

„Gestern waren wir sogar zusammen im Bett. Was ist also gegen ein im Vergleich harmloses Essen einzuwenden?“

„Ich wusste, dass du den Scheiß von gestern gegen mich verwenden würdest.“ Pierre sprang auf, nahm die gleiche abweisende Haltung ein und erdolchte seinen Ex mit Blicken. „Ich hab gleich gesagt, dass ich nur Sex will.“

„Als wenn du der Typ für bedeutungslosen Sex bist.“

„Arschloch!“ Das Herz schlug ihm bis zum Hals, sein Magen krampfte und die Croissants fühlten sich plötzlich wie Wackersteine an. „Raus!“

Mit ausgestrecktem Arm wies er zur Tür. Der eben noch selbstbewusste Justin sackte in sich zusammen, sein Blick wurde flehentlich.

„Ich wollte dich damit nicht verletzen.“

„Ist doch egal. Verschwinde.“ Pierre zitterte vor Anspannung und wünschte, der Boden täte sich auf und verschlänge seinen Ex, zusammen mit den unerwünschten Gefühlen, die in ihm brodelten.

„Tut mir echt leid.“ Justin versuchte zu lächeln, aber es geriet nur zu einem hilflosen Zucken der Mundwinkel, was in Pierre erneut einen Sturm von widerstreitenden Empfindungen auslöste.

„Bitte, geh“, bat er erschöpft.

Nachdem die Haustür hinter Justin zugefallen war, senkte sich lähmende Stille übers Haus. Pierre schlurfte ins Schlafzimmer, ließ sich aufs Bett fallen und zog die Decke bis über seinen Kopf. Er wünschte verzweifelt, er könnte die Zeit zurückdrehen und alles ungeschehen machen. Alles, einschließlich der wundervollen drei Jahre mit Justin.



Wider Erwarten war er erneut eingeschlafen. Als er das nächste Mal erwachte, hatte sich bereits Dunkelheit über die Stadt gelegt. Ihm war kochend heiß und er schwitzte wie verrückt. Kein Wunder, da er in seinen Klamotten unter der dicken Daunendecke lag. Er warf die Decke beiseite, schwenkte seine Beine über den Bettrand und zog sich den Pullover über den Kopf. Der Rest Kleidung folgte. Nackt taumelte er ins Bad, duschte lange und gönnte sich anschließend eine ausgiebige Rasur, sowohl im Gesicht, wie auch an anderen Stellen.

Erfrischt zog er Wohlfühlklamotten an, kochte Kaffee und überlegte, während die Brühe durch den Filter lief, was er mit dem Rest des Tages anfangen sollte. Das alljährliche Essen am zweiten Weihnachtsfeiertag bei seinen Eltern stand erst morgen an. Ein Glück, da er sich momentan überhaupt nicht in der Lage fühlte, den fröhlichen Sohn zu mimen.

Mit einem Becher Kaffee verkrümelte er sich auf die Couch. In der Glotze lief nur Mist, wie gewöhnlich. In langsamen Schlucken trank er die belebende Brühe, dabei hingen seine Augen, ohne dass er etwas von dem Programm wahrnahm, an dem flimmernden Bildschirm. Stattdessen sah er Justins Gesicht, die Enttäuschung und letztendlich Resignation, bevor sein Ex aus der Küche gegangen war.

Er kapierte einfach nicht, wieso Justin nach all den Jahren plötzlich derart vehement um seine Gunst buhlte. Was war der Auslöser? Wieso war er nicht früher wieder angekommen, wenn er angeblich noch so viel empfand? Pierres Gedankenkarussell drehte sich und immer wenn er glaubte, den Ausstieg gefunden zu haben, ging eine neue Runde los. Letztendlich hatte er die Ungewissheit so satt, dass er nach seinem Smartphone griff und die Nummer wählte, von der er geglaubt hatte, sie nie wieder zu benutzen.

„Pierre?“, drang Justins tiefe Stimme an sein Ohr.

