Cover

Von Kühlschrankdrachen, Superhelden, Feen und anderen Normalitäten des Lebens

13 Kurzgeschichten + 15 Zugaben

Sämtliche Personen, Orte und Begebenheiten sind frei erfunden, Ähnlichkeiten rein zufällig. Der Inhalt dieses Buches sagt nichts über die sexuelle Orientierung des Covermodels aus. Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck oder eine andere Verwertung, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung der Autorin. E-Books sind nicht übertragbar und dürfen nicht weiterveräußert werden. Bitte respektieren Sie die Arbeit der Autorin und erwerben eine legale Kopie. Danke!

Text: Sissi Kaiserlos

Foto von shutterstock, Design: Lars Rogmann

Kontakt: sissi-kaiserlos@gmx.de, https://www.sissikaipurgay.de/

 

Der Drache, der aus dem Kühlschrank kam

Nach einem feuchtfröhlichen Abend findet Sinja in ihrem Kühlschrank einen Gast: Wolfgang von Hengstenberg, ein Drache, der ihre sauren Gurken liebt und eine Aufgabe hat. Nur welche?

 


Es war einer dieser Mädels-Abende, die in Sinja den dringenden Wunsch nach männlicher Begleitung weckten. Sowohl Anna als auch Emma ließen kein gutes Haar an ihren zuhause gebliebenen besseren Hälften. Ob es nun der nicht getätigte Abwasch oder der nicht rausgebrachte Müll, die dreckigen Socken unter dem Bett oder das heimlich Bohren in der Nase war, egal. Die Kerle schienen rundherum faul, dreckig und unmöglich zu sein. Sinja seufzte leise und wünschte sich, sie könnte auch etwas beitragen.

Aber dafür brauchte es einen faulen, dreckigen Kerl und den hatte sie nicht. Eigentlich hatte sie gar keinen Mann und das schon seit – mal überlegen – seit Großtante Elviras achtzigstem Geburtstag. Also seit zwei Jahren. Genau diesen Geburtstag hatte sich nämlich Martin ausgesucht, um sie zu verlassen, für eine Jüngere. Sinja schnaubte leise. Dabei war sie erst gerade mal dreißig geworden.

„Sinja?“ Anna wedelte vor ihrem Gesicht mit der Hand herum. „Erde an Sinja, willst du noch was trinken?“

Der freundliche Kellner mit den Schlitzaugen lächelte und wartete geduldig, bis Sinja ihre Bestellung aufgegeben hatte. Reisschnaps. Am besten ganz viel und ganz schnell, damit sie ihr Elend vergaß.

„Du kannst so froh sein, dass du Single bist“, meinte Emma und sah Sinja neidisch an. „Wie schön muss es sein, nach Hause zu kommen und nicht als Erstes über die Schuhe des Hausherrn zu stolpern, der sie natürlich an Ort und Stelle liegengelassen hat, damit seine Frau sie ordentlich wegräumen kann.“

„Hmpf“, machte Sinja und griff nach dem Reisschnaps.

Mit einem Zug schluckte sie das Zeug herunter und fühlte sich schon leichter. Es war inzwischen der dritte Schnaps und der zeigte endlich Wirkung. Sinja nahm sich einen Glückskeks aus der Schale, die der Kellner zusammen mit der Rechnung auf den Tisch gestellt hatte. Das ungenießbare Gebäck zerbröselte sie und nahm den Zettel heraus.

„Ha“, meinte sie und sah ihre Freundinnen an. „Nun hört euch das an: ‚Lade einen Gast in dein Haus und bewirte ihn. Es wird dein Schaden nicht sein.’ Sehr witzig. In meinem Kühlschrank befindet sich ein Glas saure Gurken und ein abgelaufener Joghurt. Als wenn ich damit jemanden bewirten könnte.“

Emma kicherte und las ihren Zettel vor: „Verzeih die kleinen Sünden. Es könnte schlimmer kommen.“

„Hm“, murmelte Anna. „Das kann ja nur bedeuten, dass dein Kerl dich vielleicht auch noch betrügt. Aber nun hört mal das hier: ,Sei deines eigenen Glückes Schmied. Nur du kennst den Schlüssel‘.“

Anna zerknüllte den Zettel und warf ihn auf den Tisch, während Sinja wieder auf ihren Spruch starrte. Drei Reisschnäpse später verließ sie mit ihren Freundinnen das Restaurant. In angenehmer Betrunkenheit saß Sinja dann in der Bahn und formulierte in Gedanken die Einladung. Lieber Fremder, der du saure Gurken liebst, sei mein Gast. Ich lade dich ein. Sie kicherte leise vor sich hin, während sie von der Bahnstation nach Hause wankte.

Als Sinja ihre Wohnung betrat, quietschte es laut unter ihrem Fuß auf. Erschrocken machte sie das Licht an und entdeckte erleichtert den Plüschdrachen, auf den sie versehentlich getreten war. Er musste von der Kommode gefallen sein. Sinja hob ihn auf und setzte ihn zu seinen Artgenossen auf den Schrank. Dann schleuderte sie müde die Schuhe von den Füßen und warf ihre Tasche und Jacke in eine Ecke. Zeit fürs Bett.


Es war ungefähr drei Uhr morgens, als stechender Durst und ein Gelüst auf saure Gurken Sinja aus dem Bett trieb. Ihr Kopf war immer noch benebelt von dem Reisschnaps, während sie im Halbschlaf in die Küche taumelte und den Kühlschrank öffnete. Sinja nahm dem Drachen das Glas mit den sauren Gurken aus den Pfoten und schloss die Tür. Verdammt, sie musste das Ding dringend mal saubermachen. Aus dem Joghurt war ja wirklich eine neue Lebensform… Äh, wo war denn der Deckel von dem Glas? Es klopfte und jemand rief gedämpft: „Hallo.“ Oder so ähnlich.

Verwirrt sah Sinja von dem Glas zum Kühlschrank und zurück. Wieder dieses Klopfen. Ihre Finger begannen zu zittern. Schnell stellte sie die sauren Gurken auf die Arbeitsplatte und wischte sich die Handflächen an ihrem Pyjama ab. Ihrem Lieblingspyjama mit den süßen Drachenmotiven.

Wie in Zeitlupe öffnete sie erneut den Kühlschrank. Der Drache blinzelte und versuchte zu lächeln, was bei seiner Gattung eher wie ein Zähnefletschen wirkte.

„Hallo“, lispelte er und hob eine Pfote zum Gruß. „If bin Folfgang von Hengftenberg.“

Sinja schluckte und warf die Tür wieder zu. Zuviel Reisschnaps, klarer Fall von Halluzinationen. Sie trat einen Schritt zurück und atmete erst einmal tief durch. Wieder erklang das Klopfen, diesmal energischer.

„Hey, du da draufen. If habe Hunger“, ertönte es gedämpft.

Sinja riss die Kühlschranktür auf und starrte den Drachen an. Es war eines von diesen schuppigen Modellen mit nur einem Kopf und ungefähr fünfzig Zentimeter lang. Er glänzte grün-gelb und hatte einen langen Schwanz, den er aufgrund der Enge seiner Behausung zusammengerollt unter dem Arm trug. Mit seinen großen, schwarzen Augen sah er Sinja treuherzig an und zeigte auf die Gurken.

„Darf if die da haben?“

Wie in Trance reichte sie dem Drachen das Glas, der es ihr aus der Hand riss und sich gierig eine Gurke nach der anderen ins Maul schob. Als es leer war, rülpste er, wobei kleine Rauchwölkchen aus seinen Nasenlöchern aufstiegen.

„Daf hat gut getan“, erklärte er und beäugte misstrauisch den Joghurt, der nun das einzig Essbare im Kühlschrank war.

„Waf ift damit?“ Voller Hoffnung nahm der Drache den Joghurt hoch und öffnete sein Maul, doch Sinja streckte beherzt den Arm und riss ihm den Becher aus den Pfoten.

Sie wollte nicht, dass er – oder war es eine sie? – in ihrem Kühlschrank an einer Lebensmittelvergiftung starb. Schließlich standen Drachen unter Artenschutz, oder?

Enttäuscht seufzte der Drache und richtete seinen Blick nun interessiert auf Sinja. „Und wie heift du?“

Jetzt war es aber genug, Es war schon spät, die Gurken aufgegessen und sie musste früh aufstehen. Nicht der richtige Zeitpunkt für eine höfliche Konversation mit einem Kühlschrankdrachen. Sie warf die Tür zu und wankte in ihr Bett. Der Reisschnaps schenkte ihr gnädigerweise sanftes Vergessen und sie schlief sofort ein.

 

 

Viel zu früh riss Sinja der Wecker aus dem Schlaf. Das war wirklich ein verrückter Traum gewesen. Da sie morgens nie zuhause frühstückte, machte sie keinen Versuch, den Kühlschrank erneut zu öffnen. Nach der Arbeit musste sie unbedingt einkaufen, vor allem saure Gurken.

Irgendwie überstand sie den Tag, ohne sich allzu grobe Schnitzer an ihrem Arbeitsplatz zu leisten. In dem Supermarkt, der nur wenige Schritte von ihrer Wohnung entfernt war, kaufte sie einen riesigen Vorrat an Lebensmitteln. Nur für den Fall, dass sich auf ihre gedachte Einladung hin ein Gast einfinden würde. Sie schleppte die Einkäufe in ihre Wohnung und stellte sie auf dem Küchentisch ab. Vorsichtig näherte sie sich dem Kühlschrank und machte langsam die Tür auf.

„Fön, daff du wieder da bift. Mir ift total langweilig und fiemlich kalt.“ Der Drache blinzelte ihr zu und sprang mit einem Satz aus dem Kühlschrank, wobei er die kleinen Stummelchen auf seinem Rücken wie Flügel bewegte. Mit einem lauten Platsch landete er auf dem Küchenboden und jammerte. „Au, au, mein Popo tut weh.“

Sinja starrte auf das arme Ding herunter und musste grinsen. „Kannst du etwa nicht fliegen?“

Der Drache machte ein empörtes Gesicht. „If fachfe noch. Flügel bekommt ein Drafe erft, wenn er flügge geworden ift.“

Ernsthaft nickte sie und überlegte, ob die Wirkung von Reisschnaps so lange anhielt. „Okay, und wie alt bist du?“

Der Drache richtete sich stolz auf, wobei er sich immer noch den schmerzenden Popo rieb. Sah irgendwie – süß aus. „If bin fon fünfzig. Alfo fon fast flügge.“

Aha. Sie betrachtete den kleinen Wicht und unterdrückte ein irres Kichern. „Wann wird man denn flügge bei euch?“

Der Drache zuckte mit den Schultern. „Tja, mit fweihundert, fo um den Dreh. Weif auf nift fo genau.“

Ein Drache der Weisheit hatte sich da anscheinend nicht gerade in ihren Kühlschrank verirrt. Sinja ließ sich auf einen Stuhl sinken und rieb sich die Stirn. Okay, es war kein Traum gewesen. Vor ihr stand ein geschupptes Exemplar der ausgestorbenen Art der Drachen, wenn es sie jemals wirklich gegeben haben sollte. Irgendwie musste sie wohl – damit fertig werden. Also, erst einmal Freundschaft schließen.

„Ich heiße Sinja“, erklärte sie und streckte langsam ihre Hand aus, um den Drachen nicht zu erschrecken.

„Folfgang von Hengftenberg“, erwiderte Wolfgang von Hengstenberg, ergriff ihre Hand und drückte sie so fest er konnte mit seinen kleinen Pfoten.

Sie zuckte erschrocken zusammen. Die Berührung mit dem Drachen fühlte sich an, als würde sie eine schuppige Echse anfassen. Schnell zog sie ihre Hand zurück.

„Äh, freut mich, dich kennen zu lernen, Folfgang“, murmelte sie verlegen. Was redete man denn mit einem Drachen eigentlich so?

„If freue mif auf, Finja. Aber if heife Folfgang, nift Folfgang.“

„Ach so“, sagte sie und verfiel in brütendes Schweigen.

Auch Wolfgang schien der Gesprächsstoff ausgegangen zu sein, denn er musterte interessiert seine Krallen. „Äh“, meinte er schließlich. „Du haft nift fufällig faure Gurken beforgt?“

Ach ja, die Einkäufe. Endlich kam Leben in Sinja. Enthusiastisch sprang sie auf. Schnell räumte sie die Tüten aus und stellte für Wolfgang ein Glas Gurken auf den Küchentisch. „Hier, die sind für dich.“

Mit einem Laut, der fast wie ein Miauen klang, stürzte sich Wolfgang auf das Geschenk. Geschickt öffnete er mit seinen Krallen das Glas und schluckte eine Gurke nach der anderen herunter, während Sinja die übrigen Lebensmittel in den Kühlschrank räumte. Als sie sich wieder Wolfgang zuwandte, rülpste dieser zufrieden, während er das leere Glas auf den Tisch stellte, und er schien gewachsen zu sein, aber das täuschte sicher. Sinja seufzte und überlegte, was sie und der Drache mit dem Rest des Abends anstellen sollten.

„Du fpielft nift fufällig Halma?“, fragte Wolfgang hoffnungsvoll.

Halma? Klar konnte sie Halma spielen, hatte es jedoch seit einer halben Ewigkeit nicht mehr getan.

„Ich muss mal gucken, was für Spiele ich überhaupt habe. Ich habe seit bestimmt hundert Jahren nicht gespielt.“ Sie huschte ins Wohnzimmer.

„Hundert Jahre“, sinnierte Wolfgang und folgte ihr. „Fo alt fieht Finja gar nift auf.“

Karton für Karton zauberte Sinja Spiele aus den Tiefen ihres Schrankes hervor. Neugierig beäugte der Drache den Stapel, der immer weiter wuchs, und griff schließlich nach einer Packung Spielkarten.

„Fkat“, rief er triumphierend und schwenkte seine Beute. „Laff unf Fkat fpielen.“

Sie zog sich aus dem Schrank zurück und starrte Wolfgang an. Skat? Aber warum nicht, das konnte sie immerhin ganz gut. Auch wenn der dritte Mann fehlte, aber dann musste eben Otto den Part übernehmen, ein Stapel, von dem die Karten blind aufgedeckt wurden.

Tatsächlich verbrachten sie und der Drache den ganzen Abend damit, eine Runde Skat nach der nächsten zu spielen. Wolfgang war ziemlich gut und freute sich wie ein Schneekönig über jede gewonnene Runde. Als sie, nach einem Blick auf die Uhr, die Spielkarten wegräumte, zog der Drache eine Flunsch.

„Manno“, murrte er und sah sie mit betrübtem Blick an. „Ef hat gerade angefangen Fpaff fu maffen.“

„Wenn es am Schönsten ist, sollte man aufhören“, erklärte sie schulmeisterlich. „Außerdem ist es schon spät und du musst bestimmt nach Hause. Zu deinen Eltern, meine ich.“

„Naf haufe?“ Der Drache starrte Sinja entsetzt an.

Ja, wusste sie denn nicht, dass jetzt hier sein Zuhause war? Bis er seine Aufgabe erfüllt hatte, was immer das auch sein mochte.

„If wohne hier. Bei dir. Daf ift mein Zuhaufe“, sagte er weinerlich.

Entschieden schüttelte sie den Kopf. „Nein, du kannst nicht in meinem Kühlschrank wohnen. Der ist jetzt voll mit Lebensmitteln, da passt du nicht mehr rein.“

„Waf ift mit der Badewanne?“, fragte Wolfgang hoffnungsvoll.

Oh Mann, das wurde jetzt aber echt anstrengend. Sie runzelte die Stirn und schüttelte erneut den Kopf. Der Drache musste weg. Sie konnte kein Haustier gebrauchen. Schließlich war sie den ganzen Tag auf der Arbeit. Wolfgang würde sich nur langweilen und seine Eltern vermissten ihn bestimmt schon.

„Es geht nicht. Du musst wieder nach Hause“, erklärte sie streng und stand auf.

Ein lautes Heulen ließ sie zusammenzucken. Mit weit aufgerissenem Maul und heraushängender Zunge jaulte der Drache herzerweichend, während ihm Tränen fontänenartig aus den Augen spritzten.

„Du-hu fillft mif nift“, heulte Wolfgang und verursachte bereits einen kleinen See auf dem Fußboden mit seiner Sintflut von Tränen. „Daf tut fo weh-weh.“

Mist! Das hatte sie nun auch nicht gewollt. Ohne nachzudenken ging sie vor dem jammernden Wolfgang auf die Knie und – tja, was tat man eigentlich mit heulenden Drachen? Zögernd streckte sie die Arme aus und legte sie um Wolfgang, der augenblicklich das Maul zuklappte und ihr hoffnungsvoll zublinzelte. „Küfft du mir jetft mein Aua weg?“

Sinja konnte nicht anders, sie musste kichern. Erst leise, dann immer lauter. Der Drache kicherte mit und schließlich lachten sie beide lauthals, bis ihnen die Tränen kamen.

„Daf – äh – das ist wirklich gut“, keuchte sie und rieb sich die Augen. „Aua wegküssen. Oh Mann. Du bist wirklich süß, Wolfgang.“

„Füff?“ Der Drache schnurrte und drückte sich näher an sie. „If bin füff?“

„Ja, sehr süß. Du darfst in der Badewanne schlafen. Aber nur heute Nacht.“

Weil es sich so gut anfühlte, hob sie den Drachen hoch und trug ihn zu ihrer Badewanne, in der sie ihm aus Decken ein Bett bereitete. Eigentlich passte er doch ganz gut in ihre Wohnung, die ohnehin eine umfangreiche Sammlung von Drachen beherbergte. Drachen aus Ton, Porzellan, Holz, Stoff, Plastik und so weiter. Wolfgang kuschelte sich in seine Decken und blinzelte sie verliebt zu.

„Gibft du mir einen Gutenaftkuff?“, maunzte er hoffnungsvoll.

Nö, Wolfgangs Schnauze wollte sie nun wirklich nicht küssen. Angeekelt schüttelte sie den Kopf.

„Fade“, murmelte der Drache und schloss die Augen.

Gleich darauf verriet ein leises Schnarchen, dass er eingeschlafen war. Sinja seufzte und ging in ihr Schlafzimmer. Sicher war morgen alles anders und Wolfgang verschwunden. Irgendwann musste die Wirkung des Reisschnapses doch aufhören.


Irgendetwas schnuffelte an Sinjas Ohr, dann strich ihr etwas Schuppiges über die Wange. Mit einem entsetzten Schrei fuhr sie hoch und sah in die schwarzen Augen des Drachen.

„If hab Hunger“, murrte Wolfgang.

Er war auf das Bett gekrabbelt und musterte sie neugierig. Wieder trug sie ihren Lieblingspyjama mit den Drachenmotiven.

„Daf ift aber ein fönef Kleidungftück“, erklärte der Drache und betrachtete interessiert die kleinen Drachenbilder. „Krieg if auf fo einen?“

Sinja musste kichern, als sie an Wolfgang in ihrem Pyjama dachte. Das würde richtig lustig aussehen. Sie schob ihn beiseite und schwang sich aus dem Bett, ging immer noch kichernd in die Küche und kochte sich erst einmal einen Kaffee.

Der Drache trippelte ihr hinterher und kletterte auf einen Stuhl. „Faure Gurken?“

Sinja seufzte und sah in den Kühlschrank. Tatsächlich, da war noch ein Glas. Sie stellte es vor Wolfgang auf den Tisch und setzte sich mit einem Becher Kaffee ihm gegenüber. Ein Blick auf die Uhr verriet ihr, dass sie noch etwas Zeit hatte, bis sie zur Arbeit musste. Zeit für ein ernstes Gespräch.

„Also, Wolfgang“, begann sie und sah den Drachen ernst an, der bereits das halbe Glas Gurken vernichtet hatte. „Ich kann dich nicht hier behalten. Ich muss den ganzen Tag arbeiten und habe keine Zeit, mich um dich zu kümmern. Außerdem sorgen sich doch sicher deine Eltern. Du musst wieder nach Hause.“

Wie ein Geschoss flog eine Gurke an ihrem Ohr vorbei, als Wolfgang laut aufheulte und das Ding dabei ausspie.

„Du filft mif nift. Daf tut fo weh“, heulte der Drache los und Tränen spritzten springbrunnengleich aus seinen Augen.

