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Das Tagebuch der kleinen Kakerlake Kopernikus

Kopernikus berichtet aus seinem Leben in der Küche von Menschensleuten. In dem Bau hinter dem Waschbecken spielen sich sowohl Komödien als auch Tragödien ab: Halt ein ganz normales Schabenleben.

Tag 1

Heute hat es Petrus getroffen. Er ist nicht der Schnellste und als er gerade um die Ecke des Kühlschranks schlenderte, ein Bröckchen Zucker auf der Schulter, traf es ihn. Ich vermute, dass es sich um eine Art Fliegenklatsche handelt, die ihn total platt gemacht hat. Seine Überreste waren so flach, dass wir sie durch einen Spalt in den Bodendielen entsorgen konnten. Das ersparte die übliche Einäscherung. Gut so, denn beim letzten Mal hat es auch die vier Sargträger erwischt, die den Backofen nicht schnell genug wieder verlassen konnten, bevor die Klappe zugeworfen wurde. Sünde! Es waren gute Schaben gewesen!

Wenn mich einer fragt, wird es als Nächstes wohl Jesus treffen. Der ist ähnlich lahmarschig wie Petrus. Außerdem hat er sich aus plattgetretenen Strohhalmen Sohlen gebastelt, die er mit Bindfaden an seinen Füßen befestigt hat. Er nennt die Dinger Jesuslatschen und ist natürlich noch langsamer, wenn er auf den Dingern herumschleicht. Also, ich würde an seiner Stelle vorsichtig sein mit derart Schabernack! Wie schnell verwirkt doch einer von uns sein Leben!

Gibt es eigentlich einen Schabenhimmel? Neulich, beim Morgengebet, habe ich darüber nachgedacht, bin aber nicht weit gekommen. Haha! Nein, nicht weil ich dabei Jesuslatschen anhatte, sondern weil das ‚Schamen‘ so schnell kam. Der Priester hatte es eilig, was wohl an dem leckeren Duft nach frischen Brötchen gelegen haben mag. Die Menschensleute, die uns beherbergen, hatten gebacken und der Geruch zog in die Kapelle hinter dem Waschbecken. Mir läuft immer noch das Wasser im Kiefer zusammen, wenn ich daran denke.

So, Gute Nacht, liebes Tagebuch. Bis morgen.

Tag 1.1

Wie schon erwartet trifft es als nächstes Jesus. Er latscht mit einem Krümel Schokolade in den Armen gerade stolpernd auf mich zu, da senkt sich ein großer Schatten auf ihn und es macht ‚Smotch‘. Tja, der Rest von Jesus ähnelt einem Gebilde, das aus Kakaomasse und Strohhalmen besteht. Von ihm selbst bleiben nur der Panzer und die Andeutung von ausgestreckten Fühlern. Mithilfe von zwei tüchtigen Schabenkollegen packe ich zu, bevor der Schatten erneut zutreten kann. Wieder passen die Überreste haargenau in eine Lücke der Dielen. Friede seiner … Asche?

Ich frage mich langsam, wieso wir Schabenheinis einander verbrennen. Dieses Ritual hat unter den Lebenden schon weit mehr Opfer gefordert, als unter den Toten. Wieso? Tja, das ist eine klare Timing-Frage. Jedes Mal wird der Leichnam aufgebahrt, bis den Menschensleuten danach ist, den Backofen einzuheizen. Das hat – im schlimmsten Fall – schon mal einen Monat gedauert. Über den Gestank brauche ich ja wohl nicht reden. Also, über den des Schabenkadavers, nicht über den des Ofens. Klar!

Also: Wenn es dann soweit ist, nehmen vier Schabenträger die Bahre hoch und wetzen zum Ofen. Dann heißt es: Aufpassen! Sobald die Luke geöffnet wird, krabbeln die Bahrenträger blitzgeschwind hoch, wetzen in die Gluthitze, legen den Leichnam ab und – zack! – zumeist ist die Tür schon wieder zu, noch bevor die armen Schabenkollegen überhaupt ‚piep‘ sagen können.