„Gilt die Einladung noch?“

„Natürlich. Bin in zwanzig Minuten da.“

„Warte. Wo gehen wir denn essen?“

„Ich dachte an italienisch“, schlug Justin vor. „Oder möchtest du woanders hin?“

„Nein. Schon okay.“ Pierre beendete das Gespräch, warf sein Handy auf den Couchtisch und starrte einen Moment ins Leere. War seine Entscheidung richtig gewesen oder grub er sich gerade sein eigenes Grab?

Nachdenklich ging er ins Schlafzimmer, öffnete die Türen seines Kleiderschranks und musterte dessen Inhalt. Er besaß ein paar Hemden, wollte sich aber nicht allzu chic anziehen. Schlussendlich entschied er sich für eine relativ neue Jeans, ein weißes T-Shirt und einen blauen Pullover, der gut zu seiner Augenfarbe passte. Als er seine Klamotten abstreifte, fiel ihm die neue scharfe Unterwäsche ein. Er hatte den Beutel in der Nacht an die Garderobe gehängt und vergessen auszupacken.

Seine Wahl fiel auf eine orangefarben Pants aus weichem Jersey. Das Teil schmiegte sich wie eine zweite Haut um seine schmalen Hüften. Pierre guckte sich in der verspiegelten Tür des Kleiderschranks von allen Seiten an und war einigermaßen zufrieden mit dem, was er sah. Zumindest was seine Körpermitte anging. Was den Rest anbetraf, fand er sich zu dünn, hatte sich aber mittlerweile damit abgefunden.

Justin erschien wie angekündigt gegen sieben. Unsicher, wie er seinen Ex begrüßen sollte, murmelte Pierre ein ‚Hallo‘ und ließ in eintreten. Stiefel hatte er bereits angezogen und schlüpfte nun in die Ärmel seiner Winterjacke.

„Woher der plötzliche Sinneswandel?“ wollte Justin, lässig gegen den Türrahmen des Gäste-WCs, wissen.

Pierre zuckte die Achseln. „Hatte Langeweile.“

„Autsch.“ Gespielt schmerzerfüllt verzog Justin das Gesicht.

„Außerdem hab ich Hunger.“

„Okay, damit kann ich schon besser leben.“ Sein Ex hielt ihm zuvorkommend die Tür auf, wartete, bis er abgeschlossen hatte und ging dann voraus zur Gartenpforte.

Unwillkürlich heftete er seinen Blick auf Justins sexy Kehrseite. Die Jacke endete knapp über dem Hintern, der in einer engsitzenden Jeans steckte. Gestern hatte er die beiden Backen gestreichelt und erinnerte sich nur allzu gut daran, wie schön fest und glatt sie sich anfühlten. Als er merkte, welche Auswirkungen derartige Gedanken auf seinen Schwanz hatten, zwang er sich schnell woanders hinzusehen. Leider zu spät. Der Stoff in seinem Schritt spannte bereits.

Beim Einsteigen in Justins Wagen bemühte er sich, seine Jacke über die Erektion zu ziehen. Falls sein Ex das wahrnahm, ließ sich dieser nichts anmerken. Die Augen auf die Straße gerichtet, startete Justin den Motor und fuhr vorsichtig los.

Die leichte Schneedecke war in den Nebenstraßen stellenweise gefroren. Auf den Hauptstraßen hingegen hatte der starke Verkehr dafür gesorgt, dass kein bisschen weiß zurückgeblieben war. Pierre guckte versonnen aus der Seitenscheibe. In vielen Fenstern standen kleine Treppen mit künstlichen Kerzen. Das mochte er sehr an der Weihnachtszeit, dieses Licht überall. Ihm gruselte schon vor Januar, wenn schlagartig sämtliche Deko verschwand.

„Bist du morgen zum Essen bei deinen Eltern?“, riss Justin ihn aus seinen Betrachtungen.

