Cover

Arztromane 5

 

Sämtliche Personen, Orte und Begebenheiten sind frei erfunden, Ähnlichkeiten rein zufällig.

 

Der Inhalt dieses Buches sagt nichts über die sexuelle Orientierung des Covermodels aus.

 

Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck oder eine andere Verwertung, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung der Autorin.

 

Ebooks sind nicht übertragbar und dürfen nicht weiterveräußert werden. Bitte respektieren Sie die Arbeit der Autorin und erwerben eine legale Kopie. Danke!

 

Text: Sissi Kaipurgay

Foto von shutterstock

Covergestaltung: Lars Rogmann

 

Todesanzeige für Allgemeinmediziner

 

Christoph bekommt eines Tages eine Todesanzeige zugeschickt. Die Frau seines Schulfreundes Birger ist verstorben. Vor 25 Jahren war er bei der Hochzeit dabei gewesen und an diesem Tag war in ihm etwas kaputt gegangen. Seitdem hatten sie sich kaum gesehen. Zur Taufe des ersten Kindes war er noch erschienen, bei der zweiten hatte er abgesagt. Danach herrschte Funkstille, bis eben dieser Brief kam.

***


1.



Christoph zerknüllte den Umschlag in seiner Hand. Der schwarze Trauerrand konnte nur bedeuten, dass darin eine Todesanzeige lauerte. Er wollte sie nicht lesen, nicht schwarz auf weiß sehen, dass sein einstmals bester Freund und große Liebe gegangen war. Natürlich machte es für ihn keinen Unterschied, ob Birger unter den Lebenden weilte oder tot war. Sie hatten sich seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehen. Zudem hatte eh nie Hoffnung bestanden, dass seine Liebe erwidert werden würde. Warum also tat es nur so weh?

„Na, Herr Doktor Meier? Schlechte Nachrichten?“ Die alte Vettel aus dem Erdgeschoss hatte sich angeschlichen und linste neugierig auf den Umschlag.

Er merkte erst jetzt, dass er noch immer vor den zerbeulten Briefkästen stand und ins Leere starrte. Wie lange schon?

„Das sieht ja aus wie eine Todesanzeige“, merkte die Frau an und gab sich gar keine Mühe, ihre Sensationsgeilheit zu verbergen.

„Mhm. Scheint so“, nuschelte Christoph, umrundete die Alte und stieg schleppend die Stufen in den zweiten Stock hoch. Er konnte sie noch an den Postkästen rumoren hören, als er vor seiner Wohnung ankam.

Sein erster Weg führte in die Küche. Nach einem Schluck Wasser fühlte er sich in der Lage, das Kuvert zu öffnen und zog den Bogen mit spitzen Fingern heraus. Die Augen halb geschlossen, überflog er den Text und ließ sich mit einem Gefühl tiefer Erleichterung auf einen Stuhl fallen. Nicht Birger war gestorben, sondern dessen Frau. Natürlich sollte er sich schämen, dass er nichts als Freude empfand. Er versuchte angemessen betroffen zu sein, doch es wollte ihm einfach nicht gelingen. Birger lebte! Das allein zählte.

Völlig erschöpft von den heftigen Emotionen, lehnte er sich zurück, streckte die Beine aus und trank die halbe Flasche leer. Vor seinem geistigen Auge erschien das Bild Birgers, wie er ihn zuletzt gesehen hatte. Mit einem Säugling in Taufkleidung auf dem Arm und überglücklich. Genau deshalb hatte er zur Taufe des zweiten Kindes nicht gehen können. Er gönnte Birger sein Glück, war aber gleichzeitig rasend eifersüchtig gewesen. Das hatte ihn beschämt, da das Baby doch nichts dafür konnte, dass sein Vater es liebte.

Christoph griff erneut nach der Anzeige und las: „Trauerfeier am 30.08.2014 um 14 Uhr im Krematorium Friedhof Ohlsdorf. Von Kränzen bitten wir abzusehen, stattdessen sind Spenden an die Krebsforschung …“ Er senkte den Brief und stierte die Wand an. Also war Birgers Frau an Krebs gestorben. Klar. Für einen natürlichen Tod war sie viel zu jung gewesen. Obwohl … manchmal fühlte er sich selbst steinalt und wünschte, er hätte sein Lebensende schon erreicht. Der Tod erschien ihm manchmal wie eine Erlösung aus der verteufelten Einsamkeit, der er einfach nicht entfliehen konnte.

In seinem Leben hatte es Männer gegeben, doch keiner hatte einen besonderen Stellenwert eingenommen. Niemand passte zu ihm, machte ihn glücklich und mit weniger konnte er einfach nicht zufrieden sein. Christoph hatte immer gehofft, dass sich doch noch ein Partner finden würde, aber mit den Jahren war ihm klargeworden, dass sein Herz gänzlich nur dem einen gehörte. Es schlug beharrlich für Birger und kein anderer Kerl konnte daran etwas ändern. Ehrlich gesagt hatte er keinem eine Chance eingeräumt, weil er insgeheim die Hoffnung nie aufgegeben hatte. Was war er doch für ein alter Trottel!

