Es war einmal …
Ein Ehepaar wünschte sich dringend ein Kind. Sie noch mehr als er und vor allem sollte es ein Mädchen sein. Die Frau – Namen tun bei diesem dümmlichen Pärchen nichts zur Sache, nennen wir sie einfach Herbert und Elvira – konnte an nichts anderes mehr denken, als daran, endlich schwanger zu werden. Wie sehr sehnte sie sich doch danach, ein kleines Mädchen zu haben, dessen Locken sie bürsten, dessen Nägel sie lackieren und dessen Lippen sie rot anmalen konnte.
Jahr um Jahr verging, doch Elvira wurde einfach nicht dick. Schon allein deshalb, weil sie sich so sehr grämte und kaum essen konnte vor Sehnsucht nach diesem Kind. Ihr Gatte tat alles, um den Hausfrieden zu retten. Er arbeitete hart, hatte aber jederzeit für die Wünsche seiner geliebten Frau ein Ohr offen. Nur wenn es ihr gutging, konnte auch er frohgemut ins Leben sehen.
Eines fernen Tages geschah es, dass die missmutige Gattin aus dem Fenster sah, hinein in den verwunschenen Garten der Nachbarin. Selbiger war durch eine hohe Mauer abgeschirmt und dahinter wuchs und gedieh das Gemüse, dass es einem warm ums Herz wurde. Jedwelches Grünzeug schien wie von Wunderhand zu saftigster Form aufzulaufen. Der Blick der Frau fiel auf eine Reihe Rapunzeln und ihr Magen begann zu knurren.
Sie musste diesen Salat haben, egal um welchen Preis. Gar deuchtete es ihr, dass er einer Schwangerschaft zuträglich wäre, so hell leuchtete das Grün und blendete ihren ohnehin nicht besonders wachen Verstand. Als der werte Gatte eintraf, klagte sie ihm ihr Leid.
„Oh, Herbert. Diese Rapunzeln … Ich muss sie haben, sonst werde ich dahinsiechen“, sprach sie und griff mit beiden Händen an ihr Herz.
Herbert, dem bei diesen Worten ganz flau wurde, reckte das Kinn vor. Ganz der Held, versprach er: „So sollst du die Rapunzeln bekommen.“
Ihm war gar nicht wohl bei dem Gedanken, die hohe Mauer zu überwinden und in den Garten, der einer Zauberin gehören sollte, vorzudringen. Da er aber ein braver Mann war und wie eingangs erwähnt, auch nicht besonders helle, tat er es. Mit Hilfe einer Leiter erklomm er die Mauer, war sogar schlau genug, selbige hochzuziehen und auf der anderen Seite abzustellen. Sich verstohlen nach allen Seiten umschauend, pflückte er etliche Rapunzeln, stopfte sie in die Taschen seines Wamses und kehrte zu der Gattin zurück.
„Hier hast du deine Rapunzeln, Weib. Nun iss und gib Ruhe“, befahl er milde.
Elvira bereitete aus dem Feldsalat ein spätes Mahl zu, das sie unter lautem Schmatzen genüsslich verspeiste. Anschließend gab sie sich Herberts Bemühungen hin, die Frucht seiner Lenden in ihrem Gefäß zu platzieren. Wieder mal ohne Erfolg, wie sie bei ihrer nächsten roten Phase feststellen durfte.
Die Rapunzeln hatten sich mittlerweile zu einer Passion entwickelt. Herbert musste noch oft über die Mauer und konnte, Gott sei Dank, jedes Mal unbehelligt zu seiner liebreizenden Gattin zurück, ohne die geheimnisvolle Zauberin getroffen zu haben.
Doch nun begab es sich, dass Elvira ihren Gatten einmal zu oft schickte. In einer Nacht, in der der Mond nur als Sichel am Himmel hing, heimste Herbert gerade wieder Rapunzeln ein, als plötzlich eine kalte Stimme ihn innehalten ließ: „Wohlan, du Dieb. Was tust du in meinem Garten?“
Herbert erstarrte, schaute auf und erblickte eine verschwommene Gestalt. Eine gar schöne Frau in schillernder Robe, den Zauberstab drohend erhoben, stand vor der Mauer. „Ich … ich brauche nur ein paar Rapunzeln. Meine liebe Frau würde dahinsiechen, wenn sie keine bekäme. Verzeiht, oh ehrenwerte Zauberin. Bitte, vergebt mir.“
„Hmmm.“ Die Zauberin kratzte sich am Kinn. „Welche Krankheit hat dein Ehegespons denn?“
„Sie kann kein Kind empfangen.“
„Wahrlich, ein schlimmes Leiden. So sei es denn. Bringe deiner Gattin die Rapunzeln, aber das hat seinen Preis: Euer Erstgeborenes soll mir gehören.“
Herbert, der für die Rapunzeln seine Seele verkauft hätte, atmete auf. „Habt Dank, ehrenwerte Zauberin. Ich werde eurem Wunsch entsprechen.“ Sprach’s, steckte schnell noch ein bisschen Feldsalat in seine Taschen und eilte zur Leiter. Niemand hielt ihn auf, als er zurück in seinen Garten kletterte.