„Mhm. Wie jedes Jahr.“

„Grüß sie schön von mir. Kannst ihnen ja erzählen, dass ich die Unterhosen ergattert habe.“

„Lieber nicht. Die flippen aus, wenn ich denen beichte, dass ich ihre Geschenke weggebe.“

„Kann ich mir nicht vorstellen. Anna und Fred müsste doch eigentlich klar sein, dass du das Zeug gar nicht magst.“

„Wir machen immer aus, dass wir uns nichts schenken. Ich kann ihnen also schlecht sagen, dass ich etwas anderes haben will.“ Pierre seufzte, wandte sich halb seinem Chauffeur zu und betrachtete dessen schönes Profil.

„Eine Zwickmühle“, murmelte Justin amüsiert.

„Was hast du an Heiligabend gemacht?“

„Nichts. Wie immer.“

Obwohl Justin bemüht gleichgültig klang, kannte er seinen Ex gut genug, um eine Spur Frust in der Stimme zu erkennen. Pierre konnte sich gut vorstellen, wie schrecklich es sich anfühlen musste, an diesem Feiertag allein in den eigenen vier Wänden zu hocken. Er wollte schon die Hand ausstrecken, um tröstend Justins Schenkel zu berühren, hielt sich jedoch im letzten Moment zurück. Er durfte keine Schwäche zeigen, sonst war er schneller am Arsch, als er gucken konnte.



Wenig später hielt Justin vor dem kleinen Lokal, in dem sie früher oft gegessen hatten. Pierre war nie wieder in dem Restaurant gewesen, dafür tat die Erinnerung zu weh. Auch jetzt hatte er ein mulmiges Gefühl im Bauch, als sie nebeneinander auf den Eingang zuhielten.

Im Inneren des Lokals hatte sich kaum etwas verändert. Das rustikale Mobiliar war das gleiche wie vor fünf Jahren, auch die Bilder an den Wänden kannte er noch. Lediglich die rotkarierten Tischdecken waren durch weißen Damast ersetzt worden.

Justin dirigierte ihn in eine Nische des nur spärlich frequentierten Gastraumes. Sie nahmen gegenüber an dem kleinen Tisch Platz. Allmählich ließ die Beklemmung in Pierres Magen nach, stattdessen spürte er einen Anflug von Hunger. Er griff nach der Speisekarte, fand schnell sein Lieblingsgericht und beobachtete anschließend Justin, der sich eine Lesebrille auf die Nase geschoben hatte. Die ungewohnte Sehhilfe verlieh dem Sunnyboy einen Hauch Distinguiertheit und machte Pierre klar, wie alt sie beide geworden waren.

Nachdem sie ihre Bestellungen aufgegeben hatten, nahm Justin die Brille wieder ab und steckte sie in die Brusttasche seines Hemdes. Nun war eigentlich der Zeitpunkt gekommen, um Antworten einzufordern, aber Pierre wollte die friedliche Stimmung nicht zerstören. Sein Gegenüber wirkte entspannt und ließ den Bick umherwandern.

„Sieht noch genauso aus, wie vor fünf Jahren“, meinte Justin leise.

„Warst du seitdem nicht mehr hier?“

„Nein.“ Braune Augen richteten sich auf ihn. „Das hätte Erinnerungen geweckt.“

„Mhm. Ging mir genauso.“

Ein kurzes Schweigen trat ein, das Justin schließlich mit einem Seufzer beendete. „Was macht deine Arbeit?“

„Im Moment ist die Kita in Containern untergebracht. Wir bekommen ein neues Haus.“ Froh über den unverfänglichen Gesprächsstoff, berichtete Pierre von den Bauarbeiten und den Umständen, die die behelfsmäßige Unterbringung mit sich trug.

Auch während des Essens redeten sie über ihre Jobs, wobei er erfuhr, dass Justin die Abteilung gewechselt hatte. Damit entfiel der Punkt, über den sie manchmal in ihrer Beziehung gestritten hatten: Die moralische Verwerflichkeit, Gelder von Anlegern in hochriskanten Geschäften zu verdoppeln oder gänzlich zu vernichten. Pierre vertrat die Ansicht, dass eine Bank zu überfallen im Vergleich dazu, eine zu eröffnen, nur ein minder schweres Verbrechen darstellte. Wahrscheinlich waren seine ökologisch orientierten Eltern daran schuld, aber er stand dazu.