Sollte er zur Beerdigung gehen? Immerhin hatte Birger sich an ihn erinnert. Irgendwie kam Christoph das schon merkwürdig vor. Zuletzt hatte er ihn in seiner Praxis gesehen, vor über zehn Jahren, als Birger sich mit einem grippalen Infekt herumschlug. Entweder war er seitdem nie wieder krank gewesen, oder er hatte den Arzt gewechselt.

Die eine Woche bis zur Beerdigung überlegte Christoph hin und her. Natürlich hätte er Birger gern einmal wieder gesehen, doch lieber unter anderen Umständen. Wahrscheinlich würde es dazu jedoch niemals kommen. Von sich aus den ersten Schritt machen? Undenkbar! Und Birger … der hatte bestimmt andere Interessen, als seinen alten Freund.

Als der bewusste Freitag anbrach, hatte Christoph eine Entscheidung getroffen: Er würde hingehen, sich aber im Hintergrund halten. Schließlich gehörte er nicht zur Familie, nicht einmal mehr zum engeren Freundeskreis.

Da er den letzten Termin um zwölf Uhr hatte und sicher mal wieder ein paar Notfallpatienten folgen würden, nahm er den schwarzen Anzug mit in die Praxis. Er konnte sich dort umziehen und direkt zum Friedhof fahren.

Als er mit dem Kleidersack über dem Arm die Anmeldung der Gemeinschaftspraxis betrat, stand sein Teilhaber gerade am Empfangstresen. Andreas hob erstaunt die Augenbrauen.

„Nanu? Hast du heute noch was vor?“

„Mhm. Beerdigung“, murmelte Christoph und ging direkt in den Personalraum, um den Anzug in seinen Spind zu hängen.

„Warum hast du nichts gesagt? Du hättest dir freinehmen können. Kann ich irgendetwas tun?“, fragte Andreas in seinem Rücken.

„Ist nur eine Bekannte. Ihr Mann … wir waren befreundet.“ Christoph tauschte seine Jacke gegen einen weißen Kittel.

„Na gut. Du weißt, dass ich immer ein offenes Ohr für dich habe, nicht wahr?“

„Danke. Das weiß ich. Wie voll ist das Wartezimmer?“ Er drehte sich zu Andreas um und schloss dabei die Knöpfe.

„Noch geht es. Wann ist dein Termin?“

„14 Uhr. Das dürfte zu schaffen sein.“ Christoph schlug im Vorbeigehen seinem Teilhaber auf die Schulter. Er mochte Andreas sehr. Es war ein absoluter Glücksfall, einen derart kompetenten und zugleich sympathischen Partner an der Seite zu haben. Sie hatte schon darüber gesprochen, einen dritten Arzt in die Gemeinschaft aufzunehmen. Christoph wollte irgendwann kürzer treten, jedenfalls war das sein Plan. Ob er ihn tatsächlich ausführen würde, wusste er nicht. Was sollte er mit der ganzen Freizeit?

Die Sonne strahlte vom wolkenlosen Himmel. Christoph war spät dran, da im letzten Moment noch ein Patient dazwischen gekommen war. Als er das Gebäude erreichte, in dem die Feier stattfinden sollte, waren die Türen schon geschlossen. Er setzte sich auf eine der Bänke vor der rotbraunen Steinwand und horchte. Von drinnen ertönte gedämpft Musik. Wahrscheinlich wäre er ohnehin nicht mit hinein gegangen. Es reichte, wenn er dem Trauerzug zum Grab folgte und einen kurzen Blick auf Birger werfen konnte.

Christoph hielt sein Gesicht der Sonne entgegen, öffnete das Jackett und streckte die Beine aus. Es war verdammt warm in dem Anzug. Zum Glück hatte er auf die Weste verzichtet. Ab und zu fuhr ein Auto langsam vorbei, ansonsten war es total still und kaum ein Mensch zu sehen. Nach dem hektischen Vormittag genoss er die Ruhe.

Es dauerte ungefähr eine halbe Stunde, bis die Türen geöffnet wurden und vier Schwarzgekleidete den Sarg hindurch trugen. Christoph wartete, bis die Trauergemeinde an ihm vorbeidefiliert war. Als Letzter ging er hinterher, in gebührendem Abstand. Auch am Grab hielt er sich im Hintergrund. Birger stand zwischen zwei jungen Leuten, wohl seine Kinder. Er hatte sich kaum verändert und sah noch besser aus, als in Christophs Fantasie.

Der Sarg wurde in die Kuhle hinuntergelassen. Birger warf eine einzelne Rose in das Loch, nahm eine kleine Schaufel und schmiss Erde hinterher. Anschließend taten es ihm seine Kinder nach, während er einen Schritt beiseite machte. Sein Blick glitt suchend über die Menge und kurz war Christoph versucht, sich zu ducken. Ein blöder Reflex. Dann hatte Birger ihn entdeckt und er sah, wie einer seiner Mundwinkel ein bisschen nach oben zuckte.

