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„Also echt. Erst Schneewittchen, dann Dornröschen, jetzt auch noch diese Rapunzelsache“, knurrte Udo. „Du spinnst.“
„Ach“, brummte Wolle, und kontrollierte die Ausrüstung.
„Wir haben es doch gut hier. Täglich eine warme Mahlzeit, und wir müssen in keine Gruppensitzungen mehr“, sagte Udo versöhnlicher.
„Wenn du meinst. Bleib doch hier. Ich mach das allein“, Wolle sah nicht von dem Rucksack auf, den er jetzt verschnürte und sich über die Schulter warf.
„Ach Mann, klar komm ich mit.“
Udo trottete hinter Wolle her, als der das Zimmer verließ und die Treppe nach unten joggte. Sie erreichten den Garten und begaben sich zu dem Aufzug, der sie an die Erdoberfläche bringen würde. Mit einen Surren setzte der Lift sich in Bewegung, und transportierte sie in einen verwilderten Garten, in dem der betörende Duft der Rosen wie Nebel in der Luft lag.
„Ah“, machte Wolle, und atmete tief ein.
„Was für ne Wolke“, kommentierte Udo ungeduldig, „lass uns diese Rapunzel retten und dann zurück.“
Wolle ging zur Straße und sah sich vorsichtig um, bevor er Udo ein Zeichen gab, ihm zu folgen. Schweigend schritten sie durch die Dunkelheit, bis sie bei der Haltestelle der Linie 2 angekommen waren. Nach einer gefühlten Ewigkeit kam der Bus und sie stiegen ein, setzten sich auf die hinterste Bank und hingen ihren Gedanken nach.
„Wir müssen raus“, Wolle packte Udo am Arm und fasste mit der anderen Hand nach dem Rucksack, als der Bus auch schon anhielt, und sich die Türen hydraulisch öffneten.
Der Bus fuhr weiter, und sie blieben in einer Straße zurück, in der sich außer ein paar alter Zeitungen, die der Wind durch die Gegend trieb, nichts bewegte.
„Sind wir hier richtig?“
Udo sah sich um und klappte fröstelnd den Kragen seiner Jacke hoch. Wolle nickte, bevor er sich zielstrebig in Bewegung setzte.
„He, und was ist, wenn diese Rapunzel gar nicht gerettet werden will?“
Atemlos rannte Udo hinter Wolle her, der ein beängstigend schnelles Tempo vorlegte.
„Sie will. Sie weiß es nur noch nicht“, brummte Wolle und ging noch schneller.
Sie kamen an tristen Betonbauten vorbei, bogen in eine kleinere Straße und passierten einige Lokale, aus denen Musik auf die Straße drang.
Ein paar Schritte weiter trafen sei auf einen Bettler, der auf dem Boden saß, eine schlichte Pappe unter seinem Hintern ausgebreitet. ‚Kein Handy‘ stand auf einem Schild, das vor seinen Füssen lag.
„Oh Gott, soviel Elend“, murmelte Udo, wühlte in seiner Hosentasche und warf dem Mann ein paar Münzen zu.
„Ja, unglaublich“, pflichtete Wolle bei und zog ihn weiter.
Nach wenigen Metern sahen sie den nächsten Bettler, aber dieser trug eine dunkle Brille und saß auf einer Wolldecke. Vor ihm lag kein Schild, so dass Udo stehenblieb und nachdenklich schaute.
„Ah, du bist blind, richtig?“
Der Mann sah auf und nickte langsam. Udo grinste erfreut, und griff erneut in seine Hosentasche, aber die war leer.
„Komm“, Wolle griff nach Udos Arm und zerrte ihn weiter.
An der nächsten Kreuzung bog er links ab und hielt nach ein paar Metern. Sie standen jetzt vor einem schmucken Jugendstilbau, der sich mit seinem Stuck und dem schönen rosa Farbton von den restlichen Bauwerken wohltuend abhob.
„Hier ist es“, raunte Wolle.
Er sah sich nach links und rechts um, bevor er den schmalen Weg, der an der Seite des Hauses zu den Müllcontainern führte, entlang schlich. Udo folgte mit einem mulmigen Gefühl im Magen. Hinter dem Gebäude angekommen ging Wolle zu den Containern, drehte sich um und starrte nach oben zu den Fenstern, in denen vereinzelt noch Licht zu sehen war.

