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Lover mit grauen Schläfen

Lover mit grauen Schläfen



Sämtliche Personen, Orte und Begebenheiten sind frei erfunden, Ähnlichkeiten rein zufällig.



Der Inhalt dieses Buches sagt nichts über die sexuelle Orientierung des Covermodels aus.



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Text: Sissi Kaiserlos



Foto von shutterstock – Design Lars Rogmann



Kontakt: http://www.bookrix.de/-sissisuchtkaiser/



Alte Knacker – jetzt erst recht!


Unerwartet erschien endlich Aytekin zu einem Klassentreffen. Ronald hatte schon nicht mehr damit gerechnet. Dreißig Jahre war es her, seit sie einander zuletzt gesehen hatten. Trotzdem herrschte zwischen ihnen gleich eine Vertrautheit, die ihn dazu brachte, um etwas zu bitten: Tarzan, sein Piepmatz, brauchte eine Urlaubsbetreuung. War das eine gute Idee? Der Sittich war jedenfalls zufrieden.

~ * ~


1.

Beschwingt kehrte Ronald von dem Klassentreffen heim. Alle fünf Jahre fand diese Veranstaltung statt und diesmal war endlich auch Aytekin mit von der Partie gewesen. Bei den Treffen davor hatte er stets durch Abwesenheit geglänzt. Man munkelte, dass seine Gattin ihm das Leben zur Hölle machte, aber das waren bis zu diesem Abend nur Gerüchte gewesen. Inzwischen wusste er, dass ein Körnchen Wahrheit dahinter steckte. Aytekins Frau war vor zwei Jahren gestorben und obwohl sein ehemaliger Schulfreund sehr zurückhaltend war, blitzte doch immer mal wieder ein bisschen Verbitterung auf, wenn er von ihr sprach.

Na ja. Besonders viel hatte Aytekin in großer Runde nicht geredet. Das war normal. Er gehörte schon damals zu den eher schweigsamen Vertretern und daran hatte sich nichts geändert. Dafür laberten die anderen genug, vor allem die Frauen. Irgendwann nach dem Essen hatte Ronald Aytekin von den anderen weggelotst, um ungestört ein paar Worte zu wechseln. An der Bar war es ruhiger als am Tisch. Er fand heraus wo Aytekin wohnte, dass er zwei Söhne hatte und als Gärtner arbeitete. Als er erzählte, dass er im Labor eines bekannten Konzerns tätig war, bekam Aytekin große Augen.

„Du hast studiert?“

„Mhm. Hab sogar promoviert.“

„Alle Achtung. Ich bewundere dich.“

„Wenn ich mich recht entsinne hattest du doch immer gute Noten. Wieso bist du nicht auch an die Uni gegangen?“

Aytekin zuckte die Achseln. „Mascha wurde gleich beim ersten Mal schwanger. Ich musste zusehen, dass ich Geld ranschaffte.“

„Du hättest doch später …“

„Nein!“, stieß Aytekin hervor. „Nein“, sagte er ruhiger. „Mascha hatte so viel mit dem Haushalt und den Kindern zu tun. Sie hätte niemals arbeiten gehen und mich unterstützen können.“

Das ließ Ronald lieber unkommentiert. „Woran ist sie überhaupt gestorben?“

„Ein angeborener Herzfehler. Sie hatte immer damit zu kämpfen.“

„Das tut mir leid.“

Aytekin schwieg einen Moment und nippte an seinem Alsterwasser. „Hast du Familie?“, fragte er schließlich.

„Nein. Nur einen Vogel.“ Ronald lachte. „Aber das weißt du ja.“

Damals hatte ihm Aytekin wegen seiner manchmal merkwürdigen Ideen einen Vogel bescheinigt. Einmal wollte Ronald unbedingt im Winter mit dem Schlauchboot über die halb zugefrorene Alster rutschen. Es wurde beinahe zu einer Katastrophe, da die Plastikhaut des Bootes schon bald ein Loch hatte und sie nur mit Mühe und Not den immer schlapper werdenden Rumpf wieder an Land bringen konnten. Anschließend durften sie sich nicht nur die Schelte ihrer Eltern abholen, sondern auch noch im Krankenhaus die Erfrierungen behandeln lassen. Ein anderes Mal überredete er Aytekin, im nahegelegenen Moor nach Schätzen zu graben. Ronald versank bis zur Hüfte und es war nur seinem Freund zu verdanken, dass er sein Dasein fortan nicht als Moorleiche fristen musste. Aytekin hatte ihn damals aus dem Morast gezogen und sie waren beide von oben bis unten mit schwarzem Schlamm besudelt gewesen. Wieder gab es zu Hause Schimpfe. Er hatte dem armen Kerl wirklich ganz schön oft Ärger eingebrockt.

Anscheinend dachte Aytekin auch gerade an ihre Jugend, denn er lächelte versonnen. „Ich erinnere mich an die Todespiste, die du unbedingt zu zweit auf deinem alten Holzschlitten runterrasen wolltest. Die blöde Gehirnerschütterung durfte ich dann ganz allein auskurieren.“

Ups! Das hatte Ronald gar nicht mehr auf dem Schirm. Zerknirscht verzog er das Gesicht. „Tut mir leid.“

„Schnee von gestern.“ Aytekin machte eine wegwerfende Handbewegung.

Ronald hob sein Glas an die Lippen, trank und musterte dabei seinen einstigen Freund. Gut sah er aus. Silberne Fäden durchwirkten das schwarze Haar, die dunkle Haut war wettergegerbt. Soweit er das beurteilen konnte, war Aytekin immer noch sehr schlank. Fältchen hatten sich in den Winkeln seiner braunen Augen eingenistet.

„Das mit dem Vogel ist übrigens wahr. Ein Wellensittich. Er heißt Tarzan.“

„Was ist mit deinen Eltern?“

Die beiden mochten Aytekin sehr. Oft hatte sein Freund das ganz Wochenende bei ihnen zugebracht, schon um seinen streng muslimischen Eltern zu entkommen. „Beide tot. Mein Vater starb bei einem Verkehrsunfall und meine Mutter bald darauf an gebrochenem Herzen. So meine Diagnose. Offiziell erlitt sie einen Herzstillstand.“

„Wohl die häufigste Todesursache. Tut mir leid. Ich hatte sie sehr gern.“

„Sie dich auch.“

„Es müssen immer die Falschen zuerst gehen.“ Aytekin winkte dem Barkeeper mit seinem inzwischen leeren Glas zu. „Ein Alster, bitte.“

„Ich fahre nächste Woche in Urlaub. Zwei Wochen Amrum.“ Warum Ronald das erzählte wusste er nicht recht. Sicher, er freute sich unbändig auf die Ferien, aber im Grunde führte seine Offenheit nur dazu, dass er sich vielleicht in Lügen verstrickte. Blieb nur zu hoffen, dass Aytekin nicht fragte mit wem er fuhr.

„Da war ich noch nie. Mascha mochte keine Reisen.“

„Wart ihr nie im Urlaub?“

Der Tresenmann schob Aytekin ein neues Getränk zu und nahm dafür das leere Glas mit.

„Nein.“ Aytekin schüttelte den Kopf. „Die Kinder haben wir jedes Jahr ins Zeltlager gesteckt, aber wir … wir blieben daheim.“

„Wegen ihrem Herzfehler?“, riet Ronald.

„Das war die Begründung, ja.“

„Vielleicht ist das unverschämt, aber … ich hab noch niemanden, der sich um Tarzan kümmert. Du wohnst nicht weit weg. Würde es dir etwas ausmachen nach dem Vögelchen zu sehen? Er ist auch total brav.“ Dieser Gedanke war Ronald urplötzlich gekommen. Der Wellensittich lebte seit fünf Jahren bei ihm und machte immer einen Mordsaufstand, wenn er entweder von seinem Herrchen, oder der gewohnten Umgebung getrennt wurde. Den letzten Urlaub, vor einem Jahr zwei Wochen Malediven mit Patrick, hatte er in einer Tierpension zugebracht und sich nahezu alle Federn ausgerissen. Bis der Nacktvogel wieder einem Sittich glich, musste Ronald das Tier total verhätscheln. Jeden Abend zwei Stunden schmusen und teure Vitaminpräparate. Eigentlich wollte er ihn nach Amrum mitnehmen, aber Marlon hasste den Vogel. Das beruhte auch noch auf Gegenseitigkeit.

„Kein Problem. Kann ich ihn nicht einfach mit in meine Wohnung nehmen? Das erspart mir den Weg.“ Aytekin trank einen Schluck Alsterwasser und sah ihn übers Glas hinweg an.

Ronald erklärte das Dilemma, wobei er weder Marlon noch Patrick erwähnte und zudem behauptete, dass Tiere in der Ferienwohnung nicht erlaubt waren.

„Eine Diva also.“ Verständig nickte Aytekin. „Ach nein, es ist ja ein Männchen.“

„Diven gibt’s auch unter Männern.“ So wie Marlon, der lange mit ihm über das Urlaubsziel diskutiert hatte. Ihm war Amrum nicht mondän genug. Er wollte, wenn schon Nordsee, dann nach Sylt. Das wiederum gefiel Ronald nicht. Am Ende wurden sie sich einig unter der Bedingung, dass er den ganzen Urlaub zahlte.

„Also, mir macht’s nichts aus, dein Vögelchen …“ Aytekin stellte das Glas ab, gluckste und machte Anführungszeichen in der Luft bei der Anspielung auf Ronalds Grillen. „… zu pflegen.“

„Wunderbar. Ich bin dir total dankbar. Wir sollten in Zukunft öfter ein Bierchen zusammen zischen. Hab dich echt vermisst.“

Gleich nach dem Abitur hatte es Ronald nach Berlin verschlagen. An der dortigen Universität studierte er Chemie und da seine Eltern ihn finanziell nicht unterstützen konnten, musste er nebenher jobben. Außerdem lebte er das erste Mal seine Homosexualität vollständig aus. Bis dahin verleugnet, brach sie mit Macht hervor und die unzähligen Möglichkeiten der Stadt faszinierten ihn. Er vögelte sich durch die halbe schwule Gemeinde und im Nachhinein betrachtete er es als ein Wunder, dass er sich den Scheiß-Virus nicht eingefangen hatte. All das führte dazu, dass er die Regelstudienzeit überschritt und erst nach sechs Jahren den Abschluss machte. Dann noch die Dissertation. Vier weitere Jahre, sowie Schweiß und Tränen hatte sie gekostet. Erst nach dieser langen Zeit kehrte er nach Hamburg zurück und nahm Kontakt zu den alten Bekannten auf. Als er hörte, dass Aytekin inzwischen verheiratet war, ließ er ihn lieber in Ruhe. Irgendwie gefiel ihm der Gedanke nicht, einen biederen Ehemann statt des alten Freundes anzutreffen.

„Würde mich freuen. Die Kinder sind aus dem Haus und um meine sozialen Kontakte ist es nicht gerade gut bestellt. Manchmal fühle ich mich, als wenn ich nur auf den Tod warte.“ Aytekin seufzte. „Tschuldige. Ich werde sentimental.“

„Was sondert ihr euch so lange ab?“, meldete in diesem Moment Anja hinter ihnen an und schlang einen Arm um Ronalds, einen um Aytekins Schultern. „Kommt zurück an den Tisch.“


Tja, damit war das Gespräch beendet. Zumindest das mit Aytekin. Der hüllte sich für den Rest des Abends in Schweigen. Gerade hatte Ronald ihn zu Hause abgesetzt, lag ja auf dem Weg und nun freute er sich aufs Bett. Mitternacht war seit einer halben Stunde vorbei. Wie immer stellte er seinen Anrufbeantworter an und hörte ihn, während er sich auszog, ab. Der erste Anrufer legte gleich wieder auf, dann erklang Marlons Stimme.

„Hallo. Hab nachgedacht. Nimm’s mir nicht übel, aber wir sollten Schluss machen. Zu wenig Gemeinsamkeiten. Wünsch dir alles Gute. Tschüss.“

Ronald erstarrte in der Bewegung. Es war nicht so, dass Marlons kühle Absage ihn richtig traf, dafür hatte er schon lange damit gerechnet. Schließlich war er fünfzig und damit zweiundzwanzig Jahre älter als sein Lover. Ihm war von Anfang an klar gewesen, dass er irgendwann gegen einen Jüngeren ausgetauscht werden würde.

Was nun? Sollte er den Urlaub ausfallen lassen? Das wäre schade, da er ohnehin den vollen Preis für die Unterkunft entrichten musste. Für ein Storno war es zu spät. Ronald ging ins Bett und verschob die Entscheidung auf den nächsten Tag.


Den Sonntag verbrachte er im Garten. Es gab immer irgendetwas zu tun, dabei musste er ab und zu an Aytekin denken. Wie es dem wohl gerade ging? Am Vorabend hatte Ronald nur einen kurzen Blick auf die Wohnanlage geworfen, in der Aytekin lebte. Ein Neubau bar jeglichen Schmucks. Er dachte an Aytekins Worte bezüglich seines Lebens. So schlimm konnte es nun auch wieder nicht sein, schließlich hatte er zwei Söhne.

Abends ließ er Tarzan aus dem Käfig. Der Sittich liebte es in der Küche herumzufliegen und ein bisschen an den Kräutern, die neben seiner Behausung auf der Fensterbank standen, herumzuknabbern. Inzwischen hatte Ronald beschlossen, dass er allein nach Amrum fahren würde. Auf die Schnelle Ersatz für Marlon zu beschaffen war ein Ding der Unmöglichkeit. Kurz hatte er an Aytekin gedacht, das aber gleich wieder verworfen. Neben seinem Hetero-Freund zu liegen und nicht mal selbst Hand anlegen zu können war kein Urlaub, sondern Folter. Dann lieber allein und dafür frei zu tun und lassen, was er wollte.


Mitte der Woche rief Aytekin an, sie hatten vor dem Abschied Adressen und Telefonnummern ausgetauscht, und fragte, ob er Tarzan kennenlernen dürfte. Ronald war noch unschlüssig, ob er den Vogel mitnehmen sollte. Im Grunde stand dem nichts mehr im Wege, andererseits wär er froh, wenn er den Käfig nicht schleppen bräuchte. Den Wagen wollte Ronald nämlich auf Nordstrand stehenlassen. Sie verabredeten sich für den folgenden Abend.


Aytekin erschien um sieben. „Ganz schöne Prachthütte“, meinte er grinsend.

„Willkommen in meinem Palast.“ Ronald machte eine einladende Handbewegung. „Tretet ein, mein Herr.“

Er führte Aytekin in die Küche. „Tarzan? Darf ich dir Aytekin vorstellen? Er wird für zwei Wochen auf dich aufpassen.“

Der Sittich tschilpte, trippelte auf seiner Stange hin und her und legte das Köpfchen schief.

„Hübscher Vogel.“ Aytekin ging in die Hocke und steckte einen Finger zwischen die Gitterstäbe. Tarzan beäugte die Kuppe und knabberte ein bisschen am Fingernagel. Ein Zeichen, dass er mit seinem Pfleger einverstanden war.

„Das Futter stelle ich auf den Tisch. Wasser bitte jeden Tag wechseln. Der Käfig braucht nur einmal die Woche gereinigt werden. Tarzan darf täglich zwei Stunden frei herumfliegen. Meist geht er von allein wieder in den Käfig, wenn er genug hat“, erklärte Ronald.

„Und wenn ich es nicht schaffe ihn zurück in den Käfig zu locken?“

„Dann lass ihn draußen. Hauptsache, du schließt ihn in diesem Fall in der Küche ein, sonst kackt er hier alles voll.“

„Okay. Das dürfte ich hinbekommen.“

Ronald zeigte seinem Freund den Rest des Hauses, bis auf das Schlafzimmer. Das ging ihn nun wirklich nichts an. „Ach ja. Du brauchst dich nicht um das Abdecken des Käfigs kümmern. Ich werde den Rollladen am Küchenfenster so programmieren, dass er zu den entsprechenden Zeiten hoch- und runterfährt.“

„Das ist Klasse. Hab schon überlegt wie ich das hinbekommen soll.“

„Trinken wir noch ein Bierchen auf der Terrasse?“ Draußen war es zwar nicht besonders warm, aber der Platz lag wunderbar geschützt und war überdacht.

Aus dem einen Bier wurden drei, während sie über alte Zeiten plauderten. Ronald fühlte sich sauwohl in Aytekins Gesellschaft. Es war, als würden die vielen Jahre, die sie einander nicht gesehen hatten, auf einen winzigen Zeitraum schmelzen. Mehr als einmal brachen sie beide in Gelächter aus, wenn sie sich gegenseitig an irgendwelche Vorkommnisse erinnerten. Als Aytekin gegen zehn ging gab Ronald ihm einen Haustürschlüssel mit.

„Fühl dich hier wie zu Hause. Bediene dich an den Vorräten, wenn du magst. Ich werde noch für reichlich Getränke sorgen.“

„Schönen Urlaub. Wann fährst du morgen los?“ Aytekin steckte den Schlüssel in die Hosentasche.

„Morgen Mittag. Wir sehen uns dann in zwei Wochen wieder.“ Er sah Aytekin hinterher, als der sich aufs Fahrrad schwang und davonfuhr. Geiler Hintern, dachte Ronald und schämte sich im nächsten Moment. Es war nicht okay so über Aytekin zu denken.


Der Freitag begann mit Nieselregen. Ronalds Laune sank immer mehr, je dunkler der Himmel wurde. Er hoffte, dass es an der Nordsee besser werden würde, aber das Gegenteil war der Fall. Als er den Wagen auf Nordstrand abstellte und ausstieg, erfasste ihn eine kalte Böe. Das Meer war aufgewühlt, darüber hingen dicke Wolken.

Wenigstens erwies sich die Ferienwohnung als Glücksgriff. Sie war modern eingerichtet, genau wie auf den Beispielbildern im Internet und besaß einen großen Süd-West-Balkon. Ronald packte seine Sachen aus, zog eine Regenjacke an und unternahm einen Rundgang durch Wittdün. Sein letzter Besuch auf Amrum lag einige Jahre zurück. Es hatte sich vieles verändert. In einem Restaurant aß er zu Abend und kehrte anschließend in die Wohnung zurück, um es sich mit einem Buch auf der Couch gemütlich zu machen.

Das Wetter meinte es gar nicht gut mit Ronald. In den folgenden Tagen wechselten sich kurze Sonnenphasen mit Regen ab. Er wünschte, er hätte wenigstens Tarzan als Gesellschaft dabei. Oder Aytekin. Wichsen konnte er genauso gut unter der Dusche.

Nach einer Woche hatte er die Schnauze gestrichen voll. Kurzerhand packte er seine Sachen, um zu Hause auf besseres Wetter zu warten. Das Wochenende wollte er daheim verbringen und ein paar Leute treffen, sonst wurde er noch zum Einsiedler.

Um vier ging er an Bord der Adler-Express und erreichte um sechs Nordstrand. Dank einiger Baustellen auf der Autobahn brauchte er fast drei Stunden, bis er sein Haus erreichte. In der Küche brannte Licht. Entweder hatte Aytekin vergessen es auszumachen, oder er war noch da. Ronald holte sein Gepäck aus dem Kofferraum, steuerte die Haustür an und schloss sie auf.

„Aytekin? Nicht erschrecken. Ich bin’s nur“, rief er und stellte den Trolley ab.

„Ronald?“ Aytekin erschien im Türrahmen des Wohnzimmers, zugleich tschilpte Tarzan und flatterte in den Flur.

„Das Wetter hat mich zurückgetrieben.“ Ronald streckte die Hand aus, aber der Sittich ignorierte sie und landete auf der Garderobe. „War Tarzan artig?“

Aytekin nickte.

„Bleibst du noch auf ein Bier?“

Er nickte erneut.

„Wunderbar. Hab seit einer Woche kaum gesprochen. War kurz davor mit mir selbst zu reden.“ Ronald ging in die Küche, nahm zwei Flaschen aus dem Kühlschrank und entfernte die Kronkorken. Als er das Wohnzimmer betrat fiel sein Blick auf den Couchtisch und er erstarrte zur Salzsäule. Einige Hefte aus seiner Pornosammlung lagen dort. Wie hatte er die nur vergessen können? Sie lagerten normalerweise in dem Fach unter dem Tisch.

„Tut mir leid. Ich hatte Langeweile und hab was zum Lesen gesucht. Tja.“ Aytekin hockte vornübergebeugt auf der Couch, die Hände gefaltet.

„Mein Fehler. Ich hätte sie woanders hinlegen sollen.“

„Warst du schon immer …?“ Aytekin wies mit dem Kinn auf die Magazine.

„Ja.“ Ronald stellte das Bier auf den Tisch und ließ sich in einen Sessel plumpsen.

„Nun verstehe ich auch, wieso du nie was mit Mädchen am Laufen hattest.“

Er hatte damals noch nicht einmal was mit Jungs am Laufen. Was das anging war Ronald ein Spätzünder. Dafür hatte er es später richtig krachen lassen. „Ich hatte mein Coming out in Berlin.“

„Ich hab Mascha betrogen. Als sie es rausfand ist sie zusammengebrochen.“

Wie passte das gerade zum Thema? Ronald runzelte die Stirn, griff nach seinem Bier und trank einen Schluck.

„Obwohl zu dem Zeitpunkt im Bett schon lange nichts mehr lief. Sie hat mir gedroht, dass sie mir das Leben zur Hölle macht, wenn ich es wieder tue.“ Aytekin seufzte und sah hoch. „Ich musste die Affäre mit Jens beenden.“

Moment! Das war doch ein Männername. Oder?

„Guck nicht so. Ja, ich bin bi.“

„Ich fass es nicht.“

„Mann, was für ein Klischee. Die guten Freunde, die irgendwann rausfinden, dass sie beide Männer mögen.“

Ronald musste auf den Schock die halbe Flasche leeren. „Nun sag bloß, du warst damals in mich verknallt?“

Aytekin lief tomatenrot an und senkte die Wimpern.

„Das ist jetzt wirklich des Guten zu viel.“ Er gluckste. „Wann war das mit deiner Affäre?“

„Die Jungs waren noch klein. Muss vor 20 Jahren gewesen sein.“

„Und seitdem warst du deiner Frau treu, obwohl ihr keinen Sex mehr hattet?“

Nach kurzem Zögern gab Aytekin zu: „Nein. Ich hab jede Gelegenheit genutzt. Viele waren das nicht.“

„Aber jetzt kannst du doch tun und lassen was du willst.“

„Na klasse! Wer will denn einen alten Knacker wie mich?“ Das klang verbittert.

„Wieso? Du siehst doch gut aus.“

„Rede nicht solchen Mist.“ Aytekin raffte die Magazine zusammen und stopfte sie unter den Tisch. Anschließend griff er nach seinem Bier und setzte es an die Lippen.

Ronald kam eine Idee, wie er seinen Freund aufmuntern konnte. „Vor Amrum gibt’s ein nettes Schlickloch. Hättest du Lust mit mir dort nach Schätzen zu graben?“

Aytekin zeigte ihm einen Vogel. „Vergiss es.“

„Och, komm schon. Wir könnten im Regen Spazierengehen.“

„Sehr verlockend.“

„Oder uns gegenseitig im nassen Sand eingraben.“

„Wird ja immer besser.“ Trotz seines mürrischen Tonfalls lächelte Aytekin.

„Im Ernst: Kannst du kurzfristig Urlaub nehmen? Wir packen Tarzan ein und fahren morgen nach Amrum. Bezahlt ist die Bude ja und zu zweit ist es auch bei Scheißwetter dort auszuhalten. Jetzt, wo du Bescheid weißt, kann ich dir auch sagen, dass das mit dem Haustierverbot gelogen war. Marlon, mein Ex, mochte Tarzan nicht, deshalb wollte ich ihn hierlassen.“

„Du willst mich echt mitnehmen?“ Aytekin begann zu strahlen. „Mein Chef würde sich freuen, wenn ich frei nehme. Ist gerade nicht besonders viel zu tun.“


2.

Es war ein ziemlicher Schock gewesen, als Aytekin vor einigen Tagen auf der Suche nach Lesefutter die Pornos fand. Erst dachte er sich alle möglichen Begründungen aus, warum Ronald solche Magazine hortete. Vielleicht schrieb er an einer Dissertation über Homosexualität oder hatte sie nur aus Neugier gekauft. Es konnte auch sein, dass einer seiner Freunde sie aus Jux dort hingelegt hatte, um ihn zu ärgern. Schlussendlich gab Aytekin diese Erklärungsversuche auf. Es konnte nur einen Grund dafür geben, weshalb sich ein Mann mit schwulen Pornos eindeckte.

„Ich kann ihn erst morgen anrufen, dann ist er im Laden.“ Aytekins Chef unterhielt neben der Gärtnerei einen Blumenladen. Im Winter verrichtete Aytekin dort seinen Dienst, während er im Sommer umherfuhr und private Gärten pflegte.

„Auf unseren ersten gemeinsamen Urlaub trinken wir nun aber was Hochprozentiges.“ Ronald sprang auf, verschwand in Richtung Küche und kehrte mit einer Flasche Brandy zurück. Nachdem er aus einer Vitrine zwei Schwenker besorgt hatte, schenkte er großzügig ein und reichte ihm ein Glas. „Auf unsere Freundschaft.“


Zwei Stunden später lag Aytekin in seinem Bett und grinste zur Decke hoch. Er fuhr mit Ronald nach Amrum. Es hatte ihn nie sonderlich in die weite Ferne gezogen. Ihn reizte eher Europa und er würde nur zu gern mal nach Rom. Oder nach Paris. Mit der Schulklasse war er damals nach Wien gefahren, sein bisher weitester Trip.

Ihm war schon klar, dass die Sache mit Ronald wohl eine Ausnahme bleiben würde. Im Grunde war er nur der Lückenfüller für diesen Marlon, der kurzfristig abgesagt hatte. Das nagte schon ein bisschen an seinem Selbstwertgefühl, aber letztendlich zählte das Ergebnis.

Am nächsten Morgen wachte er erholt und gut gelaunt auf. Nach dem Frühstück machte er sich voller Elan daran die größte Tasche, die er finden konnte, zu packen. Aytekin besaß leider keinen Koffer, aber da Ronald ihn abholte machte das nichts. Gestern hatten sie im Internet die Fährüberfahrt fürs Kfz gebucht. Tarzan würde dabei sein, daher erschien das sinnvoll, außerdem hatten sie so den Wagen auf der Insel zur Verfügung.

Wie erwartet gab sein Chef grünes Licht und wünschte ihm eine gute Reise. Aytekin arbeitete seit zwanzig Jahren für ihn und sie verstanden sich gut. Nun stand einem schönen Urlaub nichts mehr im Wege, zudem versprach das Wetter gut zu werden. In der Nacht hatten sich die Wolken verzogen, stattdessen strahlte die Sonne vom Himmel. Mit einem Becher Kaffee in der Hand setzte sich Aytekin auf den Balkon und ließ die Gedanken schweifen.

Nachdem Mascha überraschend gestorben war, hatte er das erste Mal Einblick in ihre Konten bekommen. Davor hielt seine Gattin diese unter Verschluss und teilte ihm lediglich ein Taschengeld zu. Als die Kinder klein waren mit der Begründung, dass sie eisern sparen mussten. Später wurde daraus Gewohnheit und da Aytekin stets den Weg des geringsten Widerstandes ging, muckte er nicht auf. Jedenfalls stellte sich heraus, dass Mascha ein kleines Vermögen angehäuft hatte. Aytekin wusste gar nicht, was er mit dem ganzen Geld anfangen sollte, darum lag es immer noch auf dem Konto. Nun wollte er einen größeren Betrag abheben und Ronald die Woche über freihalten. Ihm schwebten tägliche Restaurantbesuche vor und vielleicht durfte er Ronald etwas kaufen. Ein Andenken, oder so. Natürlich wollte er auch die Einkäufe bezahlen.

War Ronald eigentlich ein Top? Auf ihn wirkte er so, aber das konnte täuschen. So viel Erfahrung besaß Aytekin zumindest. Die Vorstellung, dass Ronald nackt hinter einem Mann kniete und ihn fickte war erregend. Zugegebenermaßen hatte sich Aytekin auf dieses Kopfkino hin in den vergangenen Tagen mehrfach einen runtergeholt. Auch jetzt meldete sich sein Schwanz. Er sah auf die Uhr. Die Zeit reichte noch aus, um für Erleichterung zu sorgen.

Eine halbe Stunde später saß er neben Ronald im Wagen. Auf der Rückbank tschilpte Tarzan munter vor sich hin. Aytekin hatte das Vögelchen liebgewonnen und guckte immer mal wieder nach hinten, um sich zu vergewissern, dass es dem Tierchen gutging.

„Keine Sorge. Tarzan fährt gern Auto.“ Ronald lachte.

„Woran erkennst du das?“

„Er krakeelt nicht herum, also ist das der Umkehrschluss.“

„Okay. Klingt plausibel.“ Aytekin sah zum Fenster raus. Er besaß zwar kein Auto, fuhr aber unter der Woche mit dem Firmenwagen herum und kannte sich daher gut in Hamburg aus. Anscheinend wollte Ronald die Auffahrt Quickborn auf die A7 nutzen, da sie gerade durch Norderstedt fuhren.

„Erzählst du mir was über deine Söhne?“

„Hm? Ja, gern. Hassan ist dreißig und verheiratet. Ich werde bald Großvater. Seine Frau ist im vierten Monat. Veysel ist achtundzwanzig und hat eine Freundin. Er arbeitet bei einer Werbeagentur und jettet viel durch die Weltgeschichte. Beide sind prächtige Jungs.“

„Opa Ayti.“ Ronald gluckste und streifte ihn mit einem Seitenblick.

Der alte Spitzname fühlte sich ungewohnt an. Damals hatte er Ronald Ronny genannt, doch das wirkte in Anbetracht ihres Alters nun albern. „Ich freu mich darauf. Meine Kinder waren immer der Lichtblick in meinem Leben.“

Sofort wurde Ronald ernst. „Tschuldige. Während du Verantwortung getragen hast, hab ich mich durch halb Berlin gevögelt. Es ist nicht fair von mir dich zu verspotten.“

„Nun werd‘ mal nicht komisch. Du musst mich nicht mit Samthandschuhen anfassen.“

Eine Weile war nur Tarzans Getschilpe und die leise Musik aus dem Radio zu hören. Schließlich seufzte Ronald. „Fürchte, wir müssen uns erst wieder aneinander gewöhnen.“

„Nach dreißig Jahren wohl normal, oder?“

„Allerdings.“

Aytekin drehte das Radio lauter, woraufhin auch der Vogel die Lautstärke steigerte. Schnell machte er die Aktion rückgängig und suchte einen anderen Sender. Als er einen mit Hardrock fand wagte er einen neuen Versuch. Das Gezwitscher hörte ganz auf. Aytekin guckte über die Schulter und musste beim Anblick des mit dem Köpfchen wippenden Vogels grinsen. Es sah aus, als wenn Tarzan Headbanging übte.

„Tarzan ist ein eingefleischter Rocker“, erklärte Ronald. „Ich habe ihn von einem verstorbenen Kumpel, der in einer Metalband spielte, übernommen.“

Bis zur Rendsburger Hochbrücke verlief die Fahrt schweigend. Aytekin genoss die Aussicht und wünschte, sie könnten anhalten. Ein Blick auf die Uhr sagte ihm jedoch, dass sie lieber weiterfahren sollten. Vorhin hatte er im Internet recherchiert, wie lange man nach Dagebüll brauchte und seinen Berechnungen zufolge hatten sie erst die Hälfte der Strecke geschafft.

„Darf ich dich was Intimes fragen?“

Überrascht guckte er rüber zu Ronald. „Ja, klar.“

„Hast du diesen Jan, oder wie der noch hieß, geliebt?“

„Nein. Es war schön mit Jens, aber Liebe … Ich hab Mascha geliebt dafür, dass sie mir zwei wundervolle Söhne geboren und erzogen hat.“

„Du bist ein guter Mensch, Ayti.“ Ronalds Stimme klang sanft und schmeichelte

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Sissi Kaiserlos
Bildmaterialien: shutterstock Design Lars Rogmann
Tag der Veröffentlichung: 14.07.2015
ISBN: 978-3-7396-0773-3

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