Erschrocken sprang sie auf und kniete sich vor den kleinen Kerl, zog ihn in ihre Arme und strich ihm über den schuppigen Kopf. Es fühlte sich erstaunlich gut an. Wolfgang verstummte sofort und blinzelte. „If darf alfo bleiben?“

Oh Mann, Sinja konnte es einfach nicht. Also sollte Wolfgang bleiben, bis er so verschwand, wie er gekommen war, und das musste er doch einfach irgendwann. Oder? Schließlich gab es gar keine Drachen. Sie ließ ihn los und setzte sich wieder auf ihren Stuhl. Gut. Das wäre also geklärt. Dann konnten sie jetzt mal ein paar andere wichtige Sachen mit ihrem – Haustier? Gast? – besprechen.

„Du kannst bleiben. Vorerst. Aber ich muss wissen, was du für Nahrung brauchst, damit du nicht verhungerst.“

„If effe Fpinnen und Fliegendreck“, murmelte Wolfgang und verschlang die letzten Gurken.

Oh Gott! Wo sollte sie das denn herbekommen? Entsetzt starrte sie den Drachen an. Der rülpste leise, schob das Glas von sich und zwinkerte ihr dann zu.

„Huah-huah“, machte er und hieb sich auf die Schenkel. „Daf war ein Ferz. Nur ein Ferz. If effe faure Gurken. Und manfmal Piffa. Aber daf darf if nift fo oft, fonft werde if fu dick.“

Sinja blinzelte. Der kleine Kerl trieb seine Späße mit ihr, unglaublich, und er schien schon wieder größer geworden zu sein. Schnell trank sie ihren Kaffee aus und goss den Becher wieder voll. Vielleicht schärfte das ihre Sinne.

„Okay, saure Gurken also. Und warum bist du hier? Ich meine – wie bist du in den Kühlschrank gekommen?“

Wolfgang sah sie an, als wäre sie bekloppt. Oder unterbelichtet. Oder beides.

„If taufe da auf, fo if gebrauft werde“, sagte er beleidigt.

Aha. Sie nickte verstehend. Wäre ja noch schöner, wenn sie jetzt zugäbe, dass sie kein Wort verstanden hatte.

Der Drache nickte befriedigt. Also hatte wenigstens seine Gastgeberin verstanden, weshalb er hier war. Er hatte nämlich – ehrlich gesagt – keine Ahnung. Aber das machte nichts. Hauptsache, es gab saure Gurken – viele saure Gurken.

Sinja warf einen Blick auf die Uhr und erschrak. So spät schon. Jetzt musste sie sich wirklich beeilen. „Ich muss zur Arbeit. Bitte sei brav und mach keinen Mist, während ich weg bin.“

Oh Gott, sie redete ja wie mit einem Kind. Sie sprang auf und lief in ihr Schlafzimmer, um sich anzuziehen. Der Drachenpyjama flog im hohen Bogen auf das Bett. Schnell schlüpfte sie in einen Slip und zog sich ein Hemd über den Kopf, als ein schmatzendes Geräusch von der Tür her erklang.

„Lecker-lecker“, säuselte Wolfgang und leckte sich mit seiner langen, blauen Zunge über die Nasenlöcher.

Sinja quietschte erschrocken auf und warf dem Drachen die Tür ins Gesicht – äh, in die Schnauze.

„Aua“, erklang es gedämpft.

Feixend zog sich sie fertig an und öffnete die Tür wieder. Wolfgang lag auf dem Rücken und rieb sich die Schnauze.

„Daf hat fehgetan“, sagte er vorwurfsvoll.

„Daf follte ef auf“, gab Sinja zurück und stieg über ihn hinweg.

 

 

Sie musste sich beeilen, um ihren Bus noch zu erreichen. Mit einem Sprint gelang ihr das.

Erleichtert ließ sie sich auf die hinterste Bank sinken und rang nach Atem, als ihr Sitznachbar sich räusperte. „Äh, hallo Sinja.“

Oh nein! Verlegen fuhr sich Sinja durchs Haar und überlegte, ob sie mit ihrem puterroten Gesicht und ihrer derangierten Frisur es wagen konnte, ihren Nachbar anzusehen. Ihren Arbeitskollegen Tim, für den sie schon so lange schwärmte.

„Hallo Tim“, quetschte sie hervor und sah verlegen auf ihre Schuhe.

„Schönes Wetter heute“, murmelte Tim und blickte aus dem Fenster. Er zerrte an seinem Hemdkragen.

„Ja, wirklich schön heute. Und auch so trocken“, erwiderte Sinja wenig geistreich. Ja, trocken war es wirklich. In ihrer Kehle zum Beispiel. Weniger trocken waren ihre Hände, die sie unauffällig an ihrer Jeans abrieb.

„Hm ja“, sagte Tim und es sah so aus, als hätte er einen Frosch im Hals. Er räusperte sich fortlaufend und lief rot an.

„Und ...“, fuhr Sinja in einem Anfall von Wahnsinn fort. „Ich bin so froh, dass ich endlich ein Haustier habe.“

„Aha“, krächzte Tim und erlitt einen Hustenanfall.

Ohne nachzudenken hob Sinja die Hand und klopfte ihm beherzt auf den Rücken. Tim keuchte und spuckte – einen Frosch aus. Er war winzig klein, aber eindeutig ein Frosch und hüpfte einfach davon. Mit aufgerissenen Augen und offenem Mund starrte Tim seinem ehemaligen Mitbewohner hinterher.

„Da brat mir doch einer...“, sagte er erstaunlich klar.

„…einen Storch“, ergänzte Sinja und sah den Frosch gerade noch unter einem Sitz verschwinden.

So in ungläubigem Staunen erstarrt, verpassten sie ihre Haltestelle. An der Endstation kamen sie zu sich.

„Äh“, machte Sinja und sah sich um.

„Tja“, erwiderte Tim und stand auf.

Als sie mit dem nächsten Bus ihre Arbeitsstelle erreichten, war die Konversation immer noch nicht wieder in Gang gekommen. Steif gingen sie nebeneinander her zum Eingang und nahmen gemeinsam den Fahrstuhl bis in den dritten Stock.

„Also...“, sagte Tom.

„Ja“, meinte Sinja und rieb unauffällig die Handflächen an ihrer Hose trocken.

„Wir könnten vielleicht…“, begann Tim erneut.

„Das ist eine gute Idee“, erwiderte Sinja.

„Tja, dann also, bis heute Mittag“, murmelte Tim und ließ Sinja stehen.

„Freu mich auch“, antwortete sie seinem Rücken.

Oh Mann, was für eine geniale Konversation. Sinja trat sich selbst mehrfach gedanklich in den Hintern, während sie zu ihrem Büro ging. Es wäre doch so einfach zu sagen: „Hey Tim, du gefällst mir. Lass uns zusammen essen gehen.“

Stattdessen stotterte sie wie eine Grundschülerin und wusste nun noch nicht einmal, was sie verabredet hatten. Hoffnungsvoll steuerte sie trotzdem gegen Mittag die Kantine an. Vielleicht war es ja das, was Tim gemeint hatte.

Als Sinja mit ihrem vollen Tablett durch die Tischreihen ging, kam sie sich vor wie bei einem Spießrutenlauf. Alle sahen sie an und dachten bestimmt, sie würde niemanden finden, zu dem sie sich setzen konnte. Als sie Tim erblickte, der ihr hoffnungsvoll entgegenschaute, hätte sie sich am liebsten triumphierend umgeblickt und allen Kollegen entgegengerufen: Seht her, ich bin verabredet.

Erstaunlicherweise beachtete sie niemand, als sie sich Tim gegenüber niederließ.

„Hallo“, sagte Tim und lächelte geheimnisvoll.

„Selber hallo“, erwiderte Sinja mit rauer Stimme. Mist! Jetzt hatte sie einen Frosch im Hals. Ob der wohl auch rausspringen würde, wenn Tim ihr auf den Rücken schlug?

„Du…“ Tim trank schnell einen Schluck Wasser. „Du hast etwas von einem Haustier erzählt. Heute Morgen. Im Bus. Was ist es denn?“

Als hätte jemand ihre Kehle mit Margarine eingeschmiert, konnte Sinja tatsächlich antworten. „Es ist eine Echsenart. Genau. Eine sehr große – Echse. Mit einem langen Schwanz. Und sehr süß.“

„Süß?“

Sinja nickte heftig. Sie starrte auf ihr Tablett und spürte plötzlich unbändigen Appetit. Obwohl ihr Magen in Tims Gegenwart normalerweise rebellierte, begann sie, die Nudeln in sich hineinzuschaufeln.

