Als ich erwache, ist plötzlich irgendetwas anders als sonst. Nur was…?
Der Tag beginnt so normal wie immer. Der Wecker klingelt und ich werfe ihn bei dem Versuch, das Nerv tötende Läuten auszustellen, versehentlich auf den Boden. Auf dem Weg ins Bad ramme ich den Türrahmen, der sich jeden Morgen an einer anderen Stelle zu befinden scheint. Mir den blauen Fleck reibend schaue ich in den Spiegel und schneide eine Grimasse.
Frisch gewaschen, angezogen und leidlich gekämmt trotte ich die Treppe hinunter und gehe in die Küche, wo sich Kind und Gatte am Frühstückstisch anschweigen. Soweit ist es ein völlig normaler Tag. Während ich mir aus der Thermoskanne braune Plörre in einen Becher gieße, geschieht es: ein Beben durchläuft die Atmosphäre. Nein, das trifft es nicht. Es ist wie der Knall eines Überschallflugzeugs, ein Vakuum entsteht. Die Luft zittert, Blasen entstehen dort, wo etwas fehlt.
Das Ganze spüre ich nur, alle meine Körperhaare richten sich auf. Selbst in mir scheinen Löcher entstanden zu sein, ich fühle mich so – unfertig? Ich werfe einen Blick auf meine Familie, aber die kaut teilnahmslos an ihren Toastscheiben. Nachdenklich koste ich den Kaffee und kippe das Zeug anschließend ins Spülbecken. Ungenießbar, wie immer, doch trotzdem ist irgendwas anders.
„Ich muss los“, sage ich, schlüpfe in meine Jacke und die Schuhe, schnappe meine Tasche und gehe zu meinem Gatten.
An dieser Stelle sage ich normalerweise: „Tschüss, Liebling, bis heute Abend“, und gebe ihm einen Kuss.
Stattdessen kommt aus mir raus: „Bist ganz schön fett geworden.“
Er hebt den Blick, mustert mich und grinst. „Du wirst auch nicht schöner.“
Oha. Das hat gesessen. Ich gucke Bubi an und – beiße die Zähne zusammen. Das, was jetzt aus mir raus will, sage ich lieber nicht. Eilig verlasse ich das Haus.
Was war das? Auf dem Weg zum Bahnhof analysiere ich die Situation. Der Satz, den ich meinem Ehemann an den Kopf geknallt habe, entspricht eigentlich mehr meinem Bedürfnis als der andere. Nur, der Ursprungssatz ist netter. Habe ich meine Nettigkeit verloren? Während der ganzen Fahrt grüble ich und schrecke erst hoch, als ein paar Schlägertypen den Waggon betreten und einer von ihnen laut verkündet: „Kein Bock, alle Fahrkarten zu kontrollieren. Schwarzfahrer alle freiwillig zu mir, aber ein bisschen plötzlich.“
Oha, da hat also noch einer keine Manieren mehr. Mir fällt dann die Kinnlade herunter, als tatsächlich ein paar der Fahrgäste aufstehen und sich zu dem Kerl begeben. Zum Glück bemerke ich, dass ich aussteigen muss, und verlasse schnell das Abteil.
Auf dem Bahnsteig beobachte ich die anderen Leute. Einige von ihnen, allerdings sehr wenige, wirken genauso nachdenklich wie ich. Die Mehrzahl jedoch trabt wie immer mit versteinerter Miene zu den Treppen. Habe ich mir alles nur eingebildet?
Im Büro bin ich die Erste. Nachdem ich den Computer hochgefahren habe, laufe ich in die Küche und besorge mir einen Cappuccino, das erste Plus des Tages. Genüsslich schlürfend schlendere ich zurück zu meinem Zimmer und begegne dabei meinem Vorgesetzten.
„Morgen, Frau B.“, sagt der Winzling mit einem süffisanten Grinsen. „Übrigens, für die Gehaltserhöhung müssen Sie schon auf die Knie und ein bisschen Einsatz zeigen.“
Ich pruste ihm vor Schreck meinen Cappuccino entgegen. Das scheint den Kerl zur Besinnung zu bringen, denn sein Grinsen fällt in sich zusammen und so etwas wie Reue huscht über seine Miene.
Nachdem ich wieder sprechen kann, kommt Folgendes aus mir raus: „Das ist eklig. Allerdings habe ich die Erhöhung auch nicht verdient, so faul wie ich bin.“
Jetzt ist es an ihm, mich mit offenem Mund anzustarren. Oh Mann, was ist bloß los? Ich lass den Kerl stehen und eile in mein Büro, wo ich die Tür schließe und mich auf meinen Stuhl setze. Das Telefon klingelt.
„Ja?“, belle ich in den Hörer.
„Tagchen, hier ist Sabine“, flötet meine Lieblingskollegin. „Wir haben gleich ein total überflüssiges Meeting.“
„Weiß ich doch, bin nicht blöd“, knurre ich.
„Findest du? Also – ich finde dich schon ziemlich dumm“, kommt es zurück.
