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Käufliche Liebe 7

Käufliche Liebe 7

 

Sämtliche Personen, Orte und Begebenheiten sind frei erfunden, Ähnlichkeiten rein zufällig.

 

Der Inhalt dieses Buches sagt nichts über die sexuelle Orientierung des Covermodels aus.

 

Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck oder eine andere Verwertung, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung der Autorin.

 

Ebooks sind nicht übertragbar und dürfen nicht weiterveräußert werden. Bitte respektieren Sie die Arbeit der Autorin und erwerben eine legale Kopie. Danke!

 

 

Text: Sissi Kaiserlos

 

Foto von shutterstock – Design Lars Rogmann

 

Kontakt: http://www.bookrix.de/-sissisuchtkaiser/

 

Unerwartet:

Markus ist erschüttert. Ausgerechnet Sören, der Callboy, der ihm genau das geben konnte, was er brauchte, will aufhören. Insgeheim ist er schon lange in den hübschen Mann verschossen. Er fasst sich ein Herz, lässt seine Visitenkarte da und traut sich aber nicht, Sören inständig darum zu bitten, doch bald anzurufen Natürlich passiert nichts, dennoch bleibt die Hoffnung. Die stirbt ja bekanntlich zuletzt.

~ * ~


1.

Wie jedes Mal, wenn Markus nach Hamburg fuhr, klopfte sein Herz aufgeregt. Für ihn fühlte es sich stets so an, als wäre er mit Sören verabredet, obwohl es nur ein Geschäft war. Der Callboy verstand es, ihre sexuelle Beziehung als etwas Besonderes darzustellen, aber das tat er wohl bei jedem Kunden. Für Markus war Sören wirklich etwas Besonderes: Er war dem Mann heillos verfallen. Natürlich handelte es sich um eine sinnlose Schwärmerei, da Sören bestimmt kein Interesse an einem alten Knacker wie ihm hegte. Außerdem kannte er den Mann im Prinzip kaum, da sie nur Sex miteinander teilten und darüber hinaus wenig sprachen.

In Markus‘ Fantasie besaß Sören eine traurige Vergangenheit, die ihn zwang sich zu prostituieren. Die dunkle, manchmal wehmütige Ausstrahlung des Callboys reizte ihn. Sören war überaus schlank, hatte umwerfend blaue Augen und dunkle Haare, die an den Schläfen erste silberne Fäden aufwiesen. Der Sex mit ihm war immer ein befriedigendes Erlebnis, vor allem, weil Sören auf ihn, Markus, einging und ihm fast alle Wünsche erfüllte. Zumindest die, die er auszusprechen wagte. Sie kuschelten sogar ab und zu, wenn der Callboy dazu in Stimmung war.

Markus ließ gerade Itzehoe hinter sich, warf einen Blick auf die Uhr im Armaturenbrett und seufzte. Fast die Hälfte der Strecke war geschafft. Wenn er weiter so gut vorankam, würde er in ungefähr einer dreiviertel Stunde den Wagen vor Sörens Wohnhaus abstellen. Er wählte stets einen Termin am frühen Nachmittag, damit er nicht in den Berufsverkehr geriet. Danach blieb ihm ausreichend Zeit, um wieder zurück nach Büsum zu fahren. Dort betrieb er eine Pension Garni und vermietete 5 Ferienwohnungen. Seine Oma hatte ihm die Immobilien vor 10 Jahren vererbt und er keinen Moment gezögert, die Großstadt und den stressigen Job in einer Werbeagentur hinter sich zu lassen.

Den Entschluss hatte Markus bisher keine Minute bereut. Er liebte die frische Nordseeluft und konnte von den Einnahmen gut leben. Was den sozialen Aspekt anbelangte, pflegte er in Büsum einige Bekanntschaften, jedoch nur oberflächlicher Natur. Es handelte sich zumeist um Ehepaare, die genau wie er Vermietung betrieben. Man tauschte sich über Gäste aus, besaß damit einen gemeinsamen Nenner, aber das war’s auch schon. Manchmal fühlte er sich etwas einsam, doch das lag nicht an seinem Wohnort, da es ihm in Hamburg auch oft so gegangen war.

