Wer träumt nicht davon? Für mich war es immer eine Phantasie gewesen, die sich nun erfüllt hatte: ich war auf einer einsamen Insel. Nicht diese Typische, die sich in schlechten Bilderwitzen wieder findet: eine Palme und vier Quadratmeter Sand. Nein, es war ein ungefähr fünf Kilometer breites und fast genauso langes Eiland mit üppiger Vegetation, einem Süßwasserfluss und reichlich Tierwelt ausgestattet.
In der einen Woche, die ich nun schon hier festsaß, hatte ich die Insel mehrfach umrundet und dabei meine Schritte gezählt. Als alter Robinson Crusoe Fan wusste ich, wie man mit dieser Situation umging. Aus Palmwedeln hatte ich mir einen Unterstand gebaut, der mich vor den regelmäßigen, nächtlich niedergehenden Schauern schützte. Früchte gab es im Überfluss, fehlte nur der Internetanschluss zu meinem Glück.
Leider hatte ich keinen Computer bei mir, geschweige denn überhaupt nützliches Gerät. Außer dem, was ich am Leib trug, besaß ich nichts, was von meinem bisherigen Leben zeugte. Wie es mich hierher verschlagen hatte? Tja, das wüsste ich auch gern, aber ich kann wenigstens das berichten, was ich noch weiß.
Die Chartergesellschaft ‚One Way’ bot in dem Reisebüro, wo ich meine Sommerreise buchen wollte, großspurig eine ‚unvergessliche Reise ins Nirgendwo’ an. Ich gehöre zu diesen merkwürdigen Menschen, die mit einem eigenartigen Humor ausgestattet sind. Das Angebot gefiel mir, ich schlug zu, ohne groß drüber nachzudenken.
Im Sommer fand ich mich dann an Bord einer einmastigen Yacht wieder, zusammen mit vier anderen Männern. Der Skipper – ein wettergegerbter Kerl, der nach seinem Aussehen als Massenmörder hätte durchgehen können – wies uns ein und so setzten wir Segel ins – Nirgendwo. Gestartet waren wir von Borneo, ab da ging es an unzähligen Inselgruppen vorbei, bis nur noch das blaue Meer vor uns lag. Ich war euphorisch, die anderen auch. Wir waren eine lustige Truppe und feierten gern. So geschah es dann eines Nachts, dass ich dem Rum stark zusprach.
So, und jetzt saß ich hier. Die Überreste eines hölzernen Beiboots hatte ich am Strand gefunden, und mir daraus den weiteren Tathergang zusammengereimt. Ich musste – freiwillig oder unfreiwillig – in dieses Boot gelangt sein und dann, tja, war ich hier angespült worden. Ob das so gewollt war? Dem Versprechen des Reiseveranstalters nach ja.
Den ersten Monat verbrachte ich damit, stundenlang die Insel zu erkunden und mich mit wichtigem Werkzeug auszustatten. Aus Lianen drehte ich mir Seile, die ich dazu verwendete, mir eine primitive Axt und einen Bogen zu fertigen. Ich war ganz und gar auf der Robinson Schiene. Das mit dem Feuer bekam ich auch irgendwann hin. Wenn man den ganzen Tag Zeit hat, vollbringt man die merkwürdigsten Sachen.
Die Hoffnung schwand immer mehr, nachdem auch ein zweiter Monat verging und nichts geschah. Ich baute mir eine stabilere Hütte, versuchte, ein Feld anzulegen um Korn anzubauen. Eigentlich ging es mir gut, wenn ich von meiner Kleidung mal absah, die sich mehr und mehr verabschiedete. Inzwischen hatte ich nur noch ein paar Fetzen Stoff, die ich mir um die Hüften wickelte, um nicht gänzlich nackt durch die Gegend zu laufen. Wenn ein Schiff auftauchte wollte ich wenigstens notdürftig bedeckt sein.
