Charlie – Wo ein Wille ist …
Sämtliche Personen, Orte und Begebenheiten sind frei erfunden, Ähnlichkeiten rein zufällig.
Der Inhalt dieses Buches sagt nichts über die sexuelle Orientierung des Covermodels aus.
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Text: Sissi Kaiserlos
Korrektur: Caro Sodar
Foto von Pixabay – Design Caro Sodar. Danke, liebe Caro.
Kontakt: http://www.bookrix.de/-sissisuchtkaiser/
Charlie stammt aus Libyen. Auf die Bitte seiner Mutter hin verlässt er das Land, in dem Homosexualität unter Strafe steht. Mit einem Schiff, das gnadenlos überladen ist, geht es nach Lampedusa. Von dort beginnt eine Odyssee, die in Hamburg endet. Entgegen seiner Hoffnungen kann er dort nicht Fuß fassen und lebt als Obdachloser. Der Winter naht …
~ * ~
Von dem Gepäck, mit dem Charlie von daheim losgezogen war, hatte man ihm nichts gelassen. Gerade mal das, was er am Körper trug, durfte er mitnehmen, um mit unzähligen anderen Flüchtlingen in ein Boot gepfercht zu werden. Jeder Millimeter Platz zählte und spülte weiteres Geld in die gierigen Rachen der Schlepper.
Mit Müh und Not erreichte das überladene Schiff Lampedusa, wo man sie in ein Lager pferchte. Charlie hatte nicht damit gerechnet, mit offenen Armen empfangen zu werden, so naiv war er nicht. Der blanke Hass, der ihm und seinen Schicksalsgefährten entgegenschlug, kam dennoch unerwartet. In der ersten Nacht schlief er kaum und schmiedete neue Fluchtpläne. Hier wollte er keinesfalls bleiben, noch viel weniger in ein anderes Notfalllager gebracht werden. Die Luft war geschwängert von Aggressionen und Hilflosigkeit. Immer wieder hörte er Kinder weinen, Leute streiten und ab und zu kläfften Hunde. Wachen patrouillierten mit ihnen hinter dem hohen Maschendrahtzaun, der die riesige Ansammlung von Zelten umschloss.
Einige Tage lang beobachtete er aufmerksam seine Umgebung, vor allem die Streifengänger hinterm Zaun. Er stellte fest, dass der frühe Abend, wenn alle mit der Essensausgabe beschäftigt waren und dementsprechendes Durcheinander herrschte, der beste Zeitpunkt für eine Flucht war. Im schwindenden Sonnenlicht besaß er eine reelle Chance, unbemerkt über die Umzäunung zu klettern und unterzutauchen.
Am nächsten Tag setzte er seinen Plan in die Tat um. Unbehelligt gelangte er auf die andere Seite des Zaunes, lief geduckt zwischen niedrigen Sträuchern in Richtung Meer und schlug anschließend einen Haken. Langsam, wie ein einheimischer Spaziergänger, näherte er sich der Stadt. Zum Glück unterschied er sich äußerlich kaum von den Einheimischen. Mit seinen schwarzen Haaren, braunen Augen und dem olivfarbenen Teint ging er glatt als Europäer durch. Seine Klamotten hatte er am Vortag extra gründlich gewaschen, so dass er einigermaßen gepflegt wirkte.
Er schlenderte in Richtung Hafen. An der langgestreckten Mole lagen zahlreiche Fischerboote, kleine Motorschiffe und ein paar Yachten. Sein Plan bestand darin, jemanden zu finden, der ihn für einen angemessenen Preis ans Festland brachte. Seine Großmutter hatte ihm, zusätzlich zu dem Betrag für die Überfahrt, ein bisschen Geld zugesteckt. Nicht besonders viel, aber für die Passage nach Sizilien würde es hoffentlich reichen. Danach musste er sich irgendwie durchschlagen. Hauptsache, er kam weg von der Insel und dem schrecklichen Elend im Lager.
Grundsätzlich war Charlie ein positiver Mensch und nicht zimperlich. Ihm war klar, dass er sehr wahrscheinlich seinen Körper verkaufen musste. Es wäre nicht das erste Mal. So lange er seine Seele dabei behielt, konnte er damit leben.
Am Ende der Mole verkroch er sich hinter einigen dickstämmigen Palmen. Während er mit angezogenen Beinen im Schutz der großen Gewächse darauf wartete, dass sich endgültig Dunkelheit über die Insel senkte, wanderten seine Gedanken zu seiner Familie.
Sein Vater war vor einigen Jahren bei einem Straßengefecht verfeindeter Allianzen erschossen worden. Danach hatte seine Mutter ihren Lebensmut verloren. Sie versank in Schwermut, war nicht mehr imstande zu arbeiten und somit oblag es ihm, Geld für den Lebensunterhalt ranzuschaffen. Meist fand er Arbeit auf irgendwelchen Baustellen, aber wenn dieses Einkommen nicht reichte, musste er auf sehr gefährlichem Weg für Einnahmen sorgen. Homosexuelle Handlungen wurden schwer bestraft, daher galt es mit äußerster Vorsicht vorzugehen, wenn er sich auf die Suche nach einem Freier begab.