Anja fuhr sich durch ihr Haar, und fühlte sich wie neugeboren. Nachdem sie den Eintrag ins Guinnessbuch der Rekorde erreicht hatte, hatte sie sich von der schweren, zehn Meter langen Haarlast befreit. Zwar reichten ihre goldblonden Locken immer noch bis zu den Kniekehlen, aber im Vergleich zu vorher war das gut zu ertragen.
Sie trat ans Fenster und dachte wieder an diesen Mann, der sie in den letzten Tagen zu verfolgen schien. Er sah gut aus, war gut gekleidet, und sie konnte sich keinen Reim darauf machen, wieso er ihr nachspionierte.
Anja sah nach unten in den Hof, wo die Müllcontainer standen. Sie entdeckte einen Mann, der zu ihr empor starrte, und zog sich erschrocken vom Fenster zurück. Das war nicht der Kerl, der sie verfolgte, sondern ein Fremder, den sie noch nie gesehen hatte. Mit ängstlich klopfendem Herzen trat sie wieder ans Fenster, und warf einen vorsichtigen Blick nach unten. Der Mann war weg.

„Jetzt weiß Rapunzel, dass ich da bin, um sie zu retten“, frohlockte Wolle, der sich mit Udo in die Büsche neben den Containern zurückgezogen hatte.
„Aha“, meinte Udo geistreich.
„Wir brauchen nur noch warten“, flüsterte Wolle.
Kaum hatte er das gesagt, erklangen Schritte. Ein Schatten huschte in den Hof, hielt auf die Müllcontainer zu und öffnete den Deckel des ersten. Ein leises Schnaufen erklang, als der Maskierte den Inhalt des Müllbehälters durchwühlte. Mit einem halblauten Fluch wandte er - oder war es eine sie? - sich dem nächsten zu, und wiederholte die Prozedur. Wieder erklang ein Fluch, und das Individuum blieb einen Moment stehen. Dann drehte es sich um und sah an der Häuserfront hoch.
„Wer ist das?“ wisperte Udo.
„Der Böse.“ flüsterte Wolle.
Das Individuum war indes auf demselben Weg verschwunden, wie es gekommen war. Wolle schulterte seinen Rucksack, griff Udos Arm und zog ihn aus dem Gebüsch. Leise schlichen sie um das Haus herum, und sahen an der Vorderseite angekommen gerade noch, wie der Schatten in der Haustür verschwand. Wolle rannte los und stellte einen Fuß in die Tür, bevor diese ins Schloss fallen konnte. Er winkte Udo zu und schob vorsichtig die Tür auf. Im Treppenhaus war es dunkel, kein Laut war zu hören.
„Das ist unheimlich“, flüsterte Udo.
„Pssst“, Wolle griff nach seiner Hand, und tastete sich langsam die Stufen hoch.
Rapunzel wohnte im dritten Stock, wie er an der Rückfront des Hauses hatte feststellen können. Über ihnen raschelte etwas, dann klimperte es. Mit angehaltenem Atem schlichen unsere beiden Helden weiter, bis sie den Schatten in der Dunkelheit des Treppenhauses vor Rapunzels Tür ausmachen konnten. Das Individuum war mit dem Schloss beschäftigt, sie hörten es leise murmeln: „Rapunzel, Rapunzel, lass dein Haar herunter.“
„Ein Wahnsinniger“, wisperte Udo.
Wolle grinste in sich hinein.