Und so geschah es, dass seine Ehefrau neun Monate später einen Knaben gebar. Sehr froh, doch auch ein wenig enttäuscht über das falsche Geschlecht, kleidete Elvira das Baby in rosa Spitze und gab ihm den Namen Rapunzel. Sie glaubte, dass schlichtes Ignorieren des kleinen Pipihahnes vielleicht helfen möge und selbiger irgendwann nach innen wuchs.
Herbert, der sich mit Grausen an die Forderung der Zauberin erinnerte, brachte das Kind eines Nachts, während die Gattin schlief, in den fremden Garten. Die schöne Frau wartete schon, nahm ihm das Baby ab und verschwand in einer Wolke aus Sternen.
Darüber, was Elvira ihrem Gatten antat, nachdem der auf so schmähliche Weise ihr Erstgeborenes entsorgt hatte, ist nichts überliefert. Nehmen wir mal an, dass sie ihn entweder erschlagen oder mit einem Rapunzelsalat erstickt hat.
Rapunzel wuchs zu einem schönen Jungen heran. Die Zauberin, mit bürgerlichem Namen Kunigunde Gothel, kümmerte sich liebevoll um den hübschen Knaben. Er bekam Musikunterricht, besaß eine gar liebliche Stimme und war von schönem Gemüt. Als er sich der Geschlechtsreife näherte, sperrte sie den Jüngling in einen Turm, auf dass sich kein übermütiges Weibsbild ihm nähern konnte.
Was sie nicht wusste: Rapunzel hatte bereits erste Erfahrungen mit ihrer Dienerschaft gesammelt. Wohlgemerkt: Den männlichen Bediensteten. Er war dem eigenen Geschlechte zugeneigt und da er nie Kontakt zu Gleichaltrigen pflegte, geschweige denn aufgeklärt wurde, kam ihm das als normal vor.
Und so fristete Rapunzel in dem Turm ein einsames Dasein. Tagsüber besuchte ihn Frau Gothel, damit er etwas Zerstreuung erfuhr. Da der Zugang zum Turm zugemauert war, musste Rapunzel sein langes, goldenes Haar durch das einzige Fenster werfen, damit die Zauberin daran hochklimmen konnte. Sie rief dann stets: „Rapunzel, Rapunzel, lass dein Haar herunter.“ Daraufhin schlang der Jüngling die güldenen Strähnen um einen eisernen Haken am Fenstersims und ließ den Zopf bis auf den Boden fallen.
Eines Tages begab es sich, dass ein Prinz in den Wäldern herumtrieb. Sein Name war Arnulf von Schmalzenstein und sein Antlitz glich dem eines Engels. Wie er so unter den Bäumen einherritt, hörte er eine liebliche Stimme, die eine wehmütige Klage anstimmte. Sie handelte von Einsamkeit und der Sehnsucht nach Liebe. Angezogen von dem herrlichen Organ, fand er den Turm und sah einen hübschen Jüngling in dessen Fenster sitzen. Wie er so dastand, hinter einem Baum verborgen, kam eine alte Frau herbei und rief: „Rapunzel, Rapunzel, lass dein Haar herunter.“
Staunend beobachtete Arnulf, wie der Jüngling den Zopf herabfallen ließ und die Frau behände daran hochkletterte. Sinnend verließ er den Wald, nur um am nächsten Tag zu der gleichen Stelle zurückzukehren. Wieder erschien die Frau, sagte ihr Sprüchlein und das goldene Haar diente ihr als Leiter.
Völlig hingerissen von dem jungen Mann mit der schönen Stimme, verbrachte Arnulf von Stund an jeden Tag im Wald, um den schwermütigen Liedern zu lauschen. Irgendwann, es mochten wohl drei Wochen vergangen sein, fasste er sich ein Herz, wartete, bis die Frau verschwunden war und näherte sich dem Turm. Es gelang ihm, die krächzende Stimme der Alten zu imitieren, als er den Spruch aufsagte. Gleich darauf baumelte ein goldener Zopf von seiner Nase, den er beherzt hinaufkletterte.
Als er den Fenstersims erreichte, erschrak der Jüngling. „Wer seid ihr?“, fragte Rapunzel.