Irgendwann hatte er die Geheimniskrämerei satt und seiner Mutter erzählt, was er tat, damit sie etwas zu Essen und ein Dach überm Kopf hatten. Im ersten Moment war sie schockiert gewesen, doch dann bewirkte seine Beichte etwas Gutes: Sie fand neuen Mut und drängte ihn dazu, das Land zu verlassen, um sein Glück woanders zu finden. Außerdem nahm sie Kontakt zu ihren Schwiegereltern auf, den sie nach dem Tode seines Vaters aus Kummer unterbrochen hatte. Sie wurde mit offenen Armen empfangen und lebte nun bei seinen Großeltern. Um seine Mutter brauchte er sich daher keine Sorgen mehr machen, sonst wäre er niemals ihrem Wunsch gefolgt.
Inzwischen war es dunkel geworden. Die Luft kühlte nach der Hitze des Tages etwas ab und es wehte eine leichte Brise. Nur noch vereinzelt schlenderten Menschen über die Mole. Charlie stand auf, streckte seine vom Kauern steifen Glieder und schritt erneut die Reihe von Booten ab. Bei den meisten handelte es sich um Nussschalen, die wohl kaum die weite Strecke bis nach Sizilien überstehen würden, daher konzentrierte er sich auf die wenigen Yachten.
Einige lagen still da, ohne dass Licht brannte oder jemand an Bord zu sehen war, bei anderen war die Kajüte hell erleuchtet. Wahrscheinlich wäre es klüger gewesen, tagsüber nach einer geeigneten Möglichkeit zu suchen. Tja, das fiel ihm leider zu spät ein. Charlies Magen knurrte und seine Kehle fühlte sich ausgedörrt an. Im Moment sehnte er sich fast nach dem Auffanglager zurück, wo wenigstens sauberes Wasser zur Verfügung stand, aber Umkehren kam nun nicht mehr infrage. Notfalls musste er eben in einem der kleinen Shops, die den Anleger säumten, etwas zu trinken und zu essen kaufen. Das würde sein Budget weiter schmälern, doch was blieb ihm sonst übrig?
Er ging gerade an einer schneeweißen Yacht vorbei, als er aus dem Augenwinkel schwaches Licht auf deren Hinterdeck bemerkte. Dem flackernden Schein nach, stammte es von einer Kerze. Charlie blieb stehen, kniff konzentriert die Augen zusammen und versuchte mehr zu erkennen. Eine massige Gestalt saß in einem Stuhl auf dem Deck, der Statur nach zu urteilen wohl ein Mann. Sein Herz begann wild zu schlagen und er musste sich mehrfach über die trockenen Lippen lecken und schlucken, bevor er einen Ton herausbekam.
„Hallo?“, rief er leise auf Englisch.
Der Typ drehte den Kopf in seine Richtung.
„Hallo?“ Beim zweiten Mal klang seine Stimme schon weniger rau.
Nun stand die Gestalt auf und wandte sich ganz um. Charlie kam sich wie auf dem Präsentierteller vor. Während der Mann ihn, im Licht der Straßenlaternen, bestimmt gut sehen konnte, nahm er nur einen Umriss wahr. Sein Vorhaben erschien ihm plötzlich aberwitzig, doch andererseits … was hatte er noch zu verlieren? Seine Jungfräulichkeit jedenfalls nicht.
„Kann ich Ihnen helfen?“, antwortete der Typ, ebenfalls auf Englisch, wobei er an der Kajüte vorbei zum Vorderdeck kletterte.
Nach und nach erkannte Charlie mehr Details. Eine stattliche Wampe, spärliches Haupthaar, ein sympathisches Gesicht. Der Mann trug Shorts, darüber ein offen stehendes buntes Hemd. Neugierig wurde er gemustert.
„Tourist?“, fragte der Typ.
„So ähnlich. Ich suche eine Überfahrt nach Sizilien.“
Ein Weilchen herrschte Stille. Charlies Herz sank immer mehr und er wollte sich schon abwenden, als der Mann überraschend fragte: „Lust, auf einen Drink an Bord zu kommen?“
Eckart, so hieß der Kerl, entpuppte sich als Hauptgewinn. Nicht nur, dass Charlie sein Geld behalten durfte, er lernte auch ein paar Brocken Deutsch und musste nur ab und zu seinen Arsch hinhalten. Eckart war ein guter Liebhaber, dazu noch zärtlich, litt aber unter Erektionsschwäche. Ein absoluter Pluspunkt, da Charlie schon ein paar ästhetische Ansprüche an seinen Bettpartner hatte. Eckart entsprach so gar nicht dem, was er als sexy empfand.
Dennoch genoss er die Wochen, die sie miteinander an Bord verbrachten. Sie teilten den gleichen Humor und hatten viel Spaß, daher war er ziemlich traurig, als er in Marseille das Schiff verließ. Das war seine Entscheidung gewesen. Eckart hatte angeboten, ihn noch bis nach Spanien zu begleiten, das bedeutete jedoch etliche Kilometer mehr bis zu dem Ziel, das sich Charlie mittlerweile in den Kopf gesetzt hatte: Er wollte nach Hamburg.
Von seinem Geld besorgte er einen Rucksack, eine Decke, Wechselklamotten sowie einige Körperpflegeprodukte. So ausgestattet, trat Charlie die Odyssee nach Hamburg an.
***
„Dankeschön“, murmelte er, schenkte dem Spender ein Lächeln und prüfte erst danach, was für eine Münze in seinem Becher gelandet war. Ein zehn-Cent-Stück. Er seufzte. Na ja, Kleinvieh machte auch Mist.