Selbst über die Entfernung konnte er die Bitte in Birgers Augen lesen. Sein Freund wollte mit ihm reden, jedenfalls sollte er nicht einfach verschwinden. Das glaubte er zumindest zu erkennen. Vielleicht spielte dabei der Wunsch Vater des Gedanken, aber es reichte aus, dass Christoph sich in die Schlange der Kondolierenden einreihte. Als er an der Reihe war, gab er erst Birgers Kindern die Hand und murmelte ein ‚Tut mir leid‘, dann wandte er sich ihm zu.

„Mein Beileid“, sagte er, drückte die eiskalten Finger seines Freundes und spürte tiefes Mitgefühl. „Kann ich etwas für dich tun?“

Birger nickte. „Hättest du Zeit für einen Kaffee? Ich könnte jemand zum Reden gebrauchen.“

„‘Türlich“, nuschelte Christoph und klopfte ihm auf die Schulter. „Die Praxis ist bis Montag zu. Das reicht für ein paar Tassen.“

Birger atmete erleichtert auf. Dass Christoph überhaupt erschienen war, grenzte an ein Wunder. Er hatte ihre Freundschaft sträflich vernachlässigt und wusste nicht einmal, warum. Über vieles musste er sich nun, wo Marianne nicht mehr da war, klar werden. Sein Leben war im Moment ein Trümmerhaufen.

„Jake? Ariane? Kommt ihr klar?“ Er trat zu seinen Kindern und legte die Arme um deren Schultern. „Ich brauche ein bisschen Zeit für mich. Bitte habt Verständnis.“

„Wer ist das?“, wisperte Arian und linste zu Christoph rüber. Ihre Augen waren vom Weinen verschwollen und die Stimme belegt.

„Ein alter Freund. Zudem ist er mein Hausarzt.“

„Wir kommen klar“, meinte Jake, der wesentlich gefasster wirkte.

„Danke. Wir sehen uns morgen, okay?“ Birger hauchte Ariane einen Kuss auf die Wange und drückte Jakes Schulter. „Um eins gibt es Essen.“



Eine halbe Stunde später saß er mit Christoph in einem gemütlichen Café. Vor ihm stand, neben der Kaffeetasse, ein Schwenker mit Cognac. Der endgültige Abschied von Marianne hatte ihm stärker zugesetzt, als er angenommen hatte. Daher hatte Christoph mit der ihm eigenen Feinfühligkeit den Alkohol geordert. Birger drehte das Glas in den Händen und starrte auf seine Finger.

„Manchmal erscheint das ganze Leben wie eine einzige Lüge“, murmelte er sinnend, hob den Blick und sah Christoph an. „Als hätte ich die letzten 25 Jahre nur geträumt. Wenn die Kinder nicht wären, würde ich das wirklich annehmen. Werde ich verrückt?“

„Warst du denn nicht glücklich?“

„Doch. Nein. Ich war … zufrieden. Das drückt es wohl am besten aus. Du weißt doch, dass Marianne schwanger war und wir deshalb heiraten mussten. Wenn das nicht passiert wäre, hätte ich sie sicher nicht zur Frau genommen. Sie war ein toller Mensch, aber nicht die große Liebe.“

Christoph schnaubte und zog die Augenbrauen zusammen. „Als wenn es das gäbe.“

„Glaubst du nicht daran?“ Birger nippte an dem Glas und empfand das Brennen in der Kehle als wohltuend.

„Nein. Das ist Zeug für Schnulzen. Kennst du jemanden, der seinen Traumpartner gefunden hat.“

Er überlegte, griff nach seiner Tasse und trank. Der Kaffee verstärkte die Hitze in seinem Hals. „Glaube nicht. Viele aus Mariannes Freundeskreis sind geschieden oder neu verheiratet. Tja. Mariannes Freunde. Das ist etwas, was mir erst jetzt bewusst geworden ist. Es sind ihre Leute und irgendwie habe ich mein halbes Leben mit denen verbracht, ohne so recht warm mit ihnen zu werden. Mit anderen Worten: Ich stehe ganz allein da. Na ja, fast. Da sind ja noch meine Kinder, aber die sind flügge und brauchen mich nicht mehr.“

„Und ich bin da“, erinnerte Christoph.

„Ja.“ Birger seufzte und lächelte ihm zu. „Du bist da, in diesem Moment. Danke dafür. Aber ich kann ja wohl kaum verlangen, dass du mir mehr als dieses bisschen Zeit schenkst. Du hast ein eigenes Leben und ich … ich hab mich nicht gerade um dich gekümmert in den letzten Jahren.“

„Ja und? Wenn ich dir helfen kann, bin ich da. Wir sind doch Freunde.“

Wann waren Christophs Haare grau geworden? Birger studierte sein Gegenüber ein paar Sekunden. Gut sah Christoph aus, fast noch besser als in jungen Jahren. Die feinen Fältchen in den Augenwinkeln machten ihn sympathisch und standen ihm ausgezeichnet. Ob er inzwischen verheiratet war? Die Hände waren schmucklos, was jedoch heutzutage nichts bedeuten musste. Er selbst trug seinen Ring schon lange nicht mehr.