Früher hatte er manchmal Bekanntschaften im Internet geschlossen, diese auch getroffen und einmal sogar eine kurze Beziehung geführt. Inzwischen fühlte er sich dafür zu alt, also, für die Internetsache. Niemand hatte Interesse an einem Mittvierziger, der dazu auch noch überaus gewöhnlich aussah, außerdem ging es meist eh nur um Sex. Genau den kaufte er sich lieber. Da bekam er keine Katze im Sack, sondern Sören. Sören. Markus seufzte, sah wieder auf die Uhr und die Vorfreude steigerte sich. Noch eine halbe Stunde, dann würde er den Callboy endlich wiedersehen. Alle zwei Wochen fuhr er nach Hamburg, um seine Sehnsucht zu stillen und das seit inzwischen fünf Jahren. Vor Sören hatte er andere Callboys aufgesucht, war aber letztendlich nur mit dem einen zufrieden und hängengeblieben. Manchmal, wenn er daran dachte, dass Sören irgendwann das Gewerbe aufgeben würde, überkam ihn Angst. Ohne ihn würde Markus‘ Leben schrecklich trist aussehen.

Rund dreißig Minuten später rangierte Markus seinen Wagen in eine enge Parklücke. Bevor er ausstieg, überprüfte er rasch sein Aussehen mittels eines Taschenspiegels, den er stets bei solchen Ausflügen bei sich trug. Einigermaßen zufrieden nahm er seine Tasche, verschloss das Auto und ging auf den mehrstöckigen Altbau zu. Mit jedem Schritt steigerte sich seine Nervosität. Als er auf den Klingelknopf neben Sörens Namen drückte, zitterten ihm sogar die Finger. Aus der Gegensprechanlage ertönte ein blechernes: „Ja?“

„Ich. Markus“, antwortete er.

Der Türöffner summte. Markus schob die schwere Haustür auf, lief die Stufen in den ersten Stock hoch und kam atemlos vor Sörens Wohnung an. Der Callboy lächelte ihm entgegen. Er trug verblichene Jeans und ein schlichtes weißes T-Shirt, die Haare waren gewohnt strubbelig. In solchen Momenten hätte Markus ihn auf keinen Tag älter als 35 geschätzt, obwohl er wusste, dass Sören bereits 41 war.

„Komm rein. Schön dich zu sehen.“ Zuvorkommend hielt Sören die Tür auf, während Markus an ihm vorbeiging. „Kaffee? Hab gerade welchen gekocht.“

„Öhm. Gern.“ Sie hatten noch nie zusammen Kaffee getrunken. Bisher kannte Markus von der Wohnung sowieso nur Schlafzimmer und Bad. Er blieb mitten im Flur stehen, unschlüssig, wohin er sich wenden sollte.

„Leg deine Jacke ab. Die Tasche kannst du auch hier lassen.“ Sören nickte zur Garderobe und verschwand in einem Raum zur Linken.

Markus hängte seine leichte Lederjacke an einen Haken. Die Tasche legte er auf die darunter stehende Kommode. Anschließend folgte er Sören in eine geräumige Wohnküche, deren Ausstattung schon bessere Tage gesehen hatte. Die Eichenfronten mochten vor 20 Jahren der letzte Schrei gewesen sein, nun wirkten sie schlicht altbacken. Drei verschiedene Stühle standen um einen runden Tisch herum, über dem ein Kalender mit männlichen Pin-ups hing.

„Setz dich doch.“ Sören goss gerade Kaffee in zwei Becher. „Milch?“

„Nein danke.“ Markus nahm Platz und ließ neugierig den Blick schweifen. Über der Arbeitsfläche hing allerlei Küchengerät an einer Magnetleiste. Ganz hinten in der Ecke entdeckte er eine Mikrowelle, daneben eine chromglänzende Kaffeemaschine.