Anja saß mit wild klopfendem Herzen in ihrem Wohnzimmer und lauschte den nächtlichen Geräuschen. An Schlaf war nicht zu denken, nachdem sie diesen Kerl dort unten entdeckt hatte. Es knackte, irgendwo rauschte Wasser. Dann hörte sie es ganz deutlich: jemand machte sich an ihrer Wohnungstür zu schaffen. Mit wackligen Knien schlich sie durch das Zimmer und schob die Tür ins Schloss, bevor sie den Schlüssel umdrehte. Den Atem anhaltend horchte sie

„Los, komm“, Wolle packte Udos Arm und zerrte ihn die restlichen Stufen hoch.
Inzwischen war das Individuum in der Wohnung verschwunden. Wolle machte sich keine Mühe mehr, leise zu sein. Seine Schritte klangen überlaut in dem dunklen Treppenhaus, als er zu der offen stehenden Tür lief und in den Flur trat. Udo war zurückgeblieben und hörte jetzt, wie unten die Haustür aufflog, und jemand die Treppe hinauf hastete. Mein Gott, noch ein Einbrecher? Ängstlich folgte er Wolle, der mit einer Taschenlampe bewaffnet nach dem Individuum suchte. Von dem Flur gingen vier Türen ab. Unter einer war ein schwacher Lichtschein zu sehen.
„Da ist er“, knurrte Wolle, und warf sich mit der Schulter gegen die Türfüllung, die mit einem lauten Ächzen nachgab und nach innen fiel.
Der Einbrecher sah erschrocken auf. Er – nein, sie hielt eine Schachtel in der Hand, in der Wolle die blonden Locken von Rapunzel entdeckte. In diesem Moment kam der nächste Besucher in der Wohnung an, prallte gegen Udo, der gegen Wolle taumelte und diesen zu Fall brachte.
„Hände hoch“, keuchte der neue Gast atemlos, und richtete eine Sigsauer P250 Compact auf Udo.
„Aber – wir sind die Guten“, sagte der mit zitternder Stimme.
„Genau“, kam es von unten, „die Böse ist da drin.“
Wolle rappelte sich vom Fussboden hoch, und zeigte mit dem Finger anklagend auf die Einbrecherin, die immer noch wie erstarrt in Rapunzels Schlafzimmer stand.
„Aha“, sagte der Bewaffnete, in dem Udo jetzt den blinden Bettler wiedererkannte. „Dann wollen wir mal sehen, ob ihr Recht habt.“
Er umrundete Udo, und schaute in das Schlafzimmer. Ein feines Lächeln spielte um seine Lippen, als er die zur Salzsäule erstarrte Friseurmeisterin Kunigunde erblickte.
„Dann war mein Verdacht begründet“, sagte er, und trat in den Raum, wobei er über die Türfüllung klettern musste.
Er nahm der Frau die Schachtel aus der Hand, reicht sie an Wolle weiter und riss der Einbrecherin die Kapuze vom Kopf, die bisher ihre Gesichtszüge fast verdeckt hatte. Eine grell geschminkte Dame mit schütterem Haar kam zum Vorschein, die ihre roten Lippen zu einem Schmollmund verzog, während sie einen begehrlichen Blick auf die Schachtel warf.
„Ach, Herr Wachtmeister, ich brauch die Haare doch so dringend“, murrte sie.
„Klar. Als wenn du in den letzten Wochen nicht schon genug Haare geklaut hättest“, knurrte der Angesprochene.
„Was ist denn hier los?“
Eine liebliche Stimme ließ alle Beteiligten erstarren. Als erstes fasste sich Wolle, der Rapunzel mit einer tiefen Verbeugung die Schachtel mit den Haaren darbot.
„Wir haben deine Haare gerettet.“
„Äh – danke“, Anja nahm das Behältnis entgegen, und richtete den Blick ihrer strahlend blauen Augen auf den Wachtmeister, der sie wie hypnotisiert ansah. „Könnte mir jemand alles genauer erklären?“