„Schöne Freunde, die sich nicht umeinander kümmern“, brummte er und senkte den Blick auf den Cognac. „Ich schäme mich. Keine Ahnung, wie das passieren konnte.“

„Hey! Alles ist gut! Du hast Kinder großgezogen und dein eigenes Leben gehabt. Ich war mit meiner Praxis beschäftigt. Nun haben wir vielleicht Zeit, unsere Freundschaft zu pflegen.“ Christoph hatte sich über den Tisch gebeugt und seine Stimme hatte einen eindringlichen Tonfall angenommen.

„Ach ja, Praxis. Wird Zeit, dass ich da mal wieder vorbeikomme. Gesundheitscheck.“

„Mach Montag einen Termin. Ich habe einen netten Teilhaber, Dr. Gerbholz. Wenn du lieber von ihm untersucht werden willst …“ Christoph grinste und zwinkerte. „Krebsvorsorge, sag ich nur. Solltest du auf jeden Fall machen lassen.“

„Puh! Erinnere mich nicht daran.“ Birger kippte den Rest Cognac herunter und trank anschließend den Kaffee aus. „Sag mal … bist du eigentlich verheiratet?“ Er sah Christoph in die Augen.

„Nö. Immer noch Junggeselle. Na ja, Altgeselle wohl eher.“ Die Fältchen um die Augen vertieften sich. Fasziniert starrte Birger das attraktive Gesicht seines Freundes an. Waren die Weiber denn alle blind?

„Hättest du vielleicht Lust noch mit zu mir zu kommen? Das Haus ist so leer und irgendwie weiß ich gar nicht, wie es weitergehen soll. Ach Scheiße! Ich mach hier voll einen auf Mitleid. Sorry. Vergiss, was ich gesagt habe.“ Birger seufzte und winkte den Ober heran, dabei zückte er seine Brieftasche. „Du bist eingeladen“, sagte er zu Christoph und zum Kellner: „Zahlen bitte.“

„Ich hätte nichts dagegen, den Rest des Tages mit dir zu verbringen“, meinte Christoph, als sie nebeneinander zu dessen Wagen gingen. „Wechselklamotten habe ich im Auto. Ich meine wegen des Anzugs. Würde den schon gern loswerden.“

„Ich auch. Hasse dieses steife Zeug“, erwiderte Birger und versuchte gar nicht erst, seine Freude zu verbergen. Wenn seine Kinder ihn sehen könnten, strahlend und gelöst, wären sie sicher entsetzt. Ein Fünkchen schlechtes Gewissen spürte er schon. Seine Frau war gerade erst unter der Erde, da hatte man angemessen betrübt zu sein.

Da Mariannes Sterben sich über drei Jahre hingezogen hatte, war er entsprechend gefasst gewesen, als sie den letzten Atemzug tat. Am Ende hatte sie ihn nicht einmal mehr erkannt. Im Grunde war es für alle – insbesondere für sie – eine Erlösung gewesen, als ihr Herz vor zwei Wochen zu schlagen aufhörte. Natürlich hinterließ sie eine Lücke in seinem Leben. Kein Wunder, wenn man bedachte, dass sie über 25 Jahre zusammen gewesen waren. Dass ihm diese Zeit im Rückblick wie eine falsch besetzte Komödie vorkam, half nicht. Es ließ sich daran ohnehin nichts mehr ändern. An der Zukunft jedoch schon.



2.



„Oh mein Gott“, murmelte Christoph, als er hinter Birger das Haus betrat.

Die Gartenzwerge im Vorgarten hätten ihm eine Warnung sein sollen. Wo man auch hinsah, türmte sich Nippes und fast jeder Fleck der Wände war mit hässlichen Bildern verdeckt. Hier und da standen blaue Müllsäcke herum und es sah so aus, als hätte Birger schon einiges fortgeräumt. Vereinzelt war Tapete zwischen den Exponaten des Schreckens zu erkennen.

„Marianne liebte Kitsch. Sie brachte von jeder Reise einen Berg Souvenirs mit und hing daran. Okay, sie war ein Messie.“ Birger seufzte und wies auf eine Tür. „Da ist das Bad. Da kannst du dich umziehen.“

„Danke.“ Christoph ging durch den schmalen Flur, wobei er mit dem Kleidersack versehentlich einige Figürchen von einer Kommode schubste. Sie zersprangen auf dem Boden; die Einzelteile spritzten in alle Richtungen davon. „‘Tschuldige“, murmelte er verlegen über die Schulter. „Die ersetze ich natürlich.“

„Untersteh dich!“ Birger schnaufte empört. „Bestimmt gibt es das Zeug hier irgendwo noch mal. Davon ab … ich mag es eh nicht.“ Die letzten Worte kamen ganz leise und sein Freund musterte mit zusammengezogenen Brauen die verbliebenen Figuren auf dem Schränkchen.

„Wir reden gleich“, sagte er und verschwand im Bad.