Fröstelnd zog er die Decke enger um seine Schultern. Durch das Stück Pappe, auf dem er kauerte, drang Kälte. Inzwischen war die Hitze Lampedusas nur noch eine schwache Erinnerung, genau wie der Segeltörn mit Eckart. Zwei Monate hatte Charlie gebraucht, um nach Hamburg zu gelangen. Unter Einsatz seines Körpers und Bedingungen, an die er lieber nicht zurückdachte. Entgegen seiner Hoffnungen entpuppte sich Hamburg mehr und mehr als eine Stadt, die keine Zukunft für ihn bot. Vergeblich hatte er versucht, irgendwo Arbeit zu finden. Ein Manko war sein schlechtes Deutsch, ein weiteres natürlich die fehlende Erlaubnis. Er hauste unter Brücken, in Parks und in der ständigen Angst, aufgegriffen und abgeschoben zu werden.
Nun stand auch noch der Winter bevor. Wie naiv von ihm, diesen nicht einkalkuliert zu haben. Er besaß aktuell nur dünne Klamotten und keinerlei Erfahrung mit Kälte, jedenfalls nicht mit der hier herrschenden Temperatur. In Libyen waren die Winter zwar auch hart gewesen, aber die Temperaturen nur selten unter den Gefrierpunkt gesunken.
Die letzte Nacht hatte er im Eingangsbereich eines Kaufhauses zugebracht, dabei aber kaum ein Auge zugetan. Zum einen aus Furcht vor der Polizei, zum anderen ängstigten ihn die glatzköpfigen Kerle in dunklen Klamotten, die grölend durch die Innenstadt zogen. Jedes Mal, wenn so eine Gruppe vorbeikam, hatte er sich tiefer in den Schatten gedrückt und stumm darum gebetet, dass sie ihn nicht entdeckten.
Dementsprechend müde war Charlie heute, wobei das eigentlich zum Normalzustand geworden war. Wahrscheinlich wäre es das Beste, wenn er einfach einschlief und nie wieder aufwachte. Sein aktuelles Leben glich einem Alptraum, sogar im Vergleich zu dem in seiner Heimat. Dort hatte er wenigstens eine Familie. Was zählte da schon die Freiheit, offen schwul sein zu dürfen? Tief versunken in seine trüben Gedanken, nahm er das Treiben in der Fußgängerzone nur am Rande wahr.
„Danke“, nuschelte er automatisch, als erneut jemand etwas in seinen Becher steckte. Moment! Wieso steckte und nicht warf?
Verwirrt starrte er den braunen Schein an. Sein Blick huschte hoch, erfasste einen Mann in Mantel und mit Aktentasche in der Hand. Allerdings nur von hinten, da sich der Kerl bereits abgewandt hatte und den Bahnhof ansteuerte. Im Nu raffte er seine Sachen zusammen und eilte dem Typen hinterher.
Wenn ihm jemand eine derart hohe Summe schenkte, konnte es sich nur um einen guten Menschen handeln. Dieser Gedanke bestimmte sein Tun. Mit den eingenommenen Münzen erwarb er legal einen Fahrschein. Sonst ging er immer zu Fuß und mied öffentliche Verkehrsmittel, da sie zu teuer waren und Schwarzfahren ein Risiko darstellte.
Im Zugabteil wahrte er so viel Abstand, dass er den Gutmenschen beobachten konnte, ohne dass dieser ihn sah. Charlie achtete auf Körperpflege, was ihn einiges seiner spärlichen Einnahmen kostete, zugleich war das jedoch sein Kapital. Wer wollte schon einen verwahrlosten Stricher vögeln? Im vollbesetzten Waggon erwies sich sein gepflegter Zustand als weiterer Vorteil: Niemand rückte von ihm weg und beraubte ihn damit seiner Deckung. In Ruhe konnte er den großzügigen Spender studieren.
Der Mann wirkte schlank, hatte braune Haare und sah zum Fenster, obwohl dort nur tiefe Schwärze herrschte. In der Spiegelung der Scheibe konnte Charlie ebenmäßige Gesichtszüge erkennen. Der Mantel machte einen teuren Eindruck, genau wie die lederne Aktentasche und glänzenden Halbschuhe. Bestimmt arbeitete der Typ in einem Büro und verdiente massig Geld. So viel, dass es ihm nichts ausmachte, mal eben fünfzig Euro an einen Unbekannten zu verschenken.
Nach einer Weile stand der Mann auf. Den Blick gesenkt, ging er zu den Türen, womit er in Charlies unmittelbare Nähe geriet. Nur ein Passagier trennte sie voneinander. Blieb nur zu hoffen, dass der Mann nicht aufschaute, sonst würde er entdeckt werden. Wie gebannt glotzte Charlie in die spiegelnden Scheiben, unfähig woanders hinzusehen. Der Mann schien über irgendetwas nachzusinnen. Plötzlich begann er zu lächeln und sah hoch, auf einen Punkt in der Ferne fokussiert.
Der Zug hielt. Etliche Leute stiegen aus und Charlie ließ sich von dem Strom mittragen. Im Gewimmel, das auf dem Bahnsteig herrschte, fiel es ihm leicht dem Mann unerkannt zu folgen. Auch nachdem sie das Bahnhofsgebäude verlassen hatten, herrschte dafür noch genug Betrieb. Schwieriger wurde es, als der Typ die Hauptstraße hinter sich ließ und in eine ruhige Wohngegend einbog.
Nach und nach wichen die hohen Bauten. Einzelhäuser reihten sich entlang einer Allee mit mächtigen Bäumen. Charlie vergrößerte den Abstand und war dankbar für die dicken Stämme, hinter denen er immer wieder Deckung suchte. Plötzlich hielt der Mann vor einer Gartenpforte, öffnete sie und verschwand aus seinem Blickfeld. Erst nach einer Weile wagte sich Charlie näher an das Grundstück heran.
Ein kleines Haus stand inmitten eines Gartens, der ihm unglaublich groß erschien. Die Bäume darin waren kahl, nur an einem hingen noch etliche rote Äpfel. Dieser schöne Anblick rührte etwas in seinem Inneren. Er schlich durch die Pforte, bis zu dem Baum und starrte hoch ins Geäst. Das Obst, das der Kälte so verbissen trotzte, erschien ihm wie ein mahnend erhobener Zeigefinger. Was die kleinen Äpfel schafften, sollte ihm doch wohl auch gelingen.
Weiter hinten im Garten entdeckte er einen Schuppen. Rasch schaute er sich nach allen Seiten um, bevor er über den Rasen zu dem hölzernen Verschlag huschte. Er spähte durch die nahezu blinde Fensterscheibe, konnte im Inneren jedoch nichts erkennen. Vorsichtig drückte er die Türklinke, die zu seiner großen Erleichterung keinen Widerstand bot, herunter. Mit einem leisen Quietschen schwang die Tür auf, modriger Geruch schlug ihm entgegen. Charlie trat ein und wartete, bis sich seine Augen an die Lichtverhältnisse gewöhnt hatten.
Gartengeräte hingen an den Wänden, ein Rasenmäher stand in der hinteren Ecke. Links von ihm befand sich eine große Plastiktruhe, die, wie er beim Hochheben des Deckels feststellte, Stuhlauflagen enthielt. In einem Regal zu seiner rechten lagen Handschuhe, Gummistiefel und allerlei andere Dinge.
Charlie schloss die Tür, lehnte sich dagegen und atmete tief durch. Sein Blick wanderte erneut durch den Raum, wobei er eine Regenjacke und eine Weste entdeckte. Beide waren ins unterste Regalfach gestopft. Als er sie hervorzog, breitete sich ein glückliches Grinsen auf seinem Gesicht aus. Offenbar stand ihm eine Nacht bevor, in der er endlich nicht mehr frieren, noch Angst vor Entdeckung haben musste. Für ihn unschätzbar wertvoll.
Der attraktive Mann in der Fußgängerzone war Andreas schon mehrfach aufgefallen, wenn er nach Feierabend zum Bahnhof ging. In den vergangenen Tagen hatte er nur Münzen in dessen Becher geworfen, doch vorhin war ihm das nicht mehr genug gewesen. Fünfzig Euro bedeuteten für ihn keinen großen Verlust, doch für den armen Teufel dürften sie wie ein warmer Regen wirken.
Er stellte sich vor, wie der braune Schein dem Mann ein Lächeln auf die Lippen zauberte. Zu gern hätte er dabei zugesehen, doch gleich nach erfolgter Tat hatte ihn Scheu gepackt. Andreas blieb lieber der anonyme Wohltäter und suhlte sich in seiner Fantasie, anstatt der Realität ins Auge zu blicken. Vielleicht hatte sich der Bettler nicht mal sonderlich gefreut, sondern lediglich überlegt, wieso die Spende nicht noch höher ausgefallen war. Das war ihm schon mal passiert, als er einen Obdachlosen großzügig beschenkte und dafür als Geizkragen beschimpft worden war.
Wie jeden Abend saß Andreas am Küchentisch und wartete darauf, dass die Mikrowelle sein Essen aufwärmte. Sein Blick war in die Ferne gerichtet, wie schon während der ganzen Heimfahrt. In seinem Kopf entstanden erotische Wunschbilder von dem attraktiven Ausländer, heiße Bettszenen und süße Momente. Wahrscheinlich war er einfach schon zu lange allein, weshalb er sich derart in solchen Visionen verlor.
Ein scharfes Pling erinnerte ihn an die Mahlzeit, auf die er plötzlich gar keinen Appetit mehr hatte. Dennoch würgte er die Hälfte des Fertiggerichts herunter, schließlich war er ein vernünftiger Mensch. So vernünftig, dass Olaf ihm dem Laufpass gegeben hatte.
„Ich langweile mich zu Tode“, waren die Worte seines Ex gewesen, bevor dieser mit Sack und Pack ausgezogen war.
Langweilig. Genau das richtige Wort für sein Leben, Aussehen und überhaupt. Andreas fand sich selbst manchmal so fade, dass er kotzen könnte. Nie hatte er gegen seine Eltern rebelliert, sein Abi mit besten Noten hingelegt und das Studium zum Betriebswirt im Turbogang absolviert. Nur sein Outing mit Anfang zwanzig hatte in der Familie für Aufregung gesorgt, doch auch diese Wogen glätteten sich schnell wieder.
Genauso unspektakulär war er seine Jungfräulichkeit losgeworden. Nüchtern, wie er alles anging, hatte er sich im Internet jemanden gesucht, der ihn ins Sexleben einführte. Dabei war seine Wahl auf einen älteren Mann in der Hoffnung gefallen, dass dieser ausreichend Erfahrung für eine schmerzfreie Entjungferung besaß. Tatsächlich war die Sache glimpflich abgelaufen, jedoch auch irgendwie enttäuschend. Sex ohne Gefühle war eben nicht sein Ding.
Auch der Rest seines Lebenslaufes war ähnlich uninteressant. Gleich nach dem Studium hatte er eine Stelle im Controlling eines Konzerns angetreten und arbeitete immer noch dort. Ab und zu traf er sich mit ehemaligen Kommilitonen auf ein Bier, noch seltener ging er in Clubs. Entsprechend öde sah sein Liebesleben aus. Die drei Monate mit Olaf waren die einzige länger währende Beziehung, auf die er zurückblicken konnte. Keine herausragende Bilanz für einen Mann Anfang dreißig.
Seufzend schmiss Andreas den Rest seines Abendessens in den Mülleimer, legte das Besteck in die Spüle und ging ins Wohnzimmer. Sein Blick fiel auf das Notebook. Er war in einigen Chats registriert, verspürte aber nicht den Wunsch, mit irgendwelchen Leuten, die er gar nicht kannte, zu reden. Es ging doch sowieso immer nur um das eine. Manchmal hatte er das Gefühl, die gesamte schwule Community war nur auf Sex aus. Na ja, in Anbetracht seiner Fantasien bezüglich des Bettlers war er auch nicht viel besser.
Er stellte die Glotze an, mehr aus Gewohnheit, als um sich irgendeine Sendung anzusehen. Mit der Fernbedienung in der Hand setzte er sich auf seine Couch und starrte blicklos auf die flimmernde Mattscheibe. Wieder tauchte in seinem Kopf das Gesicht des sexy Südländers auf. Wo kam der Mann her und wieso lebte er auf der Straße? Dem Aussehen nach tippte er auf Italien, Spanien oder einen nördlichen afrikanischen Staat. Als Europäer durfte er hier arbeiten, woraus Andreas schloss, dass es sich um einen Flüchtling handeln musste, sonst würde der Mann wohl kaum betteln gehen. Oder dachte er in Klischees? Vielleicht fand der Kerl einfach keinen Job.
Seine Fragen konnte ihm nur einer beantworten. Andreas war aber leider zu scheu, um den Mann einfach anzusprechen und auf einen Kaffee einzuladen. Er hatte noch nie von sich aus die Initiative ergriffen, mal abgesehen von seinem ersten Mal. Allerdings betrachtete er seine damalige Verabredung mit der Internetbekanntschaft eher als geschäftsmäßiges Treffen, nicht als Date. Schließlich hatten sie lediglich sexuelle Handlungen aneinander vollzogen, um Gefühle war es dabei überhaupt nicht gegangen. Was den sexy Bettler betraf, empfand Andreas Zuneigung und – so sehr er sich dafür auch verachtete – wachsende Verliebtheit. Wie ein dämlicher Teenager hatte er sich tatsächlich in ein hübsches Gesicht vernarrt.
Später, als er im Bett lag, wanderten seine Gedanken wieder zu dem Südländer. Wo der wohl gerade steckte? Die Vorstellung, dass der Mann bei der herrschenden Kälte im Freien schlafen musste, gefiel Andreas gar nicht. Was er dagegen tun sollte, wusste er jedoch auch nicht. Er konnte ja schlecht einen völlig Fremden in sein Haus einladen. Am Ende entpuppte sich der nach außen hin harmlos aussehende Mann als Mörder und Dieb. Nein, das kam keinesfalls infrage.
Am nächsten Morgen saß der Bettler nicht an der gewohnten Stelle. Dieser Umstand bereitete Andreas Sorgen und er malte sich den ganzen Tag allerlei Horrorszenarien aus, was dem Mann geschehen sein konnte. Umso erleichterter war er, als er den Südländer abends in der Fußgängerzone entdeckte. Wie sonst auch, kauerte der Mann auf einem Stück Pappe, vor sich einen Becher, im dem ein paar Münzen lagen. Er machte auf Andreas einen ausgeruhten und weniger traurigen Eindruck, was sein schlechtes Gewissen besänftigte. Rasch stopfte er einen Zwanziger in den Pappbecher und eilte davon, bevor sich der Mann bedanken konnte.
An diesem Abend chattete er ein bisschen im Internet, beflügelt von dem anscheinend besseren Zustand des Bettlers. Leider setzte sich schnell die Erkenntnis durch, in Bezug auf seine bisherigen Erfahrungen Recht zu behalten. ‚Stute08/15‘ bat darum, von ihm bestiegen zu werden und ‚Black-Beauty-Mörderständer‘ pries einen Schwanz an, der den angegebenen Maßen nach mit dem Eifelturm konkurrierte. Andreas konnte sich weder für das eine, noch das andere erwärmen. Ihm war eher nach Verstand und Nähe. Beides hatten die beiden Interessenten wohl kaum zu bieten. Gab es überhaupt einen schwulen Mann, der über seinen Schwanz hinausdachte?
Der folgende Tag brachte eine Überraschung. Wie üblich trat Andreas um halb acht aus dem Haus, schloss sorgfältig ab und wandte sich zum Gehen, als er einen Apfel auf seiner Fußmatte entdeckte. Es handelte sich um ein grünes Exemplar, weshalb es nicht aus seinem Garten stammen konnte. Er hob den Apfel auf, betrachtete ihn von allen Seiten und fand einen Aufkleber: New Zealand. Wie kam das Teil vor seine Tür?
Er steckte den Apfel in seine Manteltasche, verließ das Grundstück und ging nachdenklich zum Bahnhof. Beim besten Willen konnte er sich keinen Reim darauf machen, wie das Obst vor sein Haus gelangt war. Selbst wenn einem Nachbar vor seinem Grundstück eine Einkaufstüte geplatzt war, dürfte sich deren Inhalt wohl kaum bis hin zu seiner Fußmatte verstreut haben. Immerhin waren es einige Meter von der Gartenpforte bis zur Haustür.
Erneut vermisste er den Bettler in der Fußgängerzone. Eigentlich hatte er vorgehabt, den Apfel zu spenden, doch so blieb dieser in seiner Tasche und diente mittags als Nachtisch. Auf dem Nachhauseweg wanderte wieder ein blauer Schein in den Becher, nur war Andreas diesmal nicht schnell genug, oder aber der Bettler hatte bereits auf ihn gewartet. Ihre Blicke trafen sich und für einen Moment blieb die Welt stehen.
„Danke“, sagte der Mann, ein zaghaftes Lächeln auf den Lippen.
„Bitteschön“, erwiderte Andreas automatisch, froh darüber, überhaupt einen Ton rauszukriegen.
Dunkle Augen waren voller Interesse auf ihn gerichtet, jedenfalls bildete er sich das ein. Nun wäre eigentlich der richtige Zeitpunkt gekommen, um eine Einladung auszusprechen, doch er verging, ohne dass Andreas die Chance ergriff. Er war von den nahezu schwarzen Augen wie gebannt und das Herz schlug ihm bis zum Hals. Wahrscheinlich hätte er noch eine Weile wie ein Depp dagestanden, wenn er nicht von einem vorbeieilenden Passanten angerempelt worden wäre. Peinlich berührt wandte er sich um und hastete zum Bahnhof.
In dieser Nacht waren seine erotischen Träume sehr intensiv. Im Mittelpunkt standen Plüschaugen, die ihn verträumt ansahen.
Am nächsten Morgen lag auf seiner Fußmatte eine Rose. Somit stand fest, dass jemand ihm absichtlich kleine Gaben zukommen ließ. Andreas guckte sich aufmerksam nach allen Seiten um, konnte aber niemanden entdecken. Er hob die Blume auf, brachte sie ins Haus und versorgte sie mit Wasser. Sie ließ den Kopf hängen und er machte sich keine großen Hoffnungen, dass sie sich wieder erholen würde. Wegwerfen mochte er sie trotzdem nicht.
Charlie hatte die dritte Nacht, in Gummistiefel, Regenjacke und Weste gekleidet, auf der Plastiktruhe und einer himmlisch weichen Unterlage verbracht. Dafür schuldete er A. Schweitzer – das stand auf dem Klingelschild neben der Haustür – weitaus mehr, als eine Rose oder einen Apfel. Gähnend streckte er seine Arme empor und linste zum Fenster.
Draußen war es noch dunkel. Charlie tastete nach der billigen Plastikuhr, die er vor einiger Zeit auf einem Flohmarkt erstanden hatte. Die Anzeige leuchtete nur noch schwach, aber es reichte aus, um die Uhrzeit zu erkennen. Es war erst acht. Viel zu früh, um sich schon in die Kälte hinauszubegeben. Im Schuppen war es zwar auch nicht wesentlich wärmer, aber zumindest bot dieser Schutz vor dem eisigen Wind.
Er schwang die Beine über den Truhenrand, stand auf und machte ein paar Übungen, um seine Blutzirkulation anzuregen. Anschließend tauschte er die geliehenen Klamotten gegen seine eigenen und schlüpfte in die günstigen Winterstiefel, die er sich von A. Schweitzers Geld gekauft hatte. Wofür das A. wohl stand? Anatol? Abdallah?
Während er zwei Scheiben Brot, zwischen die er ein Stück Käse geklemmt hatte, verspeiste, dachte er sehnsüchtig an ein heißes Getränk. Am liebsten mochte er Tee in allen Varianten. Wenn er doch nur ein kleines Kochgerät besäße. Da es keinen Strom in der Hütte gab, wäre er auf eines mit Gas angewiesen, was ihm zu gefährlich erschien. Der Schuppen bestand aus Holz und er hatte keinesfalls vor, seine Notunterkunft abzufackeln.
Einen winzigen Nachteil hatte sein derzeitiges Schlaflager: Zu Fuß brauchte Charlie über eine Stunde, um in die Innenstadt zu gelangen. Andererseits hielt die Bewegung ihn fit und er hatte schon weitaus längere Strecken zurückgelegt, um einen anständigen Platz zum Übernachten zu finden. Er packte seine Sachen, räumte im Schuppen alles gründlich auf, für den Fall, dass A. Schweitzer einen Blick hineinwarf und schlich ins inzwischen graue Morgenlicht hinaus.
Die Rose, die er am Vorabend auf die Fußmatte gelegt hatte, war verschwunden. Charlie hoffte, dass sie seinem Wohltäter ein wenig Freude bereitete. Nachdem sie sich gestern das erste Mal direkt angesehen hatten, wurde er das Gefühl nicht mehr los, dass A. Schweitzer genau wie er tickte. Es war die Art, wie der Mann ihn anblickte, mit deutlichem sexuellem Appetit. Natürlich konnte er sich täuschen, aber Charlies Radar trog ihn eigentlich nie.