Nein, Kakerlaken piepsen nicht. Ich will hier echt keine Gerüchte in die Welt setzen. Wir verständigen uns durch … Schnarchlaute. Wir grunzen. Äh, wir schnalzen gewissermaßen. Entgegen den Menschensleuten nutzen wir eben rudimentäre Gesten oder auch Geräusche, die jedoch klarer verständlich sind, als komplizierte Sprache. Wenn ich – beispielsweise – ein ‚rghh‘ aus meinem Kiefer presse, weiß der Kollege sogleich, dass er sich für die nächsten Monate mal fürchterlich gehackt legen darf. Okay, bei den Weibchen unter uns hat das das Gegenteil zu Folge: Sie reagieren mit einem ‚rrrm?‘ und – Zack! – hat man eine Diskussion am Schabenarsch! Warum? Weil … weil … weil … Keine Ahnung, aber ich komme vom Thema ab.

Also: Die Feuerbestattung birgt Risiken, die einfach zu hoch sind für eine einfache Schabenkolonie, die nur gerade mal 10.933 Exemplare umfasst. Wie schnell wären wir dem Erdboden gleich, wenn wir jedes Opfer in dieser Form beerdigen würden? Nach einer flotten Hochrechnung komme ich auf schlappe einhundert Jahre, bis wir vollständig von der Erde getilgt wären. Das ist doch nicht akzeptabel!

Boah! WAS – bitteschön – denke ich hier gerade? Ich sollte schlafen! Um mich herum in der riesigen Halle ertönt schon der Chor der schnarchenden Schabenmännchen, neben dem lieblichen Surren der Schabenmädels. Ich mach jetzt echt Schluss. Geht ja gar nicht! Andere denken für mich! Die da oben! Genau! Die da oben in den Schabenbüros, die hinter ihren leeren Joghurtbechern kauern und uns das Leben schwermachen. Ich bin eine aufmüpfige Schabe und die nächste Gehirnwäsche wird nicht lange auf sich warten lassen. Die Oberschabe merkt alles! Mist!

Ich sage ‚Tschüß‘, liebes Tagebuch, und verstecke dich wieder unter der Matte, die ich mir neulich aus einem weichen Teil, das von einem dieser fiesen Schatten abgefallen ist, gebastelt habe. Die Matte ist weich und riecht leicht chemisch, aber ich mag sie. Und du bist dort sicher!

Nachti! Bis morgen. Jetzt aber echt!

Tag 2

Aus irgendeinem Grund hat der Priester heute Morgen Christus ermahnt, besonders auf sich Acht zu geben. Er murmelte dabei etwas von böser Vorahnung und gedachte der von uns gegangenen Schaben Jesus und Petrus. Mein Kollege Christus nimmt das natürlich auf die leichte Schulter. Er ist Optimist und sagt immer, man solle doch auch noch die andere Wange hinhalten, wenn das Schicksal einem übel mitspielt. Was für ein Spinner!

 

Ich beziehe, wie jeden Tag, Stellung an Kurve 2. Zur Erklärung: An allen markanten Punkten des Nahrungsmittelbeschaffungspfades steht einer von uns. Wie sonst sollen die Kollegen, die dafür zuständig sind, Krümel und Sonstiges einzusammeln, den Weg zurück ins Revier finden? Und was für manchen wie eine unkontrollierte Flucht ausschaut, wenn Gefahr droht, ist in Wirklichkeit ein strategisch durchgeplanter Rückzug.

 

Ich stehe also an Kurve 2 und gucke in die Gegend. Judas latscht pfeifend an mir vorbei und verschwindet hinter dem Kühlschrank. Wenig später kehrt er zurück, schleppt ein Reiskorn auf der Schulter. Neben ihm trottet Christus, schwer beladen mit einer Erbse. Ich kann sehen, dass die beiden lachen, dann hält Christus dem Judas die Wange hin. Genau in diesem Moment fällt ein Schatten über mich und …

 

Auch für Christus bedarf es keiner Feuerbestattung, er hat im Magen dieses komischen Fellviechs seine letzte Ruhestätte gefunden. Ich hoffe, dass das Tier wenigstens einmal gekaut hat, damit der arme Kerl nicht lebend … Uah! Was denke ich hier?