„Ja, ich mach das. Hier“, der Wachtmeister drückte Udo die Sigsauer in die Hand, „pass mal auf die Diebin auf. Ich komme gleich wieder.“
Er fasste Anjas Ellbogen und dirigierte sie ins Wohnzimmer zurück. Dort führte er sie zum Sofa und ließ sie sich setzen, bevor er neben ihr Platz nahm.
„Mein Name ist Viktor von Grafenstein. Ich bin Polizist, arbeite aber Undercover. Seit Wochen bin ich in der SOKO Rapunzel, die einem gemeinen Haardieb auf der Spur ist. Es war nur eine Vermutung, dass Sie das nächste Opfer sein werden. Aber nun hat sich mein Verdacht bestätigt, und wir haben endlich den Täter: die Friseurmeisterin Kunigunde. Sie trug in letzter Zeit so herrliche Perücken, dass sie in den Fokus unserer Ermittlungen geriet.“
„Oh, das ist – spannend“, hauchte Anja.
„Ach, das meiste ist langweilige Ermittlungstätigkeit“, sagte Viktor bescheiden.
„Aber Sie sind so mutig – und ich habe sie fast nicht bemerkt, als sie mir die letzten Wochen gefolgt sind.“
„Oh, äh, Sie haben mich bemerkt?“ Viktor schluckte und griff nach Anjas Hand. „Ich habe Sie einfach nicht aus den Augen lassen können. Zu groß war meine Angst, Ihnen könnte etwas zustoßen.“
„Oh“, Anja errötete und senkte die Wimpern, „das ist wirklich sehr schmeichelnd. Darf ich sagen, dass ich Sie sehr attraktiv finde?“
„Sie bringen mich in Verlegenheit“, murmelte Viktor, und drückte Anjas Hand fester, „darf ich sie zu einem Kaffee einladen? Ich meine, nicht jetzt. Aber vielleicht morgen.“
„Sehr gern“, Anja schenkte Viktor einen glühenden Blick, „ich liebe Kaffee.“
„Es könnte auch ein Abendessen…“
Weiter kam Viktor nicht, denn ein Schuss krachte, ließ ihn aufspringen und in den Flur hasten. Udo sah ihm mit einem entschuldigenden Lächeln entgegen und hielt ihm die Sigsauer hin.
„Die ist einfach losgegangen. Ich hab nur geniest, und zack, ist es passiert.“
„Mein Gott“, murmelte Viktor, und steckte die Pistole in den Halfter, der an seinem Gürtel hing. Udo einen bösen Blick zuwerfend stieg er über die Türfüllung ins Schlafzimmer, und legte der bleichen Kunigunde Handschellen an.
„Bitte, bringen sie mich hier weg, Herr Wachtmeister“, stöhnte sie mit zitternder Stimme, „diese beiden Irren machen mich fertig.“
Während Viktor die Friseurmeisterin abführte, und dabei Anja einen letzten, glühenden Blick zuwarf, berieten sich Udo und Wolle.
„Also, können wir jetzt endlich zurück zu Dornröschen?“
Wolle nickte zustimmend.
„Ja, ich hab Hunger. Lass uns schnell zurück, vielleicht ist noch was von den Nudeln mit Tomatensauce in der Kühlkammer.“

Anja, die mit zweitem Namen Rapunzel hieß, sah den beiden hinterher, als sie die Wohnung verließen und eilig die Treppe hinunter trabten. Der Abend hatte sich ganz anders entwickelt, als sie erwartet hatte. Statt sich zu langweilen oder von einem Einbrecher überfallen zu werden, hatte sie den attraktiven Viktor kennengelernt, einen Adligen. Nur schade, dass sie ihre Haare abgeschnitten hatte. Wie gern hätte sie bei nächster Gelegenheit ihren Zopf aus dem Fenster heruntergelassen, damit der smarte Viktor zu ihr hinaufklettern könnte. Aber so was passierte natürlich nur in Märchen.

Impressum

Texte: Sissi Kaiserlos
Bildmaterialien: ?
Tag der Veröffentlichung: 12.10.2012

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