„Tja. Wie sag ich’s am besten?“ Sören stellte die Becher auf den Tisch und setzte sich gegenüber hin. „Wir kennen uns schon lange, nicht wahr?“

Eine böse Vorahnung überfiel Markus. „Ja, fünf Jahre.“

„Ich hab entschieden, dass ich aufhören werde. Es wird Zeit. Wenn du möchtest, kann ich dir die Nummer eines Kollegen geben.“

„Nein!“, stieß er hervor. „Oh nein! Bitte nicht!“ Das Herz wummerte hart und schnell gegen seine Rippen. Nun war der befürchtete Moment da und es tat verdammt weh. Mit einem Schlag war der Tag, der ihm bis eben noch in einem wunderschönen Licht erschien, kalt und grau geworden.

„Es tut mir leid. Ich kann einfach nicht mehr.“ Plötzlich sah Sören total resigniert und verhärmt aus. „Hör mal, du findest einen anderen. Das ist doch kein Weltuntergang.“

Oh doch, das war es. Jedenfalls für Markus. Mühsam rang er um seine Fassung, legte beide Hände um den Kaffeebecher und merkte dabei, dass sie nun noch stärker als zuvor zitterten. Ihm fehlten die Worte. Er war so geschockt, dass er nur in die schwarze Brühe starren konnte. Ein Leben ohne Sören konnte er sich nicht mehr vorstellen, auch wenn es nur um Sex ging. Für ihn war es mehr, viel mehr. Vorsichtig linste er zu Sören rüber und ertappte ihn bei einem mitleidigen Blick. Das wollte er nun auch wieder nicht.

„Ähm. Okay. Dann … dann ist das wohl so. Hast du schon Pläne.“ Seine Stimme klang ganz rau und es kostete ihn Kraft, überhaupt etwas zu sagen.

„Ich will raus aus der Stadt. Vielleicht eine Hundezucht oder so aufziehen. Keine Ahnung.“

„Hundezucht?“, echote Markus verwirrt.

„Na ja, irgendetwas, womit ich auf dem platten Land Geld verdienen kann. Ich hab Startkapital angespart und werde mich mal umsehen. Vielleicht zieht es mich auch an die See.“ Sören trank einen Schluck, dann lächelte er versonnen und drehte den Becher in seinen Händen. „Frische Luft. Schafe. Deiche. Ja, das kann ich mir schon vorstellen.“

„Ich wohne in Büsum“, platzte Markus heraus.

„Ah so?“

„Wenn du magst, kannst du gern mal vorbeikommen. Ich hab eine Pension und ein paar Ferienwohnungen.“

„Büsum. Da war ich mal als Kind.“ Sörens Blick irrte in die Ferne. „Hat mir dort gefallen, wenn ich mich recht erinnere.“

„Ist auch schön da. Meine Oma hat ihr ganzes Leben dort verbracht und mir alles vererbt.“

„Okay. Ja, vielleicht komme ich mal vorbei. Lass deine Anschrift hier.“

„Ich … ich hab Visitenkarten. Draußen. Ich meine, im Flur. In meiner Tasche.“ Vor Aufregung stieß Markus beim Aufspringen gegen den Tisch. Sein Becher wackelte, Kaffee schwappte auf die Holzfläche. Erschrocken starrte er erst die Brühe, dann Sören an. „Tut mir leid“, flüsterte er beschämt.

„Kein Problem. Komm, lass uns die letzte Stunde genießen.“ Der Callboy setzte ein verführerisches Lächeln auf. „Schließlich bezahlst du nicht für Kaffee und dummes Gerede.“



Auf dem Weg zum Schlafzimmer kramte Markus eine seiner Visitenkarten hervor. Sören schob sie achtlos in die Gesäßtasche. Wie immer zogen sie sich zügig aus. Während er noch mit seinen Socken kämpfte, nahm der Callboy auf dem Bett Platz und lehnte sich gegen das Kopfteil. Markus spürte Sörens Blicke und kam sich unsäglich hässlich vor, im Vergleich mit dem sexy Kerl. Er hatte sich zwar gründlich rasiert und mit einer duftenden Lotion eingerieben, dennoch fühlte er sich im Moment unsäglich mies und fürchtete sogar, keinen hoch zu bekommen.

„Komm her, Baby“, schnurrte Sören und streckte die Arme aus.