Auch dort regierte Königin Kitsch. Von den rosa Handtüchern, passend zum Duschvorhang und den Gardinen, brannten Christophs Netzhäute. Er versuchte beim Umziehen möglichst wenig zu berühren, da er befürchtete, dass sonst weitere Scherben auf den Fliesen landeten. Eine Sammlung Mini-Parfumflakons war in einem verspiegelten Regal gegenüber dem Waschbecken untergebracht. Daneben, darüber und überall hingen kleine Rähmchen, gespickt mit überzuckerten Motiven. Zur Krönung des Ganzen stand auf der Fensterbank eine Klorolle, die von einem gehäkelten Überzug – in rosa – verdeckt wurde. In deren Mitte steckte eine Barbiepuppe, platinblond und – wer hätte das gedacht? – in pinken Klamotten. Christoph stopfte den Anzug achtlos in den Kleidersack und verließ fluchtartig den Raum.

Der Flur war leer. „Birger?“ Er lauschte und hörte von irgendwoher die Antwort: „Hier. Ziehe mich gerade um. Nimm dir ein Bier aus dem Kühlschrank.“

Den Sack an die Brust gepresst, um nicht erneut irgendetwas abzuräumen, warf Christoph einen Blick durch den Türrahmen zur rechten. Sah nach Wohnzimmer aus. Der nächste Raum entpuppte sich als Küche und wirkte nahezu nüchtern. Nur wenig Kram stand herum und ein hypermoderner Edelstahlkühlschrank, wie er ihn sich schon immer gewünscht hatte, zog ihn magisch an. Christoph legte den Kleidersack auf einen Stuhl und holte eine Flasche Wasser aus dem Kühlgerät. Während er mit gierigen Schlucken trank, musterte er das Gerät und fragte sich, wie es zu dem Rest des Hauses passte.

„Den hab ich mir letzte Woche gekauft“, verkündete Birger stolz von der Tür her. „Ist der nicht geil?“

„Aber hallo.“ Christoph grinste und hielt ihm die Flasche hin. „Für Bier ist es noch zu früh. Lass uns hinsetzen und reden.“

Am Küchentisch erzählte Birger von seiner Ehe, Mariannes Sammelleidenschaft, ihren Reise und den Kindern. Er geriet ins Schwärmen, wenn er von Jake und Ariane sprach und lobte auch seine Frau in den höchsten Tönen.

„Marianne war stets gut gelaunt, fleißig und immer sehr lieb zu mir. Ich kann mich echt nicht beklagen. Sie war mir eine gute Gattin. Nur … nun ist sie weg und ich kann das ganze Zeug nicht ausstehen. Es wegzuwerfen erscheint mir dennoch falsch. Als würde ich ihre Leiche schänden oder so. Verstehst du?“

Christoph nickte. „Als wenn du ein Museum ausräumst. Dennoch solltest du dich für den Rest deines Lebens so einrichten, wie es dir gefällt. Ich kann dir gerne helfen, wenn du magst. Habe da wenig Skrupel.“

„Einfach … wegschmeißen?“, fragte Birger zweifelnd.

„Du kannst das Zeug auch bei eBay anbieten“, meinte Christoph und bemühte sich, nicht allzu spöttisch zu klingen. „Wird nur keiner kaufen.“

„Du hast recht. Und weißt du was? Lass uns ein paar Säcke füllen.“ Unternehmungslustig sprang Birger auf.

Eine Stunde später standen fünf blaue Tüten vor dem Haus und Christophs Magen knurrte. Im Flur sah es aus, als wäre ein Orkan hindurchgefegt. Jeglicher überflüssiger Kram war verschwunden und die Wände waren nackt, bis auf hunderte von Nägeln. Eine Menge Arbeit lag vor Birger, wenn er gründlich renovieren wollte.

„Ich werde mal nach Hause fahren. Hab Hunger.“ Er ging in die Küche, nahm den Kleidersack hoch und hielt Birger die Hand hin. „Bis bald.“

Für einen Moment sah es so aus, als wenn sein Freund zugreifen würde, dann hing er ihm am Hals. Überrumpelt schloss Christoph kurz die Augen und atmete tief den ungewohnten Duft ein. Der Sack hinderte ihn zum Glück daran, Birger ebenfalls zu umarmen.

„Danke für alles.“ Eine stoppelige Wange schrubbte an seiner entlang. „Sorry. Bin heute etwas emotional.“

„Schon gut“, brummte er, sog heimlich den männlichen Geruch in die Nase und war froh, dass Birger sich schnell wieder von ihm löste. Das Letzte, was er gerade brauchte, war eine Erektion.

„Also, danke.“ Birger lächelte krampfhaft. „Magst du vielleicht morgen auch zum Essen kommen? Ich koche und meine Kinder sind da.“

„Lieb von dir aber …“ Mist! Auf die Schnelle wollte Christoph keine Antwort einfallen. „…aber ich muss in die Praxis. Viel Arbeit.“

„Oh. Tja. Schade.“

„Mhm. Nächstes Mal vielleicht.“ Er wandte sich zur Haustür und ging zu seinem Wagen. Nachdem er den Kleidersack auf dem Rücksitz verstaut hatte, sah er noch einmal zum Haus. Birger stand in der Tür und hob linkisch die Hand, als wenn er winken wollte. Christoph erwiderte die Geste mit einem Nicken und kletterte hinters Lenkrad. Als er zurücksetzte, war Birger nicht mehr zu sehen.