 

Judas ist am Boden zerstört. Er sitzt seit Stunden beim Schaben-Betreuer und erzählt immer wieder, was vor sich gegangen sei. Angeblich habe Christus gescherzt, dass Judas sein Schicksal sei und ihn um einen Kuss gebeten. Diesen Moment der Unachtsamkeit habe das Fellungeheuer genutzt, um den armen Christus mitsamt Erbse zu schnappen. Judas konnte sich nur durch blitzschnelle Flucht in Sicherheit bringen.

 

Ehrlich gesagt, glaube ich Judas nicht so recht. Er ist … ich schätze ihn als hinterhältig ein. Aber wer bin ich schon? Nur eine simple Arbeitsschabe! Mir tut Christus leid! Vielleicht hat er ja Glück und wird lebend von dem Tier wieder ausgeschissen. Allerdings sollte das Viech schnell Durchfall bekommen, nämlich bevor Christus erstickt.

Tag 2.1

Am späten Nachmittag verkündet ein Späher, dass sich aus Richtung des Fliesenraumes, in dem sich die Menschensleute waschen, etwas Schabenähnliches nähert. Das Ding sei jedoch komplett braun und würde erheblich stinken. Ich bin ja nicht doof und denke mir gleich, dass da ein Zusammenhang mit Christus bestehen müsse. Dieses Fellviech, das auf den Namen ‚Mohrle‘ hört, hat seinen Kot-Ausscheidungs-Kasten in dem gefliesten Raum. Das hab ich bei einer heimlichen Rundtour mal entdeckt. Es liegt also nahe, dass es sich bei dem laufenden Kothaufen um den vermissten Kollegen handelt.

 

Jedenfalls wird die Stinke-Schabe in unseren Gemeinschafts-Abschab-Raum gebracht, in dem wir uns täglich gegenseitig den Schmutz abschaben. Genau, auch Schaben sind saubere Tiere. Unter dem bestialisch riechenden, braunen Zeug steckt wirklich Christus, wirkt aber leicht desorientiert. Er brabbelt die ganze Zeit etwas von der ‚großen Erbse‘ und einer ‚geilen Achterbahnfahrt‘. Außerdem versucht er ständig, den anderen Schaben Küsse aufzudrücken.

 

Der eilig herbeigerufene Priester bricht in lobpreisende Psalmen aus und redet von einem Wunder. Der große Schamane hätte seine Finger im Spiel gehabt und so weiter. Ich glaube ja eher, dass das Felldings Durchfall hatte, halte aber mal lieber den Mund. Christus erhält auf jeden Fall den Status eines Heiligen und muss fortan keine Speisereste mehr einsammeln. Ehrlich gesagt, ist er dazu wohl auch kaum mehr in der Lage. Er hält sich für einen Wunderheiler und beglückt jede Schabe, die sich unvorsichtigerweise in seiner Nähe aufhält, mit Küssen.

 

Ich will aber nicht von Christus geküsst werden, deshalb halte ich mit von ihm fern. Mein Interesse gilt der glutäugigen Esmeralda. Ich liebe den seidigen Glanz ihres Panzers und der Schwung ihrer Fühler löst bei mir ein wohliges Kribbeln aus. Morgen werde ich sie fragen, ob wir mal zusammen in die Kapelle gehen wollen. Ich meine, nebeneinander. Vielleicht könnte ich dabei heimlich eine ihrer Klauen berühren. Das wäre so schön!

Tag 3

Mein bester Kumpel Moschus sagt, dass Weiber immer nur das eine wollen: Nämlich Eier legen. Ich glaube ja nicht, dass Esmeralda zu dieser Sorte gehört. Sie hat gerade erst ihre letzte Häutung hinter sich und will sicher noch ein wenig Spaß haben, bevor der Ernst des Lebens für sie beginnt.

 

Wir könnten beispielsweise eine Wanderung zu dem lichtdurchlässigen Rechteck in der Wand unternehmen. Oder Klaue in Klaue einfach ein wenig herumhocken. Mein dringendster Wunsch ist natürlich, ihr ein Bussi zu geben. Ich liebe ihre zarten Kiefer und Esmeralda hat die schönsten Facettenaugen, die sich eine Schabe nur vorstellen kann. Sie leuchten in tiefstem Schwarz und scheinen, bis in mein Herzlein gucken zu können!