„Arnulf von Schmalzenstein und ich bin euch mit Haut und Haaren verfallen“, erwiderte der Prinz, wobei er in die Kammer stieg. „Eure Stimme ist so liebreizend wie der Gesang der Nachtigall und euer Haar leuchtet schöner als die Sonne. Werdet mein.“ Sprach’s und ließ Taten folgen.
Und so lernte Rapunzel die Freuden wahrer Liebe kennen. Arnulf war ein gar raffinierter Mann und verführte ihn nach allen Regeln der Kunst. Erst als der Morgen dämmerte, verließ er das Kämmerchen und riet Rapunzel gründlich zu lüften. Während er davonritt, drang eine fröhliche Weise an sein Ohr. Also hatte er Rapunzels Herz erobert und ihm den Schwermut genommen.
Wie alle Heimlichtuereien ging auch diese nicht ewig gut. Es dauerte nur wenige Wochen, da verplapperte sich Rapunzel. „Liebe Frau Gothel, so saget mir, wieso seid ihr eine viel leichtere Bürde an meinem Zopf als der Mann, der mich jeden Abend besuchen kommt?“
(Anmerkung: Rapunzel ist isoliert aufgewachsen und hat nur die alte Frau zum Reden. Mit dem Prinzen tut er ja andere Dinge. Daher mögen wir über die Dämlichkeit des Jünglings hinwegsehen.)
Kunigunde Gothel geriet in Rage. Jemand hatte ihren Liebling entweiht. Zornig wickelte sie sich Rapunzels Zopf um die Hand, griff nach einem Dolch und schnitt die schönen Flechten – ritsche-ratsche – einfach ab. Mit Tränen in den Augen sah der Jüngling runter auf sein goldenes Haar.
„Was habe ich denn getan, dass ihr so zornig seid?“, jammerte er kläglich.
Die Zauberin war so wütend, dass sie nicht antwortete und Rapunzel kurzerhand in eine Wüstenei zu einem Haufen dreckiger Kameltreiber verbannte. Anschließend lauerte sie dem fiesen Tunichtgut auf, der ihr Heiligtum entweiht und geschändet hatte. Gen Abend, als die Sonne sank, hörte sie eine tiefe Stimme: „Rapunzel, Liebster, lass dein Zöpflein herunter.“
Ha! Dem Schinder würde sie es zeigen. Sie wand den Zopf um den Eisenhaken, ließ ihn herunter und schon bald kletterte ein stattlicher Mann in die Kammer. Oh, wie erschrak Arnulf, als statt des lieblichen Jünglings die alte Vettel seiner harrte!
„Du hast mir mein Liebstes genommen“, keifte die Alte. „Du widerliche Made. Mögest du in der Hölle schmoren und dein Pipimann abfaulen. Pech und Schwefel über dich, du mieser Gesell.“
Entsetzt ob der schrecklichen Verwünschungen, stolperte Arnulf rückwärts, fiel über den Sims und landete in einem Dornengestrüpp. Das kostete ihn das Augenlicht. Blind irrte er durch den Wald und wurde nur dank eines wackeren Jägermannes, der gerade auf der Suche nach einer saftigen Rehkeule war, zurück zum Schloss seiner Eltern gebracht.
Über viele Monate irrte der blinde Prinz, begleitet von einem treuen Diener, auf der Suche nach Rapunzel, durch die Welt. Keinen Platz ließ er aus und so gelangte er irgendwann zu der Wüstenei, in die Rapunzel verbannt worden war. Lieblicher Gesang wies ihm den Weg zu seinem Augenstern. Weinend stolperte er in die Oase, wurde von Rapunzel sogleich erkannt und in die Arme geschlossen. Einerseits glücklich, dass der stolze Recke ihn endlich rettete, andererseits mit Bedauern, dass er die potenten Kameltreiber nun verlassen musste, vergoss Rapunzel viele Tränen. Einige davon benetzten Arnulfs zerstochene Augen und – oh Wunder! – plötzlich konnte er wieder sehen.
Und so führte der Prinz seinen geliebten Rapunzel heim. Natürlich war man auf Schloss Schmalzenstein nicht besonders erfreut, als Rapunzels Geschlecht offenbar wurde. Da er jedoch Arnulfs Augenlicht zurückgebracht hatte, drückte man ein Auge zu und tolerierte das männliche Paar. Viele Jahre später, als im Königreich die gleichgeschlechtliche Ehe erlaubt wurde, heirateten die beiden in einer kleinen Zitadelle und wenn sie nicht gestorben sind …
ENDE
Texte: Sissi Kaiserlos
Bildmaterialien: ...
Tag der Veröffentlichung: 06.03.2015
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