Tim tat es ihr gleich und stopfte sich sein Wiener Schnitzel in Rekordzeit in den Mund, ehe er schließlich nach dem Wasserglas griff. Dann lehnte er sich zurück und lächelte Sinja an. „Dann erzähl doch mal von der süßen Echse.“

Sinja wischte sich den Mund ab und grinste. „Glaubst du mir, wenn ich dir sage, dass ich sie in meinem Kühlschrank gefunden habe?“


Gut gelaunt kam Sinja an diesem Tag nach Hause. Sie hatte ihre ganze Mittagspause mit Tim verbracht, entspannt plaudernd. Sie hatten sogar überzogen, weil es so schön gewesen war. Zum Schluss hatte Tim sie für den nächsten Tag wieder in die Kantine eingeladen. Oh Mann, das Leben konnte so schön sein.

Wolfgang war nicht in der Küche. Auch nicht im Wohnzimmer, wo ihre ganze DVD Sammlung wild verstreut auf dem Fußboden lag. Im Schlafzimmer war er auch nicht, zum Glück. Aber in der Badewanne und – nicht allein.

„Hallo Füffe“, sagte Wolfgang und rieb seine Füße – äh, Hinterpfoten – behaglich in einem Batzen Margarine. „War ein langer Tag ohne dif.“

Sinjas Blick glitt über die Salatblätter und die Käsewürfel. Da klebten – Ketchup und Senf auf der Schnauze, Brotscheiben lagen unter Wolfgangs Kopf. Die Krönung waren allerdings die Salamischeiben, die seinen Bauch zierten.

„Waf – äh, was ist das?“, fragte sie vorsichtig.

Der Drache kicherte und rieb mit den Krallen über die Salami. „Naf waf fieht ef denn auf?“, fragte er verschmitzt lächelnd.

„Das sieht aus wie ein Lebensmittelbad“, riet Sinja.

„Huah-huah“, amüsierte sich Wolfgang, griff nach einer Brotscheibe und rieb sich damit über das Haupt.

„Daf ift …“, raunte der Drache und grub die Krallen erneut in die Margarine, „… eine Föhnheitfmafke. Für Drafen, natürlif.“

Oha! Da hätte sie ja auch gleich drauf kommen können. Sie verzog den Mund zu einem gezwungenen Lächeln und verließ rückwärts das Bad.

„Dann lass dich nicht stören“, sagte sie und tastete sich in ihr Schlafzimmer.

Mein Gott! War doch nichts dabei, dass ein Drache in ihren Lebensmitteln mal kurz eine Schönheitskur durchführte. Es gab – Schlimmeres. Nämlich – äh… Sie ließ sich aufs Bett fallen und sah an die Decke. Ein dümmliches Grinsen schlich sich auf ihr Gesicht, als sie an Tim dachte. Sie war verabredet. Zum Mittagessen. Mit Tim. In der Kantine. Morgen.

Es polterte im Flur. „Autf!“

Erschrocken sprang sie auf und fand Wolfgang auf dem Rücken liegend vor. An seinen Füßen klebte Margarine, wie auch auf dem Fußboden vom Bad bis zu ihrem Schlafzimmer.

„Ganf fön rutfig hier“, schimpfte der Drache und stemmte sich auf seine Ellbogen. „Du muft hier mal fauber mafen, daf ift eft gefährlif.“

Sinja nickte ernst. Da hatte Wolfgang wirklich recht. Das ging gar nicht.

 

 

Es kostete sie lediglich eine Stunde, das Geschmiere aufzuwischen und den Drachen von der Salami und dem übrigen Kram zu befreien. Am schlimmsten waren Wolfgangs Protestschreie, als sie ihn unter die Dusche schob und mit einer Bürste abrieb.

„Daf kitfelt.“ Der Drache kreischte und wand sich wie ein Aal.

Inzwischen ging er ihr schon bis zur Hüfte. Mein Gott! Wenn er so weiter wuchs, würde er bald ihre Wohnung sprengen. Streng bestand

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Sissi Kaiserlos
Bildmaterialien: shutterstock
Cover: Lars Rogmann
Tag der Veröffentlichung: 20.05.2013
ISBN: 978-3-7309-2855-4

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