Der dritte Monat und auch der vierte verliefen ereignislos. Das ewige Blau des Himmels ging mir auf die Nerven, die ständige Sonne auch. Allerdings hätte ich ein Problem gehabt, wenn hier normale, europäische Jahreszeiten geherrscht hätten, allein Bekleidungstechnisch. Immer wieder entzündete ich ein Feuer am Strand in der Hoffnung, dass sich irgendein verschissenes Schiff in diesen Winkel der Welt verirrte.
***
Ein Jahr ist nun vergangen. Das mit dem Feuer habe ich gelassen, unnötige Verschwendung von Ressourcen. Das Sprechen habe ich fast verlernt, auch wenn ich immer wieder mit mir selbst rede. Ich mag das aber nicht, es klingt so verrückt. Und das bin ich doch nicht, oder?
Mein heutiger Spaziergang am Strand – mein Tag hat seinen festen Ablauf – endet mit einer aufregenden Entdeckung: ein intaktes Ruderboot liegt auf dem Sand. Hektisch sehe ich mich um, hebe vorsichtshalber meinen Spazierstock. Ja, auch den habe ich mir nach Robinsons Vorbild zurechtgezimmert. Nichts rührt sich, aber meine Gelassenheit ist zerstört. Erst jetzt, wo sich wahrscheinlich ein zweiter – oder sogar mehrere – andere Menschen auf der Insel befinden begreife ich, in welcher Blase ich lebe. Will ich sie überhaupt treffen?
Die Antwort ist ein klares: Ja. Ich durchsuche das Boot, es ist leer. Ob ich mich einfach mit dem Ding davon machen soll? Allerdings fehlen die Ruder, ich käme nicht weit. Der Ankömmling muss sie versteckt haben.
Ein Tag vergeht, an dem ich hektisch Ausschau halte, hoffe und zugleich fürchte, den anderen zu entdecken. Die Nacht kommt, mit ihr der Regen. Ich liege wach und lausche. Hat sich da nicht was bewegt? Nein, es war nur ein Blatt, das von dem wie Bindfäden heruntergehenden Regen runtergedrückt wurde. Irgendwann schlafe ich ein.
Die Sonne bratzt vom Himmel, wie immer. Ich mache mir Frühstück und sehne mich dabei nach verbranntem Toast. Oh Mann, die Zivilisation hat ihre Vorteile. Danach beginne ich meinen Rundgang, finde das Boot unberührt vor. Diesmal laufe ich von der Fundstelle aus landeinwärts und werde schon bald fündig. Ein kleines Zelt steht auf einer Lichtung, davor sitzt ein Mann, den ich nur zu gut kenne.
„Andi?“
Sein Kopf ruckt hoch, er springt auf und läuft auf mich zu. Wir umarmen uns, brauchen eine Weile, bis wir uns gegenseitig versichert haben, dass es sich um keine Vision handelt.
„Was machst du hier?“
Ich schiebe ihn schließlich von mir und mustere meinen Freund. Er sieht gut aus, wie immer, nur sehr dünn. Na ja, ich bin es auch. Von den ganzen Früchten kann man einfach nicht dick werden.
„Ich suche dich seit einem Jahr“, Andi streicht sich die Haare zurück, „du glaubst gar nicht, wie schwierig und teuer es war, das hier zu organisieren.“
Er zieht mich zu der Feuerstelle, wo er gerade einen Kaffee kocht und berichtet mir von seiner Suchaktion. Die Behörden Borneos hatten sich quer gestellt, daheim galt ich schlicht als vermisst. Da ich keine Familie mehr hatte, die mich suchen konnte, war mein Freund der einzige, den mein Verschwinden kümmerte. Am Ende hatte er einfach die gleiche Tour wie ich gebucht und den Skipper überredet, ihn an der gleichen Stelle auszusetzen, wie es mir geschehen war.
„Ich hatte nur noch diese eine Möglichkeit“, Andi seufzt und reicht mir einen Becher, „wie hätte ich dich sonst finden sollen?“
Von den wenigen Worten, die ich bisher gesprochen habe nach der langen Zeit, tut mir die Kehle weh. Der heiße Kaffee tut gut, ich fühle mich gleich besser. Nachdenklich gucke in die schwarze Brühe. Habe ich das Zeug wirklich vermisst?
„Ich habe ein Satellitentelefon, einen Navigator und eine Pistole mit Leuchtmunition. Wenn du willst, kann ich den Skipper gleich hierher rufen“, sagt Andi.
„Ich – weiß nicht recht“, ich schaue ihm in die Augen, „vielleicht will ich gar nicht zurück.“
Den ganzen Tag verbringe ich damit, Andi die Schönheit der Insel zu zeigen, meine Hütte, meine Werkzeuge. Er ist in sich gekehrt, spricht kaum und lässt alles auf sich wirken. Als sich pünktlich um acht Uhr abends die Sonne dem Horizont nähert, gehen wir zurück zu seinem Zelt. Er zündet eine Petroleumlampe an, macht Feuer und wärmt uns aus seinem Vorrat eine Mahlzeit auf. Schweigend schlucke ich den ungewohnten Eintopf, die scharfen Gewürze brennen unangenehm.
Danach teilen wir uns ein Bier, liegen auf dem Rücken und starren in den Sternenhimmel. Hier ist er besonders schön, und jetzt, wo ich nicht mehr allein bin, kann ich es richtig genießen.
„Kannst du nicht hier bleiben?“ murmele ich irgendwann und drehe den Kopf, um Andi anzusehen.
„Nein, sorry,“ Andi zieht eine Grimasse, „so schön es auch ist. Was wäre, wenn einer von uns krank wird? Oder stirbt? Ich muss zurück und es wäre schön, wenn du mit mir kommen würdest.
Das sind die letzten Worte, die wir heute Nacht wechseln. Ich krieche zu ihm ins Zelt und schon bald übermannt mich die Müdigkeit, wie immer, seit ich hier bin.
„Ich werde jetzt den Skipper rufen“, sagt Andi am nächsten Morgen.
Wir haben gerade Kaffee getrunken und ein normales Frühstück, bestehend aus Brot, Margarine und Käse genossen. Er stellt mit dem Telefon eine Verbindung her und gibt unsere Koordinaten durch. Sein Blick liegt die ganze Zeit auf mir.
„Ich kann dich nicht zwingen, aber ich bitte dich: komm mit zurück“, sagt er leise.
Mein Herz klopft wie verrückt, ich schaue hoch in den blauen Himmel. Keine einzige Wolke. Sehe rüber zu den Palmen und dann zu ihm. Ein Mensch, der mit mir spricht, etwas für mich fühlt. Die Entscheidung fällt mir plötzlich leicht.
„Ich hole meine Sachen“, mühsam stehe ich auf und reiche Andi meine Hand.
Wir stehen am Strand, das Schiff nähert sich. Ich drücke seine Finger, bis meine Knöchel weiß hervorstehen. Dann ist es soweit, ein Beiboot wird zu Wasser gelassen. Ich atme tief ein, ein letztes Mal den Duft dieses Paradieses riechen, das ohne Gesellschaft zum Alptraum verkommt. Nachdem ich Andis Nähe erfahren habe, will ich nicht bleiben, sondern zurück. Er wird mir helfen, das weiß ich. Ich muss einfach zurück, will reden, Menschen treffen und irgendwie wieder ein Teil der Gesellschaft werden. Auf meine Art. Andi presst meine Finger und lächelt mir zu. Er war stark genug mich ein Jahr zu suchen, jetzt muss ich stark sein. Das bin ich und vor allem – will ich nie wieder allein sein. Paradies hin und her – ohne Menschen – ein Horror.
Texte: Sissi Kaiserlos
Bildmaterialien: Google
Tag der Veröffentlichung: 05.01.2013
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