Markus kletterte aufs Bett, schmiegte sich an Sörens Seite und obwohl der Callboy kleiner war, spürte er so etwas wie Geborgenheit in dessen Umarmung. Er kam sich gerade vor wie ein Kind, dem man sein Lieblingsspielzeug wegnehmen wollte. Sören kraulte ihm durchs Haar und hauchte Küsse auf seinen Scheitel.

„Hey. Noch schmusiger als sonst?“ Er lachte leise.

„Mhm.“ Markus drückte das Gesicht gegen Sörens Schulter und hätte am liebsten losgeheult. Das hier war ihr letztes Mal. Er sog den herrlich maskulinen Duft tief ein, versuchte ihn sich einzuprägen. Andächtig ließ er die Hand über Sörens glatte Haut fahren, schlang dann impulsiv den Arm um dessen schmale Taille. „Ich glaub, ich bin nicht in Stimmung“, nuschelte er traurig.

„Ach, komm. Lass mich mal machen.“

Fingernägel kratzten an seiner Wirbelsäule entlang, bis ganz nach unten, wo die Spalte begann. Das zeigte Wirkung. Markus überlief eine Gänsehaut und er spürte, wie die Trauer langsam zugunsten Erregung wich. Sören kannte seine erogenen Zonen. Eigentlich erstaunlich, da er, Markus, nur einer von vielen Kunden war. Verdammt! Er musste mit dem Denken aufhören, sonst würde das hier wirklich nur eine Kuschelstunde werden. Als Sören tiefer rutschte und ihm sanft in die Nippel biss, rauschte Blut in die untere Etage. Dieser Liebkosung hatte Markus noch nie widerstehen können. Genüsslich schloss er die Augen und ließ sich ins Reich der Sinne entführen.



Eine Stunde später war er wieder auf dem Heimweg. Trotz des geilen Blowjobs fühlte er sich angespannt und musste immer wieder gegen Tränen ankämpfen. Kurz hinter Pinneberg steuerte er eine Raststätte an, parkte fernab der anderen Fahrzeuge und legte die Stirn aufs Lenkrad. Bittere Tränen liefen ihm übers Gesicht. Er ließ sie laufen, schluchzte in der Abgeschiedenheit seines Wagens lauthals und gab sich ganz dem Kummer hin. Seit er Sören das erste Mal gesehen hatte, war er ihm immer wie eine Art Rettungsanker in dieser kalten Welt vorgekommen. Klar war das lächerlich, aber es half, die Einsamkeit besser zu verwinden. Nun war der Anker weg, für immer. Ein riesiges, schwarzes Loch hatte sich aufgetan und Markus das Gefühl, es würde ihn einsaugen und verschlingen.

Irgendwann klopfte jemand gegen die Seitenscheibe. Markus hatte jegliches Zeitgefühl verloren, hob den Kopf und blinzelte in ein besorgt blickendes Gesicht.

„Alles okay bei Ihnen?“, rief der Unbekannte.

Er nickte, wischte sich über die Augen und warf einen Blick zur Uhr. Es war bereits halb acht, was bedeutete, dass er seit über einer Stunde hier hockte. Erneut nickte er dem Fremden zu, startete den Motor und setzte den Wagen rückwärts aus der Parklücke. Den Rest des Weges legte er ohne weitere Unterbrechung zurück.



2.

Sören war in einen Kimono geschlüpft, um Markus zur Tür zu begleiten. Er konnte dessen Kummer förmlich körperlich spüren und litt mit ihm. Zwischen diesem besonderen Kunden und ihm war es immer anders gewesen, irgendwie fast so, als wären sie ein Paar. Das war natürlich Unsinn und er glaubte grundsätzlich nicht daran, dass ein Freier je ernsthaftes Interesse an ihm, dem Menschen, haben könnte. Er war eben eine schillernde Figur, zugleich Abschaum in den Augen der Kunden. Deshalb erzählte er nie von sich, außer er kam gar nicht drum herum. Es interessierte sowieso niemanden wie es ihm ging, seit Jan tot war.

Warum musste er ausgerechnet jetzt an Jan denken? Vielleicht, weil Markus ihn ein wenig an seinen Geliebten erinnerte? Dabei glichen sie einander äußerlich überhaupt nicht. Jan war ein regelrechter Adonis gewesen, mit blonden Haaren und himmelblauen Augen. Markus hingegen war brünett und hatte braune Augen. Er wirkte ein bisschen wie eine graue Maus, dabei war er durchaus nicht hässlich, nur eben unscheinbar. Doch wenn er lächelte oder im Bett in Fahrt geriet, wurde er richtiggehend schön. Genau deshalb hatte Sören es immer genossen, den Mann in Stimmung zu bringen. Zuzusehen, wie aus dem beherrschten Kerl eine Sexbombe wurde, war aufregender als jeder Horrorfilm. Dummer Vergleich, aber Sören war gerade nicht auf dem Höhepunkt seiner intellektuellen Schaffenskraft.

Da er keinen weiteren Kunden erwartete, gönnte er sich eine ausgiebige Dusche, während in der Mikrowelle ein Nudelgericht auftaute. Mit der Pappschachtel setzte er sich im Wohnzimmer an den Schreibtisch, fuhr das Notebook hoch und surfte beim Essen ein bisschen im Internet. Markus war sein vorletzter Kunde. Am nächsten Tag erwartete er noch einen anderen Stammfreier, danach war Schluss. Sören konnte nicht fassen, dass er es tatsächlich getan hatte. Ihm war der Gedanke zwar in letzter Zeit oft gekommen, da ihn das Gewerbe inzwischen anwiderte, aber Denken war das eine, Handeln das andere.

Im Prinzip wusste er überhaupt nicht, was er als nächstes anfangen wollte. Das mit der Hundezucht war natürlich bullshit. Ihm war klar, dass man davon nicht leben konnte und sein Erspartes würde nicht bis ans Ende aller Tage reichen. Genauso gut wusste er, dass er dringend einen sozialversicherungspflichtigen Job brauchte, damit er später wenigstens einen kleinen Rentenanteil beanspruchen konnte. Bisher hatte er nur 10 Beitragsjahre vorzuweisen, während derer er Gelegenheitsjobs und eine Ausbildung absolvierte. Ach ja, seine dämliche Ausbildung zum Einzelhandelskaufmann. Sören schnaubte belustigt. Damit konnte er ja richtig viel anfangen. Vielleicht fand er eine Stelle in einem Dorfsupermarkt. Bis zur Rente hinter der Wursttheke zu stehen und Oma Müller drei Scheiben Aalrauchmettwurst zu verkaufen, war ja schon immer sein Traum gewesen.

Mit einem tiefen Seufzer kratzte er den Rest Nudeln aus der Schachtel, stopfte ihn in den Mund und musterte die Homepage, die er gerade angesteuert hatte. Büsum? Wie war er denn darauf gekommen? Ihm fiel plötzlich Markus‘ Visitenkarte ein. Sören brachte die leere Pappschachtel und das Besteck in die Küche. Auf dem Rückweg machte er einen Schlenker ins Arbeitszimmer, wie er den Raum mit dem Bett nannte und fischte die Karte aus der Jeanstasche. Schwer ließ er sich wieder auf den Stuhl plumpsen und musterte das Kärtchen. „Markus Lüders, Pension Garni Lüders, Krabbengrund 5“, stand da, dann noch Telefonnummer, Mobilnummer und die E-Mail-Adresse, sowie Homepage. Auf der Rückseite fand er eine Anfahrtskizze.

Merkwürdig, dass man sich fünf Jahre kennen und doch so wenig voneinander wissen konnte. Allerdings hatte er nie gefragt, wo Markus wohnte. Das gehörte zu den Dingen, die kein Kunde gern ausplauderte, bis auf ein paar sehr merkwürdige Vögel. Markus gehörte nicht zu Letzteren und hatte nur oft erwähnt, dass er einen weiten Weg hatte. Tja, knapp anderthalb Stunden legte wohl kaum ein anderer Freier zurück, nur um ihn, Sören, zu ficken. Sollte er sich im Nachhinein geschmeichelt fühlen?

Neugierig tippte Sören die Adresse ein und ließ sich per Google-Earth die Karte anzeigen. Ein langgestrecktes Gebäude, umgeben von hohen Bäumen tauchte auf dem Monitor auf. Nicht weit entfernt befand sich das, was man bestenfalls als Sandstreifen vor dem Meer bezeichnen konnte. Sören erinnerte sich, dass er mit seiner Oma oft über Gras gelaufen war und rumgejammert hatte, weil er viel lieber Sandburgen bauen und Quallen fangen wollte. Dennoch war der Urlaub einer seiner schönsten gewesen, weitaus besser, als die Aufenthalte in irgendwelchen Hotels auf Mallorca oder Ibiza, die bevorzugten Reiseziele seiner Eltern. Inzwischen lebten seine Alten auf Malle. Der Kontakt fand sporadisch statt, was bedeutete, dass er zu Weihnachten und an seinem Geburtstag eine Ansichtskarte im Briefkasten fand. Nachdem er sich geoutet hatte, war die ohnehin nicht besonders herzliche Beziehung abgekühlt. Er vermisste seine Eltern weitaus weniger, als seine Großmutter. Sie hatte ihm Liebe im Überfluss gegeben und war leider viel zu früh gestorben.

Irgendwie schien er heute auf dem sentimentalen Trip zu sein und da er einmal dabei war, zog er die Schublade des Schreibtischs auf und holte Jans Foto hervor. „Hey“, murmelte er und strich mit dem Daumen über das Bild. „Ich hab endlich aufgehört. Du würdest stolz auf mich sein. Aber was nun?“

Jan gab keine Antwort, lächelte ihn nur an und es schien fast, als würde er die Achseln zucken. Als Jan damals bei einem Verkehrsunfall starb, war Sörens Welt zusammengebrochen. Ihnen waren nur drei gemeinsame Jahre vergönnt gewesen. Wenn er gewusst hätte, dass die Zeit begrenzt war … Nein, nicht wieder in diese was-hätte-wenn Nummer verfallen. Jan und er waren einander nichts mehr schuldig. Sein Schatz hatte das Risiko geliebt und stets das Gaspedal voll durchgetreten. Lachhaft war, dass am Ende nicht er die Schuld an dem Unfall trug, sondern der LKW-Fahrer, der ungebremst in das Stauende raste. Jan starb in seinem geliebten Golf, mit gerade mal 32 Jahren. Sören warf das gerahmte Foto zurück in die Schublade, lenkte seine Aufmerksamkeit zurück aufs Notebook und tippte ‚Hundezucht‘ ins Suchfenster ein.



Drei Wochen später war er immer noch nicht weiter gekommen, was seine Lebensplanung anging. Inzwischen klingelte das Handy, auf dem sonst die Anrufe von Freiern eingingen, nur noch überaus selten. Er würde es ohnehin bald abmelden, da er sämtliche Kunden an andere Kollegen vermittelt oder schlicht abgewimmelt hatte. Überall standen Umzugskartons herum, das ehemalige Arbeitszimmer war ausgeräumt und eine Spedition bestellt, die sein Habe in ein Lagerhaus bringen würde. Sören plante, vorläufig mit zwei Koffern auszukommen und sich durch die Weltgeschichte treiben zu lassen. Falls man das einen Plan nennen konnte. Er hatte einfach keine Ahnung, was er tun wollte und brauchte wohl erstmal ein bisschen frischen Wind um die Nase. Nach 12 Jahren im Gewerbe, während derer er nur geackert und sich nie Urlaub gegönnt hatte, stand ihm ja wohl eine kurze Auszeit zu. Auf seinem Konto stapelten sich 250 Tausend Euro, von denen er ein paar auszugeben bereit war, bis ihm die Zukunft klar vor Augen stand.

Die Idee, seine Eltern auf Mallorca zu besuchen, hatte er schnell verworfen. Weder die beiden noch er würden sich über ein Wiedersehen freuen. Stattdessen dachte er immer öfter an Büsum, wegen der Nordsee und der frischen Luft, klar. Dass er dabei auch an einen lieben Kerl mit braunen Augen dachte, war nebensächlich. Markus hatte ihn sicher bereits vergessen und war Stammkunde eines Kollegen geworden.

In der letzten Woche, bevor seine Sachen abgeholt und die Wohnung von einem Nachmieter übernommen werden sollten, geriet Sören in Zugzwang. Vielleicht war es einzig diesem Umstand zuzurechnen, dass er sich mittags ein Herz fasste und Markus mit seinem privaten Handy anrief. Inzwischen war der Mai mit Wucht über Hamburg hereingebrochen. Überall sprossen Blätter und die Luft duftete bereits verheißungsvoll nach Sommer. Eine schöne Jahreszeit, um sie hinter den Deichen zu verbringen. Sörens Finger zitterten leicht, als er Markus‘ Nummer wählte. Angespannt lauschte er dem Rufton, dabei hielt er angespannt die Luft an.

„Sie sind verbunden mit der Mailbox von …“ Sören atmete enttäuscht aus und hörte, wie Markus tönern seinen Namen nannte. „Bitte hinterlassen Sie eine Nachricht nach dem Signalton.“

Was sollte er sagen? Er hatte keine Ahnung, daher unterbrach er die Verbindung. Einen Moment starrte er das Smartphone an und empfand sich selbst als kompletten Looser. Hey! Er hatte über 12 Jahre professionell Männer bedient und war nicht in der Lage, eine simple Nachricht auf ein dämliches Band zu sprechen? Sören drückte die Wahlwiederholung und als im gleichen Augenblick das Handy anfing zu vibrieren, wäre er vor Schreck fast vom Stuhl gefallen. Markus‘ Nummer blinkte im Display.

„Ja, hallo? Markus Lüders hier. Sie haben angerufen?“

Die Stimme klang so vertraut, dass Sören schwer schlucken musste. Er wusste, wie sie sich veränderte, wenn Markus ins Stöhnen geriet. Er wusste sogar, welche Laute der liebe Kerl von sich gab, wenn er kam. Mann! Das war abgefuckt! Er sollte diese Erinnerungen löschen, da ein neues Leben vor ihm lag. Fern der Bettkante, fern von anonymem Sex. Apropos: Er hatte wirklich seit fast vier Wochen nicht gewichst und auch keinerlei Erregung verspürt. War er dermaßen abgestumpft, dass er nie wieder mit einem Mann schlafen konnte?

„Hallo?“, brachte Markus‘ Stimme ihn zurück ins Jetzt.

„Hier ist Sören. Wir … Ich bin der …“ Oh Scheiße! Ich bin der, der dir alle zwei Wochen einen geblasen hat? Klasse. Schlimmer ging’s ja wohl kaum.

„Sören! Mann! Wie geht’s dir?“ Die offensichtliche Freude, die in Markus‘ Tonlage mitschwang, machte Sörens Herz leichter.

„Öhm. Ja, es geht. Wollte irgendwo frische Luft schnappen und dachte … dachte, dass Büsum um diese Jahreszeit sicher ganz viel davon zu bieten hat.“

Markus lachte leise. „Aber hallo! Ich kann mich vor frischer Luft kaum retten. Allerdings gibt’s ein Problem: Ich bin ausgebucht. Wenn du mit einem schmalen Gästebett in meinem Arbeitszimmer vorliebnimmst, bist du willkommen.“

Auf keinen Fall wollte Sören dem Mann auf der Tasche, geschweige denn auf dessen Gästebett liegen. Das roch schwer nach sexuellen Gefälligkeiten, die er keinesfalls zu geben bereit war. „Das ist total nett. Danke. Ich denke, ich melde mich im Herbst wieder.“

Es folgte eine lange Stille. Sören begriff, dass er Markus wohl verletzt hatte, konnte aber nichts sagen. Gerade war sein Fels in der Brandung weggebrochen und er wieder dem Wellengang ausgesetzt.

„Hör mal. Ich biete dir ein Gästebett an. Das ist nur ein Bett und schließt nicht ein, dass ich etwas von dir will. Ich verstehe absolut, wenn du … dass du wohl nie wieder mit jemandem … jedenfalls würde ich mich tierisch freuen, wenn du herkämst. Ich könnte sogar Hilfe gebrauchen.“ Markus klang absolut aufrichtig. „Ehrlich gesagt stehe ich ziemlich unter Druck. Meine Frühstückshilfe ist ausgefallen und ich finde auf die Schnelle keinen Ersatz.“

Plöpp! Tauchte der Felsbrocken wieder auf und Sören griff danach, als wäre er am Ertrinken. Er brauchte irgendeinen Halt und Markus bot diesen mit seiner Bitte um Hilfe. Es war eine Art zwei-in-eins Angebot: Markus bekam eine Arbeitskraft, dafür er einen Platz, an dem er Luft holen und nachdenken konnte. Im Grunde ein absolut genialer Deal.

„Okay. Ich miete mir gleich einen Wagen und bin in ein paar Stunden da. Bezieh schon mal das Bett. Was zahlst du?“ Sören lachte befreit. „Sorry. Kleiner Scherz am Rande.“

„Kost und Logis, mehr ist nicht drin.“ Auch Markus gluckste. „Ich freu mich. Bis nachher.“

Mit einem seligen Grinsen auf den Lippen legte Sören auf. Er hatte endlich ein Ziel. Zwar nur ein vorläufiges, aber wenigstens etwas. Gott! Was freute er sich auf Markus und eine neue Aufgabe. Selbst wenn der Kerl ihm Blümchenbettwäsche aufziehen würde, wäre das egal. Sören wollte endlich raus, seinem Leben ein neues Muster geben und wenn das damit begann, dass er nachts in hässlicher Wäsche schlafen musste, war das voll okay. Immer noch lächelnd, wählte er die Nummer eines Autoverleihs. Zwei Stunden später saß er hinter dem Lenkrad eines Golfs und fuhr, den Anweisungen des Navis folgend, auf der Autobahn in Richtung Itzehoe. „Nordsee, ich komme“, murmelte er leise.

Je näher er dem Meer kam, desto mehr Lämmer und Schafe tummelten sich auf den grünen Wiesen und Deichen. Sören bedauerte, dass er sich auf die Straße konzentrieren musste, da er die niedlichen Tiere zu gern länger betrachtet hätte. Bestimmt bot sich in Büsum eine Gelegenheit dazu. Ohne Probleme fand er den Krabbengrund und parkte vor der Nummer 5. Einen Moment blieb er im Wagen sitzen und musterte die imposante Hausfront. Pension Garni Lüders prangte in schmiedeeisernen Buchstaben quer über dem doppeltürigen Eingang. Das Gebäude schien ganz gut in Schuss zu sein, soweit Sören das beurteilen konnte. Er war selbst in einem Eigenheim aufgewachsen und hatte mehrfach bei dessen Renovierung geholfen, bis seine Eltern das Haus zugunsten einer Finca auf Mallorca veräußerten. Daher besaß er ein wenig Sachverstand, dazu noch zwei rechte Hände. Beidseitig säumten hohe Bäume, deren Wipfel sich unter einer leichten Brise bewegten, das Grundstück. Das Ganze wirkte überaus idyllisch auf ihn.

Er stieg aus und ging zum Kofferraum, wobei der Kies unter seinen Sohlen knirschte. Gerade hatte er die beiden Gepäckstücke heraus befördert, als Markus durch die Doppeltür trat und auf ihn zusteuerte.

„Willkommen hinterm Deich.“ Ein Dreitagebart betonte sein markantes Kinn. Bisher kannte Sören Markus nur glattrasiert und geschniegelt, daher war der Anblick überaus ungewohnt. Lässig in alte Jeans und ein kariertes Hemd, dessen Ärmel hochgerollt waren, gekleidet, machte Markus einen entspannten Eindruck.

„Danke für die Einladung.“ Etwas verlegen stand Sören da und wusste nicht, wie er Markus am besten begrüßen sollte. Als der ihm die Hand reichte, schlug er ein und drückte kräftig zu. Das war schon mal ein guter Anfang.

Markus griff nach einem der Koffer und nickte zum Haus. „Komm rein. Bin gerade am Kochen.“

„Echt?“ Sören schnappte sich den anderen Trolley. Nun merkte er deutlich, dass er seit dem Frühstück lediglich einen Schokoriegel verspeist hatte. Sein Magen knurrte, was auch Markus zu hören schien,

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Sissi Kaiserlos
Bildmaterialien: shutterstock Design Lars Rogmann
Tag der Veröffentlichung: 07.02.2015
ISBN: 978-3-7368-8189-1

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