Das Wiedersehen hatte ihm hart zugesetzt. Christoph musste sich eingestehen, dass die Gefühle für Birger immer noch da waren. Sicher war es das Beste, wenn er seinem Freund weiterhin aus dem Weg ging. Andererseits mochte er ihn nicht allein lassen. Und das war Birger, hatte er ja selbst zugegeben.

Am Sonntag war sein schlechtes Gewissen so weit angewachsen, dass er einfach zu ihm fuhr. Es war kurz vor Mittag und er hatte die Idee, mit Birger irgendwo essen zu gehen. Vielleicht an der Alster und danach noch ein bisschen umher wandern. Er stellte das Auto in der Auffahrt ab und stieg aus. Zu den fünf blauen Säcken hatten sich inzwischen zehn weitere gesellt. Birger war also fleißig gewesen.

Die Haustür stand offen. Als Christoph eintreten wollte, kam ihm sein Freund mit einem prall gefüllten Müllsack entgegen. Birgers Lippen kräuselten sich zu einem erfreuten Lächeln.

„Hey! Schön, dass du vorbeischaust. Magst du mir das hier abnehmen und zu den anderen tun?“ Ohne auf eine Antwort zu warten, drückte Birger ihm den Sack in die Arme.

Christoph stellte ihn zu den anderen, streifte seine Jacke ab, klemmte sie unter den Arm und wagte einen weiteren Versuch, ins Innere des Hauses zu gelangen. Diesmal drang er bis zum Wohnzimmer vor. Zwischen einem Karton und einem neuen Müllsack wanderte Birger hin und her. Stück für Stück nahm er den Nippes in die Hand und sann einige Sekunden, bevor er ihn wahlweise im Sack oder dem Pappkarton ablegte. Christoph musste schmunzeln. Wenn er an Stelle seines Freundes wäre, hätte er alles in einem Rutsch weggeworfen. Doch er war auch nicht ewig verheiratet gewesen.

„Kann ich helfen?“, bot er an.

„Das wäre toll. Magst du den ganzen Krempel aus dem Bad entsorgen? Die Parfumfläschchen allerdings nicht. Ich glaube, Ariane würde sich darüber freuen.“

„Sonst alles? Auch die Klorollen-Diva?“

„Alles!“, brummte Birger düster. „Ich benutze nur noch das Badezimmer im Obergeschoss, weil es mich hier unten förmlich erdrückt. Setz die Abrissbirne an und räum alles weg, bis auf die …“ „Parfüm-Flakons, schon klar“, erwiderte Christoph amüsiert.

Eine Stunde und zwei volle Säcke später war das Bad kahl. Er grübelte gerade über den rosa Handtüchern, als Birger nach ihm rief. Er fand ihn in der Küche vor dem Kühlschrank.

„Hast du Hunger? Ich hab noch Reste von gestern. Nix besonderes, nur Rinderschmorbraten mit grünen Bohnen und Kartoffeln.“

„Wow! Her damit“, stieß Christoph begeistert hervor und sein Magen äußerte sich mit einem gierigen Knurren. „Habe ewig nicht mehr etwas Selbstgekochtes gegessen.“

„Echt? Na ja, ich koche auch nur noch selten. Für mich allein …“ Birger zuckte mit den Achseln, beugte sich in den Kühlschrank und holte nach und nach mehrere Gefäße heraus. „Gib mir eine Viertelstunde, dann kann’s losgehen“, bat er und war schon dabei, einen Topf auf den Herd zu stellen, als ihm noch etwas einfiel. „Schmeiß auch den rosa Mist weg. Ich kaufe neue Handtücher und der Duschvorhang schimmelt eh. Also weg damit.“ Er wandte sich wieder dem Essen zu.

Konnte Birger Gedanken lesen? Christoph ging zurück ins Bad und entsorgte die Handtücher, nahm den grauslichen Duschvorhang ab und entfernte die Gardinen. Nun sah der Raum aus wie … wie ein normales Badezimmer, das nicht benutzt wurde. Auch nicht schön. Sein Blick wanderte zu der Ablage unter dem Spiegel. Im Geiste sah er dort zwei Becher mit Zahnbürsten darin stehen. Birgers war blau, seine weiß. Wie es sich für einen Doktor gehörte. Hallo? Was für Fantasien waren das denn? Zahnbürstensex?

„Christoph? Kommst du?“, holte ihn Birgers Stimme zurück in die Realität.

Während sie sich am Küchentisch gegenübersaßen und den köstlichen Braten verspeisten, musterte Christoph heimlich seinen langjährigen Freund. Tiefe Linien hatten sich in dessen Gesicht eingegraben, vor allem um die Augen und den Mund. Die blonden Locken, die er schon früher so sehr gemocht hatte, waren kurz geschnitten. Erstaunlich lange Wimpern verdeckten die – nach seinem Wissen – grünen Augen. Birger aß konzentriert, guckte plötzlich hoch und die tiefgrünen Iriden erschlugen Christoph förmlich.

