Akt eins
Meine Frau beachtet mich nicht mehr. Warum? Nur wegen dem Doppelkinn und der winzigen Wampe, die gemütlich über meinem Gürtel hängt? Ich gucke in den Spiegel und wende mich seitlich, ziehe den Bauch ein, was kaum noch gelingt. Was soll‘s? Ich bin keine achtzehn mehr, sondern ein im Leben stehender Mittfünfziger, da gerät schon mal was aus den Fugen.
Okay, ich sehe seit zwanzig Jahren so aus. Während ich mir das eingestehe, lausche ich meiner holden Gattin, die gerade mit Tante Olga telefoniert.
„Nein“, ruft sie im Brustton des Entsetzens, „Krebs? Darmkrebs? Hab ich nicht immer gesagt, sie soll zu den Vorsorgeuntersuchungen gehen? Jetzt hat sie den Salat. Ich meine – die Krankheit. Wie lange gibt der Arzt ihr noch?“
Ich horche angespannt.
„Was? Nur noch drei Tage? Das ich nicht lache“, grölt meine Ehefrau. „Onkel Werner, du erinnerst dich sicher noch, hat mit der Diagnose dreißig Jahre überlebt.“
Ich erinnere mich gut an Werner. Der Kerl hatte es richtig gut, nachdem sein Befund offiziell geworden war. Seine Frau, eine ähnlich getaktete Person wie meine Allerliebste, hat ihn für den Rest seiner Tage liebevoll gepflegt. Dreißig Jahre lang. Nein, nur fünfundzwanzig, sie ist eher gestorben. An Krebs, Ironie des Schicksals.
„Hm, ja, wir sollten mit dem schlimmsten rechnen“, sagt meine Gattin jetzt leutselig.
Ich schleiche in die Küche, wo ich mir einen Kaffee einschenke. Gleich muss ich zur Arbeit, meinem öden Job, den ich noch zehn Jahre ausüben muss. Sowohl dort als auch hier das gleiche: tote Hose.
„Hans-Dieter“, meine Frau kommt herein und wirft einen Blick auf die Uhr, „musst du nicht los?“
„Gleich“, nuschele ich, trinke die Tasse aus, schnappe mir meine Aktentasche mit der Thermoskanne und der Frühstückstulle und empfange den lieblosen Abschiedskuss, den meine Gattin mir auf die Lippen haucht.
„Viel Spass auf Arbeit“, sagt sie, wie jeden Morgen seit über dreissig Jahren.
„Ich komm heut später nach Hause. Hab noch einen Arzttermin“, murmele ich, während ich schon zur Haustür laufe und auf dem Weg meine Jacke überziehe.
Keine Antwort.
Gelogen ist das nicht. Allerdings habe ich lediglich den jährlichen Zahnarzttermin, aber das braucht meine Gattin nicht zu wissen.
Doktor Sägenblatt findet bei mir ein Loch, das dringend neu gefüllt werden muss. Ich vereinbare einen neuen Termin und lege mir auf dem Heimweg zurecht, was ich sagen will. In der Apotheke besorge ich mir ein paar harmlose Vitaminpräparate, die ich später in die Packungen umräumen werde, die ich mir aus dem Mülleimer eines Kollegen stibitzt habe, der ein akutes Darmleiden hat.
„Hallo Liebling“, rufe ich, nachdem ich die Haustür geöffnet habe.
„Hallo Schatz“, tönt es wie gewohnt aus der Küche.
Essensduft dringt in meine Nase, aber ich habe mich vorsorglich bereits mit Pommes und einer Currywurst versorgt, um Appetitlosigkeit vortäuschen zu können.
„Mir geht es nicht so gut“, sage ich, während ich zur Küche gehe und im Türrahmen stehen bleibe.
„Nanu?“, meine Gattin dreht sich um, mustert mich besorgt, kommt auf mich zu und fühlt meine Stirn, wie früher bei den Kindern.
„Fieber hast du nicht“, stellt sie zufrieden fest. „Ich koch dir einen Pfefferminztee, dann geht’s dir gleich besser.“
„Hilde“, ich greife nach ihrer Hand und halte sie fest. „Das wird nicht helfen. Ich war zur Vorsorge. Der Arzt sagt…“, ich mache eine theatralische Pause, „er sagt, mein ganzer Darm ist voller Metastasen. Ich hätte schon viel früher kommen sollen, dann hätte man noch…“
Den Rest lass ich im Raum stehen und senke meine Wimpern.
„Hänschen“, flüstert meine Frau und im nächsten Moment umarmt sie mich, wie schon seit zwanzig Jahren nicht mehr. „Oh Gott, Liebster. Wie lange gibt der Arzt dir noch?“
„Nicht sehr lang“, wispere ich in ihr Haar.
Sie duftet nach Erbsensuppe.
„Mein Gott“, schluchzt Hilde, „wir müssen die Zeit nutzen, die uns zusammen bleibt.“
Akt zwei
Wir nutzen die Zeit. Mein Gott, Hilde besorgt sich sogar neue Unterwäsche. Bei uns ist der Teufel los im Schlafzimmer, und außerhalb werde ich gehegt und gepflegt, wie nur in unserem ersten Ehejahr. Es ist zu schön, um wahr zu sein. Die Vitaminpillen sind zwar teuer, aber sie sind ihren Preis wert. Tablettenpackungen stapeln sich im Bad, bald schon ein gewohntes Bild.
Trotz der ganzen Pillen geht es mir allerdings immer schlechter. Ich habe keinen Appetit und nach ein paar Wochen ist mein Bauch weggeschmolzen. Das gefällt Hilde natürlich sehr, sie gurrt um mich herum, wie eine liebeskranke Taube. Leider ist auch noch etwas anderes flöten und Ruhe kehrt im ehelichen Bett ein.
Irgendwann halte ich es nicht mehr aus, mir geht es einfach zu schlecht. Ich gehe zum Arzt, diesmal zum Urologen. Die Vorsorgeuntersuchungen habe ich natürlich – wie jeder echte Mann – nicht regelmäßig durchführen lassen. Warum auch? Es trifft immer nur die anderen. Der Doktor fummelt an mir rum, dass mir ganz schwindlig werden würde, wenn es denn nicht schon ein Dauerzustand wäre.
„Tja, Herr Pragmatisch“, sagt er, nachdem ich wieder angezogen vor seinem Schreibtisch Platz genommen habe. „Ich habe leider sehr schlechte Nachrichten.“
Mir wird schlecht. Okay, nicht wirklich, mir war schon übel, als ich hier ankam.
„Sie haben Darmkrebs, die Metastasen haben weit gestreut. Ich sehe keine Hoffnung, leider“, fährt Dr. Missmut fort.
Mir wird der Boden unter den Füssen fortgezogen. Ich krampfe meine Finger um die Stuhllehnen, bis meine Knöchel weiß hervortreten.
„Wie lange?“, flüstere ich.
Der Doktor zuckt mit den Achseln.
„Eine Woche? Vielleicht auch einen Monat? Ich kann es nicht genau sagen“, murmelt er.
Ich trotte nach Hause, schwankend und immer wieder pausierend. Mir ist speiübel, so dass ich es noch nicht einmal schaffe, das Rezept einzulösen, das der Arzt mir ausgestellt hat. Hilde erwartet mich wutschnaubend. Über den ganzen Küchentisch liegen meine angeblichen Medikamente verstreut. Bunte Pille kullern überall herum.
„Du mieses…“, zischt sie.
„Hildchen, ich habe wirklich…“, beginne ich, aber sie winkt ab.
„Dir glaub ich kein Wort mehr. Mich so anzulügen. Ich dachte, du bist todkrank, dabei wolltest du nur…“, spuckt mir meine Gattin entgegen.
„Aber Hildchen, ich war gerade beim Arzt. Ich habe WIRKLICH nur noch kurz zu leben“, sage ich und strecke meine Hand nach ihr aus.
„FASS mich nicht an. Wenn es nach mir ginge, würdest du gleich sterben, weil ich dich nämlich umbringen werde“, brüllt meine Ehefrau.
„Bitte, Hilde“, flüstere ich, aber sie rennt aus der Küche und knallt die Wohnzimmertür ins Schloss, dass die Wände erzittern.
Akt drei
Ich wohne im Schlafzimmer, Hilde unten im Wohnzimmer. Das Bad darf ich nur benutzen, wenn ich vorher anklopfe und sie nicht drin ist. Sie redet nicht mehr mit mir. Ich suche Trost bei den Menschen, die mir zuvor durch liebevolle Telefonate oder Besuche über die schlimme Zeit geholfen haben. Was ich dort zu hören bekomme, will ich hier nicht wiedergeben.
Mein Zustand verschlimmert sich rapide. Nach nur einer Woche kann ich nicht mehr aufstehen, aber Hilde sagt durch die Tür, ich solle mich nicht so anstellen. Meine Stimme wird schwächer und verstummt schließlich ganz. Ich liege bewegungsunfähig auf dem Bett und dämmere meinem Tod entgegen. Mein Leben läuft noch einmal wie ein Film in meinem Kopf ab, dann schlafe ich ein. Ich wache nicht wieder auf. Jedenfalls nicht als Mensch.
Vor der Himmelspforte herrscht Andrang. Ich stelle mich geduldig hinten an und warte, bis ich dran bin.
„Name?“, sagt ein Typ in Nachthemd.
„Hans-Dieter Pragmatisch“, antworte ich.
„Hm, nein, das kann nicht sein“, sagt der Kerl nach einem Blick auf seine Liste und mustert mich misstrauisch. „Herr Pragmatisch wurde uns vor zwei Monaten angekündigt. Als Sie nicht erschienen, haben wir Sie von der Liste gestrichen. Sie können also nicht tot sein.“
Der Typ hat die Frechheit, unverschämt zu grinsen. Ich schlucke.
„Aber ich bin tot, sonst wäre ich nicht hier“, behaupte ich.
„Ja-ja, das sagen sie alle“, murmelt Nachthemd und winkt den Nächsten heran.
Ich stehe abseits und gucke zu, wie er nach und nach alle Toten abfertigt. Dann packt er seine Sachen und verschwindet stumm durch die Himmelspforte. Und nun? Ich gehe zum Rand der Wolke und lass mich nieder. Irgendjemand hat eine Leier dort liegengelassen. Aus Langeweile nehme ich das Ding hoch und zupfe ein bisschen an dem Instrument. In den nun folgenden hunderten von Jahren, in denen ich immer wieder um Einlass bitte, erlerne ich das Leierspielen virtuos und unterhalte damit die Wartenden. Eins habe ich mir aber ganz fest vorgenommen, gleich am ersten Tag hier oben: ich will nie wieder lügen, sonst wird mir nie wieder jemand glauben.
Texte: Sissi Kaiserlos
Bildmaterialien: Google
Tag der Veröffentlichung: 27.02.2013
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