Schweigen. Ich lege auf. Mein Cappuccino wird kalt, ich starre Löcher in die Luft. Es fehlt etwas, ich kann es aber nicht greifen. Seufzend schnappe ich schließlich Block und Stift, begebe mich zum Besprechungsraum und nicke den dort bereits Anwesenden zu.
„Morgen“, murmele ich knapp, obwohl mir noch viel mehr auf der Zunge liegt. Die Frisur des Kollegen Schmidt sieht mal wieder scheiße aus und Sabine – nun, sie sollte endlich Unterwäsche tragen, wenigstens im Büro.
„Moin“, ruft mein Vorgesetzter und eilt herein.
Sein verlegener Blick streift mich kurz, bevor sich seine Augen an Sabines Schritt festsaugen.
„Toller Ausblick“, sagt er und setzt sich hin.
Meine Kollegin kichert und hat den Anstand, ihren Rock weiter runter zu ziehen.
„Ich habe keine Ahnung, warum wir uns hier treffen. Eigentlich ist es Zeitverschwendung, aber ich habe sonst nichts zu tun“, sagt Chefilein mit einem niedlichen Lächeln.
„Ich auch nicht“, sagt Kollege Schmidt.
Bevor ich mich zu ähnlich peinlichen Äußerungen bemüßigt sehe, stehe ich auf und renne zurück zu meinem Büro. Für den Rest des Tages verbarrikadiere ich mich dort. Manchmal geht das Telefon, doch ich nehme nicht ab. In mir befinden sich nur böse Sätze und – Wahrheiten. Es ist so, als wäre die Lüge ausgelöscht. Es gibt sie einfach nicht mehr.
Sehr vorsichtig verlasse ich nach Feierabend das Büro. Ich schaue mich nach allen Seiten um, meide meine Mitmenschen, die sich ähnlich misstrauisch verhalten. Die Lippen fest zusammengepresst ertrage ich die Bahnfahrt, muss mich im Supermarkt tierisch beherrschen, als sich eine fette Kundin vordrängelt, und erreiche schließlich ohne ernste Zwischenfälle mein Heim.
Bürschi sitzt vor dem Fernseher, seine Augen sind glasig. Ich werfe meine Schuhe ab, hänge Tasche und Jacke an die Garderobe und mustere meinen Nachwuchs.
„Na, schon wieder gekifft?“
„Geht dich gar nix an“, brummelt das Kind.
Ich verbeiße mir eine Erwiderung und suche nach meinem Gatten, den ich in seinem Hobbykeller vorfinde. Er lächelt mich an.
„Hallo Schatz. Ich habe mir einen Bauchweggürtel bestellt. Wie findest du das?“
„Lange überfällig. Sag mal, waren bei dir heute auch alle so komisch?“, frage ich leise.
„Nö.“ Mein Ehemann reißt die Augen auf. „Wieso?“
„Alle sagen die Wahrheit. Es ist schrecklich und irgendwie beängstigend“, murmele ich.
„Ich sage immer die Wahrheit“, verkündet mein Mann im Brustton der Überzeugung.
„Echt?“ Ich sehe ihn mir genauer an.
Ja, es ist der Kerl, den ich vor zehn Jahren geheiratet habe, nur doppelt so viel davon. Soll ich ihn auf die Probe stellen? „Liebst du mich noch?“
Mein Gatte schweigt, seine Wimpern senken sich. Ich halte die Luft an, zähle bis zehn und will schon das Zimmer verlassen, um mich in Ruhe auszuheulen, als er mich anschaut und lächelt. „Ja, wie am ersten Tag.“
Zischend atme ich aus. Erleichterung durchflutet mich und ich hätte ihn jetzt gerne umarmt, wenn er nicht die Gegenfrage gestellt hätte: „Und du?“
Am nächsten Morgen ist die Inkonsistenz verschwunden. Alle Löcher sind gestopft, aber ein viel Größeres hat sich aufgetan. Das Bett neben mir ist leer und wird es auch bleiben. Ob das gut ist oder schlecht? Irgendwann werde ich es herausfinden. Jetzt aber muss ich zur Arbeit.
Irgendwann, in ein paar tausend Jahren, würden Wissenschaftler herausfinden, dass ein Raumschiff der Vogonen, einer Rasse, die ihre Feinde durch schlechte Gedichte umbringt, den Planeten Erde an diesem Tag mit Gammastrahlen beschossen hatte. Eine intergalaktische Raumstraße sollte an genau dieser Stelle gebaut werden. Die Strahlen vernichteten die Erde nicht, brachten aber das Raum-Zeit-Kontinuum für ganze vierundzwanzig Stunden durcheinander. Den Menschen wurde für diese Zeitspanne die Lüge genommen. Warum? Das würden kluge Köpfe bestimmt auch irgendwann rausfinden.
ENDE
Texte: Sissi Kaiserlos
Bildmaterialien: Google
Tag der Veröffentlichung: 07.02.2013
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