„Schmeckt’s dir?“

„Ja. Sehr. Es ist besser als alles andere, was ich seit langem … seit meine Mutter nicht mehr lebt …“ Er musste abbrechen, da ihm der Hals kurz eng wurde. Es war inzwischen über ein Jahr her, dass seine Mutter einen plötzlichen Herzstillstand erlitten hatte. Sie war nur 75 geworden und immer die Frohnatur in Person. Leider hatte sie gequalmt wie eine Irre und … aber daran wollte er jetzt nicht denken.

„Das tut mir leid. Ich mochte sie sehr.“ Birger hatte das Besteck sinken lassen und guckte betroffen über den Tisch. „Warum hast du nicht …?“

Die Frage blieb unbeantwortet und unvollendet im Raum hängen. Christoph senkte den Blick und aß weiter, Birger tat es ihm nach. Plötzlich schmeckte alles wie Pappe und es dauerte eine Weile, bis das beklemmende Gefühl nachließ.

„Weißt du, wir standen uns in all den Jahren nicht besonders nah“, setzte er schließlich zu einem Erklärungsversuch an. „Du warst … beschäftigt und ich dachte, du bist glücklich damit.“

„Das ist doch Bullshit!“ Birger hob verärgert die Brauen, doch als sich ihre Blicke kreuzten, gab er mit einem tiefen Seufzer nach. „Du hast recht. Ich habe keine Ahnung, wie das passieren konnte. Das Leben, es verging eben und die Kinder … Ach, Scheiße! Ich bin jedenfalls heilfroh, dass du noch mit mir redest.“ Er erhob sich und räumte die Teller in die Spüle. Dass beide leer und der Braten komplett aufgegessen war, befriedigte ihn ein wenig. Wenigstens schmeckte Chris sein Essen. Chris. Wie oft hatte er an seinen Freund gedacht und sich gefragt, wie es ihm ging. Warum hatte er nie angerufen? Okay, die Telefonleitung funktionierte auch in die andere Richtung und Chris hatte sich auch nicht gemeldet. Ach, was überlegte er hier bloß? Sein Freund war hier, allein das zählte im Moment.

„Ich habe genug für ein Wochenende geräumt. Lust, ein bisschen frischen Luft zu schnappen?“, fragte er über die Schulter, während er Wasser über die Teller laufen ließ.

„Klar. Eigentlich hatte ich dich zum Essen ausführen wollen. Das hier war aber viel besser als das Zeug, das es in Restaurants gibt.“

„Schmeichler!“ Birger lachte und wandte sich um. „Fahrradtour? Jakes alte Gurke müsste genau richtig für dich sein.“

~ * ~

Schon lange hatte Birger sich nach einem Wochenende nicht mehr so ausgepowert gefühlt. Erst die Räumerei, das Essen mit den Kindern, das in angespannter Atmosphäre stattgefunden hatte. Dann Chris und die Fahrradtour. Es dämmerte bereits, als sie die Drahtesel in die Garage schoben. Birger spürte einen Frieden in sich, den er unbewusst vermisst hatte. Den ganzen Tag mit Chris zu verbringen war eine Wohltat für seine Seele. Einfach reden oder schweigen, ohne dabei ständig nachdenken zu müssen, ob er damit den anderen verletzte. Die Vertrautheit aus Jugendtagen war greifbar nah.

„Bleibst du zum Abendessen?“

„Nein. Ich hab noch was zu erledigen“, lehnte Christoph ab.

„Schade. Sehen wir uns bald wieder?“ Birger merkte selbst, wie bittend seine Worte klangen. Er wollte Chris wiedersehen und das nicht erst in zwanzig Jahren.

„Klar. Ich rufe dich morgen an. Und vergiss nicht, einen Termin für den Gesundheitscheck zu machen.“ Christoph streckte die Hand aus und diesmal griff er zu. Lieber hätte er ihn umarmt, doch sein letzter Ausfall war ihm inzwischen peinlich. Sein Freund sollte nicht denken, dass er zum anderen Ufer gewechselt hatte.

„Dann … schönen Abend“, murmelte er und sah zu, wie Chris in seinen Wagen stieg, zur Straße zurücksetzte und davonfuhr. Seine Finger kribbelten noch etwas von dem warmen Händedruck.

Langsam ging er zum Haus, musterte die angehäuften Müllbeutel und machte sich im Geiste eine Notiz, dass er bei der Stadtreinigung anrufen musste. Auf normalem Wege würde er das Zeug niemals entsorgt bekommen und ein Ende war auch nicht in Sicht. Jake und Alina waren entsetzt gewesen, als sie das Fehlen des ganzen Zierrats bemerkt hatten. Er hatte sich Vorwürfe anhören müssen, dass er das Andenken an ihre Mutter schändete. Dementsprechend mies war die Stimmung am Vortag beim Essen gewesen.

Nachdem er eine Schnitte Brot gegessen hatte, holte er ein Bier aus dem Kühlschrank und begab sich damit auf die Terrasse. Dank der von der Sonne aufgeheizten Ziegelwand war es dort noch gut auszuhalten. Er machte es sich auf einem Liegestuhl bequem und starrte in die beginnende Dunkelheit. Früher, bevor Marianne erkrankte, hatte sie ihm bei solchen Gelegenheiten Gesellschaft geleistet. Dabei waren ihre Hände stets mit irgendeiner Handarbeit beschäftigt, während sie sich über Belanglosigkeiten unterhielten. Im Grunde waren die Kinder ihr einziges Gesprächsthema gewesen. Birger begriff, dass er seine Gattin eigentlich gar nicht richtig gekannt hatte. Sie ihn allerdings auch nicht. War das ein Trost?