Nachdem ihre leeren Teller abgetragen worden waren und vor ihnen je ein Tässchen Mocca stand, fasste sich Pierre ein Herz.

„Warum gerade jetzt? Ich meine, wieso wartest du fünf Jahre, wenn du mich doch angeblich noch so liebst, bis du wieder ankommst?“

Justin zuckte die Achseln. Den Blick gesenkt, spielte drehte er die kleine Tasse auf dem Unterteller hin und her. „Ich wollte dir Zeit geben, um die Trennung zu verwinden und dann richtig mit dem Lotterleben loszulegen. Irgendwie hast du nie damit angefangen und …“ Erneut hob er die Schultern und schaute hoch. „… und irgendwann fiel bei mir der Groschen, dass du es wohl auch niemals tun würdest.“

„Ich hab dir doch gesagt, dass ich das gar nicht will.“

„Ich weiß.“ Justin senkte wieder die Wimpern und nippte an dem Mocca. „Dennoch musste ich dir die Gelegenheit einräumen. Ich hatte zu viel Angst, dass … dass es sonst nicht für immer mit uns hält.“

„Verzeih mir, aber irgendwie klingt das alles total verrückt. Du willst mir ernsthaft weismachen, dass du dich nur getrennt hast, damit wir wieder zusammenkommen und das für immer?“

Sein Gegenüber nickte, ohne ihn dabei anzusehen. Justin hatte wirklich einen Sockenschuss. Was Bankgeschäfte anging, war er anscheinend ein Genie, doch seine zwischenmenschlichen Fähigkeiten waren schlichtweg verkümmert. Man konnte doch Beziehungen nicht so planen, wie Aktiengeschäfte. Wertpapiere hatten keine Gefühle und ließen sich bequem im Tresor lagern, bis ihr Kurs stieg und sie gewinnbringend veräußert werden konnten. Menschen hingegen litten, wenn man sie abservierte. Ein gebrochenes Herz heilte irgendwann, war jedoch gegenüber demjenigen, der für den Schmerz verantwortlich war, danach überaus misstrauisch. Wenn nicht sogar resistent.

Pierre spürte die Wirkung des schweren Rotweins anhand seiner abstrusen Gedankengänge. Er hatte nur zwei Gläser getrunken, dennoch fühlte er sich total besoffen.

„Ich hielt meine Entscheidung für klug. Konnte doch nicht ahnen, dass du …“ Justin fuhr sich durchs Haare und seufzte. „Doch. Ich hätte es wissen müssen. Schließlich waren wir drei Jahre total glücklich miteinander. Sieht so aus, als wenn ich damit leben muss, es komplett vergeigt zu haben.“

„Ja, sieht so aus“, murmelte Pierre, dem schon wieder der Kopf schwirrte.

Justins Erklärung hatte noch mehr Fragen aufgeworfen, die er sich aber nur selbst beantworten konnte. Durfte er seinem Ex glauben? War es das Risiko wert, die Chance beim Schopfe zu ergreifen? Er wollte Justin nach wie vor, mehr als alles auf der Welt. Es gab keinen Mann, bei dem er sich besser fühlte, mit dem er lieber schlief oder seine Zeit verbrachte. Und das, obwohl der Kerl ein absoluter Hirni war. Wahrscheinlich litt er an Geschmacksverirrung. Justin sah zwar toll aus, war aber charakterlich ganz schön auf der Strecke geblieben.

„Ich möchte nach Hause. Wohlgemerkt: Ich möchte allein sein. Nicht, dass du das als Einladung auffasst.“



Impressum

Texte: Sissi Kaiserlos
Bildmaterialien: shutterstock Design Lars Rogmann
Tag der Veröffentlichung: 21.11.2015

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /