Amrum ist gut fürs Herz 3
Sämtliche Personen, Orte und Begebenheiten sind frei erfunden, Ähnlichkeiten rein zufällig.
Der Inhalt dieses Buches sagt nichts über die sexuelle Orientierung des Covermodels aus.
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Text: Sissi Kaiserlos
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Für die Korrekturen ein Danke an Aschure.
Jasper hat vor vier Monaten seinen Partner verloren. Nach der Diagnose eines Tumors verfiel Hannes rasend schnell und starb im Februar. Die Pflege und der Verlust haben Jasper geschwächt. Sein langjähriger Freund Marius macht sich Sorgen und überredet ihn zu einem Urlaub an der See. Heimlich hofft er natürlich, vielleicht endlich eine Chance zu bekommen.
~ * ~
Leichter Nieselregen behinderte die Sicht, dunkle Wolken drückten auf die Stimmung. Marius hatte bei ihrer Abreise in Hamburg so sehr gehofft, dass das Wetter sich besserte, doch leider vergeblich. Er warf Jasper einen kurzen Seitenblick zu und seufzte. Ihr Urlaub fing ja gut an. Hoffentlich hörte wenigstens irgendwann der Regen auf, damit sie so viel Zeit wie möglich im Freien verbringen konnten. Sein Freund brauchte dringend Aufmunterung und ein paar Kilo mehr auf den Rippen, weshalb er ihn zu diesem Kurztrip überredet hatte.
„Ich könnte jetzt ein Pils vertragen“, murmelte Jasper.
„Ich auch.“ Marius winkte den Kellner heran, der gerade einige Tische weiter Getränke servierte. Nachdem er seine Bestellung aufgegeben hatte, wandte er sich Jasper zu. „Ich hoffe, du hast Regenzeug dabei.“
„Klar. Bin doch nicht blöde.“ Missmutig guckte sein Freund aus dem Fenster. „Ist doch hinlänglich bekannt, dass es an der Nordsee ständig regnet.“
„Quatsch! Ich hab schon viele Sonnenstunden auf Amrum erlebt.“ Marius war eingefleischter Nordseefan. Vor allem die Inseln hatten es ihm angetan, wobei Amrum sein persönlicher Favorit war. Seit er das Hotel Feddersen in Nebel für sich entdeckt hatte, machte er dort regelmäßig Urlaub. Die beiden Inhaber waren zu Freunden geworden, weshalb er sich als Single in dem Hotel Garni richtig wohl fühlte. Ferien mit Familienanschluss, nannten Mikkel und Peter das. Manchmal konnte er sich sogar für diese besondere Gastfreundschaft revanchieren, indem er kleine Klempnerarbeiten erledigte.
„Ich war bisher nur einmal auf Sylt. Es war schrecklich. Eine Woche Regen.“
Der Kellner brachte die Getränke. Marius zahlte, hob sein Glas und stieß mit Jasper an. „Auf einen schönen Urlaub.“
Als Antwort kam nur ein unverständliches Brummen. Das konnte ja heiter werden. Natürlich war ihm schon vorher klar gewesen, dass es nicht leicht mit Jasper werden würde. Sein Freund hatte sich nach Hannes‘ Tod in sein Schneckenhaus zurückgezogen und wollte sich einfach nicht rauslocken lassen. Auch davor zählte Jasper zu den eher wortkargen Gesellen, war aber wenigstens meist gut gelaunt. Das hatte sich nun total geändert. Marius erinnerte sich nicht, Jasper in den vergangenen vier Monaten einmal lachen gehört zu haben. Die Trauer schien seine ganzen Emotionen zu überschatten.
Marius lehnte sich zurück, nippte an dem Bier und musterte die andere Touristen. Zum Glück waren keine Schulferien, daher nur wenige Kinder an Bord. Er hatte nichts gegen die kleinen Racker, aber in großen Mengen waren sie ihm einfach zu laut. Sein Blick blieb an einem älteren Paar hängen, das sich gerade zärtlich küsste. Sofort bildete sich ein kalter Klumpen in seinem Magen. Blanker Neid war es, den er bei diesem Anblick empfand. Wann hatte er seinen letzten Kuss bekommen?
„Hannes hat Italien geliebt“, murmelte Jasper in seine Gedanken hinein.
Automatisch tastete er nach der Hand seines Freundes und drückte sie. Das hatte er seit der Beerdigung oft getan. Der Druck wurde erwidert, zusammen mit einem dankbaren Blick. „Du weißt gar nicht, wie viel mir unsere Freundschaft bedeutet.“ Jaspers Lippen zuckten in dem vergeblichen Versuch zu lächeln.
„Oh doch. Mir geht’s doch genauso.“ Wenn du wüsstest, fügte Marius stumm hinzu und sah schnell weg, damit Jasper seine tiefe Zuneigung nicht erkannte.
Sie kannten sich seit der Schulzeit, hatten sich danach aus den Augen verloren und erst vor zehn Jahren, bei einem Klassentreffen, wiedergesehen. Seitdem unterhielten sie eine lose Freundschaft. Damals war Jasper bereits mit Hannes liiert gewesen. Oft unternahmen sie etwas zu dritt, selten ging er nur mit Jasper aus. Das hatte sich vor ungefähr einem Jahr geändert, da Hannes immer öfter über Kopfschmerzen klagte und lieber daheim blieb, als um die Häuser zu ziehen. Ihre Treffen wurden daher rarer und wenn, dann ging Marius nur mit Jasper aus.
„Ich mochte Italien nie“, meldete Jasper sich erneut zu Wort.
„Aber du mochtest Hannes.“ Marius hielt immer noch die Hand seines Freundes und drückte sie erneut. Am liebsten hätte er einen Arm um Jasper gelegt, doch das traute er sich nicht. Nur einmal, bei der Beerdigung, hatte er das getan, aber nur, weil Jasper in Tränen aufgelöst am Grab stand und dringend einen Halt zu brauchen schien.
„Tja. Was tut man nicht alles für den, den man liebt.“ Jasper löste die Finger aus seinen und guckte sinnend aus dem Fenster.
„Wohl wahr.“ Er würde alles für seinen Freund tun, sonst säße er kaum hier. Es war im Moment ziemlich viel los in seinem Geschäft und ganz schön schwer gewesen, die eine Woche Urlaub zu organisieren.
„Da hinten sehe ich einen Fleck blauen Himmel.“ Jasper wies zum Horizont.
„Echt?“ So sehr Marius sich auch bemühte, konnte er doch nur grau in grau erkennen.
„Vielleicht Einbildung.“ Jasper versank wieder in Schweigen.
Schon beim Klassentreffen hatte es gewaltig bei Marius gefunkt. Als er herausfand, dass Jasper vergeben war, stürzte seine Welt in sich zusammen. Auf den Kontakt mochte er dennoch nicht verzichten, zudem war Hannes ein feiner Kerl. Er konnte Jasper sogar ein bisschen verstehen, dass er auf diesen Sunnyboy stand. Zum Verhängnis wurde Hannes die strikte Weigerung einen Arzt zu konsultieren. Als er es endlich tat, war es bereits zu spät. Er verfiel erschreckend schnell und am Ende erkannte er niemand mehr. Jasper hatte ihn lange aufopfernd gepflegt, musste aber irgendwann aufgeben und ihn in einem Hospiz unterbringen. Marius ahnte, dass Jasper daran knabberte, Hannes den Tod zu Hause nicht ermöglicht zu haben. Er konnte vieles nur vermuten, da sein Freund das Herz nicht auf der Zunge trug. Das hatte sich inzwischen dahingehend ausgewachsen, dass ihre Gespräche meist an der Oberfläche vor sich hin plätscherten. Nur selten blitzte etwas von dem alten Jasper hervor.
„Wir erreichen in Kürze Hallig Hooge“, ertönte eine Stimme aus dem Bordlautsprecher.
„Guck dir das an!“ Jasper stieß ihm den Ellbogen in die Seite.
Durch ein Loch in der Wolkendecke fiel ein Sonnenstrahl aufs Wasser. Was für ein dramatischer Effekt, als würde ein göttlicher Finger auf diese Stelle zeigen. Marius schluckte seinen Rest Bier, während er das Schauspiel verfolgte. Der Strahl setzte sich langsam durch, weitere Löcher entstanden. Nun bemerkte er auch, dass der Regen nachgelassen hatte. So wie es aussah meinte der Wettergott es doch noch gut mit ihnen, allerdings blieb er lieber vorsichtig optimistisch.
Hallig Hooge kam in Sicht. So sehr Marius Inseln mochte, wäre ihm dieses Fleckchen Erde nun doch zu klein, um dort seinen Urlaub zu verbringen. Einige Passagiere standen auf und verließen den Salon, während sich der Adler-Express dem Anleger näherte. Bei den meisten handelte es sich um Senioren. Auch das alte Pärchen, das er beim Küssen beobachtet hatte, befand sich unter ihnen.
„Hier möchte ich nicht tot überm Zaun hängen.“ Jasper schüttelte entsetzt den Kopf. „Stell dir nur vor, du bist in einem der Häuser da drüben und eine Sturmflut naht.“
„Lieber nicht. Ich mag zwar das Meer, hab aber höllischen Respekt vor den Urgewalten der Natur.“
Einmal war Marius bei hohem Wellengang nach Amrum gefahren und wollte diese Erfahrung nicht wiederholen. Damals musste er feststellen, dass er nicht zum Seemann taugte und hatte die ganze Überfahrt kotzenderweise verbracht.
„Trinken wir noch ein Pils?“ Die Augenbrauen fragend hochgezogen, setzte Jasper sein Glas an die Lippen.
„Klar. Auf einem Bein kann man schließlich nicht stehen.“ Marius sah sich nach einem Kellner um, konnte aber keinen entdecken. Da er nicht warten wollte, stand er auf und begab sich zur Bar. Mit zwei frischen Pils kehrte er kurz darauf an den Tisch zurück. Bevor er sich setzen konnte, nahm das Schiff Fahrt auf und er geriet ins Schwanken. Im letzten Moment, noch bevor das Unglück seinen Lauf nahm, brachte Jasper die Gläser in Sicherheit. Marius fand Halt an der Banklehne und ließ sich langsam auf das Polster sinken.
„Du rettest zuerst die wichtigen Dinge. Finde ich gut“, spottete er.
„Hey! Dein Hintern hätte einen Sturz überlebt, das Bier jedoch nicht.“ Der Abglanz eines Grinsens huschte über Jaspers Miene.
„Ich hätte mir sonst was brechen können. Bin schließlich kein Jungspund mehr.“ Das war leicht übertrieben. Marius war erst neununddreißig, fühlte sich aber manchmal viel älter, vor allem nach einem langen Arbeitstag.
„Hör auf zu jammern.“ Jasper reichte ihm ein Glas, setzte das andere an seine Lippen und trank einen Schluck. Marius musste sich zwingen, den hüpfenden Adamsapfel nicht anzuglotzen. Sein Freund war keine Schönheit, aber er fand ihn ausnehmend attraktiv. Mit den Jahren hatte Jasper sogar noch gewonnen. Erste graue Fäden durchwirkten das ansonsten braune Haar. Normalerweise blitzte Schalk in seinen Augen, jedenfalls vor Hannes Krankheit. Nun wirkten sie stumpf und glanzlos.
Marius gab vor zu schmollen. Stumm nippte er an dem Bier, während sein Blick zum Fenster wanderte. Inzwischen hatte sich die Wolkendecke weitestgehend aufgelöst, Sonnenstrahlen küssten das Meer. Das Glitzern brach sich in den niedrigen Wellenkämmen und blendete ihn. Hatte er an seine Sonnenbrille gedacht?
„Erzählst du mir was über das Hotel?“ Entspannt zurückgelehnt, zeigte Jasper das erste Mal echtes Interesse an ihrem Urlaub.
„Es gehört Mikkel und Peter. Von denen hab ich dir doch schon erzählt, oder?“
„Ich erinnere mich schwach.“
„Die beiden sind Klasse. Jonas und Bastian natürlich auch, aber die machen meist ihr eigenes Ding.“
„Verstehe ich das richtig, dass du von schwulen Paaren redest, oder …?“ Jasper runzelte die Stirn.
„Ich hab nie gefragt, aber ab und zu küssen sie sich. Daher gehe ich davon aus, dass sie wohl was miteinander haben.“
„Und … damit kommst du klar?“
„Warum nicht? Mein bester Freund ist doch auch schwul.“ Und ich bin beiderseitig bespielbar, setzte Marius im Geiste hinterher. Allerdings nicht mehr, seit ich dich wiedergetroffen habe.
„Tschuldige. Ich ging immer davon aus, dass du das nur wegen unserer langen Freundschaft akzeptierst.“
Oh Mann! Da konnte man mal sehen, wie intensiv sie sich miteinander beschäftigten. Im Grunde wäre nun der richtige Zeitpunkt gekommen, dass Marius sein Geheimnis lüftete, doch er scheute sich davor. Jasper sollte nicht glauben, dass er irgendwelche sexuellen Interessen bezüglich seiner Person hegte. Das würde ihre Freundschaft zerstören. „Ich finde dich so wie du bist völlig okay. Mir doch egal, wo ein Kerl seinen …“ Marius biss sich auf die Zunge. Rasch guckte er sich nach allen Seiten um, ob jemand sie hören konnte. „Sein Ding reinsteckt.“
„Sehr liberal“, meinte Jasper anerkennend.
„Danke. Wo war ich eigentlich stehengeblieben? Ich hab den Faden verloren.“
„Bei diesen ganzen Bastians und Mikkels.“
„Ach ja. Also: Mikkel und Peter betreiben das Hotel seit einigen Jahren. Peter hat es geerbt und irgendwann kam Mikkel dazu. Wenn ich dort Urlaub mache, esse ich meist abends mit den beiden und anschließend quatschen wir noch. Ist für einen Single total angenehm.“
„Hmm … Sag mal, wieso bist du überhaupt noch solo?“
Einen Moment war Marius sprachlos. Jasper hatte sich noch nie für seinen Familienstand interessiert. Also, nicht in der Form, dass er ihn direkt darauf ansprach. Dumme Sprüche, wie, was macht das Liebesleben, waren schon mal gefallen, aber ohne dass Jasper weiter nachbohrte, wenn er lediglich die Achseln zuckte. „Fehlt halt die richtige Person.“
„Generell würdest du also schon gern eine Partnerin haben?“
Was war das hier? Die Inquisition? Marius nickte leicht.
„Ach, wird sich schon noch eine Frau finden. Du bist ein toller Kerl und siehst gut aus.“ Jasper boxte ihm spielerisch gegen die Schulter.
Marius wurde es abwechselnd heiß und kalt. Das Kompliment warf ihn total aus der Bahn. Perplex starrte er Jasper an, der den Blick wohl falsch interpretierte.
„Hey, guck nicht so. Das sollte keine Anmache sein.“
Nach mehrmaligem Räuspern konnte Marius antworten: „Hab ich auch nicht so gesehen. War nur geschockt über das Kompliment.“
„Ach.“ Jasper machte eine abwertende Handbewegung. „Sag nicht, du guckst nie in den Spiegel.“
„Doch, schon. Aber der Kerl, der mich dann angrinst, ist absoluter Durchschnitt.“
Sein Freund verdrehte die Augen. „Ich sag dazu nix mehr. Wie lange noch, bis wir endlich da sind?“
Marius warf einen Blick auf die Uhr, dann aus dem Fenster. „Schätze fünf Minuten.“
„Echt?“ Jasper wandte den Kopf, um durch die Scheibe zu gucken. „Ups. Tatsächlich.“
Die Südspitze kam schnell näher. Marius erkannte Peters Wagen auf dem Anleger. Er hatte ihm am Vortag ihre Ankunftszeit durchgegeben, jedoch nicht damit gerechnet, dass er sie abholte. Normalerweise benutzte Marius den Bus, um zum Hotel zu gelangen. Vorfreude machte sich breit, vor allem, weil sich die Sonne mehr und mehr gegen die restlichen Wolken durchsetzte. Eine Woche Urlaub mit Jasper bei schönstem Maiwetter. Das bedeutete einerseits, ständig in der Nähe des geliebten Mannes zu sein, andererseits ein Martyrium. Nicht wegen dem Wetter, sondern weil er seine Gefühle verstecken musste. Als Hannes noch lebte war das auch schon schwer gewesen, aber Jasper wirkte so zufrieden, dass Marius damit klarkam. Für ihn hatte das Glück seines Freundes Vorrang vor dem eigenen. Schon daran erkannte er, wie tief er für Jasper empfand. Es war viel mehr als eine Schwärmerei oder Verliebtheit.
Unruhe kam auf. Viele Passagiere sammelten ihre Taschen ein und strebten dem Ausgang zu. Auch Jasper wurde zunehmend hibbeliger, tippelte mit den Fingern auf die Tischplatte und sah wie gebannt zum Fenster hinaus. „Lass uns aufstehen. Ich hab einen ganz platten Hintern vom langen Sitzen.“
Marius stand auch, ließ seinen Freund aus der Banknische und setzte sich wieder hin. „Steh dir ruhig die Beine in den Bauch. Es dauert noch, bis wir von Bord können.“
„Echt?“
In diesem Moment ging ein Ruck durch das Schiff. Jasper schwankte, fiel nach vorn und hätte Marius nicht die Arme ausgestreckt und ihn aufgefangen, wäre er wohl auf der Tischplatte gelandet. Sein Freund war verdammt leicht. Er hatte überhaupt keine Mühe ihn zu halten, selbst als er kurz mit ganzem Gewicht auf ihm hing. Verführerischer Duft stieg ihm in die Nase. Marius atmete ihn tief ein, gab sich einen Ruck und half Jasper wieder auf die Füße. Am liebsten hätte er ihn länger gehalten, aber er wollte sein Glück nicht auf die Probe stellen.
„Deshalb sitzt du noch.“ Jasper zog eine beleidigte Grimasse. „Hättest mich ruhig vorwarnen können.“
„Hab ich doch.“ Marius grinste breit. „Zumindest ansatzweise.“
„Pft.“ Sein Freund drehte sich um und stolzierte zum Ausgang. Da der Adler nun sicher lag, erhob sich auch Marius.
Allmählich freute sich Jasper auf den Urlaub. Anfangs war er strikt dagegen gewesen, schon deshalb, weil er die Nordsee schlecht in Erinnerung hatte. Doch nun, wo das Wetter immer besser wurde, versprach es eine traumhafte Woche zu werden. Vielleicht konnte er endlich seine Schuldgefühle loswerden, die ihm das Leben zur Hölle machten. Wenn Marius wüsste, was sich in den Monaten vor Hannes‘ Tod zugetragen hatte, würde er ihm wohl die Freundschaft kündigen. Er konnte sich selbst ja kaum noch leiden.
Langsam folgte er den anderen Passagieren über die schmale Brücke auf den Anleger. Den Trolley zog er hinter sich her, seinen kleinen Rucksack hatte er geschultert. Nach dem Vorfall von eben brauchte er ein bisschen Abstand zu Marius. Sicher wäre sein Freund entsetzt, wenn er wüsste, welchen heftigen Hormonschub er gerade erlitten hatte. Wie bei einem verliebten Pennäler waren alle seine Sinne sofort angesprungen und sorgten für Blutstau in den unteren Etagen. Er fühlte sich wie ein Schwein, dass er sexuell auf seinen Freund reagierte. Na ja, er war wirklich ein Schwein, ein mieser Erbschleicher und Verräter. Nein, jetzt bloß nicht daran denken.
Während die meisten Fahrgäste den Bus ansteuerten, blieb Jasper stehen und wartete auf Marius. Er wusste zwar, dass das Hotel in Nebel lag, hatte aber keine Ahnung, wie sie dorthin gelangen sollten. Als einer der letzten ging Marius von Bord, kam auf ihn zu und schien etwas hinter seinem Rücken zu entdecken, denn er begann zu strahlen. Was würde Jasper darum geben, wenn dieses Strahlen ihm gälte. Innerlich seufzend drehte er sich um und stand überraschend einem stattlichen Wikinger gegenüber. Strohblondes Haar, das im Sonnenschein nahezu weiß wirkte, dazu blaue Augen.
„Mikkel!“, hörte er Marius rufen. Gleich darauf fielen sich die beiden um den Hals.
Aha, das war also dieser mysteriöse Mikkel. Jasper wartete höflich, bis er an die Reihe kam. Einer Umarmung wäre er, angesichts des Adonis, nicht abgeneigt. Leider wurde ihm lediglich eine Hand hingehalten. Er schüttelte sie und registrierte, dass der Druck warm und angenehm fest war.
„Dann musst du Jasper sein“, stellte Blondie fest.
„Richtig.“
„Mein Wagen steht da hinten.“ Mikkel nahm ihm einfach den Trolley ab und ging los.
Marius boxte ihm gegen die Schulter. „Nun zieh endlich ein anderes Gesicht. Sonst denkt Mikkel noch, du bist ein Griesgram.“
„Bin ich doch“, maulte Jasper, während er neben seinem Freund her zum Parkplatz wanderte. „Ich hab dir doch prophezeit, dass ich dir den Urlaub versaue.“
„Quatsch! Du brauchst viel frische Luft, ein paar Schläge gegen den Hinterkopf und gutes Essen.“
Mit zwei Punkten war er einverstanden, doch was die Schläge anbetraf … Wie meinte Marius das überhaupt?
Darüber dachte er noch nach, als er auf der Rückbank saß und aus dem Fenster starrte. Marius hatte sich vorn neben Mikkel gesetzt. Dem Gespräch lauschte er nur mit halbem Ohr, bis er plötzlich aufhorchte. „… euch eine Ferienwohnung zu teilen, oder? Wir bekamen so viele Buchungen für die Zimmer herein, dass wir kurzfristig umdisponieren mussten. In der Wohnung befinden sich vier Betten, daher nehmen wir einfach mal an, dass diese kleine Änderung kein Problem darstellt.“
Oh nein! Marius hatte ihm doch ein Einzelzimmer versprochen. Allerdings würde es komisch aussehen, wenn ausgerechnet er protestierte. Schließlich war er der Schwule und es wäre an Marius, sich Sorgen um seinen Arsch zu machen. Nein, das war natürlich ein Scherz. Marius vertraute ihm, das glaubte Jasper jedenfalls und er würde den Teufel tun, diese Zuversicht zu missbrauchen. Außerdem pflegte er andere Hobbys, als sich über Heten herzumachen. Zum Beispiel todkranke Freunde ins Hospiz abzuschieben.
Marius guckte über die Schulter. „Macht es dir etwas aus? Ich schnarche nicht besonders laut, wasche mich regelmäßig und bin stubenrein.“
„Wow! Du besitzt ja echte Qualitäten.“ Mikkel lachte lauthals.
„Ich lass meine Dreckwäsche überall liegen, neige zum Rülpsen und Furzen, aber sonst bin ich ganz erträglich.“ Ups! War das gerade von ihm gekommen? Jasper merkte sogar, dass sich seine Mundwinkel hochbogen. Schnell setzte er wieder eine ernste Miene auf. Ihm stand es nicht zu fröhlich zu sein. Das hatte er nicht verdient.
Marius‘ Blick lag noch immer auf ihm. Wie sehr er diese blauen Augen doch mochte. Manchmal verfolgten sie ihn bis in seine Träume. Er konnte gar nicht verstehen, dass Marius noch allein war. Die Frauen mussten ihm doch in Scharen hinterherlaufen, immerhin war er ein geschickter Handwerker und besaß nicht nur einen Luxuskörper, sondern wohl auch ein bisschen Geld. Hatte Marius ihm eigentlich je von irgendeiner Freundin erzählt? Zu seiner Schande musste sich Jasper eingestehen, dass er sich nicht erinnerte.
„Sieht so aus, als wenn Jasper und ich klarkommen werden“, hörte er Marius an Mikkel gewandt sagen.
Damals, nach dem Klassentreffen, bei dem sie sich wiedergesehen hatten, war Jasper schnell mit der Wahrheit über seine Vorlieben herausgekommen. Er erinnerte sich, dass Marius keinen Moment angeekelt wirkte. Gelassen nahm er das Outing hin, wie auch die Tatsache, dass er, Jasper, fest mit einem Mann liiert war. Wie selbstverständlich behandelte er Hannes und ihn als Freunde, nur in schwule Clubs zu gehen lehnte er natürlich ab. Es gab genug andere Dinge, die sie gemeinsam unternehmen konnten. Kino, Restaurant, Shopping, Kurztrips in die Natur. Hannes liebte Kunst und Geschichte, weshalb sie so manche Ausstellung besuchten. Sie befruchteten sich gewissermaßen gegenseitig mit ihren verschiedenen Interessen, wobei Jasper nach und nach aufging, dass er so manche mit Marius teilte. Im Gegensatz dazu besaßen Hannes und er wenig Gemeinsamkeiten. Diese Erkenntnis war ein schleichender Prozess, der schließlich damit endete, dass …
„Wir sind da, du Träumer.“ Marius‘ fröhliche Stimme brachte ihn zurück ins Jetzt. Jasper guckte sich um, begriff, dass sie standen und öffnete die Wagentür. Nach der Wärme im Inneren des Autos wirkte das laue Lüftchen erfrischend. Ein stolzes Friesenhaus erhob sich neben den Kfz-Stellplätzen. Mikkel war schon dabei, das Gepäck zu entladen. Jasper strich sich eine vorwitzige Strähne aus dem Gesicht, nahm seinen Rucksack in Empfang und ließ zu, dass Mikkel sich erneut den Trolley schnappte. Hintereinander gingen sie um das Haus herum und traten durch eine Doppeltür in einen geräumigen Flur.
„Peter? Unsere Gäste sind da“, rief Mikkel, woraufhin in einem Türrahmen zur Rechten ein Mann mit grauen Schläfen erschien. Wieder bekam Marius eine Umarmung und er nur einen Händedruck.
„Habt ihr das mit der
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Sissi Kaiserlos
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Tag der Veröffentlichung: 02.05.2015
ISBN: 978-3-7368-9438-9
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