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1.

„Ich kann’s immer noch nicht glauben. Freispruch! Ihr hättet mal sehen sollen, wie feist der Kerl mich angegrinst hat.“ Marc schnaubte empört.

„Vielleicht hat er ja wirklich ein psychisches Problem“, versuchte Colton ihn zu besänftigen.

„Der hat reiche Eltern. Sein Vater ist der Vorstandsvorsitzende von irgendeinem Aktienunternehmen. Was mich am meisten wurmt ist, dass dieser verdammte Anwalt genau wusste, was für ein Früchtchen er verteidigt. Ich hab’s in seinen Augen gesehen.“

Konrad, Coltons neueste Errungenschaft, räusperte sich. „Du hast dem Anwalt in die Augen geguckt?“

„Ja, wieso nicht?“

Coltons Lover zuckte die Achseln, ein feines Lächeln auf den Lippen.

„Hey! Was gibt es da zu grinsen?“ Langsam verfluchte sich Marc dafür, diesem Treffen zugestimmt zu haben. Was er im Moment brauchte war ein Gesprächspartner, der ihm verständnisvoll zuhörte. Ein weiterer Anwalt, der ihn auch noch verspottete, war einfach zu viel für sein strapaziertes Nervenkostüm.

„Beachte ihn einfach nicht“, meinte sein Freund, gab Konrad einen Kuss und beugte sich über den Tisch. „Sah er gut aus?“

„Bitte, wer?“

„Na, der Anwalt.“

„Sag mal, hast du sie noch alle? Ich war heute live dabei, wie der Mistkerl, den ich selbst festgenommen habe, freigesprochen wurde. Was interessiert mich da der verdammte Anwalt?“

„Nun mal ganz von vorne: Was genau ist eigentlich passiert?“

Marc atmete tief durch und versuchte sich zu beruhigen. Der Kellner brachte die bestellten Getränke, was für eine willkommene Gesprächspause sorgte. Eigentlich hatten sie sich getroffen, damit er endlich Konrad kennenlernte. Dass diese Verabredung genau auf den Tag fiel, an dem er vor Gericht erscheinen musste, war Zufall. Er hätte sie nach der Verhandlung am liebsten abgesagt, da er nicht in der Stimmung für Smalltalk war. Andererseits brauchte er jemanden zum Reden, bevorzugt Colton, seinen besten Freund. Auf dessen Partner konnte er allerdings gut verzichten. Im Moment flüsterten die beiden miteinander, was ihm Gelegenheit gab, gedanklich etwas abzuschweifen.

 

Vier Monate war es her, dass er nachts mal wieder Heißhunger auf Schokolade bekommen hatte. Das geschah oft seit er nicht mehr rauchte und vor allem dann, wenn er Sex vermisste. Manchmal ging er bei solchen Anfällen in irgendeinen Club, um sich auf kaloriensparende Weise Befriedigung zu suchen. Leider gehörte er als Mann jenseits der vierzig zu den Auslaufmodellen, womit diese Besuche nicht immer von Erfolg gekrönt waren. Naschereien hingegen waren zuverlässig und zu jeder Tages- und Nachtzeit irgendwo zu erwerben.

Marc entschied sich für die Schokolade. Dafür würde er morgen länger im Fitnesscenter trainieren. Wozu tat er das überhaupt noch? Darüber dachte er nach, während er eine Tankstelle mit großem Lebensmittelsortiment ansteuerte. Im Grunde konnte er sich den Scheiß doch sparen. Sein letzter Partner, Samuel, hatte ihn nicht wegen mangelnder Kondition oder schlaffer Arschbacken, sondern wegen eines reichen Typen verlassen. Selbiger besaß einen Hängebauch und eine Fresse wie Frankenstein. Tja. Geld machte eben sexy.

Wie immer parkte er seinen Wagen am Rand der Tankstelle. Dort, wo man Luftdruck prüfen und Wasser in den Wischiwaschi-Tank nachfüllen konnte. Noch war das Schlaraffenland geöffnet, aber schon bald schlossen dessen Pforten und er wäre gezwungen, dem Kassierer durch ein Mikrophon seine Wünsche zu übermitteln.

Genau das mochte Marc nicht. Wenn er schon auf diese Ersatzbefriedigung zurückgreifen musste, dann bitteschön nach reiflichem Flirt mit derselben. Was hieß: Er guckte jeden Schokoriegel genau an und entschied nach Gefühl, was gerade höchstmöglichen Genuss versprach. Schräg? Ja, das war es. Als Bulle Mitte vierzig, der sich in den aktiven Dienst hatte zurückversetzen lassen, waren ein paar Grillen wohl okay.

Die Schiebetüren glitten lautlos beiseite und ein Mikrokosmus aus Dingen, die jeder Mensch dringend nach Ladenschluss brauchte, tat sich vor ihm auf. Zeitschriften, Getränke, Tiefkühlpizza. Nicht zu vergessen: Zigaretten. Sollte er das Rauchen wieder anfangen? Marc verdrängte diesen Gedanken, ging zu den Regalen, in denen die Produkte namhafter Süßigkeiten-Hersteller auf Käufer warteten und vertiefte sich ins Angebot.

Gerade hatte ein Tütchen schokoummantelter Erdnusskerne seine Aufmerksamkeit errungen, als die Schiebetüren erneut aufglitten. Marc befand sich in der Hocke, um mit dem Objekt seiner Begierde auf Augenhöhe zu sein, daher konnte er den Hereinkommenden nicht sehen. Dieser ihn allerdings auch nicht.

„Her mit der Kohle“, hörte er eine fordernde Stimme.

Marcs Bulleninstinkt sprang sofort an. Männlicher Weißer, jung und hypernervös. Während er das dachte, pirschte er zum Ende des Regals und entdeckte vor dem Kassentresen eine schlanke Gestalt. Dahinter befand sich Kurt, ein Mann in seinem Alter. Der arme Kerl war völlig überfordert. Sie hatten schon oft geplaudert, wenn er seine regelmäßigen Frustkäufe tätigte. Marc sah Kurts ängstlich geweitete Augen. Das akustische Signal, mit dem die Kassenschublade aufging, ertönte.

„Hier rein. Mach schon“, befahl der Dieb und warf eine Plastiktüte auf den Tresen.

Nun konnte er auch die Pistole, die auf Kurt gerichtet war, sehen. Bei dem Ding handelte es sich um kein Spielzeug. Eine waschechte SIG Sauer hielt der unmaskierte Räuber in der Hand. Marc war selbst unbewaffnet und zögerte, doch sein Gerechtigkeitssinn siegte.

Er schlich näher und gelangte direkt hinter das Arschloch. Indem er aufsprang, packte er den Arm des Scheißkerls und riss ihn nach oben. Ein Schuss löste sich. Sie fielen auf den Boden, er zuunterst. Eine schlechte Ausgangslage. Wenigstens hörte er die Waffe über die Fliesen schliddern.

Marc gelang es den Dieb zu überwältigen. Wenig später wurde dieser von seinen Kollegen in Handschellen abgeführt. Kurt, dessen Pumpe die Sache ganz schön mitgenommen hatte, musste ins Krankenhaus und war seither arbeitsunfähig. Das wusste Marc von dem Mann, der aktuell die Nachtschichten in der Tankstelle schob.

 

„Nun erzähl doch mal“, holte Colton ihn in die Gegenwart zurück.

Marc gab eine knappe Schilderung der Abläufe, wobei er natürlich ein paar Details wegließ. Es ging Konrad nichts an, wie es um sein Sexualleben bestellt war.

„Glückwunsch! Das nenn ich mal Zivilcourage.“ Coltons Lover nickte ihm anerkennend zu.

„Ich bin Polizist.“

„Trotzdem war das total mutig von dir.“

Langsam wurde ihm Konrad sympathischer. Etwas ausgesöhnt hob Marc seinen Humpen und stieß mit den beiden an. Das kühle Pils schmeckte und der Alkoholgehalt sorgte für weitere Entspannung.

„Ich hab auch mal einen Mandanten verteidigt, der in meinen Augen schuldig war. Allerdings ging es um Steuerhinterziehung, nicht um Raub.“ Konrad zuckte die Achseln. „Das lässt sich also kaum vergleichen.“

„Was mich am meisten stört ist diese blöde Begründung des Anwalts. Von wegen schwere Kindheit und so.“ Marc seufzte. „Na ja, vielleicht überreagiere ich.“

„Hat er denn gar keine Auflagen bekommen?“, erkundigte sich Colton.

„Doch. Er muss einen Therapeuten aufsuchen.“

„Das ist ungewöhnlich. Immerhin trug der Mann eine Waffe“, meinte Konrad.

„Für mich riecht das nach Schmiergeldern. Am liebsten würde ich diesem schleimigen Anwalt gründlich die Meinung geigen.“ Noch viel lieber würde Marc dem Arschloch die Fresse polieren.

„Leg dich nicht mit dem an. Das kann dir nur schaden.“ Colton zwinkerte ihm grinsend zu und warf einen vielsagenden Blick auf Konrad.

„Werde mich hüten. Es gibt andere Wege.“ Marc hatte schon insgeheim beschlossen, dass er den Anwalt ausspionieren und dabei schon irgendetwas finden würde, womit er dem Winkeladvokaten schaden konnte.

 

Schon am nächsten Tag begann er mit der Recherche. Dank seines beruflichen Zugangs zu Informationen, die einem Normalbürger nicht zur Verfügung standen, fand er schnell Privatadresse und Strafregister des Anwalts. Stephan Berger wohnte im Stadtteil Hoheluft und hatte sich bisher noch nichts zuschulden kommen lassen. Als er später mit seinem Kollegen Yannik in den Streifenwagen stieg war er noch am Grübeln, wie er Berger am besten beschatten konnte. Leider befand sich ihr Revier weitab von Hoheluft, womit kein Grund vorlag dort zu patrouillieren.

„Mann, hab ich Kohldampf. Können wir an der nächsten Pommesbude halten?“ Yannik, der sich gerade anschnallte, warf ihm einen bittenden Blick zu.

„Ich hab auch Hunger. Kenne an der Grindelallee einen guten Dönerladen.“

„Wunderbar. Dann bring uns schnell dahin.“

Yannik Schneider und er waren seit fünf Jahren Partner. Sie kamen gut miteinander aus, vor allem, weil Yannik auch gern mal die Regeln missachtete. Marcs Schwulsein war nie ein Thema gewesen. Sein Partner hatte nur lapidar gemeint, dass jeder nach seiner Fasson glücklich werden sollte. Marc lenkte den Wagen vom Parkplatz und fuhr in Richtung Hoheluft.

„Wie war dein Gerichtstermin gestern?“

„Da stichst du in ein Wespennest“, brummelte Marc. „Dieser verdammte Anwalt hat das Arschloch rausgeboxt.“

„Was?“ Yanniks Kopf fuhr herum.

„Genau. So ging es  mir auch.“

„Bewaffneter Raubüberfall. Unerlaubter Waffenbesitz. Was braucht es denn noch, um so einen Mistkerl festzusetzen?“

„Weniger bestechliche Anwälte.“

„Wie geht’s dir damit?“

„Beschissen.“ Marc seufzte. „Was dagegen, wenn wir unsere Döner vor dem Wohnhaus des Anwalts vernichten?“

„Du willst ihn auskundschaften“, erkannte sein Kollege.

„Bingo.“

„Ich bin dabei.“ Yannik rieb sich die Hände.

Genau das mochte Marc an dem Kerl. Er war loyal und stand treu auf der Seite des Gesetzes. Nichts hasste Yannik mehr, als Ungerechtigkeit.

 

Eine halbe Stunde später setzte Marc den Streifenwagen in eine Parklücke schräg gegenüber von Bergers Adresse. Im Inneren des Dienstfahrzeuges roch es nach Zwiebeln und Knoblauch. Er ließ die Seitenscheibe ein Stück runterfahren, packte seinen Döner aus und guckte rüber zur Haustür. Es war inzwischen halb acht und dämmerte bereits. Die Straßenlaternen gingen eine nach der anderen an. Ohne das Gebäude aus dem Auge zu lassen, verspeiste er gemächlich den Imbiss.

„Wie sieht er denn aus?“, fragte Yannik kauend.

„Männlicher Weißer, schlank, ungefähr eins siebzig, dunkelblonde Locken, wahrscheinlich blaue Augen.“

„Na, dann dürfte er ja nicht zu übersehen sein.“ Sein Partner gluckste, dabei spritzten ihm ein paar Krümel aus dem Mund.

„Hör auf hier rum zu spucken!“

„Tschuldige.“

Sie aßen schweigend weiter. Nachdem sie beide fertig waren, entsorgte Yannik den Müll im nächsten Mülleimer. Während er langsam zum Wagen zurückschlenderte, ging gegenüber die Haustür auf und Berger trat heraus, eine Sporttasche in der Hand. Sofort erwachte in Marc das Jagdfieber. Ungeduldig tippelte er aufs Lenkrad und behielt Berger, der eine Limousine ansteuerte, im Blick. Yannik stieg wieder ein, befestigte den Gurt und rülpste leise. Erneut füllte sich der Innenraum mit scharfem Essensgeruch.

„Oh Mann! Muss das sein?“ Marc ließ die Seitenscheibe ganz runterfahren. „Da drüben ist er.“

„Der Typ, der gerade in den dicken Schlitten steigt?“

„Genau.“

„Dann mal los.“ Sein Kollege wirkte mit einem Schlag wie elektrisiert. Nervös wippte er mit den Füßen und rutschte auf dem Sitz herum.

„Halt still. Ich kann mich sonst nicht konzentrieren.“

Berger fuhr los. Marc startete den Motor und verwünschte das auffällige Fahrzeug. Es blieb nur zu hoffen, dass Berger nicht allzu oft in den Rückspiegel sah. Welcher Autofahrer mochte es schon, wenn ein Polizeiwagen an seiner Stoßstange klebte?

„Kannst du das Fenster zu machen? Ich bekomme sonst Zug“, jammerte Yannik.

„Sobald deine Ausdünstungen weg sind.“

Halblegal überfuhr Marc eine spätgelbe Ampel. Berger bog in die Grindelallee ein, was eine Verfolgung für den Moment leicht machte. Die zweispurige Straße war gut frequentiert, so dass ein Bullenwagen überhaupt nicht auffiel. Sie überquerten die Alster. Drei Wagen befanden sich zwischen ihnen und Bergers Limousine. Yannik reckte den Hals.

„Er will links abbiegen.“

„Hab ich schon gesehen.“ Auch Mark setzte den Blinker und bemerkte erleichtert, dass zwei der vor ihnen fahrenden Autos nach rechts wollten. Somit konnte er weiter aufschließen und dem gleich darauf erneut abbiegendem Berger gut folgen.

„Holla! Nun sag nicht, der Typ will nach St. Georg“, stieß Yannik hervor.

„Wieso nicht? Was ist daran so schlimm?“

„Na, da treiben sich doch viele von deiner Sorte herum.“

Jedem anderen als seinem Kollegen würde Marc einen solchen Spruch übelnehme. Bei Yannik schmunzelte er nur.

„Wenn er dorthin will, hab ich auf jeden Fall etwas, womit ich ihm tüchtig den Arsch aufreißen kann.“

„Du bist scharf auf den Mann?“

„Im übertragenen Sinne, Holzkopf.“

Als sie die Kirchenallee erreichten, bog Berger jedoch nicht nach links, sondern nach rechts ab.

„Schade“, murmelte Yannik und Marc dachte das Gleiche.

Es wäre ja auch wirklich zu schön gewesen, um wahr zu sein. Ein Typ wie Stephan Berger war nie im Leben schwul. Eher traute Marc dem Kerl eine devote Ader zu, die der Anwalt gelegentlich von einer Domina befriedigen ließ. So tickten doch viele Männer, die im Beruf besondere Härte zeigen mussten.

Am Ende der Straße ging’s nach links und wenige Meter weiter erneut. Berger wurde langsamer. Anscheinend suchte er einen Parkplatz. Marc war gezwungen an ihm vorbeizuziehen, schließlich konnte er sich schlecht hinter den dahinkriechenden Wagen hängen. Bei der nächsten Gelegenheit bog er rechts in eine Seitenstraße und hielt am Bordstein. Yannik begriff sofort.

„Ich übernehme.“ Sein Kollege stieg aus, rückte die Mütze zurecht und marschierte davon.

Der Kerl war wirklich nicht in Gold aufzuwiegen. Marc musterte die Umgebung akribisch. Mit den Jahren hatte er es sich angewöhnt, stets auf Details zu achten. Das war ihm schon oft zugutegekommen, wenn es galt, irgendwelche Verbrechen aufzuklären. Ein Gehirn war immer noch kreativer als ein Computer und konnte auch komplexe Zusammenhänge erfassen. Sein Blick fiel auf ein Schild.

Dampfross“, sagte Marc leise, nur für seine Ohren bestimmt.

Von diesem Saunaclub hatte er schon gehört, war aber noch nie dagewesen. Die Vorstellung, in einem kleinen Kabuff zu stecken, war schon beängstigend genug. Wenn darin auch noch Hitze herrschte, hatte das für Marc Alptraumcharakter. Er war mal in einem Fahrstuhl steckengeblieben und erst nach vielen Stunden befreit worden. Das lag lange zurück, dennoch konnte er sich immer noch an das schrecklich beklemmende Gefühl erinnern.

Im Rückspiegel entdeckte er Yannik, der hinter Berger die Straße überquerte. Auf der anderen Seite tat sein Kollege so, als würde er parkende Wagen überprüfen. Eine gute Idee, denn der Anwalt guckte über die Schulter, bevor er den Eingang des Dampfross ansteuerte und hinter dessen Tür verschwand.

„Ich glaub’s nicht.“ Marc begann zu grinsen.

Also war Berger zumindest bi. Natürlich musste er noch im Internet recherchieren, ob in dem Saunaclub gemischte Tage angeboten wurden, um absolut sicher zu sein. Yannik hastete auf den Wagen zu, riss die Tür auf und ließ sich auf den Beifahrersitz fallen.

„Und nun?“

„Nun machen wir Dienst nach Vorschrift.“ Er zwinkerte seinem Partner zu.

„Hey! Ich will aber wissen, wie es weitergeht.“

„Lass mich nachdenken. Es will alles gut geplant sein.“ Marc löste die Handbremse und lenkte das Fahrzeug, nach einem kurzen Blick in den Seitenspiegel, zurück auf die Straße.

2.

 

Stephan fühlte sich regelrecht schmutzig. Trotzdem die Verhandlung einen Tag zurück lag spürte er immer noch Ekel, wenn er an seinen Mandanten dachte. Der Junge gehörte klar hinter Gitter, oder zumindest in Betreuung. Deutlich sah er noch die eiskalten blauen Augen des Kerls vor sich. Auch an das triumphierende Grinsen konnte er sich gut erinnern. Wieso nur hatte er sich mal wieder von seinem Vater in eine derart prekäre Lage zwingen lassen?

Immer ging es nur ums Geld. So lange er denken konnte, waren ihm monetäre Werte eingebläut worden. „Geld regiert die Welt“, war der Leitspruch seines alten Herrn.

Im Prinzip hatte sein Vater recht. Geld öffnete Türen und ermöglichte Dinge, die Stephan sonst bis heute nie getan hätte. Wie zum Beispiel seiner geheimen Leidenschaft zu frönen. Er stand auf Männer, was er sich erst spät eingestanden hatte. Niemand als er selbst wusste davon und natürlich die Kerle, mit denen er es gelegentlich trieb. Dabei nannte er nie seinen echten Namen, sondern benutzte das Pseudonym Steffen Burg, wenn es denn überhaupt zum verbalen Austausch kam.

Während er seine Sporttasche packte, tauchte wieder das Gesicht des Angeklagten vor ihm auf. Schon im ersten Moment, als er den Jungen erblickte, hatte er dessen kriminelles Potential erkannt. Stephan besaß feine Antennen und war für den Beruf eigentlich zu sensibel. Nur seinem Vater zuliebe konnte er den Job überhaupt ausüben. Er arbeitete in der Kanzlei, die seit Generationen von seiner Familie betrieben wurde. Es war also eher ein unabwendbares Erbe, denn Berufung, das ihn bei der Stange hielt.

Stephan zog den Reißverschluss der Tasche zu, warf sie über seine Schulter und ging in den Flur. Er musste dringend raus, den Dreck ausschwitzen und sich vögeln lassen. Am besten von einem groben Kerl, der ihm das Gehirn so gründlich rausfickte, dass er für ein paar Stunden abschalten konnte. Vergessen konnte, einen Straftäter wissentlich am Gesetz vorbei geschmuggelt zu haben. Genau das hatte sein Vater von ihm verlangt und keinen Hehl daraus gemacht, um wie viel Geld es dabei ging. Es handelte sich wirklich um einen Riesenbatzen, was nichts an der Sache änderte, einen Verbrecher vor seiner gerechten Strafe bewahrt zu haben.

 

Stephan stieß die Haustür auf, trat ins Freie und entdeckte gegenüber einen Polizeiwagen. Ein ungewöhnlicher Anblick in der ruhigen Seitenstraße. Wahrscheinlich machten die Bullen nur Pause und aßen Donuts, so wie man es aus einschlägigen Serien im Fernsehen kannte. Er ging zu seinem Wagen, warf die Tasche auf den Beifahrersitz und kletterte hinters Lenkrad. In Gedanken schon im Dampfross, fuhr er los.

Im Radio dudelte gemäßigter Pop Rock. Der Verkehr floss und ermöglichte ein schnelles Vorankommen. Erst als er die Kennedybrücke überquerte, fiel ihm das Polizeifahrzeug drei Wagen hinter ihm auf. Er behielt den Rückspiegel im Auge und überlegte, ob es sich um den Bullenwagen handelte, der vor seiner Tür gestanden hatte. Doch wenn dem so wäre, warum sollten die Beamten ihm folgen? Schließlich war er ein gesetzestreuer Bürger.

Das schlechte Gewissen kochte bei diesem Gedanken erneut hoch. Beinahe wäre er dadurch falsch abgebogen. Stephan fuhr oft in den Goldenen Hirsch und hätte um ein Haar verpasst, nach der Brücke rechts, statt wie gewohnt links abzubiegen. Er zwang sich tief durchzuatmen, worüber die Bullen vorläufig in Vergessenheit gerieten.

Was war schon dabei, ein bisschen das Recht zu verdrehen? Die Beweise hatte nicht er verschwinden lassen, sondern der Vater des Angeklagten und der Richter schien auf der Seite des Beschuldigten zu stehen, was für ein weiteres Eingreifen des mächtigen Erzeugers sprach. Stephan hätte sich die Finger gewaltig verbrannt, wenn er auf dieses Spiel nicht eingegangen wäre. So sehr er sich auch einredete, das einzig Richtige getan zu haben, wollte sein Verstand partout nicht daran glauben.

Er erreichte den Steindamm, in dessen ungefährer Mitte der Saunaclub lag. Stephan verlangsamte das Tempo und hielt nach einer Parkmöglichkeit Ausschau. Seitdem die Straße saniert worden war, bestand eine reelle Chance einen legalen Stellplatz zu finden. Er sah in den Rückspiegel und da waren schon wieder irgendwelche Polizisten hinter seiner Limousine. Der Bullenwagen zog an ihm vorbei. Stephan atmete auf, fand im nächsten Moment eine Lücke und manövrierte seinen Wagen hinein.

Die Tasche über der Schulter, ging er in Richtung Dampfross. Mann-o-Mann! Die Bullen waren heute wirklich sehr präsent. Er passierte einen Beamten, der ein falsch parkendes Fahrzeug mit gerunzelter Stirn betrachtete und gerade einen Block hervorzog. Armer Autobesitzer. Stephan wollte nicht in dessen Haut stecken. Er selbst hatte vorschriftsmäßig einen Parkschein gezogen und hinter der Windschutzscheibe platziert. Nicht Auszudenken, dass sein Doppelleben aufflog, nur weil er unvorsichtig wurde. Leider hatte das eine Konsequenz: Ihm blieben nur zwei Stunden zum Schwitzen und Vögeln, länger durfte er nicht parken.

Er überquerte die Straße, auf deren gegenüberliegender Seite der Saunaclub lag. Bevor er durch die Tür trat, sah er aus purer Gewohnheit noch mal nach links und rechts, sowie über die Schulter. Der Bulle, der eben noch ein Knöllchen verteilt hatte, befand sich nun hinter ihm. Da der Polizeibeamte einen weiteren Falschparker in Augenschein nahm, maß Stephan seinen Beobachtungen keine Bedeutung bei. Bestimmt reagierte er nur überempfindlich.

Hinter dem Tresen des Dampfross stand ein ihm unbekannter junger Mann. Nachdem er den Eintrittspreis verrichtet hatte, bekam er Handtuch und Spindschlüssel ausgehändigt.

„Sie kennen sich aus?“

Stephan nickte.

„Dann viel Spaß und immer schön sauber bleiben.“

Der Spruch kam ihm angesichts der Jugend des Kerls unpassend vor. Bei einem Veteranen wie Bert, der sonst hinter der Theke stand, klang das wie ein Joke, bei dem Jüngling eher nach einer Anzüglichkeit.

Stephan schluckte seine Verärgerung hinunter, begab sich in den Umkleidebereich und legte seine Klamotten ab. Nachdem er sie eingeschlossen hatte, suchte er den Waschraum auf. Es waren nur zwei Duschen von Männern, die ihn beim Eintreten neugierig musterten, besetzt. Keiner der beiden entsprach seinem Typ, weshalb er ihnen freundlich zunickte, sie anschließend aber ignorierte.

Unter dem heißen Wasserstrahl begann seine Haut vor Vorfreude auf die Sauna zu prickeln. Stephan liebte es, wenn die Hitze seinen Verstand träge werden ließ. Das waren, neben schweißtreibendem Sex, die einzigen Momente, in denen er sein trübes Dasein vergessen konnte. Er war Mitte vierzig, nicht geoutet und wurde von seinem Vater am Gängelband geführt. Es gab nichts, worauf er stolz sein konnte. Na ja, doch, etwas gab es: Wenigstens hatte er sich nie in eine Ehe drängen lassen. Oft waren ihm von seinen Eltern potentielle Heiratskandidatinnen vorgestellt worden, die er allesamt ablehnte. Inzwischen herrschte diesbezüglich Ruhe, aber wie lange noch?

In der Sauna war mehr los als unter den Duschen. Stephan suchte sich einen Platz auf einer der oberen Bänke. Dort war die Hitze besonders groß, außerdem konnte er alles gut überblicken. Die meisten Anwesenden saßen oder lagen nackt auf ihren Handtüchern, nur wenige bedeckte ihre Scham, so wie er.

Einerseits fand er es praktisch die körperlichen Attribute genau studieren zu können, bevor er sich einem Mann näherte. Andererseits kam er sich manchmal vor wie bei einer öffentlichen Fleischbeschau. Ein wenig mehr Diskretion würde der Sache eine kribbelnde Note verleihen. Dieses Empfinden war schwer zu beschreiben. Stephan wollte einen Kerl selbst entdecken, ihn auspacken wie ein Geschenk. So dämlich sich das auch anhören mochte, aber wenn zuvor etliche andere dessen Schwanz hatten sehen dürfen, fehlte der besondere Reiz. Als wenn es sich um Gebrauchtware handelte.

Stephan merkte, dass ein breiter Kerl mit ausgeprägten Muskeln ihn interessiert anguckte. Dichte Wolle bedeckte die Brust des Mannes, dafür war sein Schädel blank. Der Typ gehörte zu denen, die ihr Handtuch um die Hüften gewickelt trugen. Etwas, was ihn für den Kerl einnahm, außerdem gefielen ihm die Augen. Sie waren sehr dunkel und von langen Wimpern gerahmt.

Der Platz neben dem Mann wurde frei. Er ergriff die Gelegenheit, um auf die untere Bank zu wechseln. Der Typ roch nach Schweiß und Seife, eine Mischung, die Stephans Sinne reizte. Eigentlich stand er mehr auf schlanke Männer, aber für den angestrebten Zweck dürfte der Kerl genau richtig sein. Er besaß das Flair eines Bauarbeiters, der hart zupacken konnte.

„Hey, ich bin Ingo.“

„Steffen.“

„Ganz schön heiß hier drinnen.“

„Mhm.“ Ein Meister der Anmache war der Typ nicht, was Stephan nur noch mehr für ihn einnahm. Er hasste Aufreißer, die gleich aufs Ziel zu preschten.

„Ich wollte noch einen Aufguss abwarten, bevor ich ins Abkühlbecken springe.“

„Das ist auch mein Plan.“

Ingo grinste ihn an. „Super. Dann können wir vielleicht zusammen ins kalte Wasser.“

„Mal sehen“, gab sich Stephan unschlüssig, obwohl er bereits entschieden hatte.

Sein Sitznachbar hüllte sich in Schweigen. Bei der Hitze war es eh anstrengend zu sprechen, daher war Stephan nicht böse darum. Mittlerweile klebten ihm die Haare am Kopf und salzige Sturzbäche liefen über seine Haut. Er genoss das Gefühl, das Böse auszuschwitzen und die Watte, in die sich sein Gehirn verwandelte. Sämtliche Gedanken erstarben, sogar der an Sex.

Als der Saunameister wenig später hereinkam und die Luft allmählich mit Dampfschwaden geschwängert wurde, kam er sich vor wie in einer anderen Welt. Wie in einem verzauberten Wald, in dem er mit sich im Reinen war. Der Duft von Fichtennadeln verstärkte diese Illusion. Stephan schwelgte in dem Traum, bis sich der Dampf nach und nach auflöste. Sein Körper signalisierte ihm, dass er genug von der Hitze hatte und verlangte dringend nach Abkühlung.

„Kommst du mit?“ Ingo hob fragend die Augenbrauen.

Stephan nickte und folgte dem Mann nach draußen, wobei er sein Handtuch, das ins Rutschen geriet, festhalten musste. Vor der Tür atmete er mehrmals tief durch. Eigentlich vertrug sein Kreislauf einen Saunagang ganz gut, doch heute war ihm etwas schwindelig. Vielleicht war er zu lange drinnen geblieben.

„Du bist ziemlich blass“, merkte Ingo an und legte ihm fürsorglich einen Arm um die Taille. „Willst du dich lieber hinlegen?“

„Geht schon. Lass uns ins Eiswasser springen, dann bin ich wieder wie neu.“

„Wenn du meinst.“

Die wenigen Schritte bis zum Becken hielt Ingo ihn weiter umfangen und löste den Griff erst, als sie dessen Rand erreichten. Stephan zog sich das Handtuch von den Hüften, hängte es auf und sprang ins eiskalte Nass. Kurz blieb ihm die Luft weg. Sein Herz schlug hart gegen seine Rippen und er glaubte ein Zischen zu hören, während die angestaute Hitze aus seinem Körper wich. Ingo, der neben ihm auftauchte, prustete wie ein Walross.

„Boah! Schnell wieder hier raus!“ Behände zog sich der kräftige Kerl am Beckenrand hoch und hielt Stephan anschließend eine Hand hin, um ihn nahezu mühelos aus dem Wasser zu hieven. „Willst du auch was trinken?“

„Mhm. Wasser, bitte.“ Er nutzte die Gelegenheit, um Ingos Gehänge zu checken. Ein beachtliches Gerät baumelte vor einem entsprechend großen Hodensack. Das Ding war genau das, was er heute brauchte. Also: Der Schwanz, die Eier weniger.

„Zufrieden?“ Grinsend wickelte sich Ingo ins Handtuch, wobei er Stephans Mitte ungeniert betrachtete.

„Nicht übel.“

„Lauf nicht weg. Bin gleich wieder da.“ Ingo wandte sich um und eilte in Richtung des Wasserspenders davon.

Auch von hinten war er eine beeindruckende Erscheinung. Muskelstränge akzentuierten den breiten Rücken, die Waden waren sehnig und die Hüften schmal. Stephan schätzte den Mann auf Anfang dreißig. Ingos Gesicht wies keine Fältchen auf und wenn er grinste, erinnerte er an einen Lausbuben. Ohne Frage, der Typ war sympathisch und für einen Fick reichte es aus, für mehr jedoch nicht. Stephan schlug das Handtuch um seine Hüften und schüttelte über sich selbst den Kopf. Als wenn er überhaupt jemanden für mehr suchte. Für ihn stand fest, dass seine schwule Seite für immer im Verborgenen bleiben musste. Sein Vater würde ihn zweifelsohne aus der Kanzlei werfen, wenn er von der Sache Wind bekam.

„Dein Wasser.“ Ingo näherte sich mit zwei Plastikbechern in den Händen.

Stephan trank seinen in durstigen Zügen aus, was Ingo ihm gleichtat. Anschließend gingen sie zusammen zum Spender und füllten die Becher erneut. Ein Paar huschte an ihnen vorbei, um in einem der Rückzugsräume zu verschwinden, ein anderes kam gerade aus einem dieser Zimmer heraus, beide mit einem durchgenommenen Lächeln auf den Lippen. Stephan beobachtete das Treiben, wobei er den zweiten Becher leerte.

„Sag mal …“ Ingo tippte ihm spielerisch gegen die Brust. „Hast du vielleicht Interesse?“ Er sah zu den Räumen.

„Nichts dagegen. Allerdings bevorzuge ich den passiven Part.“

„Damit rennst du bei mir offene Türen ein.“ Ein dreckiges Grinsen auf den Lippen, trank Ingo den letzten Schluck Wasser.

 

Es war nicht Stephans erster Besuch in den Zimmern, die für sündige Dinge oder simples Ausruhen gedacht waren. Seit er das Dampfross aufsuchte, hatte er bereits mehrfach das Vergnügen. Dennoch staunte er immer noch über die Verschiedenartigkeit, in der die Räume gestaltet waren. Das Muster blieb zwar immer gleich, doch allein die Farben reichten, um jedes Mal ein anderes Gefühl zu erzeugen.

Das Zimmer, in das Ingo ihn führte, war komplett in dunklen Rottönen gehalten. Lediglich die weiße Decke und ein paar schwarze Kissen setzten Akzente. Inzwischen war sein Bedürfnis nach einem harten Fick verschwunden. Wahrscheinlich hatte der Saunagang ihn weichgeklopft. Stephan sehnte sich nun vielmehr nach Küssen und gefühlvollem Sex. Also: Nach einem geschickten Akt, statt simpler Durchbumserei. Hatte er dafür den passenden Partner gewählt?

„Küsst du?“ Ingo baute sich vor ihm auf.

Der Mann war locker einen Kopf größer als er. Selbst wenn Stephan verneinte, konnte sich Ingo alles nehmen, wonach ihm gelüstete. Gegen den Riesen hatte er keine Chance, doch irgendetwas sagte ihm, dass er keine Angst haben brauchte.

„Mhm. Aber nur, wenn du gut darin bist.“

„Bin ich“, behauptete Ingo selbstsicher. „Außerdem bin ich ein Meister darin, Männer vor Lust zum Schreien zu bringen.“

„Angeber“, murmelte Stephan und stellte sich auf Zehenspitzen, um seinen Mund anzubieten.

 

Eine Stunde später verließ er mit puddingweichen Beinen den Raum. Ingo hatte ihn nicht nur überzeugt, sondern auch komplett ausgepumpt. Wie erhofft schwieg sein schlechtes Gewissen. Sehr zufrieden und todmüde, trat er wenig später den Heimweg an.

Impressum

Texte: Sissi Kaiserlos
Bildmaterialien: shutterstock Design Lars Rogmann
Lektorat: Aschure
Tag der Veröffentlichung: 26.09.2015

Alle Rechte vorbehalten

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