Unterwegs gönnte er sich einen Tee zum Mitnehmen. Eine arge Belastung seines Budgets, doch ohne etwas Heißes zum Trinken war der Tag unerträglich. Als er an einem Secondhandshop vorbeikam, betrat er spontan das Geschäft und fand eine Winterjacke für nur fünf Euro. Er behielt sie gleich an, stopfte seine dünne Jacke in den Rucksack und setzte seinen Weg fort.
Der Himmel hing voller Wolken und ein starker Wind blies in Böen durch die Straßen, daher war Charlie sehr froh über den Spontankauf. Im Hauptbahnhof ergatterte er eine bunte Mütze, die genauso viel wie die Jacke kostete, ihm aber derart gut stand, dass er nicht widerstehen konnte. Auf Höhe der öffentlichen Toiletten überlief ihn ein kalter Schauer. Drei Wochen war es her, dass er hier seinen letzten Kunden bedient hatte. Einen stinkenden Fettsack, der ihm diese Art des Geldverdienens vorläufig gründlich vergällte. Im Moment kam Charlie mit der Bettelei ganz gut zurecht. Jedenfalls brauchte er nicht hungern und dank A. Schweitzers Großzügigkeit, nun auch nicht mehr frieren.
Der Tag zog sich zäh dahin. Charlie fieberte dem Moment entgegen, in dem sein Wohltäter gewöhnlich erschien. Seiner Erfahrung nach war das gegen kurz nach fünf, trotzdem begann er bereits eine halbe Stunde vorher Ausschau zu halten. Während er in die Richtung starrte, aus der A. Schweitzer aufzutauchen pflegte, fielen ihm winzige Federn auf, die vom Himmel herabschwebten. Erst waren es nur wenige, doch es wurden schnell immer mehr. Charlie, dessen Platz geschützt unter einem Dachvorsprung lag, streckte fasziniert eine Hand aus. Das war also dieser Schnee, von dem er schon mal gehört hatte.
Die Kristalle schmolzen rasch in seiner Handfläche, auf dem kalten Boden hingegen blieben sie liegen. Über dieses Naturschauspiel vergaß Charlie A. Schweitzer und zuckte erschrocken zusammen, als dieser plötzlich vor ihm stand. Sein Wohltäter beugte sich vor, steckte ihm einen Zwanziger in den Becher und richtete sich wieder auf.
„Danke.“ Charlie lächelte zu dem Mann hoch.
„Bitte.“
Nein, er hatte sich nicht getäuscht. A. Schweitzer betrachtete ihn hungrig, wie ein Stück Lieblingstorte. Einen Moment hatte er den Eindruck, dass der Mann noch etwas sagen wollte, doch dann wandte sich dieser ab und ging weiter. Enttäuscht sah er dem Davoneilenden hinterher.
Um sechs brach Charlie auf. Es schneite immer noch, nur hatten sich die Daunen inzwischen in große Flocken verwandelt. Wege und Straßen waren von grauem Matsch bedeckt. Einmal mehr war er froh über die Stiefel aus wasserabweisendem Material, ohne die er niemals trockenen Fußes nach Barmbek kommen würde.
Die ganze Strecke über erfreute er sich an den fallenden Schneeflocken. Ab und zu legte er seinen Kopf in den Nacken und sperrte den Mund weit auf, um ein paar Kristalle aufzufangen. Erst als er die Hauptstraße verließ ging ihm auf, dass der Schnee ein Problem mit sich brachte, mit dem er nicht gerechnet hatte. In den kleinen Seitenstraßen bedeckte nicht Matsch, sondern eine weiße Schicht den Asphalt. Deutlich waren Reifenspuren zu erkennen, wo ein Auto entlang gefahren war. Auf dem Bürgersteig sah die Lage ähnlich aus, nur dass vor einigen Gärten die Steinplatten gefegt worden waren.
Je näher er A. Schweitzers Grundstück kam, desto aufgeregter klopfte sein Herz. Wie sollte er in den Schuppen gelangen, ohne irgendwelche Spuren zu hinterlassen? Selbst wenn der Weg bis zum Haus freigeräumt war, blieb immer noch das Stück bis zur Hütte, das es zu überwinden galt.
Vor dem Gartentor stoppte er und fluchte leise. Wie von Zucker übergossen lag der Garten da. Lediglich Fußspuren führten zur Haustür, waren aber schon halb von frischen Schneeflocken zugedeckt. Nun blieb ihm nur die Hoffnung, dass es so lange schneite, bis neues Weiß seine Sohlenabdrücke komplett unter sich begrub.
Vorsichtig schlich Charlie in den vorhandenen Spuren zum Haus und legte die Rose, die er unterwegs gekauft hatte, auf die Fußmatte. Von da aus hielt er sich nahe an der Wand, wo der Dachüberstand einen winzigen Streifen grün vor den Flocken schützte. Schließlich tippelte auf Zehenspitzen quer über den Rasen zum Schuppen. Ein weiterer Schreck ereilte ihn, als er die Tür öffnete und damit ein großes Stück Grasnarbe freilegte. Geschockt starrte er auf das plattgedrückte Grün. Nun konnte ihn wirklich nur noch ein Wunder retten.
Auf die Truhe gekauert, knabberte er an einer trockenen Scheibe Brot. Der Käse war ihm ausgegangen, aber ihm war eh schlecht vor Angst. Mit einem Schluck Wasser spülte er die letzten Krümel herunter, wobei er weiter stumm betete. Damit hatte er gleich nach dem Betreten des Schuppens begonnen. Die Hände zwischen seine Knie geklemmt, starrte er zum Fenster. Ihm war nach Heulen zumute. Wo sollte er denn hin, wenn A. Schweitzer ihn fand und rauswarf? Wobei das wohl noch das kleinere Übel wäre. Viel eher war damit zu rechnen, dass A. Schweitzer ihn an die Polizei auslieferte.
Stocksteif saß Charlie da und zählte die verrinnenden Minuten. Ein paar Mal, wenn er die innere Anspannung nicht mehr ertrug, sprang er auf und trat ans Fenster, um durch die trübe Scheibe nach draußen zu linsen. Im Garten bewegte sich nichts, nur auf der gegenüberliegenden Straßenseite konnte er bei einer dieser Gelegenheiten jemanden beim Schnee schippen sehen.
Eine Stunde verging, ohne dass etwas geschah. Da es weiterhin fleißig schneite, nahm Charlie an, dass er für heute gerettet wäre. Sicherheitshalber wollte er aber noch einen Blick riskieren, bevor er sich bettfertig machte. Vorsichtig schob er die Tür einen Spalt auf und steckte seinen Kopf hindurch. Wie erhofft waren die Spuren nicht mehr zu sehen. Erleichtert zog er die Tür wieder zu und ließ sich auf die Truhe plumpsen. Was er morgen tun sollte, wusste er zwar noch nicht, aber er hatte inzwischen gelernt nur sehr kurzfristig zu planen. Irgendeine Lösung würde sich schon finden.
Er nahm zwei Polster aus der Plastiktruhe, legte sie auf deren Deckel und zog die Gummistiefel aus dem Regal. Gerade hatte er einen seiner Boots ausgezogen, als die Tür aufschwang und ein heller Lichtkegel auf ihn gerichtet wurde. Vor Schock gefror ihm das Blut in den Adern.
„Aaah!“, stieß der Ankömmling hervor, prallte zurück und ließ die Taschenlampe fallen.
Nun erkannte er A. Schweitzer, aber wer hätte es auch sonst sein können? Langsam ließ die Schreckstarre nach, stattdessen breitete sich tiefe Niedergeschlagenheit in ihm aus. Er angelte nach dem Winterstiefel, stieg hinein und wartete mit hängendem Kopf auf seinen Rauswurf.
„Du bist das“, murmelte A. Schweitzer nach einer schier endlosen Weile. Er klang dabei nicht böse, nur überrascht.
„Sorry. Ich wollte Sie nicht verärgern.“ Mittlerweile verstand Charlie ganz gut Deutsch, sprach es aber nur gebrochen, daher benutzte er Englisch.
„Hast du mir die Rosen und den Apfel hingelegt? Ach!“ A. Schweitzer klatschte sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. „Vergiss die Frage. Natürlich kannst nur du es gewesen sein.“
„Wie haben Sie rausgefunden, dass ich hier drin bin?“
„Gar nicht. Ich wollte bloß den Schneeschieber holen.“ Mit der Taschenlampe, die er inzwischen aufgehoben hatte, leuchtete A. Schweitzer die Schuppenwand an.
Charlie erkannte eine Art Riesenschaufel, wie er sie schon bei dem Mann von Gegenüber gesehen hatte. Hilfsbereit stand er auf, nahm sie aus der Halterung und reichte sie A. Schweitzer. Indem er all seinen Mut zusammenkratzte, wagte er zu fragen: „Darf ich noch eine Nacht hierbleiben?“
Abwägend wurde er betrachtet. Charlie versuchte sich vorzustellen, wie andere ihn wahrnahmen. Sah er vertrauenerweckend aus? Als sexy, attraktiv und süß war er schon bezeichnet worden, doch das zählte gerade nicht. Hier kam es auf etwas ganz anderes an, dennoch ertappte er sich dabei, dass er bittende Kulleraugen machte.
„Ich möchte nicht, dass du hier drinnen erfrierst“, antwortete A. Schweitzer endlich.
„Ich erfriere nicht! Ich habe mir von Ihrem Geld eine Jacke und Stiefel gekauft.“
Wieder dauerte es einen Moment, bis A. Schweitzer etwas erwiderte: „Nein, kommt nicht infrage. Ich werde meines Lebens nicht mehr froh, wenn ich morgen deine Leiche finde.“
„Bitte!“ Charlie ließ sich auf die Knie sacken und streckte flehentlich seine gefalteten Hände hoch. „Ich verspreche, dass ich nicht sterbe. Ehrenwort.“
In A. Schweitzers Augen blitzte ein belustigter Funke auf. „Du bist ein ganz Schlauer, was?“
„Hä?“ Er legte den Kopf schief.
„Ich meine, du bist … Ach, das lässt sich schwer erklären. Hilf mir mal den verdammten Schnee wegzuschaufeln, anschließend bringe ich dich zur nächsten Unterkunft für Obdachlose. Wenn ich nur wüsste, wo die ist.“ Die letzten Worte brummelte er, als spräche er zu sich selbst. A. Schweitzer wandte sich ab und stiefelte aufs Haus zu.
Was für eine Unterkunft? Und was war ein Obdachloser? Ratlos schnappte sich Charlie den zweiten Schneeschieber und folgte dem Mann.
Texte: Sissi Kaiserlos
Bildmaterialien: Pixabay Design Caro Sodar
Tag der Veröffentlichung: 14.11.2015
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für alle, die ihre Heimat voller Hoffnung verlassen.