3.



Eigentlich wäre Christoph noch gern bei Birger geblieben. Zu Hause wartete niemand auf ihn und zu tun hatte er auch nichts. Neulich hatte er aus Langeweile im Internet nach Dating Plattformen gesucht und sich auch tatsächlich auf einer angemeldet. Es dauerte jedoch nur eine halbe Stunde, bis ihn das dumme Geplänkel über Sex gelangweilt hatte. Halb Prollhausen schien sich dort versammelt zu haben, um mit mehr oder minder mieser Rechtschreibung über das eine zu reden.

Was Birger wohl gerade tat? Suchte er im Internet nach einer neuen Frau? Sie hatte über alles Mögliche geredet, sich an Dinge aus ihrer Jugend erinnert, doch dabei allzu Persönliches gemieden. Wie zum Beispiel …

Christoph stand von der Couch auf, schenkte sich einen Cognac ein und trat auf den Balkon hinaus. Dunkelheit hatte sich über den kleinen Garten hinter dem Mehrfamilienhaus gelegt. Von irgendwoher drang Musik an sein Ohr. Einer der Nachbarn hatte wohl das Fenster offenstehen und den Fernseher laut gestellt. Sicher mal wieder die alte, schwerhörige Frau Meier aus dem ersten Stock.

Wie lange war es jetzt her? Damals müssen sie siebzehn gewesen sein. Das zehnte Schuljahr war gerade angebrochen und oft hatten Birger und er zusammen gelernt. Na ja, meist eher gequatscht. Es war die Zeit, in der junge Männer ganz im Banne ihrer Hormone standen. Christoph erinnerte sich, dass er fast ständig erigiert durch die Gegend gerannt war und sich bei jeder Gelegenheit einen runtergeholt hatte. Dass er dabei an knackige Männerärsche denken musste, war überaus irritierend für ihn gewesen.

Er nippte am Glas, ging zurück ins Wohnzimmer und hockte sich aufs Sofa. Seine Gedanken wanderten in die Vergangenheit.

Das Jugendzimmer in seinem Elternhaus war so klein gewesen, dass neben dem Bett nur ein schmaler Schrank und ein winziger Schreibtisch Platz fanden. Daher kauerten Birger und er zumeist im Schneidersitz auf der Matratze, wenn sie gemeinsam lernten. Birgers Zimmer war zwar größer, doch irgendwie ungemütlicher.

Ich hab neulich mit Susanne aus der achten rumgemacht“, verkündete Birger überraschend, anstatt Christopher eine Vokabel abzufragen. Sie lernten gerade Englisch.

Und? Hat sie dich richtig rangelassen?“

Nö. Aber ich durfte an ihr rumfummeln und sie hat mich angefasst. War schon komisch.“ Birger klappte sein Buch zu und warf es auf den Boden. „Voll ungeschickt. Ich dachte erst, sie will ihn mir abreißen.“

Echt?“

Christoph erinnerte sich noch genau, dass ihn die Vorstellung, dass eine Mädchenhand an seinem Schwanz herumfummelte, mächtig abgetörnt hatte.

Meinst du, die sind alle so ungeschickt?“, fragte Birger verzagt. „Ich hab nicht mal abgespritzt.“

Keine Ahnung.“

Birger hatte eine Weile ins Leere gestarrt, sich dann nach dem Buch gestreckt und so, als hätte das Gespräch nicht stattgefunden, monoton die nächste Vokabel abgefragt. Zwei Wochen später wurde eine Schuldisco veranstaltet. Da Christophs Eltern verreist waren und sie vorhatten, sich gründlich zu betrinken, nistete Birger sich vorsorglich bei ihm ein. Das war schon oft passiert, wobei er normalerweise auf dem Boden auf einer Luftmatratze schlief. Besoffen wie nichts Gutes waren sie in der Nacht zusammen im Bett gelandet und da war es passiert.

Wenn du ein Mädschen wärscht, wüdde isch disch lieben“, nuschelte Birger.

Un so liebs du mich nich?“

Doooch! Klaaaar!“ Eine Handfläche patschte gegen seine Wange. „Du bisch doch mein besser Freund.“

Christoph hatte sogar noch den Duft in Erinnerung, den sein Freund damals verströmte. Wodka und Testosteron. Es hatte richtiggehend in der Nase gestochen.

Weissu was? Du heisch jezz Chrischtine und zeigsch mal, wasch du kannsch.“ Birger grabschte sich seine Hand und schob sie in seine Shorts.

Im Schutze der Dunkelheit und unter dem Deckmantel

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Sissi Kaiserlos
Bildmaterialien: shutterstock by Lars Rogmann
Tag der Veröffentlichung: 06.08.2014
ISBN: 978-3-7368-3519-1

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /