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Anwalts Liebling Band 2

 

Sämtliche Personen, Orte und Begebenheiten sind frei erfunden, Ähnlichkeiten rein zufällig.


Der Inhalt dieses Buches sagt nichts über die sexuelle Orientierung des Covermodels aus.


Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck oder eine andere Verwertung, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung der Autorin.


Ebooks sind nicht übertragbar und dürfen nicht weiterveräußert werden. Bitte respektieren Sie die Arbeit der Autorin und erwerben eine legale Kopie. Danke!


Text: Sissi Kaiserlos


Foto von shutterstock – Design Lars Rogmann


Korrektur: Aschure. Danke!


Kontakt: http://www.bookrix.de/-sissisuchtkaiser/


Anwalts Schätzchen


Ingo bekommt aus heiterem Himmel eine Vorladung. Die Schlägerei im Rostigen Nagel liegt schon einige Wochen zurück, daher hatte er sie bereits verdrängt. Er sucht Rat bei seinem Freund Stephan, einem Anwalt. Leider macht dieser ihm keine großen Hoffnungen, ohne Strafe aus der Sache wieder rauszukommen. Ein Profi muss her und damit kommt Angelo, Kanzleipartner von Stephan, ins Spiel.

~ * ~

 

1.

Ingo leerte seinen Briefkasten, lief die Stufen in den 2ten Stock hoch und schloss die Tür zu seiner Wohnung auf. Die Post landete auf der Garderobe, seine Tasche auf dem Boden. Erstmal raus aus den Klamotten und ab unter die Dusche. Jacke, Sicherheitsstiefel und Latzhose ließ er im Flur, den Rest zog er im Badezimmer aus. Er stank nach Schweiß und sein Gesicht klebte von dem Staub, der allgegenwärtig über der Baustelle hing. Vorsichtig, damit er nicht ausrutschte, stieg er in die alte Emaillewanne.

Das heiße Wasser war eine Wohltat nach einem langen, arbeitsreichen Tag. Ingo seifte sich gründlich ein, verteilte Shampoo in seinem Haar und ärgerte sich mal wieder über den doofen Duschvorhang, der an seinen Beinen klebte. Oft hatte er sich schon vorgenommen, das Ding durch eine gläserne Abtrennung zu ersetzen, aber dabei war es bisher geblieben. Jeder Cent, den er in seine schäbige Bude steckte, war verlorenes Geld.

Noch so ein Reizthema. Seine ganzen Ersparnisse waren für die letzte Reparatur seines alten Autos draufgegangen. Eigentlich konnte er sich die Karre gar nicht leisten. Sein Verdienst war einfach zu gering und die Lebenshaltungskosten zu hoch. Die Aussicht, dass das für den Rest seines Lebens so bleiben würde, war ziemlich niederschmetternd.

Ingo stellte die Brause ab, riss den Duschvorhang beiseite und angelte nach einem Handtuch. Wenigstens ersparte ihm der schwere Job Besuche im Fitnesscenter. Er linste an sich runter und der Anblick söhnte ihn mit seiner Situation etwas aus. Sein Sixpack und die breite Brust konnten sich sehen lassen und das, was zwischen seinen Beinen hing, war der Hammer.

Eigentlich schade, dass sein Schwanz so selten zum Einsatz kam. Ingo trocknete sich ab, stieg aus der Wanne und trat ans Waschbecken. Aus dem Spiegel, der darüber hing, sah ihm ein gewöhnlicher Kerl entgegen. Seine Haare ließ er seit einer Weile wieder wachsen, nachdem er der Glatze überdrüssig geworden war. Er fuhr sich durch die kurzen Strähnen und versuchte ein verführerisches Lächeln. Bedauerlicherweise beherrschte er das nicht sonderlich gut, aber er war sowieso der eher gradlinige Typ. Flirten war eben nicht sein Ding.


In Jogginghose und T-Shirt ging er in die Küche. Am Wochenende hatte er Kohleintopf gekocht, der für die ganze Woche reichen würde. Was Essen anbetraf, war Ingo nicht besonders anspruchsvoll. Es sollte günstig sein, genug Vitamine und Kalorien beinhalten und im besten Fall auch noch gut schmecken. Dank seiner Mutter, der er oft zur Hand gegangen war, konnte er einigermaßen kochen, so dass die Erfüllung seiner Bedingungen kein Problem darstellte.

Während die Mikrowelle seine Mahlzeit erhitzte, sah er die Post durch. Zwischen den ganzen Werbesendungen befand sich ein Benachrichtigungsschreiben, mit dem er aufgefordert wurde, eine Sendung abzuholen. Irritierte drehte er die Karte in seinen Händen und überlegte, um was es sich handeln könnte.

Er warf die Werbeflyer in den Mülleimer. Das Kärtchen brachte er in den Flur, um es auf die Garderobe zu legen. Es gefiel ihm gar nicht, seine nächste Mittagspause für einen Gang zur Post nutzen zu müssen. Hoffentlich zahlte sich das wenigstens, in Form eines Hauptgewinns bei irgendeiner Lotterie, aus. Ingo machte oft bei Preisausschreiben mit und hatte sogar schon mal etwas gewonnen: Ein 21-teiliges Kaffeeservice. Das Zeug konnte er zwar nicht gebrauchen, dennoch war er stolz auf diese Ausbeute und bewahrte sie in einem der Küchenschränke auf. Der Gewinn stellte für ihn eine Art Symbol dar, dass Fortuna ihn nicht vergessen hatte.

Am Tisch in der Küche verspachtelte er das Essen, wobei seine Gedanken zum nächsten Tag wanderten. Morgen stand sein allwöchentlicher Besuch im Dampfross an. Jeden Mittwoch ging er mit Stefan, den er vor einem Jahr in diesem Club kennengelernt hatte, in die Sauna. Was als einmaliger Fick begann, war inzwischen zu einer Freundschaft geworden. Anfangs hatte sich Ingo Hoffnungen gemacht, dass zwischen ihnen mehr entstehen könnte, doch diese wurden schnell zerschlagen. Stephan verliebte sich in einen anderen und im Nachhinein sah Ingo das als glückliche Fügung an, da es zwischen ihnen bestimmt nie gefunkt hätte. Dafür waren sie einander auf kumpelhafter Ebene zu sehr zugetan.

Ingo wünschte sich zwar sehnlich einen festen Partner, aber wenn, dann sollte alles passen. Er wollte die gesamte Palette, vom ersten Verliebt sein bis hin zu tiefem Empfinden. Dafür bedurfte es der richtigen Chemie und genau die hatte bei Stephan und ihm nicht gestimmt, jedenfalls in dieser Hinsicht. Ansonsten waren sie wirklich gute Freunde und auch mit Marc, Stephans Partner, kam Ingo gut aus. Ab und zu unternahmen sie sogar etwas zu dritt, aber am liebsten waren ihm die Saunagänge, an denen Marc, wegen seiner Klaustrophobie und Abneigung gegen Hitze, nicht teilnahm. Es tat gut, unter vier Augen mit seinem Freund plaudern und sein Herz ausschütten zu können.


Am folgenden Tag fuhr er mittags zum Postamt und verbrachte seine Pause damit, in der Schlange am Schalter anzustehen. Leider handelte es sich bei der Sendung nicht um den erhofften Gewinn, sondern um eine Postzustellungsurkunde. Das konnte nichts Gutes bedeuten. Das Schreiben in der Hand, kehrte Ingo zu seinem Wagen zurück und setzte sich hinters Steuer. Einerseits war er neugierig, andererseits fürchtete er den Inhalt des Briefes. Nach kurzer Überlegung entschied er, mit dem Öffnen bis zum Feierabend zu warten.

Beim Fahren verspeiste er sein Sandwich, das er sich morgens liebevoll geschmiert hatte. Natürlich war seine Parklücke zwischenzeitlich von einem anderen Auto besetzt, so dass er eine Weile herumkurven musste, bis er eine neue Stellgelegenheit fand. Im Ganzen hatte ihn somit die Aktion über eine Stunde gekostet, was dreißig Minuten länger arbeiten bedeutete.


Um fünf machte er Feierabend. Während er sich durch den Berufsverkehr quälte, wanderte sein Blick immer wieder zu dem Umschlag, der auf dem Beifahrersitz lag. Schließlich nutzte er eine rote Ampel, um das Kuvert aufzureißen. Mit spitzen Fingern zog er einen gefalteten Bogen heraus, auf dem ihm das Wort ‚Vorladung‘ ins Auge sprang. Ingos Herz nahm vor Schreck einen schnelleren Takt auf. Hastig überflog er die Zeilen, von denen er nur die Hälfte verstand. Ein Hupen ließ ihn aufschauen und die inzwischen grüne Ampel bemerken. Er warf den Briefbogen beiseite, zeigte seinem Hintermann einen Stinkefinger und trat das Gaspedal durch. In diesem Moment wünschte er, unter seinem Hintern befände sich ein PS-Monster, statt seines altersschwachen Fiat-Pandas.

Den Rest seines Heimweges konnte er ohne nennenswerte Stopps zurücklegen. Dank der Überminuten, die er hatte arbeiten müssen, befand er sich heute in Zeitnot. Ingo blieb nur eine halbe Stunde, um seine Klamotten zu wechseln und sich einer Katzenwäsche zu unterziehen, bis er zum Dampfross aufbrechen musste. Unpünktlichkeit war ihm ein Gräuel, daher beeilte er sich und saß um Punkt sechs geschniegelt und gestriegelt wieder im Wagen. Den Brief stopfte er in seine Sporttasche. Stephan war Anwalt und konnte ihm bestimmt das Amtskauderwelsch übersetzen.


„Mein Gott! Was hast du denn angestellt?“ Sein Freund zog die Stirn kraus, sah von dem Schreiben hoch und schüttelte den Kopf. „Körperverletzung?“

Sie saßen in der Lounge im zweiten Stock. Vor ihnen standen zwei Alsterwasser und im Hintergrund erklang leise Soulmusik. Die leichte Ermüdung, die sich nach dem Saunagang eingestellt hatte, schwand angesichts Stephans sorgenvoller Miene.

„Da war diese Schlägerei im Rostigen Nagel. Ich hab sie nicht angefangen, war aber beteiligt“, gab Ingo leise zu.

Rostiger Nagel? Nie gehört.“

„Das ist eine normale Kneipe. Da verkehren alle möglichen Leute, auch ein paar Schwule. Irgendjemand ließ einen homophoben Spruch fallen und plötzlich flogen Fäuste. Irgendwie hat sich das verselbständigt und … Tja. War ganz schön viel los. Hab den Überblick verloren. Am Ende kamen die Bullen und haben alle Personalien aufgenommen.“

„Erinnerst du dich, ob du jemandem besonders viel Schaden zugefügt hast?“

Verlegen malte Ingo mit dem Fingernagel Kreise ins Tischtuch. „Ein Typ hat seine Schneidezähne verloren, ein anderer hatte ein ziemlich dickes Auge.“

„Sag mal …“ Stephan holte tief Luft und beugte sich über den Tisch. „Spinnst du?“

„Was sollte ich denn tun? Die Arschlöcher haben einen Bekannten, der nur die Hälfte von mir ist, angegriffen. Ich musste dem doch helfen.“

„Na klasse! Notwehr fällt also aus.“

„Aber …“ „Nix aber!“, fuhr sein Freund ihm über den Mund. „Du kannst bestenfalls mit einer saftigen Geldstrafe rechnen. Schlimmstenfalls landest du im Knast.“

„Ne? Echt jetzt?“ Ingo sackte immer mehr in sich zusammen.

„Das Leben ist kein Kindergeburtstag. Man schlägt nicht so einfach andere Menschen zusammen und geht hinterher zur Tagesordnung über. Sorry. Werde endlich erwachsen.“ Stephan schnaubte, ließ sich gegen seine Stuhllehne fallen und warf das Schriftstück auf den Tisch. „Du brauchst einen Anwalt.“

„Hilfst du mir?“

„Strafrecht ist nicht mein Spezialgebiet. Falls du dich mal scheiden lassen willst, kann ich dich gern vertreten, aber das hier …“

„Was soll ich denn jetzt tun?“

Sein Gegenüber versank in brütendem Schweigen, die Augenbrauen zusammengezogen und den Blick nach innen gerichtet. Ingos Brust wurde immer enger und das belegte Baguette, das er vorm Betreten des Dampfross verschlungen hatte, drohte den Rückweg durch seine Speiseröhre anzutreten.

„Ich rede mit Angelo“, meldete sich Stephan schließlich zu Wort. „Der ist ein Profi auf diesem Fachgebiet und wird die Sache schon deichseln.“

„Danke“, stieß Ingo erleichtert hervor.

Der Druck in seinem Magen und der Lunge ließ nach. Einmal mehr war er froh, einen so guten Freund zu haben. Ein zaghaftes Lächeln auf den Lippen, prostete er Stephan zu.

„Auf deinen Kollegen.“

„Freu dich nicht zu früh. Angelo mag ein netter Kerl sein, aber was Geld angeht, kennt er kein Pardon. Du solltest vielleicht schon mal einen Kredit aufnehmen.“

Sofort war die Übelkeit wieder da. „Bitte? Gibt’s für Freunde von dir keinen Rabatt?“

„Bleib ganz ruhig. War ein Scherz. Lass mich mit ihm reden, dann sehen wir weiter. Vielleicht passiert ja auch gar nichts. Das ist erstmal eine Anhörung und wenn der Richter dich als unschuldig erachtet, kannst du den Kram zu den Akten legen.“

Das klang doch schon sehr viel besser. Ingo entspannte sich, trank einen Schluck und leckte den Schaum von seiner Oberlippe. Wahrscheinlich machte er sich umsonst Sorgen und konnte nach dem Termin über die Sache nur noch lachen.

„Gut. Lass uns das Thema wechseln. Wie geht’s Marc?“

„Dem geht’s prächtig, nur Waldemar macht uns Sorgen.“ Stephan hob das Alsterwasser an seine Lippen, nippte daran und stellte es wieder ab. „Der Kröterich ist in letzter Zeit hypernervös und rennt herum, als würde er für irgendeinen Marathon trainieren.“

Waldemar war Marcs Wasserschildkröte. Ingo hatte das Tierchen schon mal füttern dürfen und sich auf Anhieb in den süßen Kerl verguckt. Wenn seine Finanzen es zulassen würden, hätte er sich längst auch so ein Haustier besorgt.

„Ist er vielleicht in der Brunftzeit?“

„Eine Schildkröte? Hm. Muss ich nachher mal recherchieren. In Gefangenschaft dürften solche Triebe an sich brachliegen.“

„Das ist ein Widerspruch. Wenn ich im Knast säße, würde ich an nichts anderes mehr denken.“

„Du bist ein Mann. Waldemar ist ein Reptil“, erinnerte Stephan milde.

„Na und? Er ist ein männliches Reptil. Wo sollte da der Unterschied sein?“

„Du meinst also, wir sollten ihm eine Schildkrötin besorgen?“

„Oder eine Attrappe. Die gibt es doch auch für Hunde.“

Sein Gegenüber gluckste. „Langsam wird’s skurril. Waldemar, wie er auf einer Schildkröten-Gummipuppe herumturnt? Wenn wir das filmen, könnten wir damit bestimmt im Internet reichlich Geld verdienen.“

„Man darf ein Haustier nicht prostituieren. Das ist unethisch.“ Ingo machte ein wichtiges Gesicht. „Geht mit Waldemar zu einem Therapeuten. Vielleicht braucht er einfach ein klärendes Gespräch.“

„Das brauchst wohl eher du.“ Stephan tippte sich gegen die Stirn. „Bestimmt hat der arme Kröterich nur Blähungen, oder so ähnlich.“

„Was macht dich eigentlich so sicher, dass Waldemar ein Männchen ist?“

Eine kurze Pause, in der Stephan einen Schluck trank, folgte. „Keine Ahnung. Ich denke, ich werde nachher, wenn ich zu Hause bin, mal gründlich nachgucken.“

„Ach? Und was unterscheidet die Geschlechter?“

„Ich denke mal, es wird der Schwanz sein.“

„Hört, hört“, murmelte Ingo grinsend.


Dank der Unterredung mit Stephan sah er dem Termin nun gelassen entgegen. Im Grunde hatte er gar nichts Unrechtes getan, sondern lediglich Hilfestellung geleistet. Na gut, er war wenig zimperlich vorgegangen, aber Angesichts der Überzahl der Angreifer war das doch nur verständlich. Fünf gegen zwei, wobei Sandro, sein Kumpel, nur als halbe Portion durchging, konnten einen Mann schon nervös machen.

Am nächsten Tag rief er Sandro an, um Stephans Rat, vorläufig dem Rostigen Nagel fernzubleiben, weiterzugeben.

„Hatte eh nicht vor dort jemals wieder hinzugehen. Da verkehren nur Spießer und Arschlöcher.“

„Als wenn das etwas Neues wäre“, spottete Ingo.

„Treffen wir uns Freitag im Lila Leguan? Ich hab am Wochenende frei. Wir könnten richtig auf die Kacke hauen.“ Sandro kicherte albern.

Was sein Kumpel damit meinte, wusste Ingo nur zu genau: Reihenweise Kerle abschleppen und saufen bis zum Umfallen. Beides gehörte nicht zu seinen Vorlieben, aber Sandro dabei zuzusehen, versprach schon Amüsement. Der kleine Kerl entsprach so ziemlich allen Klischees eines typischen Schwulen: Sandro war Friseur, kleidete sich gern schrill und plapperte unentwegt. Sonderbarerweise kam er mit dieser Masche gut an.

„Von mir aus. Um wie viel Uhr?“

„Ist zehn für dich okay?“

„Mhm. Dann also bis Freitag.“ Ingo legte auf.


2.

Als Angelo die Kanzlei betrat, wehte ihm der Duft frisch gebrühten Kaffees entgegen. Aus Konrads Büro hörte er Stimmen. Da er nicht wusste, ob es sich um einen Mandanten handelte, verzichtete er auf ein lautstarkes ‚Guten Morgen‘ und ging in die Kochnische. Mit einem Becher Kaffee verkroch er sich in seinem Zimmer.

Der erste Termin stand erst in einer Stunde an, also hatte er noch genug Zeit, um sich darauf vorzubereiten. Angelo besaß eine schnelle Auffassungsgabe. Meist reichte es aus ein Dokument zu überfliegen, um alle wichtigen Fakten in seinem Kopf zu speichern. Diese Fähigkeit war ihm schon während seiner Schulzeit und des Studiums zugutegekommen. Was andere sich hart erkämpften, war ihm praktisch in den Schoß gefallen.

Einen Nachteil hatte dieses Talent: Er merkte sich auch Sachen, die er lieber vergessen wollte. Dazu gehörte zum Beispiel sein letzter Fick, der ihm vorgeworfen hatte, ein oberflächlicher Lackaffe zu sein. War er das? Angelo nippte an seinem Kaffee und guckte nachdenklich in die Gegend. Er sah sich eigentlich ganz anders, aber wer konnte sich schon selbst einschätzen?

Es klopfte an seiner Tür, die gleich darauf einen Spalt geöffnet wurde. Stephan linste ins Büro.

„Hast du kurz Zeit?“

„Wünsche dir auch einen guten Morgen.“

„Tschuldige. Guten Morgen.“ Sein Kollege lächelte, trat ein und ließ sich auf dem Stuhl vor seinem Schreibtisch nieder. „Du siehst müde aus.“

„Hab schlecht geschlafen.“ Und ewig keinen Sex mehr gehabt, ergänzte Angelo im Geiste. Seit dem dummen Spruch waren zwei Wochen vergangen. Er hatte keine Lust sich erneut so eine dämliche Bemerkung einzufangen und daher die Finger von potentiellen Sexpartnern gelassen. „Sag mal, findest du mich oberflächlich?“

Stephan schwieg eine Spur zu lange, bevor er antwortete: „Du besitzt ein sonniges Gemüt. Manch einer könnte vermuten, dass dahinter eine gewisse Sorglosigkeit steckt.“

Das war sehr diplomatisch formuliert. Angelo seufzte, kippte den Rest seines Kaffees runter und stellte den Becher weg. „Also: Wie kann ich dir helfen?“

„Mein Freund Ingo, vielleicht hab ich schon mal von ihm erzählt …“

„Der, mit dem du immer in die Sauna gehst?“, unterbrach er Stephan.

„Genau. Ingo hat eine Vorladung bekommen. Er war in eine Schlägerei, bei der ein paar Männer zu Schaden gekommen sind, verwickelt.“

„Lass mich raten: Ich soll ihn vertreten?“

„Nicht so schnell. Lass mich doch erst zu Ende erzählen.“ Stephan schlug ein Bein übers andere, faltete die Hände und legte sie auf seinem Knie ab. „Ingo war mit einem Kumpel im Rostigen Nagel …“

„Den Laden kenn ich. Schlimme Kaschemme.“

„Angelo!“

„Was denn?“ Er setzte seinen Unschuldsblick auf.

„Lass. Mich. Ausreden.“

Während Stephan eine knappe Schilderung der Vorfälle gab, spielte Angelo mit seinem Kugelschreiber. Eine dumme Angewohnheit, die ihn jedoch davor bewahrte, dem Kollegen erneut ins Wort zu fallen. Als dieser geendet hatte, schaffte er es einige Sekunden weiter zu schweigen, bevor er herausplatzte: „Besonders helle ist dieser Ingo wohl nicht, oder?“

„Ingo ist Zimmermann und soweit ich das beurteilen kann, versteht er was von seinem Handwerk. Außerdem ist er eine Granate im Bett.“

„Ach?“ Angelo ließ den Kuli fallen. „Gibt es etwas, was ich wissen sollte?“

Stephan lächelte versonnen. „Bevor Marc und ich zusammenkamen, hab ich einmal mit ihm gevögelt. Ich kann nur sagen: Weltklasse. Natürlich nicht so gut wie Marc, aber in dieser Hinsicht bin ich eh verblendet.“

„Bitte, keine Details.“

„Fiele mir nie ein. Apropos: Hast du eine Ahnung, wie sich männliche und weibliche Schildkröten voneinander unterscheiden?“

„Hä?“

„Vergiss es. Ging mir nur gerade durch den Sinn.“

„Kommen wir auf deinen Ingo zurück. Er hat also mindestens zwei Leute demoliert. Selbst wenn es Zeugen dafür gibt, dass zuvor ein diskriminierender Spruch fiel, dürfte das kaum für seine Entlastung reichen.“

„Sehe ich auch so.“

„Hat er selbst Blessuren davongetragen? Oder einen seelischen Schaden? Das könnte helfen.“

„Nein. Ingo besteht aus ungefähr eins neunzig Muskelmasse, außerdem hat er sich, wie soll ich sagen, eine positive Einstellung bewahrt.“

„Also ist er naiv“, schlussfolgerte Angelo.

„Er ist ein durch und durch lieber und anständiger Kerl“, berichtigte Stephan.

„Und warum hast du dann nicht ihn, statt des Bullen genommen?“

„Wo die Liebe hinfällt. Zudem ist Marc genauso gestrickt.“

„Ist mir noch gar nicht aufgefallen.“ Grinsend schnappte sich Angelo seinen Becher, sprang auf und lief zur Tür. „Ich brauche noch einen Kaffee. Deinen Ingo kannst du mir schicken, aber erst, wenn wirklich Gefahr im Verzug ist.“


Den restlichen Tag sinnierte Angelo in jeder freien Minute darüber, wie dieser Ingo wohl aussehen mochte. In seiner Fantasie besaß der Typ eine Schlägerfresse und Hände wie Schaufeln. Das war bestimmt ein falsches Bild, dennoch drängte es sich förmlich auf. Für Ingo sprach, seinem Kumpel zur Seite zu stehen und dafür sogar eine Anklage zu riskieren.

Ein paarmal versuchte sich Angelo in die Situation des Kerls zu versetzen. Das war sein Trick, um ein besseres Gefühl für die Verteidigung eines Mandanten zu erlangen. Ehrlich gesagt hätte er an Ingos Stelle eher das Weite gesucht, anstatt seine Fäuste einzusetzen. Allerdings war er Anwalt, kein Handwerker. Also ein Mann des Geistes. Ups! Da steckte wohl doch ein oberflächlicher Lackaffe in ihm.

Zum Feierabend hin war er so neugierig geworden, dass er in Stephans Büro schlenderte. Ihre Türen standen stets offen, sofern sich kein Mandant in der Kanzlei befand.

Er ließ sich auf den Besucherstuhl fallen, streckte seine Beine aus und schlug die Füße übereinander.

„Sag mal … ich würde deinen Ingo gern mal angucken. Hast du eine Ahnung, wie ich das am besten bewerkstellige, ohne dass er mich sieht?“

Stephan sah von der Akte, die er gerade studiert hatte, hoch. „Wenn du noch einmal ‚dein Ingo‘ sagst, verpass ich dir ein Veilchen.“

„Huch! Da krieg ich aber Angst.“

„Angelo!“

„Entschuldige.“ Er setzte ein versöhnliches Lächeln auf. „Also?“

„Ich hab ihm geraten, den Rostigen Nagel zu meiden. Dort wirst du ihn also nicht antreffen. Du könntest Mittwoch ins Dampfross kommen“, schlug Stephan vor.

„Nö. Lass mal. Sauna ist nicht mein Ding.“

„Dann weiß ich auch nicht.“ Sein Gegenüber senkte den Blick wieder auf die Unterlagen.

„Ruf ihn doch mal an und frage, ob er sich an deinen Ratschlag hält. Vielleicht kannst du so rausbekommen, wo dein … wo dieser Ingo anzutreffen ist. Ich möchte den Weltklasse-Bettsportler echt mal aus der Nähe sehen.“

Mit einem genervten Stöhnen klappte Stephan den Hefter zu. „Kann es sein, dass du sexuell unausgelastet bist?“

„Iwo! Ich will mir nur ein Bild von dem Kerl machen.“ Angelo verschränkte die Arme vor der Brust und setzte eine ernste Miene auf, um seine hehren Absichten zu betonen. Niemand brauchte zu wissen, wie es um sein Liebesleben bestellt war. Nach außen mimte Angelo den Sunnyboy, der nichts anbrennen ließ. In seinem Inneren hingegen sah es ziemlich öde aus. Im Grunde hatte er die Eintagsfliegen so was von satt, vor allem nach dem letzten Arschloch.

„Okay. Ich tu’s für dich, weil du so ein netter Kollege bist.“ Stephans Stimme troff vor Sarkasmus.

„Vergiss es!“, stieß Angelo hervor, zog die Füße heran und wollte schon aufspringen, als sein Kollege einlenkte.

„Nun hör auf zu zicken. Ich ruf ihn gleich an. Okay?“


Wenig später verließ er Stephans Büro. Er wusste nun, dass Ingo am Freitag gegen zehn in den Lila Leguan wollte. Zudem besaß er eine genaue Beschreibung des Mannes, die in etwa mit seiner Vorstellung übereinstimmte. Stephans Geschwafel über Ingos Sensibilität und Herzensgüte hatte er nur noch mit halbem Ohr gelauscht. Für ihn stand fest, dass dieser Ingo ein ziemliches Schlitzohr sein musste. Wahrscheinlich war er gar nicht so unschuldig, wie er Stephan glauben gemacht hatte und spekulierte nun auf eine kostenlose Verteidigung. Den Zahn würde Angelo dem Kerl schon ziehen.


Am nächsten Abend betrat er gegen halb zehn den Lila Leguan. Das Ambiente war annähernd das Gleiche, wie vor einigen Jahren. Die Topfpflanzen waren zwar Plastikblumen gewichen, die Wände frisch gestrichen und ein Teil der Bestuhlung ausgewechselt, aber Musik und Atmosphäre entsprachen noch dem, was er kannte.

Angelo schob seinen Hintern auf einen Barhocker, bestellte ein Pils und musterte die Anwesenden. Unter ihnen entdeckte er ein paar bekannte Gesichter. Schon komisch. Seit Johannes‘ Tod war er nie wieder hier gewesen und das war immerhin fünf Jahre her. Mit einem Mal fühlte er sich in die Vergangenheit zurückversetzt.

Deutlich sah er Johannes‘ schlanke Gestalt auf dem Hocker neben seinem und hörte die vertraute Stimme: „Versprich mir, dass du dir einen neuen Mann suchst und glücklich wirst.“

Zu dem Zeitpunkt war die Krankheit so weit fortgeschritten, dass sein Liebster nur noch aus Haut und Knochen bestand. Johannes‘ haarloser Schädel und die eingefallenen Gesichtszüge ließen ihn wie einen wandelnden Leichnam aussehen. Ungeachtet dessen liebte er diesen Mann, mit dem er zehn Jahre seines Lebens verbracht hatte, keinen Deut weniger. Ihn gehen zu lassen war das Schwerste, was Angelo je tun musste. Johannes starb wenige Wochen darauf, mit einem Lächeln auf den Lippen. Er war von seiner Qual erlöst, während Angelos erst begann. Ihn überkam Traurigkeit, als wäre sein Schatz erst gestern gestorben.

„Macht drei siebzig.“ Der Wirt schob ihm einen Humpen zu. „Oder willst du später zahlen?“

„Später“, entschied Angelo, hob das Glas und leerte es zur Hälfte.

Mühsam verdrängte er die Gedanken an Johannes. Nichts und niemand konnte ihm den Geliebten zurückbringen. Es galt vorwärts zu sehen, aber das, was Johannes von ihm verlangt hatte, würde er niemals tun können. Sein Herz gehörte weiterhin dem Einen, der ihn, nur wegen eines verfickten Tumors, im Stich gelassen hatte.

Angelo stierte in sein Glas und bekam sich nur schwer wieder in den Griff. Er saß nicht hier, um Trübsal zu blasen, sondern um diesen Ingo zu taxieren. Sein Blick wanderte zur Tür und verharrte dort. Jeden Eintretenden musterte er ausführlich und als schließlich ein Testosteronbolide auftauchte, suchend umherguckte und den Tresen ansteuerte, war er sicher, dass Ingo gerade eingetroffen war.

Der Kerl sah genauso aus, wie Stephan ihn beschrieben hatte. Muskelberge wölbten sich unter dem Stoff des Hemdes, während Ingo seine Jacke auszog und über einen Barhocker legte. Die braunen Haare trug er sehr kurz. Ingos Gesichtszüge wirkten weich und die Augen etwas verträumt. Im Ganzen machte er den Eindruck eines riesigen Kuschelbären, der gleich nach einem Glas Honig verlangen würde.

Natürlich tat er das nicht, sondern bestellte eine Cola. Mit dem Getränk in der Hand, drehte er Angelo den Rücken zu. Entweder wollte er den Eingang im Auge behalten oder die Gäste mustern. Angelo trank sein Glas aus, schob es über den Tresen und bedeutete dem Wirt mit einer Geste, dass er ein weiteres Bier wünschte. Eigentlich hatte er nicht geplant sich zu besaufen, aber im Moment war ihm fürchterlich danach. Die Erinnerung an Johannes hatte ihn aufgewühlt.

Sein Blick schweifte zurück zu Ingo, vor dem inzwischen ein kleiner Paradiesvogel aufgetaucht war. Anscheinend handelte es sich um einen Freund, da die beiden vertraut miteinander umgingen. Der aufgestylte Twink redete und gestikulierte wild dazu. Leider saß Angelo zu weit weg, um die Worte verstehen zu können. Leicht angewidert betrachtete er das kleine Glitzermännchen, das so gar nicht seinem Geschmack entsprach. Alles an dem Typ schrie ‚schwul‘, sowohl die Klamotten als auch das affektierte Getue.

War dieser Kerl der Grund für die Schlägerei im Rostigen Nagel? Wundern würde Angelo das nicht. Ein derartig glamouröser Vogel mochte im Lila Leguan unbehelligt verkehren können, doch in einer Heten-Kneipe war Ärger vorprogrammiert.

Der Platz neben Ingo wurde frei. Sofort schwang sich das Kerlchen auf den Hocker und warf einen interessierten Blick in die Runde. Angelo unterdrückte den Impuls sich zu ducken, als

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Sissi Kaiserlos
Bildmaterialien: shutterstock Design Lars Rogmann
Lektorat: Aschure
Tag der Veröffentlichung: 10.10.2015
ISBN: 978-3-7396-2208-8

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