 

Heute bin ich gleich hinter Esmeralda in die Kapelle geschlüpft, neben mir Moschus. Dieser Schelm hat meiner Angebeteten in den Hinterflügel gekniffen und daraufhin eine Schelle gefangen, die sich gewaschen hat. Ich mag Moschus, aber schabenfroh war ich schon. Schließlich hat er nicht an MEINER Esmeralda herumzufummeln!

 

Nach dem ‚Schamen‘ habe ich versucht, Esmeralda abzufangen, aber sie war plötzlich verschwunden. So habe ich den ganzen Tag an Kurve 4 (ich bin versetzt worden) verbracht und überlegt, wie ich die Schäbin für mich gewinnen könnte. Soll ich ihr ein Gedicht schreiben? Diese Idee gefällt mir immer mehr, je länger ich darüber nachdenke. Leider habe ich keine Begabung zum Reimen, aber da ist dieser Kollege, Cyranus, den kann ich fragen. Oder Moschus, falls der andere keine Lust hat. Allerdings wird das Zeug von Moschus wahrscheinlich Blödsinn sein. Der Schaberich kann einfach nicht ernst sein!

Tag 3.1

Natürlich hat Cyranus keine Zeit. Er arbeitet gerade für Christus und nennt das Zeug ‚Bergpredigt in Psalmen‘, oder so. Ich hab nur mit halbem Ohr hingehört, da in dem Moment Esmeralda vorbeigewackelt kam. Mann! Die hat aber auch einen Schwung in der Mitte, dass mir schon vom Hinsehen ganz schwummerig wird!

Nachdem ich meinen Dienst an Kurve 4 verrichtet habe, bin ich auf die Suche nach Moschus gegangen. Der war gerade im Abschab-Raum und als ich ihm meine Bitte vortrug, hat er herzlich gekeckert. Manchmal hasse ich ihn! Er hat sich aber bereit erklärt, mir bei einem Liebesgedicht zu helfen.

Nach der Essenszuteilung haben wir uns dann zusammen hingesetzt und Moschus hat, wie schon vermutet, ganz schönen Mist zusammengereimt. Ich werde … das wohl doch nicht benutzen.

Oh holde Esmeralda, liebes Mädel,

Ich habe ständig einen Schädel,

Da dein Anblick mich ganz besoffen macht

Mein Schabenherzlein stets dabei lacht

Wenn du in meiner Nähe bist

Sich Liebe durch meine Gedärme frisst.

 

Seid doch bitte die meine,

meine Seele ist doch schon die deine,

schenke meinem Werben bitte bitte Gehör,

auf das Grab meiner Oma ich schwör,

dass ich dir stets treu sein werde,

wir stehlen gemeinsam Pferde,

und reiten zusammen in den Sonnenuntergang,

So, das dürfte wohl reichen und wird sonst zu lang.

Also echt! Moschus hat natürlich vor Lachen am Boden gelegen aber ich … ich finde das nicht witzig! Wie soll ich Esmeralda für mich gewinnen mit derartigem Mist? Ich werde wohl doch lieber warten, bis Cyranus Zeit für mich hat.

Tag 4

Esmeraldas glänzender Chitinpanzer macht mich noch wuschig. Ich kann an nichts anderes mehr denken, als die Fühler über diese glatte Textur fahren zu lassen und … Hach! Ich werde noch verrückt! Moschus macht mich allerdings noch verrückter, da er den ganzen Tag einzelne Verse aus diesem Scheiß-Gedicht rezitiert hat. Er will mich damit ärgern und schafft es auch immer wieder. Ich werde ihm die Schaben-Freundschaft kündigen!

 

Heute gab es wieder einen Zwischenfall bei der Nahrungssammlung. Dieses laute kleine Menschensleut, das noch nicht laufen kann, ist auf dem Boden herumgerutscht und hat doch wirklich Stephanus gegrabscht und in den Mund gestopft. Natürlich war der Schaben-Kollege unachtsam und hat das Ding einfach nicht ernst genommen. Das hat er nun davon! Aber vielleicht kehrt er ja auf die gleiche wundersame Weise wie Christus zurück.

 

Ich wurde zu Kurve 7 versetzt und bin damit langsam in der roten Zone. Nun gilt es, doppelt aufzupassen und nicht mehr zu träumen. Noch schlimmer wird es in der schwarzen Zone, die außerhalb der Küche liegt. Dort sind die Verluste besonders hoch. Ich war noch nie dort, habe aber schon davon gehört. Die Zone liegt in dem langen Raum mit dem Holzboden. Oft trappeln dort die Menschensleute hin und her, dabei hat schon so mancher Kollege sein Leben ausgehaucht. Ich will nicht platt enden! Ich will alt und grau werden und … Eier haben! Mit Esmeralda! Hach! Esmeralda!

 

Cyranus, dieser alte Schabensack, hat heute wieder keine Zeit gehabt. Er meinte, er hätte Wichtigeres zu tun. Der Kram von Christus sei fertig, aber ein Schriftsteller-Kollege hätte ihn als Ghostwriter angeworben. Was das wohl sein mag! Klingt ausländisch. Muss mal Moschus fragen, ob er den Begriff kennt.

Tag 4.1

Ich habe Moschus gefragt, was das heißt: Ghostwriter. Mein Freund hat ein Fernstudium absolviert und damit sein Schabitur erworben, deshalb kann er Fremdsprachen. In unserer Kolonie gibt es weder eine Schule, noch eine Universität. Die gibt es nur in größeren Schabenkolonien, die sich vorzugsweise in Gebäuden befinden, in denen Menschensleute leben, die hier fremd sind. Ich habe gehört, dass diese Gebäude Asylbewerberheime heißen, kann damit aber nicht viel anfangen. Asyl? Schon wieder so ein Fremdwort!

 

Moschus hat mir erklärt, dass ein Ghostwriter ein Mensch ist, der als Geist Sachen schreibt. Erstaunlich! Geister schreiben? Hey, ich dachte immer, die sind durchsichtig! Jedenfalls soll es die wirklich geben und dann tippen die Dinge, die andere so dastehen lassen, als wären sie selbst am Werk gewesen. Na, da schau her! Das gibt es also wirklich? Ich sollte mein gesamtes Weltbild überdenken! Weltbild ...? Schon wieder so ein komplizierter Begriff!

„Asyl ist …“, hat Moschus unaufgefordert erklärt. „ … wenn Menschensleute herkommen und bleiben wollen, weil sie dort, wo sie waren, nicht erwünscht sind.“

 

Aha! Alles klar! Also haben diese Menschensleute nicht aufgepasst und sich fast von dem ‚Mohrle‘ Ding oder dem herumrutschenden Etwas verspeisen lassen, oder? Ich wüsste sonst keinen Grund, warum jemand – oder etwas – nicht erwünscht sein könnte.

„Es geht um Politik und um Menschenrechte“, hat Moschus klugscheißerisch gesagt. „Diese Leute werden weggeekelt und dann landen die hier.“

 

Das musste ich dann erst mal verdauen und habe doch glatt darüber vergessen, Esmeralda anzuhimmeln. Na ja, sie merkt das ja eh nicht! Also … das mit dem Wegekeln klingt sonderbar. Ich meine … ich kenne Ekel. Ich mag zum Beispiel keine Milch. Wenn mich die hiesigen Schaben loswerden wollten, müssten sie mir also nur täglich dieses weiße Zeug vorsetzen. Ach nein, so leicht wäre das nicht. Ich würde zuvor Beschwerde beim obersten Schabenrat einlegen. Gibt es das nicht in diesen komischen Ländern, aus denen die Leute herkommen?

Bevor mein Kopf zu heiß wird vom vielen Denken, wende ich mich lieber wieder leichten Dingen zu. Esmeralda! Morgen werde ich mir einen Ghostwriter besorgen!

Tag 5

 

Esmeralda hat einen anderen! Ich sah sie heute mit Cyranus … herumschabwenzeln! Deshalb hatte der Schabenarsch keine Zeit für mich!

Ich bin am Boden zerstört und nur Moschus‘ Nähe tröstete ein wenig.

„Auch andere Schabenmuttis legen hübsche Eier“, sagte er immer wieder und das ist wirklich lieb gemeint, doch wer soll je an Esmeralda heranreichen? Ihr schimmernder Panzer, die gar anmutigen Antennen und dazu … die funkelnden Facettenaugen! Nein! Ich werde nie wieder so lieben können!

„Hey, Koperni! Nimm’s nicht tragisch. Die blöde Kuh war ohnehin promiskuitiv“, murmelte Moschus.

„Hä?“ Immer diese Fremdworte!

„Sie treibt es mit anderen Schaben“, sagte Moschus und seufzte.

„Was? Aber … aber“, stammelte ich und dann musste mein Freund mich ganz lange in seine Arme schließen. „Ich geh weg hier“, flüsterte ich. „Weit weg und ich kehre nicht wieder.“

„Jau! Gute Idee! Ich komme mit!“, rief Moschus begeistert und irgendwie … nahm das der Sache die erwünschte Dramatik.

Tag 6

 

Heute Morgen haben wir früh unsere Sachen gepackt und uns klammheimlich davongemacht. Es ist nämlich nicht erlaubt, die Kolonie zu verlassen. Darauf scheiße ich aber und Moschus war schon immer ein Revoluzzer.

Es ging eine Weile die Wand entlang, bis wir durch einen Spalt in die Mauer gelangen konnten. Ich habe Angst im Dunkeln, weshalb ich mich nahe an Moschus hielt. Nach ungefähr zwanzig Menschenminuten wurde es heller und schließlich … standen wir urplötzlich in einem Riesenraum. Das hier musste dieses geheimnisvolle ‚Draußen‘ sein, von dem der Priester oft gesprochen hat.

Die Decke war blau und weiß schattiert, Wände gab es in dem Sinne gar keine und irgendwie … sah alles etwas furchteinflößend aus. „Wow!“, hat Moschus gerufen und ist begeistert herumgerannt wie ein Irrer. „SO sieht das also aus!“ Ich war da etwas nüchterner und hab mal lieber geschaut, wo man denn so hin krabbeln könnte. In der Ferne waren grüne Dinger auszumachen. Vielleicht gab es da ja auch Schaben?

Der Raum wurde immer dunkler, je länger wir wanderten. Moschus fing bald an zu nörgeln und klagte über Hunger. Ich hielt mal lieber den Kiefer, ein Jammerlappen reichte wohl. Bevor das letzte Licht verschwunden war, erreichten wir die grünen Dinger, die sich als Holzstämme mit Blättern entpuppten. So etwas hatte ich schon mal gesehen, als die Menschensleute dieses Fest begingen, das mit Kugel und Kerzen zelebriert wurde.

Schon bald trafen wir auf einen Schabenkollegen, der aber etwas anders als wir ausschaute. Dennoch, er gehörte eindeutig zu unserer Rasse. Auf Nachfrage hin stellte er sich als gemeine Waldschabe vor. Wir outeten uns als deutsche Schaben und durften ihm zum Bau folgen. Ich war so müde, dass ich dort einfach nur noch auf den Boden fiel und einschlief. Was Moschus noch getrieben hat, weiß ich nicht. Hoffentlich nichts Dummes!

Tag 7

 

Dass mein Freund einen dicken Chitinpanzer hat, ist mir am nächsten Tag nur allzu bewusst geworden. Während ich in tiefem Schlaf verweilte, hat er in der Waldkolonie eifrig Schabengarn gesponnen. Daher war es nicht weiter verwunderlich, dass ich mich nach dem Aufwachen in einer Mengen staunender Waldschaben vorfand.

„Ihr lebt in einer … Menschensküche?“, hat eine der Schaben gefragt und mich aus den Dutzenden Spiegelungen seiner Facettenaugen angestaunt.

„Jetzt wohl nicht mehr“, habe ich geantwortet und mürrisch nach Moschus Ausschau gehalten.

„Dein Kollege schläft“, wurde ich informiert und gleich darauf an ein üppiges Buffet geführt.

Ein Sammelsurium aus Fleischfetzen, Obst und verschiedenen Beeren erwartete mich dort. Ich bin Vegetarier, daher schlug ich mir den Magen mit Früchten voll und trank ein wenig leckeren Schabennektar. Es war alles voll entspannt, nur dass alle mich ständig anstarrten, irritierte mich.

„Du bist ein … Trommler?“, wurde ich schließlich voller Ehrfurcht gefragt.

Mir wurde in dem Moment klar, dass Moschus den armen Kollegen eine richtige Schabe aufgebunden hatte. Und wie sollte ich nun damit umgehen? Sicher, Trommeln hatte ich gelernt und gehörte sogar zu dem Korps der Zeremonientrommler. Aber was sollte ich mit dieser Fähigkeit hier bewirken?

„Trommle für uns!“, wurde ich schließlich aus zahlreichen Kiefern aufgefordert.

Es muss am Schabennektar gelegen haben, oder auch daran, dass ich stinksauer auf Moschus war. Ich suchte mir eine besonders behäbige Waldschabe aus, forderte sie auf, mir ihren Bauch zu leihen und begann mit einem wilden Stakkato an leichten Schlägen.

Schon bald hatte ich mich in Rage getrommelt und wechselte von einer Abwandlung von ‚Smoke on the water‘, zu Ozzy Schabenbournes ‚No more Tears‘. Halb im Delirium bekam ich knapp mit, dass eine besonders attraktive Waldschäbin immer näher tanzte und schon bald ihre hinreißend zu Locken gezwirbelten Antennen vor mir schüttelte.

„Isch bin die wilde Waldschabe Wanda“, flötete die Schabenfurie mir zu, bevor sie mir aus ihren blau irisierenden Facettenaugen einen schmachtenden Blick zuwarf.

Kopernikus in love!, dachte ich noch, bevor ich zu einer milden Version von Howard Schabendales ‚Deine Spuren im Sand‘ wechselte.

Oh Weia! Ich verfiel diesen spiegelnden Augen und während ich hier schreibe, liegt Wanda neben mir. Sie schläft noch. Wir haben uns … gepaart und es war unglaublich … akrobatisch! Ich liebe ihren glänzenden Chitinpanzer und der Schwung ihrer Antennen bringt mich um den Verstand. Werden wir nun bald zusammen Eier haben? Mein Leben hat sich in nur einem Tag komplett geändert und Moschus bleibt weiterhin verschwunden. Sein Glück! Ich würde ihn sonst totknutschen!

Tag 8

Moschus tauchte erst am Mittag wieder auf. Er trug ein Stirnband, das ihn ein wenig wie ein Ninja ausschauen ließ und war völlig außer sich.

„Mann, ist das hier geil!“, teilte er mir mit, noch bevor ich ihn über die letzten Vorkommnisse unterrichten konnte. „Das fühlt sich an, als wäre das andere Leben nur ein Schiss gewesen! Woah! Koperni, alter Sack! Ich bleibe auf jeden Fall hier!“

Das mit dem Sack überhörte ich geflissentlich und da Wanda in diesem Moment einen ihrer Fühler um mich schlang, war ich schnell wieder ruhig.

„Moschus? Das hier ist Wanda und wir werden … Eier zusammen haben“, informierte ich meinen Kumpel.

„Ei-her?“, fragte Moschus und gaffte Wanda an, als wäre sie ein neues Weltwunder. „Boah! Du bist … Mann-o-Mann, Koperni, du alter Schwerenöter! Das hätte ich dir nie zugetraut!“, grölte er und hieb mir auf den Panzer.

„Hallöchen“, hat Wanda gesäuselt, mich besitzergreifend mit beiden Fühlern umschlungen und dabei Moschus angeblinzelt.

„Tagchen“, antwortete Moschus und zwinkerte mir auf eine so dreckige Art zu, dass ich schamesrot wurde. „Dann … würde ich gern bald Eierpate werden“, rief er, schlug mir erneut auf den Panzer und tapste kichernd davon.

„Netter Kerl“, meinte Wanda und ihre Facettenaugen funkelten dabei. „Wollen wir … noch ein wenig Schaben-Bubu machen?“

 

Tja, was es noch zu berichten gibt? Wanda trägt Eier und ich … ich bin glücklich. In der Waldkolonie läuft so vieles anders ab, als gewohnt. Es fühlt sich gut an und das strenge Reglement der Küchenkolonie gerät immer mehr in Vergessenheit. Hier herrscht Chaos, jedoch ein gut organisiertes Chaos. Ich mag mein neues Leben …


Impressum

Texte: Sissi Kaiserlos
Bildmaterialien: shutterstock
Tag der Veröffentlichung: 17.02.2014

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